Tödliches Tarock

Kriminalroman

Lore Macho


ISBN: 978-3-99074-098-9
1. Auflage 2020, Marchtrenk, Österreich
© 2020 Verlag Federfrei

Umschlagabbildung:
© ilona, Adobe Stock
Lektorat: N. Paul

Sämtliche Protagonisten dieses Romans, ihre Namen und ihre Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

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Inhalt

 

 

»Spiel ist die höchste Form der Forschung.«

Albert Einstein

Kapitel 1

 

»Zwanzig!«

Der ortsansässige, kleine und pummelige Leopold Polterer, Bruder von Waltraud Zechbauer und Schwager von Gemeinderat Hugo Zechbauer, sitzt gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig mit drei weiteren Spielern im neuen Klein Schiesslinger Kulturhaus am runden Tisch, welcher an der Stirnseite des Veranstaltungssaales aus praktischen Gründen platziert wurde. Praktisch deshalb, weil ein großer Teil des Raumes für die bei solchen Turnieren unausbleiblichen Kiebitze frei bleibt. Sie stehen in gewissem Abstand zum Spielertisch und geben mehr oder weniger passende Kommentare ab, was die Spieler jedoch nicht tangiert.

Diese sind so in ihre Karten vertieft und nehmen daher kaum wahr, was um sie herum geschieht. Der Schiedsrichter des Turniers, der Klein Schiesslinger Gemeinderat Heinrich Silvaner, beobachtet aufmerksam das Spiel. Er fungiert in dieser Endrunde als neutraler und unparteiischer Mann, steht er doch zu keinem der Akteure in einem verwandtschaftlichen oder sonstigen Verhältnis. Aber mehr verbindet ihn mit diesem Spiel auch wieder nicht. Wenn er schon einmal Karten spielen muss, was selten der Fall ist, weil ihn seine Berufung als Gemeinderat von Klein Schiessling voll und ganz auslastet, bevorzugt er lieber das traditionelle Schnapsen. Da er jedoch mit den Tarockspielregeln ein bisserl mehr vertraut ist als alle anderen Dörfler, ausgenommen Leopold Polterer natürlich, hat man ihn dazu verdonnert.

Den Vater Leopold Polterers, den Willibald Polterer, konnte man aus Gründen der Befangenheit ja schlecht als Unpartei­ischen nominieren. Er darf aber das Spiel im Saal kritisch mitverfolgen.

Leopold Polterer hat es bis in die Endrunde geschafft und sitzt gelassen am Spielertisch. Hie und da nimmt er einen genussvollen Schluck aus seinem Bierkrügerl, wischt sich mit dem Handrücken über den Mund und vertieft sich danach wieder in sein Spiel. Er vertritt heuer erstmals die Großgemeinde bei der Bezirksmeisterschaft im Tarock, und darauf ist er ganz besonders stolz.

Tarock ist auf dem Land nicht so bekannt und verbreitet wie Schnapsen, aber dennoch. Es gesellen sich jährlich immer mehr Interessenten dazu, was nicht zuletzt an dem überaus großen Engagement Leopold Polterers liegt. Tarock gehört zu seinen absoluten Lieblingskartenspielen, wurde es ihm doch schon vor unzähligen Jahren von seinen Eltern mit in die Wiege gelegt. In seiner Familie hat man Tarock, hier ist natürlich die Rede vom ganz gewöhnlichen »Zwanzigerrufen« und nicht vom anspruchsvollen »Königsrufen«, dem edelsten aller Tarockspiele, stets dem ortsüblichen Schnapsen vorgezogen. Es bietet erstens mit zehn Spielkarten in der Hand mehr Möglichkeiten als mit fünf, wie beim Schnapsen, und zweitens ist es ein Kartenspiel der gehobenen Klasse. Behauptet zumindest sein Vater, Willibald Polterer. Durch dessen unermüdliches Engagement wird das Endspiel ja heuer auch zum ersten Mal in dem niedlichen Weinort Klein Schiessling, im westlichsten Zipfel des niederösterreichischen Weinviertels, an der Grenze zum Waldviertel gelegen, ausgetragen. Noch dazu in dem neuen Kulturhaus, auf welches die Dörflerinnen und Dörfler des kleinen Weinbauortes besonders stolz sind, hat es doch ihr Bürgermeister, Alfons Pummerl, im Frühjahr feierlich eröffnet und der Pfarrer des Ortes, Miroslav Jankovic, mit allem Brimborium eingeweiht. Kurz nach dieser Einweihungszeremonie ließ sich allerdings der Reporter Ferdinand Schlaumeier genau dort erschlagen und hat es damit auch schon wieder entweiht.

