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Der Tag danach

Jonas, Anton, Nina und Felix blickten wortlos ins Tal hinab. Es dauerte Minuten, bis Jonas als Erster die Sprache wiederfand.

»Was um alles in der Welt ist hier passiert, während wir weg waren?«, fragte er.

Keiner konnte es sich erklären. Felix setzte sich ins Gras und begann zu weinen. Nina versuchte ihn zu trösten, doch ihr fehlten die Worte.

»Was … was, wenn das unsere Schuld ist?«, schluchzte Felix.

»Wieso das denn?«, rief Anton.

»Weil wir durch das Portal gegangen sind.«

»Willst du mir etwa einreden, dass der Staudamm eingestürzt ist, weil ich Alina ins Kino eingeladen habe?«, fragte Jonas. »Das ist doch Quatsch.« Ganz sicher war er sich da jedoch nicht.

»Keine Ahnung«, rief Felix aufgebracht. »Vielleicht hat es einen Energieüberschuss gegeben, der ein Erdbeben ausgelöst hat.«

»Dann wäre das doch auch schon beim letzten Mal passiert«, warf Nina ein.

Felix stand auf und ging zur Straße zurück.

»Wo willst du hin?«, fragte Jonas.

»Na, wohin wohl?«, rief Felix. »Ich gehe jetzt ins Dorf und finde heraus, ob wir daran schuld sind, dass es Irrlach nicht mehr gibt.«

Er drehte sich um und lief weiter. Die anderen folgten ihm. Eine Viertelstunde später passierten sie das Ortschild, das wie durch ein Wunder den Wassermassen standgehalten hatte. Es wirkte wie ein Grabstein. Je näher sie dem Dorf kamen, desto offensichtlicher wurde das Ausmaß der Zerstörung. Von den meisten Gebäuden waren nur noch die Grundmauern übrig geblieben. Kein Stein stand mehr auf dem anderen. Der Boden bestand aus Schlammpfaden und länglichen Pfützen, die sich in den Reifenspuren der Rettungslaster gebildet hatten. Eine riesige Planierraupe fuhr an Jonas, Anton, Nina und Felix vorbei und verschwand zwischen den Geröllhaufen. Die vier Freunde folgten ihr.

Als sie den Ortskern erreicht hatten, bot sich ihnen ein deprimierender Anblick. Der Maibaum ragte schräg aus dem Boden wie der Mast eines gekenterten Schiffes. Das Becken des Springbrunnens war mit matschigem Wasser geflutet, und die bronzene Meerjungfrau hing traurig auf einer Seite herunter, als würde sie das Schicksal von Irrlach beweinen. Ein Team des Technischen Hilfswerks war gerade dabei, eine gekappte Stromleitung zu flicken, und ein Bagger lud Trümmer und Geröll auf die Ladefläche eines wartenden Lasters.

In der Mitte befand sich der Krisenstab der Polizei, der die einzelnen Hilfsmannschaften koordinierte. Nina entdeckte Polizeimeisterin Kerstin Hofer, die mit ihren Kollegen über einen Stadtplan gebeugt war. Sie lief zu der Polizistin hinüber.

»Frau Hofer?«, fragte sie.

Die Polizeimeisterin drehte sich um. »Oh, hallo. Ich habe jetzt leider keine Zeit für euch.«

Nina sah sie flehend an. »Wir wollen doch nur wissen, was hier passiert ist.«

»Der Damm ist gebrochen. Aber das müsst ihr doch mitbekommen haben.« Kerstin Hofer sah sie fragend an.

Nina wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Felix hatte eine Idee. »Klar haben wir das mitbekommen«, improvisierte er. »Aber wir wissen nicht, wie es dazu gekommen ist. Wir haben so viele Theorien gehört, und wir wüssten gerne, was wirklich passiert ist.«

Die Polizistin blickte sie mitleidig an.

»Also, ich darf euch leider nichts erzählen, solange die Ermittlungen laufen. Glücklicherweise konnten wir wenigstens das gesamte Dorf rechtzeitig evakuieren, ohne dass es Todesfälle oder Vermisste gab. Der Sachschaden ist jedoch, wie ihr sehen könnt, beträchtlich.«

Felix atmete hörbar auf, und auch die anderen waren erleichtert. Es hatte also keine Toten gegeben.

»Ich muss jetzt leider hier weitermachen«, fügte Kerstin Hofer hinzu. »Außerdem muss ich euch bitten, das Katastrophengebiet zu verlassen. Es ist besser, wenn ihr bei euren Familien bleibt. Ich weiß, dass die Sporthalle von Grafenberg nicht gerade ein Luxushotel ist, aber wir arbeiten an einer Lösung für die Unterkünfte.«

Die vier Freunde verließen den Dorfplatz und gingen in eine Seitenstraße.

»Die Dorfbewohner sind also in Grafenberg untergekommen«, sagte Jonas.

»Wir sollten zu unseren Familien zurückkehren«, schlug Felix vor. »Die machen sich bestimmt schon Sorgen.«

»Eins ist merkwürdig«, sagte Nina.

»Was denn?«, fragte Jonas.

»Na, Kerstin Hofer hat gesagt, dass es keine Vermissten gab.«

»Was ist daran merkwürdig?«

»Warum vermisst keiner uns

Niemand hatte darauf eine Antwort.

»Bis Grafenberg schaffe ich es nie und nimmer«, maulte Anton. »Ich habe schon Blasen an den Füßen.«

»Wenn wir doch nur unsere Fahrräder hätten«, meinte Jonas. »Warum die wohl verschwunden sind?«

»Ich habe eine Idee, wo wir welche bekommen können«, rief Nina. »Folgt mir.«

Sie rannte los, und die Jungs liefen hinterher. Anton keuchte und hielt sich die Seite. Einige Minuten später kamen sie am Freibad an, oder an dem Ort, wo es bis gestern noch gestanden hatte. Der Zaun, der die Liegewiese abgrenzte, war umgeknickt, und das große Becken war mit braunem Schlammwasser gefüllt.

»Du willst doch nicht etwa schwimmen gehen«, sagte Anton.

»Quatsch!«, antwortete Nina. Stattdessen lief sie zum Eingang des Bads. Daneben stand der überdachte Fahrradständer. Er war durch den Druck des Wassers umgefallen. »Helft mir mal«, sagte sie.

Zu viert stemmten sie sich gegen das Dach und schafften es, ihn wieder aufrecht hinzustellen.

»Mit etwas Glück finden wir hier ein paar Räder, die wir uns ausleihen können.«

Viele der Fahrräder hatten den Druck der Flutwelle nicht überstanden, doch nach einigem Suchen fanden sie vier Exemplare, die noch einigermaßen fahrtauglich und nicht angekettet worden waren. Sie schwangen sich auf ihre neuen Fortbewegungsmittel und radelten in Richtung Grafenberg.

Das Zeitportal

eISBN: 978-3-96129-161-8

Edel Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH,
Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Text: Patrick McGinley

Coverillustration: Max Meinzold

Covergestaltung: Antje Warnecke

Lektorat: Christiane Rittershausen

Projektkoordination: Rebecca Hirsch

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung
des Verlages wiedergegeben werden.

Dedicated to Rachael and Sean,
the loves of my life

In memory of Brian McGinley

Wie eine riesige weiße Plastiklibelle glitt die Drohne über das Wasser. Die vier sirrenden Rotoren, die den Minihubschrauber antrieben, hielten ihn erstaunlich stabil. Der Luftzug der Rotorblätter erzeugte ein leichtes Kräuseln auf der Oberfläche des Stausees. Am Kopfende der Drohne saß eine eingebaute Kamera, deren Bild per Funk an die Fernsteuerung des Piloten übermittelt wurde. Die Drohne erreichte den Rand des Sees und gewann an Höhe. Sie flog über die breite Staumauer hinweg, hinter der das Gelände steil siebzig Meter abfiel. Die Drohne beschrieb einen Bogen und richtete ihr Kameraauge auf die massive Wand der Irrlacher Talsperre. Der Staudamm, der Hunderte Millionen Kubikmeter Wasser zurückhielt, war einer der größten Europas, und die Drohne wirkte winzig klein, als sie an der massiven Mauer entlangschwebte. Sie drehte sich und flog mit Höchstgeschwindigkeit rückwärts. Die Kamera filmte eine Nahaufnahme, die sich rasend schnell zu einem Bild des gesamten riesigen Staudamms weitete. Wie der Schutzwall einer Festung aus einem Fantasyfilm ragte die Mauer über das Tal. Jetzt gelangten die ersten Häuser ins Blickfeld der Drohne. Irrlach war ein verschlafenes Fünftausend-Seelen-Nest, das im Schatten der Staumauer an einem Fluss lag. Die Drohne flog über Einfamilienhäuser, eine Schrebergartensiedlung, einen Marktplatz mit Maibaum und das Freibad, das im Sommer Hochbetrieb hatte. Auf einer Wiese jenseits des Dorfes wurden Zelte und Stände für ein Ritterturnier aufgebaut. Alles war so friedlich, so still.

Nichts deutete darauf hin, dass von Irrlach bald nur noch Trümmer übrig sein würden.

Erster Teil

Zweiter Teil

Festnahme

Die Drohne setzte zur Landung auf einer Wiese an. Von dort aus bot sich eine herrliche Aussicht auf den Staudamm und das Tal darunter. Die Kamera fing das idyllische Panorama ein, doch als die Drohne das Gras fast erreicht hatte, tauchten vier Gestalten im Bild auf, die den Ausblick versperrten. Jonas trug eine Baseballkappe, unter der seine roten Locken wie Unkraut hervorwucherten. Ninas schwarze Haare waren zu einem Zopf geflochten, und sie steckte im Trikot ihres Lieblingsfußballvereins. Von Antons T-Shirt blickte die hässliche Fratze von Freddy Krueger herab, und Felix’ Haare standen wie die Stacheln eines Igels zu Berge. Zusammen gaben die vier 13-Jährigen ein ziemlich sonderbares Bild ab. Sie standen ausgerechnet so, dass die Kamera genau auf sie gerichtet war, und beobachteten mit offenen Mündern, wie die Drohne landete.