Bei dem im Garterl des Kulturhauses spärlich vor sich hin tröpfelnden Brunnen, welcher vorwiegend von den weiblichen Bewohnern sofort ins Herz geschlossen und sogar zum »Wallfahrtsort« erklärt wurde, herrschte danach verständlicherweise längere Zeit Ruhe.

So einen mordswichtigen Event wie das Endspiel dieses Turniers, sämtliche Vorrunden finden ja leider immer in Wien statt, bloß mit den Endrunden beglückt der Verband jährlich einen anderen österreichischen Ort, kann und darf man sich in Klein Schiessling natürlich nicht entgehen lassen. Noch dazu, wo das neue Kulturhaus als solches auch genutzt werden will. Aus diesem Grund hat die Familie Polterer dafür gesorgt, dass eben diese Endrunde der heurigen Bezirksmeisterschaft nur hier und nirgendwo anders stattfindet.

Leopold Polterer ist Elektriker und hat ein ansehnliches Geschäft in Eggenburg. Seine kleine, rundliche Figur steckt heute in Jeans, rotkariertem Hemd und bequemen Schuhen. Seine knollige Nase ist der Farbe seines Hemdes angepasst.

Weiterer Teilnehmer in dieser Endrunde ist zunächst einmal der überaus schlanke und aufgemascherlte Feschak Max Meier-Schönberg, der vor ein paar Monaten von Wien nach Horn gezogen ist. Der Grund für diesen Tapetenwechsel ist nicht bekannt.

Kaum in Horn angekommen, setzte er sich vehement für dieses Kartenspiel ein. Er bezeichnet sich selbst als Profi, da er im Großraum Wien bereits etliche solcher Tarockturniere gewonnen hat und nun bestrebt ist, diese Siegerserie im Bezirk Horn fortzusetzen. Man sieht ihn stets in lässiger Designerkleidung, jedoch nie ohne knallrotes Schirmkapperl, das selbst beim Spielen seine Haarpracht bedeckt, und ebensolchen Sneakers. Bei einer Länge von fast einem Meter neunzig und Schuhgröße achtundvierzig ist er damit nicht zu übersehen. Und das will er auch nicht! Übersehen werden! Immerhin kommt er aus Wien, und das hat schon allerhand zu bedeuten! Meint er! Als ehemaliger Bundeshauptstädter blickt er verächtlich auf diese Landeier, wie er die Horner samt Umgebung nennt, herab. Man fragt sich nur, warum er nicht in Wien geblieben ist. Hinter vorgehaltener Hand wird eifrig gemunkelt, er sei abergläubisch, weshalb er in diesem auffälligen Outfit herumrennt, hat er doch sein erstes Turnier in Wien in ebendiesem knallroten Beiwerk haushoch gewonnen.

Der nächste Teilnehmer, der Grasdorfer Siegfried Klescher, ist mittelalt, mittelgroß, mittelstark, mit beginnender Glatze, kleidet sich unauffällig, und sonntags sieht man ihn mit seiner Frau Veronika Hand in Hand durch die Gegend streifen. Egal ob Sommer oder Winter, egal bei welchem Wetter. Nur zu diesem Endspiel hat ihn Veronika nicht begleitet, weil ihr am Kartenspielen, wie sie selbst behauptet, halt so überhaupt nichts liege. Und beim Tarockieren sei ihr schleierhaft, wie man mit römischen Ziffern überhaupt Kartenspielen kann.

Der vierte Mitstreiter ist Friedrich Zackl aus Eggenburg. Er steckt etwa in der gleichen Figur wie Leopold Polterer, nur sein Äußeres wird langsam schäbig, seit seine liebe Frau Gemahlin im vergangenen Sommer überraschend das Zeitliche gesegnet hat. Keiner aus der Gegend konnte sich damals erklären, warum Frau Zackl so plötzlich und unerwartet verstorben ist. Sie war stets gesund und munter, vor allem aber munter, was man von ihrem Mann nicht gerade behaupten kann. Denn außer Tarockspielen begeistert ihn so gut wie überhaupt nichts.