»Ihr Idioten habt mir die ganze Aufnahme versaut!«, schimpfte der Junge, der die Fernsteuerung in der Hand hielt.

»Cooles Teil«, sagte Nina.

Sven, der zuerst gesprochen hatte, ignorierte sie. Jonas wischte sich verlegen die roten Locken aus dem Gesicht. Wenn es um seine Videos ging, verstand sein großer Bruder keinen Spaß.

»Tut mir leid, Sven!« Jonas wollte die Drohne aufheben, um sie seinem Bruder als Geste der Wiedergutmachung zu übergeben.

»Wag es bloß nicht, sie anzufassen!«, zischte Sven ihn an. »Wenn du auch nur einen Finger an sie legst, ziehe ich dir bei lebendigem Leib die Haut ab!«

Jonas erstarrte und trat einen Schritt zurück.

»Ganz schön aggressiv, dein Bruder«, flüsterte Anton ihm zu.

»Er ist 16«, sagte Nina. »Wahrscheinlich gehen bloß die Hormone mit ihm durch.«

Sven hatte die Drohne geborgen und machte sich am Batteriefach zu schaffen.

»Mist, kein Saft mehr«, murmelte er.

Felix, der alles liebte, was irgendwie mit Technik zu tun hatte, gesellte sich zu ihm. »Sieht wie eine Dreitausend-Milliamperestunden-Batterie aus«, sagte er fachmännisch. »Mit einer Viertausender müsste die Batterie circa …« Er zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte einige Zahlen in die Taschenrechner-App. »… 27 Minuten länger halten.«

Sven, der keine Ahnung hatte, was Felix ihm da gerade vorgerechnet hatte, scheuchte ihn davon. »Das weiß ich selber, du kleiner Streber.«

Felix ging zu den anderen zurück, nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem Zipfel seines Polohemds. »Dafür, dass Sven drei Jahre älter ist als wir, ist nicht viel los in seinem Oberstübchen«, stellte er fest.

»Kurz gesagt, er ist ein Vollpfosten«, antwortete Jonas knapp.

»Wofür filmt er eigentlich all das Zeug?«, wollte Nina wissen.

»Sven hat es sich in den Kopf gesetzt, ein YouTube-Star zu werden. Leider fehlt es ihm an Witz, Intelligenz, Wortgewandtheit …«

»… und er ist nicht gerade eine Augenweide«, warf Nina ein. »Was hat er bloß mit seinen Haaren gemacht?«

»Er steht jeden Morgen vor dem Spiegel und schmiert sich eimerweise Gel in die Haare«, sagte Jonas.

»Sieht aus, als hätte er mit der Gabel in der Steckdose rumgestochert«, meinte Nina spöttisch. Die Jungs brachen in Gelächter aus, was Sven geflissentlich ignorierte.

»Hört ihr das?«, fragte Anton.

In der Ferne heulte ein Motor auf. Zuerst war es kaum hörbar, doch dann wurde das Dröhnen immer lauter, bis ein Streifenwagen auftauchte, der mit Höchstgeschwindigkeit an der Wiese vorbei in den angrenzenden Wald fuhr. Ein zweiter Wagen folgte dicht dahinter.

»Krass! Zwei Streifenwagen, die hier mit Vollgas durch die Landschaft rasen«, rief Anton.

»Endlich ist was los in Irrlach!« Ninas Stimme klang begeistert.

»Kommt, das müssen wir uns ansehen!«, schlug Jonas vor.

Die vier Freunde zogen ihre Fahrräder aus dem hohen Gras und schwangen sich in die Sättel.

»Ich würde gerne wissen, warum ihr so aufgeregt seid«, sagte Felix, als sie mit ihren Rädern auf die Straße einbogen.

»Weißt du nicht, wo diese Straße hinführt?« rief Anton. »Zum Zombiepark!«

Jonas, Anton, Nina und Felix radelten, so schnell sie konnten. Sie folgten der Straße in den dichten Wald, der an die Wiese grenzte. Die riesigen Tannen spendeten Schatten. Die Luft war kühl und erfrischend und eine willkommene Abwechslung von der Mittagshitze im direkten Sonnenlicht.

»Kannst du die Streifenwagen sehen?«, fragte Jonas Anton, der vorausgeradelt war.

»Nein«, antwortete dieser. »Die sind viel zu schnell gefahren.«

Sven, der auf einem Motorroller unterwegs war, überholte sie und verschwand um die nächste Biegung.

»Der hat’s aber eilig«, japste Felix.

»Wahrscheinlich wittert er die große Story für seinen YouTube-Kanal«, meinte Nina. »16-Jähriger mit Kaktusfrisur schnappt Bankräuber.«

In Wahrheit waren die vier ebenso neugierig wie Sven, und sie holten alles aus ihren Fahrrädern heraus. Auf der rechten Straßenseite erschien jetzt der rostige Maschendrahtzaun, an dem Efeu und andere Kletterpflanzen wild emporwuchsen. Große halb vergilbte Warnschilder waren an dem Zaun angebracht:

Sperrgebiet!
Betreten strengstens verboten!

Lebensgefahr!

Was sich hinter diesem Zaun verbarg, wusste keiner so genau. Manche mutmaßten, es handele sich um einen geheimen Militärkomplex. Andere glaubten, der Boden des Areals sei mit Giftstoffen verseucht. Anton hatte natürlich wilde Theorien dazu. Als Horrorfilmfan war er fest davon überzeugt, dass hinter dem Zaun eine Horde Untote wartete – Menschen, die durch ein fehlgeschlagenes Experiment zu hungrigen Zombies geworden waren. Wie ernst er es damit meinte, war ungewiss, doch der Name Zombiepark war bei den Freunden hängen geblieben.

Immer wieder sah Jonas nach rechts und versuchte mit seinen Blicken das Unterholz hinter dem Zaun zu durchdringen. Doch außer Baumstämmen und Gestrüpp entdeckte er nichts, das auf eine Zombieplage oder eine andere Katastrophe hindeutete.

Die vier Radfahrer erreichten eine Lichtung, die an die Straße grenzte. Hier hatten die beiden Streifenwagen angehalten. Sven hatte seinen Roller gegen einen Baum gelehnt und sich so auf der Lichtung positioniert, dass die Streifenwagen hinter ihm zu sehen waren. Er filmte sich mit seinem Handy.

»Hey Leute! Was geht?«, sagte er mit einem aufgesetzt coolen Tonfall. »Ich bin hier im Irrlacher Wald, und hinter mir geht voll die Polizei ab! Im wahrsten Sinne des Wortes. Gerade sind zwei Streifenwagen mit Wahnsinns-Speed an mir vorbeigebrettert und …«

Weiter kam er nicht, denn Jonas und die anderen erschienen hinter ihm im Bild, hüpften auf und ab und schnitten dämliche Grimassen.

»Jonas! Kannst du mal damit aufhören?«, blaffte Sven.

Die vier Freunde lachten bloß. Nina deutete auf die andere Seite der Lichtung. »Hey, YouTube-Star, dir entgeht gerade die Story des Jahres!«

Sven drehte sich um. Drei Polizeibeamte näherten sich einem Mann, der sich am Zaun zu schaffen machte. Zwei hatten ihre Hände auf ihre Dienstwaffen gelegt, ohne diese jedoch aus dem Halfter zu ziehen. Die dritte Beamtin, eine Frau mit blonden Haaren, die unter ihrer Schirmmütze zu einem Knoten gebunden waren, hatte ihre Hände beschwichtigend gehoben.

»Kann man ihnen irgendwie behilflich sein«, fragte sie trocken.

Der Mann, der mit einer Militärjacke und Shorts mit Tarnmuster bekleidet war, blickte verwirrt von einem Beamten zum anderen. Sein Alter konnte man schwer einschätzen, da sein Gesicht von einem krausen, ungepflegten Bart verdeckt wurde. Über der Schulter trug er einen großen, prall gefüllten Rucksack, und auf seinem Kopf saß ein Hut, der aus Alufolie gefertigt worden war und wie ein Trichter aussah. In der Hand hielt er einen Bolzenschneider, mit dem er ein Loch in den Zaun geschnitten hatte.

»Wie wär’s, wenn wir das Ding da mal weglegen und uns ein bisschen unterhalten?«

Die ruhige Art, mit der die Beamtin auf den Mann einredete, zeigte Wirkung. Er ließ den Bolzenschneider fallen und ging rückwärts auf den Zaun zu.

»Ich weiß, was hier los ist!«, krächzte er. Etwas Wahnsinniges schwang in seiner Stimme. Er tippte mit dem Finger gegen seinen Alu-Hut. »Die haben versucht, meine Gedanken zu lesen. Aber ich habe ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht.« Er lachte laut auf. »Und jetzt schicken die euch, um mich dingfest zu machen. Aber nicht mit mir!«

Erstaunlich flink drehte der Mann sich um und machte einen Satz auf das Loch zu, das er in den Zaun geschnitten hatte. Die Polizistin hatte jedoch aufgepasst und sprang hinterher. Blitzschnell warf sie den Mann zu Boden, drehte ihn auf den Bauch und legte ihm Handschellen an.

»Du musstest es uns ja schwer machen«, sagte sie, während sie dem Mann auf die Beine half.

Sven, der alles mit dem Handy gefilmt hatte, schwenkte die Kamera auf sich selbst. »Unglaublich krass!«, sagte er in seiner besten YouTube-Stimme. »Wir sind hier gerade Zeugen geworden, wie die Polizei einen Psycho festgenommen hat!«

Jonas konnte seinen Blick nicht von dem Mann abwenden. Irgendwie war ihm dieser Typ unheimlich. Etwas Verstörendes lag in seinen Augen.

Die beiden anderen Beamten bugsierten den Mann in einen der Streifenwagen. Nina ging auf die Frau zu, die ihn festgenommen hatte. »Das haben sie klasse gemacht!«, sagte sie.

»Danke«, erwiderte die Beamtin etwas verdutzt.

»Was muss man machen, um bei der Polizei zu arbeiten?«, fragte Nina.