 

Nachdem sich also der pummelige Leopold Polterer mit dem Ruf »Zwanzig« seinen in dieser Partie bis dahin noch unbekannten Partner gerufen hat, lehnt er sich im Sessel zurück und blickt erwartungsvoll in die Gesichter seiner drei Mitspieler. Eggenburg und Grasdorf sagen »Weiter«, jedoch Horn gibt »Kontra«. Na, das kann ja heiter werden, denkt Polterer. Immerhin hält er Mond, Sküs und Neunzehn selber in der Hand, und mit dem Zwanziger seines Partners schaut das Spiel schon fast gewonnen aus. Bedauerlicherweise fehlt ihm der Pagat, sonst hätte er diesen ansagen können. Ein paar kleinere Tarocks und zwei Könige stapeln sich zusätzlich in seiner linken Hand. Deshalb nimmt er das »Kontra« des Horners Max Meier-Schönberg gelassen hin, wirft aber einen fragenden Blick auf den Grasdorfer Siegfried Klescher, der ihm gegenübersitzt, und den Eggenburger Friedrich Zackl zu seiner Linken. Aber beide haben schon »Weiter« gesagt und stieren stur in ihre Karten, ohne aufzublicken. Deshalb verzichtet Polterer auf ein »Re«, beginnt das Spiel und eröffnet damit die Endrunde der ersten Tarockbezirksmeisterschaft im Klein Schiesslinger Kulturhaus samt Tröpferlbrunnen.

 

Noch bevor diese letzte Runde im Kulturhaus beginnt, sitzt Hedwig Uhudler ihrem Gatten Günter Uhudler, Winzer in Klein Schiessling, daheim am Küchentisch gegenüber und hängt gespannt an seinen Lippen. Günter erklärt ihr soeben die Tarockspielregeln und beginnt damit, ihr verständlich zu machen, was es mit dem »Zwanzigerrufen« auf sich hat. »Also«, beginnt er, »jeder Spieler hält zehn Karten in der Hand, und der Rufer kann entweder allein spielen oder seinen Partner durch Rufen ermitteln.«

»Aha! Versteh ich nicht, aber mach weiter.«

Günter lässt sich durch Hedwigs Einwand nicht beirren und fährt mit seiner Erklärung schulmeisterlich fort: »Man ruft dabei stets die Tarockkarte ›Zwanzig‹, außer man hat sie selber in der Hand, dann ruft man ›Neunzehn‹, hat man die auch, ruft man ›Achtzehn‹ und so weiter. Und derjenige Spieler, der die gerufene Karte in seinem Blatt hat, ist der Partner des Rufers. Ist doch ganz einfach! Die beiden anderen Spieler sind die Gegner, wissen es aber nicht, bis im schlechtesten Fall der Zwanziger oder halt die gerufene Karte fällt.«

Jetzt befeuchtet er seine trockene Kehle mit einem Schluck Grünen Veltliner aus dem Vorjahr und setzt fort: »In der Praxis, musst du dir vorstellen, ist dieses Spiel aber viel diffiziler. Man sieht bereits an den Karten, die die einzelnen Spieler zugeben, wer wessen Partner sein könnte.«

Hedwig antwortet ihrem Mann mit einem neuerlichen Unverständnis heischenden »Aha«, steht auf und marschiert demonstrativ in die Küche.

»So ein Blödsinn«, brummt sie vor sich hin und beginnt, ihren Geschirrspüler auszuräumen.

 

Im Kulturhaus erreicht das Turnier seinen Höhepunkt. Günter Uhudler ließ seine Hedwig allein zu Hause und verfolgt nun interessiert das Spiel.

Nach der sechzehnten und letzten Runde, in der Leopold Polterer und der Horner Max Meier-Schönberg knapp vorne liegen, ist die Zeit bereits weit fortgeschritten und draußen braut sich ein Gewitter zusammen.

Polterer schiebt in einer kurzen Pause sein Bierkrügerl von sich und atmet erleichtert auf. Er genießt die Punkte, die er im Laufe des Abends und der angebrochenen Nacht erspielt hat. Und kaum ist er so mitten im Freuen drinnen, erhellt ein Blitz den Saal und der dazugehörige Kracher bringt die alten Mauern des Kulturhauses zum Beben.

Im selben Moment geht das Licht aus. Die Tarockrunde, die überschaubaren Kiebitze sowie den Wirt, Josef Maria Krügerl, der an der Wand lehnt und das Spiel interessiert verfolgt, umgibt augenblicklich völlige Finsternis. Aufschreie sind zu hören, dann ist es still.

Totenstill!