»Du willst Polizistin werden?«

»Vielleicht. Ganz schön cool, wie sie den Typen da in die Zange genommen haben.«

Die Polizistin lächelte. »Das ist eher der Ausnahmefall. Aber komm doch mal auf der Wache vorbei, falls es dich interessiert«, sagte sie. »Hier ist meine Karte.«

Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Brusttasche und gab sie Nina. »Polizeimeisterin Kerstin Hofer« stand dort über der Adresse der Irrlacher Wache.

»Wissen Sie schon, was der Mann wollte?«, fragte Jonas.

»Keine Ahnung. Ein Spaziergänger hat uns informiert, dass sich jemand hier am Zaun zu schaffen macht. Jetzt bringen wir ihn erst mal auf die Wache und nehmen seine Personalien auf.«

Anton, der die ganze Zeit gebannt auf das Loch im Zaun gestarrt hatte, wandte ich an Polizeimeisterin Hofer. »Ich hätte da mal eine Frage. Wissen Sie, was sich hinter dem Zaun verbirgt?«

Die Polizistin ließ ihren Blick über die Lichtung schweifen. »Soweit ich weiß, ist es ein Tollwutgebiet. Ich könnte mich aber irren.« Damit stieg Kerstin Hofer in einen der Streifenwagen ein und ließ den Motor an. Die beiden Fahrzeuge wendeten auf der Lichtung und fuhren auf dem Pfad zurück zur Straße. Sven, der die ganze Zeit weitergefilmt hatte, schaltete sein Handy ab und schwang sich auf seinen Roller. »Coole Story. Das muss ich sofort auf meinen Kanal hochladen.« Er gab Gas und verschwand mit lautem Geknatter zwischen den Bäumen.

Jonas, Nina und Felix gingen zu ihren Rädern zurück, doch Anton stand immer noch bei dem Zaun und starrte gebannt auf das Areal dahinter.

»Komm, Anton, worauf wartest du?«, rief Jonas.

Anton blickte ihn an. »Was meint ihr? Sollen wir es wagen?« Mit einem Kopfnicken deutete er an, dass er durch den Zaun schlüpfen wollte.

»Bist du verrückt?«, fragte Felix. »Hast du nicht gehört? Das ist ein Tollwutgebiet.«

»Irgendwie glaube ich das nicht«, sagte Anton.

»Komm jetzt«, sagte Jonas. »Wenn wir heute Abend ins Kino wollen, dann müssen wir uns beeilen.«

Widerwillig hob Anton sein Rad auf und schwang sich auf den Sattel. Als sie die Lichtung verließen, warf er einen Blick zurück. Das Loch im Zaun schien ihn magisch anzuziehen.

Kino

Das Multiplex-Kino lag in Grafenberg, einer größeren Ortschaft jenseits des Irrlacher Tals. Jonas’ Vater hatte sich bereit erklärt, den Chauffeur zu spielen. Nina und Felix waren schon zugestiegen, als das Auto vor dem Haus von Antons Eltern hielt. Im Dachgeschoss, wo sich Antons Zimmer befand, brannte Licht. Jonas kurbelte das Fenster herunter und drückte zweimal auf die Hupe.

»Anton! Beeil dich, wir kommen sonst zu spät«, rief er zum Dachfenster hinauf. Dort erschien kurz darauf Antons Gesicht.

»Bin sofort unten!«

Antons Stimme klang merkwürdig. Jonas hatte den Eindruck, dass Anton den Kinoabend völlig vergessen hatte. Das war ungewöhnlich, denn erstens war er der größte Filmfan der vier Freunde, und zweitens hatte er dem Film, den sie sich ausgesucht hatten, seit Wochen entgegengefiebert. Er hieß Am seidenen Faden und handelte von einem Geheimlabor, dessen Forscher zu grässlichen Spinnenwesen mutiert worden waren. Da der Film erst ab 16 freigegeben war, hatten sie ihren Eltern erzählt, sie würden sich einen Superheldenfilm ansehen. Die Tickets hatte Jonas vorsichtshalber mit einem Gutschein im Internet bestellt, und den Platzanweisern war es sowieso egal, wie alt sie waren.

Anton kam aus der Haustür gerannt und stieg ein. Er trug ein verwaschenes T-Shirt, das mit einem Gremlin-Monster aus dem gleichnamigen Film bedruckt war. Seine Sammlung von Film-T-Shirts war so groß, dass er einen ganzen Monat auskam, ohne zweimal dasselbe T-Shirt zu tragen. Jonas’ Vater fuhr los. Normalerweise plapperte Anton auf dem Weg ins Kino unentwegt, schilderte den Filmtrailer, den er sich mindestens zwanzig Mal angesehen hatte, bis ins kleinste Detail und zählte die Filme auf, die der Regisseur bis dato gedreht hatte. Doch diesmal blickte er gedankenverloren aus dem Fenster.

»Na, freust du dich schon auf Beastman 2«, wollte Jonas’ Vater wissen.

»Wieso Beastman?«, fragte Anton abwesend. Ein Stoß in die Rippen von seiner Sitznachbarin Nina erinnerte ihn daran, dass sie ja vortäuschten, sich den Superheldenfilm anzusehen.

»Ach so, klar, ich freue mich riesig darauf.« Einen Moment lang sah er aus dem Fenster, dann wandte er sich wieder an Jonas’ Vater. »Sagen Sie mal, Herr Wagner, wissen Sie, was sich hinter dem Maschendrahtzaun im Wald verbirgt?«

Herr Wagner dachte einen Moment lang nach. »Ich glaube, das Areal war früher mal eine Giftmülldeponie. So stand es jedenfalls damals in der Zeitung, falls ich mich recht entsinne.«

»Haben Sie den Artikel noch?«, fragte Anton.

»Nein, das ist Jahre her. Das war, kurz nachdem ihr auf die Welt kamt.«

Anton ließ nicht locker und bohrte weiter nach. »Und was für Giftmüll soll das gewesen sein?«

»Oh, das kann ich dir nicht mehr sagen. Schwermetall vielleicht?«

Anton schwieg den Rest der Fahrt.

Der Wagen hielt vor dem Kinokomplex, und Jonas, Anton, Nina und Felix stiegen aus. Sie betraten das Foyer, und der vertraute Geruch von Butter und Popcorn schlug ihnen entgegen. Da es Samstagabend war, hatten sich lange Schlangen vor den Ticketschaltern und der Snackbar gebildet. Während Nina und Anton Popcorn und Cola besorgten, stellte Jonas sich mit Felix an einem der Ticketautomaten an. Vor ihnen lösten gerade drei Mädchen ihre Eintrittskarten.

»Was ist bloß mit Anton los?«, fragte Jonas Felix. »Normalerweise quatscht er vor jedem Film ohne Punkt und Komma. Heute scheint er total abwesend zu sein.«

»Das ist mir auch aufgefallen«, sagte Felix und fuhr sich mit der Hand durch seine Igelfrisur. »Seit wir die Festnahme am Zombiepark beobachtet haben, verhält er sich echt merkwürdig.«

Der Automat spuckte die Tickets aus, und die Mädchen drehten sich um. »Hallo Jonas«, sagte eine von ihnen. »Was seht ihr euch an?«

Sie hatte kastanienbraune Haare und Sommersprossen. Das schönste Mädchen der ganzen Schule. Jonas blickte sie an, und sein Herzschlag setzte einen Moment lang aus.

»Äh … Am seidenen Faden«, murmelte er.

»Cool. Wir haben Tickets für Beastman 2. Ich muss los. Wir sehen uns in der Schule!«

Damit drehte sie sich um und verschwand mit ihren Freundinnen in der Menge.

»Wie gesagt«, fuhr Felix fort. »Anton verhält sich total merkwürdig. So abwesend und gedankenverloren. Hast du deine Geheimzahl vergessen?«

Jonas stand mit ausgestreckter Hand vor dem Ticketautomaten und wusste nicht mehr genau, was er als Nächstes tun wollte. Felix tippte ihm auf die Schulter.

»Hallo, Erde an Jonas.«

»Äh … Ja. Klar.«

Er tippte die Geheimzahl über den Touchscreen ein, und der Automat druckte die vier Eintrittskarten für Am seidenen Faden aus.

»Vielleicht ist das, was Anton hat, ansteckend. Du scheinst jedenfalls auch nicht mehr voll und ganz geistig anwesend zu sein«, scherzte Felix.

Jonas drehte sich zu ihm und konnte gar nicht anders, als zu grinsen. »Sie weiß meinen Namen!«, stammelte er.

»Wer?«, fragte Felix.

»Alina. Alina Sommer.«

Felix kam immer noch nicht mit. »Hä?«

»Sie hat mit mir geredet, und sie weiß meinen Namen.«

Nina und Anton stießen, mit Popcorn und Cola beladen, zu ihnen. »Habt ihr die Tickets?«, fragte Nina.

»Ja«, sagte Felix. »Aber leider hat Jonas einen Hirnschlag erlitten, denn er faselt wirres Zeug.«

Jonas überhörte Felix’ Kommentar. »Sie hat gesagt, es ist ›cool‹, dass ich mir Am seidenen Faden ansehe. Und dann hat sie gesagt ›Wir sehen uns in der Schule‹.«

Nina kratze sich am Kinn. »Oh, es ist schlimmer als ein Hirnschlag«, lautete ihre Diagnose. »Ich fürchte, Jonas ist verknallt.«

Jetzt erst ging Felix ein Licht auf. »Ach so.«

Nina ließ ihren Blick durchs Foyer schweifen und entdeckte die drei Mädchen, die sich gerade in Richtung eines der Kinosäle von ihnen entfernten.

»Lass mich raten«, meinte Nina. »Ein schwerwiegender Fall von Alina Sommer?«

»So ist es«, antwortete Felix.

»Na ja, wenigstens hat er Geschmack … Hey Jonas, jemand zu Hause?«

Jonas dachte an Alinas Sommersprossen und nahm die Unterhaltung seiner Freunde wie in Trance wahr. Erst als Nina mehrmals vor seinem Gesicht mit dem Finger schnippte, kam er wieder zu sich.