Nur Josef Maria Krügerl vernimmt in seiner unmittelbaren Nähe ein leises, merkwürdiges und für ihn vorerst undefinierbares Geräusch. Seine Nackenhaare sträuben sich. Bevor er sich jedoch Gedanken darüber machen kann, bricht Unruhe im Saal aus, die ihn dieses Geräusch vorerst vergessen lässt.

Rufe nach dem Lichtschalter werden laut, ein Sessel fällt um! Weitere grelle Blitze, die für Sekundenbruchteile den Saal in helles Licht tauchen, mit gleichzeitigem Donnerkrachen sowie ein Jahrhundertwolkenbruch prasseln auf das Klein Schiesslinger Kulturhaus nieder! Und auf den restlichen Ort natürlich auch.

 

Kapitel 2

 

Ein Riesenkracher reißt mich aus meinen Träumen.

Schon wieder ein Gewitter, fährt es mir durch den Kopf. Mein Pulsschlag klettert auf hundertachtzig und meine Hände zittern wie Espenlaub. Während ich aufgeregt nach dem Schalter des Nachtkastllamperls tapse, folgt ein neuerlicher Blitz mit gleichzeitigem ohrenbetäubenden Kracher und erschüttert meinen Seelenfrieden abermals. Ich drücke den Lichtschalter, aber nichts tut sich. Um mich herum bleibt es stockmohrenfinster.

Auch das noch!

Nicht genug, dass mir vor Schreck fast das Herz in die Pyjamahose gerutscht ist, hat es wahrscheinlich auch noch den FI rausgehauen. Eine Weile verharre ich in lauschender Position, dann stehe ich langsam auf und taste mich in der Finsternis vorwärts bis ins Vorzimmer, wo unter der Ablage eine Taschenlampe liegt.

Au!

Kruzitürken!

Der Türstock rammt meine linke Hüfte und der Schmerz fährt mir bis ins Hirn. Nach ein paar Schritten an der Wand entlang fühle ich Holz. Ich tapse weiter, spüre die Ablage und gleich darauf Metall. Ich habe die Taschenlampe gefunden. Aber noch ehe ich sie anknipsen kann, folgt ein neuerlicher Blitz mit explosionsartigem Schepperer. Vor Schreck fällt sie mir aus der Hand und knallt auf den Fußboden. Mit zittrigen Fingern suche ich nach ihr. Dann, nach einer Weile, berühren meine Fingerspitzen neuerlich Metall und ich schnappe danach. Es gelingt mir sogar, die Taschenlampe einzuschalten. Der längliche Lichtkegel wandert durchs Vorzimmer und beruhigt mich ein bisserl, aber nur bis zum nächsten Donnerkrachen. Dieses übertrifft alle vorhergegangenen ums Hundertfache. Jetzt hat es eingeschlagen!

Na prack!

Angst und Verzweiflung schütteln sich die Hand und Schweißperlen kollern über mein Gesicht.

Den FI wieder einzuschalten hat wenig Sinn, weil im Augenblick dieses letzten Krachers auch die Straßenbeleuchtung ausfiel. Um mich herum herrscht totale Finsternis. Drinnen und draußen! Und der Stromkasten ist draußen! Zusätzlich schüttet es wie aus Schaffeln. Ein Unwetter, wie es im Buche steht. Der Regen prasselt auf das Dach, als wäre es Hagel, und macht die Situation um keinen Deut besser.

Weltuntergangsstimmung pur!

Und weil mir im Moment nichts Besseres einfällt, schlurfe ich im Schein der Taschenlampe zitternd zurück ins Bett, lasse mich in die Polster fallen, ziehe mir die Decke über den Kopf und stoße einen tiefen Seufzer aus. Sollen mich doch alle Gewitter kreuzweise!

Irgendwann muss ich eingeschlafen sein.

Am folgenden Morgen trifft mich Schock Nummer … was weiß ich.

Ich will den FI wieder einschalten, aber nichts tut sich.

Ich versuche es neuerlich, der Strom bleibt aus. Nichts geht mehr! Rien ne va plus!

Nach einem kurzen Check durchs Haus trifft mich die Gewissheit:

Telefon tot!

Fernseher tot!

DVD Player kaputt!

Den Splitter hat‘s zerrissen und seine Einzelteile kugeln teilweise verkohlt im Vorzimmer herum!

Modem im Eimer! Alles im A… !

 

Die Gewitter in unserer Gegend werden in den letzten Jahren stets heftiger und auch immer häufiger. Es gibt kaum einmal Regen, ohne dass es dabei nicht auch blitzt und kracht. Nichts ist mehr so, wie es einmal war. Leider!