»Nimm mal das Grinsen aus deinem Gesicht und komm mit. Der Film fängt gleich an.«

Jetzt erst wurde Jonas bewusst, wie dämlich er vermutlich gerade dreinschaute. Er warf einen letzten Blick in die Richtung, in die Alina verschwunden war, und folgte Felix und Nina in den Kinosaal. Anton, der neben ihm ging, sagte kein Wort.

Der Werbeblock war gerade zu Ende, als die vier in der Mitte der hinteren Reihe ihre Plätze einnahmen. Das Licht ging aus, der Film fing an, und die Blicke der Zuschauer hefteten sich gebannt auf die Leinwand, auf der ein Wissenschaftler von einer furchterregenden Kreatur gejagt wurde. Trotz der spannenden Szene konnte Jonas dem Film nicht folgen. Er spielte in Gedanken immer wieder die Begegnung mit Alina durch und analysierte jedes Wort bis ins kleinste Detail. Noch immer konnte er nicht fassen, dass das tollste Mädchen der Schule ausgerechnet mit ihm gesprochen hatte.

Gedankenverloren griff Jonas in den Popcorneimer zwischen ihm und Anton. Dabei fiel sein Blick auf Anton. Er hatte das Popcorn nicht angerührt. Jonas schien nicht der Einzige zu sein, der nicht bei der Sache war. Normalerweise gehörten Popcorn und Horrorfilme für Anton einfach zusammen. Doch jetzt saß er stocksteif da und starrte auf die Leinwand, scheinbar ohne etwas von der Handlung wahrzunehmen. Es war fast ein bisschen unheimlich. Jonas hatte zwar keine Ahnung, was in Antons Kopf vorging, aber er vermutete, dass kein Mädchen für diesen Zustand verantwortlich war.

Das Geheimnis von Irrlach

Anton hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, doch es hatte sich gelohnt. Er war da einer ganz heißen Sache auf der Spur, dessen war er sich sicher. Er ging noch mal all die Beweisstücke durch, die er im Laufe der Nacht zusammengetragen hatte. Die Landkarte, das YouTube-Video, die Webseite, all diese Puzzlestücke begannen sich zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, und dieses Bild war nichts anderes als eine Sensation. Wenn er mit seinen Nachforschungen recht hatte, dann war er dabei, die größte Verschwörung der Weltgeschichte aufzudecken. Natürlich hatte er Ninas Fußballspiel völlig vergessen. Bestimmt würden seine Freunde sauer sein, aber wenn er ihnen erzählte, was er herausgefunden hatte, würden sie es verstehen. Jedenfalls hoffte Anton das. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schloss die Augen. Er war hundemüde.

Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinem Sekundenschlaf. War es wieder seine Mutter, die ihn mit Frühstück oder irgendeiner anderen Unwichtigkeit nervte? Doch kurz darauf hörte er Jonas’ Stimme.

»Jemand zu Hause?«

Anton sprang auf. Alle Müdigkeit fiel von ihm ab. Seine Freunde kamen genau im richtigen Moment! Er ging zur Tür und wollte sie öffnen, doch das gestaltete sich schwierig, denn davor hatte er einen Stapel alter Zeitungen aufgeschichtet. Sein Vater war Journalist und schrieb für den Irrlacher Anzeiger. Anton hatte einen Großteil der Nacht damit verbracht, alte Ausgaben vom Speicher zu holen und sie durchzublättern. Die Tür öffnete sich nur wenige Zentimeter.

Nacheinander quetschten sich Jonas, Nina und Felix durch den schmalen Spalt in sein Zimmer – und blieben sprachlos stehen. Kein Wunder, denn Antons Zimmer konnte man nur als komplettes Chaos beschreiben. Die Horrorfilmposter, die normalerweise die Wände zierten, waren verschwunden. Stattdessen hatte Anton eine große Landkarte des Irrlacher Tals an die Wand geheftet. Mit einem roten Filzschreiber hatte er allerlei Linien und Kreise darauf eingezeichnet. Daneben hingen ausgedruckte Seiten aus dem Internet. Auf Antons Schreibtisch stand sein Laptop, auf dessen Bildschirm eine YouTube-Seite zu sehen war.

»Was ist denn hier passiert?«, fragte Jonas unsicher.

»Gut, dass ihr da seid!«, sagte Anton. »Ich glaube, ich bin kurz davor, Licht ins Dunkel zu bringen.«

Er wischte einen Stapel Papier von seinem Bett und bat sie Platz zu nehmen. Dabei entging ihm nicht, dass Nina, Felix und Jonas besorgte Blicke wechselten. Anton stellte sich vor seine Freunde und sah einem nach dem anderen in die Augen. Es war Zeit, das Geheimnis zu lüften!

»Ich glaube, draußen im Wald ist ein UFO.«

Nina, Felix und Jonas starrten ihn ungläubig an. Wahrscheinlich dachten sie, er sei verrückt geworden. Jonas öffnete den Mund, doch Anton kam ihm zuvor.

»Ich weiß, was du sagen willst, dem guten alten Anton ist eine Sicherung durchgebrannt. Aber hört erst mal zu.«

Er schnappte sich den Laptop und hielt ihn vor sich, sodass die anderen den Bildschirm gut sehen konnten.

»Das ist das YouTube-Video, das dein Bruder gestern hochgeladen hat«, sagte Anton, an Jonas gewandt. »Seht genau hin.«

Er drückte die Leertaste, und das Video lief los. Sven war im Vordergrund zu sehen. Hinter ihm sprach Kerstin Hofer mit dem verwirrten Mann, der das Loch in den Zaun geschnitten hatte. Die drei sahen angestrengt zu, konnten jedoch nichts Ungewöhnliches entdecken.

»Gleich kommt es«, sagte Anton. An einem bestimmten Moment drückte er auf Pause.

Das Bild fror ein. Die Polizistin hatte den Mann gerade gepackt und legte ihm Handschellen an.

»Seht ihr es?«, fragte Anton.

»Was denn?«, fragte Jonas.

»Na da! Auf seinem T-Shirt.«

Die drei beugten sich vor. Auf dem T-Shirt des Mannes prangte ein Logo mit einer Webadresse: »www.jaspervogel.info«.

»Na und?«, sagte Nina.

»Als ich das Video gestern gesehen habe, bin ich sofort auf die Webseite gegangen. Seht her!«

Er gab die Adresse in den Browser ein, und die Seite wurde geladen. Ein Foto des Mannes erschien, auf dem er sich scheinbar das Gesicht von unten mit einer Taschenlampe anleuchtete, um gruseliger zu wirken. Darunter stand sein Name: Jasper Vogel, Ufo-Forscher und Experte für paranormale Phänomene. Die Seite bestand aus einem grellbunten Mix aus Schriftarten, animierten GIFs und blinkenden Bannern. Die Überschrift prangte in knallroten Buchstaben über dem Foto: Das Geheimnis von Irrlach – Das UFO-Dorf am Stausee.

»Ich habe die Seite seit gestern Nacht genauestens studiert und meine eigenen Nachforschungen angestellt. Jasper Vogel hat die Theorie, dass die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg hier eine Spionagestation betrieben haben.«

Er riss einen Papierausdruck von der Wand und hielt ihn hoch.

»Hier steht, dass das Areal im Wald im Kalten Krieg eine Art Militärstützpunkt war, von dem aus Erkundungsflugzeuge nach Osteuropa gestartet wurden, um die Russen auszuspionieren. Als der Kalte Krieg vorbei war, hat die CIA sie übernommen und ihr den Codenamen Area Zero gegeben. Vogel hat herausgefunden, dass sie die Ufo-Aktivität am Donnerstein beobachteten.«

Anton hatte sich in Rage geredet. Er musste sich konzentrieren, um nicht den Faden zu verlieren, schließlich hatte er die Nacht durchgemacht. Die Müdigkeit lag wie ein Schleier über seinen Gedanken. Er zog nun nach und nach die ausgedruckten Fotos von der Wand, die angeblich CIA-Spione, verschwommene Ufos und Alienleichen zeigten, und begann seine Theorien zu erklären. Nina, Jonas und Felix lauschten ihm gebannt. Anton endete damit, dass er einen schwarzen Filzschreiber zückte und einige Punkte auf der Landkarte einzeichnete.

»… und das sind die Punkte, an denen Vogel die Vibrationen in der Erde gespürt hat. Und wenn man sie so mit ein paar Linien verbindet …«

Er zeichnete die Striche zwischen den Punkten ein.

»… dann ergibt es das Omega-Symbol! Das gleiche Symbol, das auch auf den geheimen Hubschraubern war, die er in den Achtzigerjahren fotografiert hat!«

Er blickte seine Freunde erwartungsvoll an. Er hatte gerade das vielleicht größte Rätsel der Menschheitsgeschichte gelöst, und er konnte sehen, dass sie schwer beeindruckt waren.

»Jetzt sehe ich es auch«, sagte Nina.

Jonas und Felix drehten sich zu ihr um. Nina kniff die Augen zusammen und blickte auf die Karte. »Gib mir mal den Stift.«

Anton händigte Nina den Stift aus. Sie ging auf die Karte zu.

»Ich glaube, du hast einen kleinen Fehler gemacht. Denn wenn man die Punkte so verbindet …« Sie malte einen großen Kreis und zwei kleinere, die daran angrenzten. »… dann sieht man ganz klar, es handelt sich um … Mickey Maus!«

Jonas und Felix prusteten los. Anton spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss.

»Oh mein Gott!«, rief Nina, mit gespieltem Schrecken. »Die CIA hat Mickey entführt! Vielleicht führen sie jetzt ganz schlimme Tierversuche an ihm durch!«

Alle lachten – außer Anton.

»Vollidioten«, sagte er und ließ sich frustriert auf seinen Stuhl sinken.

»Anton, dieser Jasper Vogel ist völlig plemplem«, sagte Nina. »Wie kannst du einem Typen glauben, der einen Hut aus Alufolie auf dem Kopf trägt?«

»Der ist gegen die Strahlung. Damit sie seine Gedanken nicht lesen können«, murmelte Anton. Jetzt glaubte er selber nicht mehr so ganz daran.

»Alufolie ist viel zu dünn, um irgendeine Strahlung zu stoppen«, sagte Felix fachmännisch. »Da müsste man schon einen Hut aus massivem Blei aufsetzen.«