Aber je größer die Verzweiflung, desto schneller die Rettung. Diese kommt in Form eines Streifenwagens, der langsam vor meinem Gartentürl ausrollt. Ich hirsche die Stiegen hinunter, sperre auf und werfe mich schluchzend in Sepps Arme. Der hält mich fest, streicht mir über den Kopf und ich kann seinen warmen Atem spüren. Nie wieder will ich die Geborgenheit dieser Umarmung verlassen!

»So arg war‘s?«, flüstert er mir nach einer Weile ins Ohr.

Ich nicke und ein herzzerreißender Schluchzer bricht aus mir heraus, der sicherlich bis zum Grottenolmteich zu hören ist. Doch wer könnte mich rascher beruhigen als Sepp. Er streicht mir noch einmal über den Kopf, nimmt mich dann beim Arm, führt mich zum Haus hinauf und bugsiert mich im Wintergarten auf einen Sessel.

 

Zwei doppelte Obstler und eine Packung Taschentücher später erfahre ich von ihm, dass das Unwetter in der ganzen Umgebung gewütet und es in unserem Kulturhaus sogar einen Toten gegeben hat. Der Klein Schiesslinger Tarockteilnehmer Leopold Polterer wurde in einer Spielpause erstochen.

»Der Schreiner und die Angela sind noch am Tatort und ich muss auch gleich wieder weg«, meint er entschuldigend und legt mir beide Hände auf die Schulter. Das fühlt sich gut an. Sehr gut sogar.

»Ja, Sepp, geh nur! Ich komm schon zurecht.«

Der Polterer, grüble ich, nachdem er weg ist. Der Leopold Polterer? Ich kann es nicht fassen. Da hat er sich stark gemacht und erstmals bei uns so eine Tarockmeisterschaft organisiert und dann das. Wird einfach erstochen! Schrecklich! Aber was soll‘s. So gut kannte ich ihn auch wieder nicht.

Nachdem Sepp mit seinem Streifenwagen verschwunden ist, rufe ich den Elektriker in Eggenburg an. Jeder ist sich schließlich selbst der Nächste.

»Ja mei«, meint der, nachdem ich ihm meine Misere geschildert habe. »Sie sind nicht die Einzige, bei der es eingeschlagen hat. Vor morgen Früh kann ich nichts für Sie tun.«

Mir bleibt die Spucke weg!

Was glaubt denn der Kerl?

»Ja soll ich jetzt einen ganzen Tag ohne Strom auskommen, oder was? Wie stellen Sie sich das denn vor? Ich kann mir ja nicht einmal einen Kaffee kochen!«, werfe ich ihm empört an den Kopf.

Unerhört sowas!

Eine Weile herrscht Stille in der Leitung, dann verspricht er vage, jemanden vorbeizuschicken.

»Genauen Termin kann ich Ihnen aber keinen nennen.«

Na also!

Geht doch!

Warum nicht gleich?

 

Kapitel 3

 

Inspektor Julius Schreiner fertigt rasch eine Skizze über die Sitzposition der einzelnen Spieler am Tisch an und unterhält sich danach aufgeregt mit den Männern der Spurensicherung, die noch immer den Tatort bevölkern.

Der Pathologe Dr. Heribert Weinzierl hat schon längst das Kulturhaus samt Leiche verlassen und ist bald dabei, sie aufs Genaueste zu untersuchen, damit er die ermittelnden Beamten über den genauen Tathergang informieren kann. Dass es sich jedoch um eine tödliche Stichverletzung handelt, die durch eine lange Nagelfeile verursacht wurde, die in der linken Halsseite des Toten steckte, konnte er dem Inspektor bereits bestätigen. Und die Uhrzeit steht ohnehin fest. Der Mord passierte in der Pause während des Stromausfalls. Also genau um null Uhr siebenunddreißig.

»Alles Weitere nach der Obduktion!«

Wie immer halt!

Die Polizistin Angela Bauer hechelt durch den Saal des Kulturhauses gezielt auf den Wirt Josef Maria Krügerl zu, der in einem Sessel hängt und vor Müdigkeit pausenlos gähnt.

»Herr Krügerl, geht‘s Ihnen besser? Kann ich Sie etwas fragen?«

Der nickt matt mit dem Kopf. »Nützt doch nichts«, brummt er leise. »Sie müssen ja auch Ihre Arbeit machen.«

»Danke für Ihr Verständnis.« Angela Bauer blickt kurz zu ihrem Kollegen Sepp Tauber, der sich eingehend mit Günter Uhudler unterhält, und wendet sich danach wieder dem Wirt zu. »Ist Ihnen während des Spieles oder danach irgendetwas aufgefallen?«

Krügerl mustert Angela Bauer eine Weile und runzelt nachdenklich die Stirn.

»Aufgefallen? Während des Spieles? Also das Spiel war ganz normal.« Übermüdet hebt er den Kopf, zusätzlich ist ihm die Erschütterung über den Tod Leopold Polterers deutlich anzusehen. Immerhin sind beide in Klein Schiessling aufgewachsen, miteinander zur Schule gegangen, haben sich in dieselben Mädchen verliebt und heimlich im Weinberg von Hugo Zechbauer ihre erste Zigarette geraucht. Das verbindet!

Diese Aussage, dass keinem etwas auffiel, ist der Polizistin nicht neu.

»Die paar Zuschauer sind in einiger Entfernung um den Spielertisch herumg‘standen«, erzählt der Wirt schleppend, »und der Heinrich, der Gemeinderat Silvaner, mein ich, der ja die Aufsicht über diese Endrunde g‘habt hat, ein bisserl näher am Tisch. Der musste ja aufpassen, dass nicht gemauschelt wird und alles mit rechten Dingen zugeht.« Dabei deutet er mit weit ausgestrecktem Arm in Richtung runden Tisch. »Und die vier Spieler sind dort g‘sessen.« Er bewegt seinen Kopf ungläubig hin und her. »Was hätte mir denn sonst noch auffallen sollen?«

»Ja, was weiß ich? Vielleicht ist ein Fremder hereingekommen? Oder gab es Streit unter den Zuschauern? Oder unter den Spielern?«

Angela Bauer blickt sich hilfesuchend um. Sepp Tauber ist noch immer in das Gespräch mit Günter Uhudler vertieft und Inspektor Schreiner zieht lautstark den Männern von der Spurensicherung die Würmer aus der Nase. »Irgendetwas werden Sie doch gefunden haben! Und das will ich sofort wissen!«

»Natürlich, Herr Inspektor! Wir untersuchen die Tatwaffe gründlich. Sobald die Ergebnisse vorliegen, verständigen wir Sie natürlich als Allererstes!«

Josef Maria Krügerl zuckt geistesabwesend mit den Schultern.

»Also Streit hat es keinen gegeben, das hätte ich bemerkt. Im Saal war alles ruhig.« Seine Zornesfalte vertieft sich und er überlegt weiter. »Und ein Fremder hätte ja gar nicht he­reinkommen können, weil die Tür von innen abgesperrt war, damit die Spieler ungestört sind. Nein, da herinnen war kein Fremder! Wär ja gar nicht möglich gewesen, wie ich schon g‘sagt hab. Nur die Spieler und die paar Zuschauer waren im Saal. Und es war alles ruhig. Außer natürlich dem ständigen Aufschreien von diesem Meier-Schönberg, wenn seiner Meinung nach ein Spieler schlecht zugegeben hat. Unsere Spieler konnten dem ja überhaupt nichts recht machen. Ständig hat er gemeckert und herumgenörgelt!« Er blickt müde auf. »Aber ansonsten war alles ruhig.«

«Und etwas Außergewöhnliches ist Ihnen nicht aufgefallen?« Angela Bauer kann nicht glauben, dass der Wirt nichts bemerkt haben will, obwohl er die ganze Zeit den Spielertisch und die paar Zaungäste im Blickfeld hatte. »War alles ganz normal, Herr Krügerl? Denken S‘ bitte genau nach! Bitte!«

»Normal? Ich glaub schon. Was halt bei so einem Turnier normal sein kann. Denn Tarockspielen ist für mich überhaupt nicht normal. Was soll denn das für ein Spiel sein, frag ich Sie? Mit römischen Ziffern! Im Dorfwirtshaus wird geschnapst! Genau! Das ist das Kartenspiel, das in unsere Region passt. Was zu uns allen passt. Aber Tarock? Außerdem war ich ständig mit dem Ausschenken von Bier und Wein beschäftigt und hatte überhaupt keine Zeit, mich um was anderes zu kümmern.«

Er wischt resigniert mit der Hand über seine Stirn. Dann fällt ihm allerdings doch noch etwas ein:

»Also, ich glaub, da war schon noch was«, murmelt er und sucht seine Hosentaschen vergeblich nach einem Taschentuch ab.

Die Polizistin schnellt vor und hängt sich erwartungsvoll an seine Lippen.

»Ihnen ist etwas eingefallen?«

Krügerl nickt müde.

»Ja. Ich glaub schon. Aber ob das für Sie wichtig ist, weiß ich nicht.«

»Erzählen Sie es trotzdem.«

»Also, das war so ...« Er wischt neuerlich mit dem Taschentuch über sein Gesicht. »Im gleichen Moment, als das Licht ausgegangen ist, hab ich ein leises Geräusch gehört. Das war schon merkwürdig.«

Die Polizistin horcht auf.

»Was war das für ein Geräusch, Herr Krügerl?« Dieser zuckt jedoch resigniert mit den Schultern.

»Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht beschreiben, und ich kann es mir auch nicht erklären. Ich war ja total durch den Wind! Sie müssen sich einmal meinen Schock vorstellen. Da wird ganz harmlos Karten gespielt, ich lehne an der Wand, plötzlich ist der ganze Saal von einem Blitz taghell und es kracht, als tät die Welt untergehen und das Haus über mir zusammenbrechen!«

»Das versteh ich schon, aber denken S‘ trotzdem nach, bitte!«, drängt Angela Bauer. »Kam das Geräusch, das Sie gehört haben, vom Spielertisch oder von den Zuschauern?«

»Ich weiß es nicht.« Josef Maria Krügerl zieht die Stirn in Falten und schüttelt den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht. Und je länger ich darüber nachgrüble, umso mehr vermute ich, dass ich mir das Ganze überhaupt nur eingebildet habe. Ich bin doch, wie ich Ihnen grad erklärt hab, durch diesen Kracher zu Tod erschrocken. Der Strom ist ausgefallen und ich konnte überhaupt nix mehr sehen. Und dazu dieser Kracher! So einen Schepperer hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört, und ich bin schon einiges gewohnt, das können S‘ mir glauben. Ich brauch nur an die Sprengungen im Steinbruch denken.« Er verschnauft kurz. »Aber das heut in der Nacht war der Gipfel.«

Der Wirt steht unter Schock und seine Stimme zittert. »Zum Glück war meine Frau im Wirtshaus, wie der Strom ausgefallen ist. Denn die kann nichts und niemand so leicht aus der Ruhe bringen. Mit einer Taschenlampe ist sie zu uns herübergelaufen und hat draußen im Stromkasten die Sicherungen wieder eingeschaltet. Sonst wär jetzt noch alles finster.« Müde schaut er Richtung Fenster und schüttelt den Kopf. »Nein, finster wär‘s jetzt nimmer, es ist ja schon hell draußen.«

Angela Bauer mustert ihn. Er scheint ihr ziemlich mitgenommen, aber darauf kann sie keine Rücksicht nehmen. Je rascher ein Delikt aufgeklärt ist, umso besser. Josef Maria Krügerl atmet tief durch und erzählt müde weiter: »Erst wie meine Frau den Strom wieder eingeschaltet hat, haben wir den Leopold entdeckt. Ich hab sofort gespürt, dass da was nicht stimmt. Ich bin auf ihn zu. Er ist vornüber im Sessel g‘hängt und rundherum war alles voller Blut. Zum Glück war meine Frau so geistesgegenwärtig und hat mit ihrem Handy, das sie ja immer in ihrer Schürzentasche stecken hat, sofort die Polizei verständigt. Von uns da herinnen wäre in dem Moment sicher keiner dazu fähig gewesen, so schockiert waren wir alle.« Ein tiefer Seufzer entweicht seiner Brust.

Oh Gott, denkt Angela Bauer, was machert‘s ihr Mannbilder ohne uns Frauen?

Inspektor Julius Schreiner hat die Spurensicherungsleute verlassen und stakst auf die beiden zu. Die letzten Worte Josef Maria Krügerls hat er mitbekommen.

»Hoffentlich haben Sie und Ihre Frau nichts angefasst! Sonst wird das schwerwiegende Folgen nach sich ziehen!«

Der Wirt wie auch die Polizistin sind über diese Drohung perplex. Angela Bauer dreht sich weg und geht.

»Was heißt ›nix angefasst‹, Herr Inspektor«, entgegnet Krügerl aufgebracht und springt vom Sessel hoch, in dem er bis eben noch apathisch hing. Diese ungerechtfertigte Drohung ärgert ihn maßlos. »Wie stellen Sie sich denn das vor? Ich hab doch den ganzen Abend und die halbe Nacht hier serviert. Da musste ich doch alles anfassen. Und meine Frau, die mir am Anfang geholfen hat, auch!« Verärgert schüttelt er seinen Kopf über so viel Unverständnis. »Oder glauben Sie, die Getränke sind von allein durch die Luft geflogen?« Ihn beutelt es, er dreht sich weg und lässt Schreiner einfach stehen. Seine sonst so robuste Natur ist angeknackst, er ist zum Umfallen müde und will nur noch heim ins Bett. Rutsch mir doch den Buckel runter, denkt er mürrisch.

»So geht das aber nicht!«, plärrt ihm Schreiner hinterher, doch Krügerl ist bereits bei der Tür draußen, durchquert eiligen Schrittes das kleine Garterl, rennt am Kulturhausbrunnen vorbei, dem er keine Beachtung schenkt, und eilt seinem vertrauten Wirtshaus entgegen. »Idiot«, brummt er. »Wie soll ich denn servieren, wenn ich nichts anfassen darf?!«

 

In der Zwischenzeit ist Sepp Tauber mit der Befragung der wenigen Personen fertig geworden. Außer dem am Boden zerstörten Vater des Opfers, Willibald Polterer, waren neben den vier Spielern nur noch eine Handvoll Leute anwesend: Gemeinderat und Schiedsrichter Heinrich Silvaner, Gemeinderat Hugo Zechbauer und seine Frau Waltraud, die weibliche Begleitung von Max Meier-Schönberg, Christine Schuster, eine attraktive Blondine jüngeren Alters, weiters Hermine Brandl, die Schwester der verstorbenen Frau des Eggenburger Spielers Friedrich Zackl sowie der Weinbauer Günter Uhudler und der Oberjägermeister Hans Sachenberger. Die Mutter des Opfers, Hilla Polterer, hatte einen dringenden verwandtschaftlichen Besuch in Niederdings zu erledigen und konnte deshalb an dem für ihren Sohn Leopold so wichtigen Spiel leider nicht teilnehmen.

Eine leicht überschaubare Personenzahl also.

Inklusive dem Wirt Josef Maria Krügerl, welcher für das leibliche Wohl aller Gäste zu sorgen hatte, ergibt das die magische Zahl Dreizehn!

Nur diese dreizehn Personen, unter denen sich definitiv der Täter befinden muss, waren in dem abgeschlossenen Raum. So gesehen sollte die Aufklärung des Mordfalles in null Komma nix erledigt sein.

Aber ganz so einfach scheint die Sache doch nicht zu sein. Die Befragung hat keine wichtigen Erkenntnisse zutage gefördert. Von den Besuchern hat keiner etwas gesehen oder gehört. Nicht einmal dieses leise merkwürdige Geräusch, welches dem Wirt Josef Maria Krügerl gleich nach dem Stromausfall aufgefallen ist. Nicht einmal das wurde von einem der übrigen Anwesenden wahrgenommen.

»Vielleicht hat sich der Krügerl ja getäuscht«, meint Sepp Tauber an Inspektor Schreiner gewandt. »Wenn es plötzlich finster wird, erschrickt man doch. Und in so einer Schrecksekunde kann man schon einmal das Gras wachsen hören.«

»Das ist möglich, Tauber. Aber irgendein Geräusch muss der Täter verursacht haben. Man kann doch nicht völlig geräusch­los jemanden erstechen. Wir müssen den Pathologen fragen, ob das Opfer sofort tot war.«

»Vor allem muss der Täter oder die Täterin, denn diesen Mord könnte ohne weiteres auch eine Frau begangen haben, eine äußerst kaltblütige Person sein, Herr Inspektor. Es hätte doch jederzeit das Licht wieder angehen können. Und was dann?«

Dazu nickt Schreiner nur, wendet sich von Tauber ab und den beiden Gemeinderäten Zechbauer und Silvaner zu, die in ein leises Gespräch vertieft sind. Doch auch von diesen erfährt Schreiner nichts, was für seine Ermittlungen aufschlussreich wäre. Immer dasselbe. Keiner hat etwas gehört und keiner hat etwas gesehen. Wie soll er da ermitteln? Außerdem ist er hundemüde und überhaupt nicht mehr aufnahmefähig.

»Bestellen S‘ alle für morgen Nachmittag ins Büro, Tauber. Ich mach jetzt Schluss!«

Das können Sepp Tauber und Angela Bauer nur zu gut verstehen. Auch sie sind schachmatt. Immerhin haben sie sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen und sind heilfroh, endlich ins Bett zu kommen.