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Fürstenkrone
– Staffel 9 –

E-Book 81-90

Charlotte Berg
Angelika Borchert
Maria Bianca
Corinna Sandberg
Sina Holl
Anne Bodmann
Erika Sommer
Marisa Frank
Cordula von Himmelwies

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-370-5

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Dunkelrote Rosen aus des Königs Hand

Sind sie für dich bestimmt, Angelika?

Die Strahlen der Frühlingssonne fielen durch hohe Fensterbögen, verfingen sich in zartem durchsichtigem Tüll hinter blitzenden Scheiben und malten zitternde Kringel auf die leuchtenden Farben des heiter gemusterten Teppichs, der den Boden des eleganten Damensalons im Palais von Roussillon bedeckte.

Feine alte Möbel aus Rosenholz im Stil des Rokoko standen an Wänden, an denen Bilder scharfgeschnittener, edler Männergesichter und sanfter, schöner Frauenantlitze in kostbaren Rahmen hingen.

Mitten im Raum, auf einem mit heller Seide bezogenen Rokokosofa saß eine schlanke Frauengestalt unbestimmbaren Alters.

Ihre Figur glich in ihrer Zierlichkeit und Anmut der eines jungen Mädchens. Die Züge des zarten Antlitzes waren ebenmäßig und edel, und reiches Blondhaar mit dem Schimmer goldenen Blütenhonigs war auf dem Kopf einer Krone gleich aufgesteckt. Über großen Augen von sonderbar intensivem Blau spannten sich hohe Brauenbögen.

Unzweifelhaft war die Marquise Christina de Roussillon eine der schönsten Frauen, die von den Strahlen der Sonne zärtlich geküßt wurden, und man hätte sie in der Tat noch für sehr jung halten können, wäre der Ausdruck warmer Güte nicht gewesen und hätte die tiefe Menschlichkeit in ihren Augen ihrem Antlitz nicht einen Hauch von Reife gegeben, die einem sehr jungen Menschenkind noch nicht zu eigen sein konnte, ohne daß dies Christina de Roussillon etwas von ihrer bezaubernden Schönheit zu nehmen vermocht hätte.

Eine starke Anziehungskraft ging von der reizenden Erscheinung aus, und wer einmal in diese tiefblauen Augen gesehen hatte, der konnte den Blick nicht mehr von ihr wenden und mußte sie einfach gern haben.

Christina de Roussillon trug an diesem frühen Vormittag ein schlichtes Hemdblusenkleid aus haselnußfarbener Wildseide. Den einzigen Schmuck bildete eine kostbare Brillantbrosche am Aufschlag. Dennoch wirkte sie unerhört elegant und vornehm.

Sie hielt sinnend einen Brief in ihren schmalen Händen, und ihr zartes Antlitz trug jetzt einen Zug von tiefer Besorgnis zur Schau.

Da war nun also eingetreten, was sie so viele Jahre gefürchtet hatte.

Einen Augenblick lang erwog Christina, den verhängnisvollen Brief einfach zu vernichten und alles so zu belassen, wie es nun einmal jetzt war, aber sogleich wies sie diesen Gedanken wieder weit von sich.

Sie hatte einmal ein Versprechen gegeben, und sie mußte es halten, so schwer es ihr auch fallen mochte.

Zögernd streckte die Marquise die Hand aus und ergriff ein Glöckchen aus Silber mit kunstvoller Ziselierung. Gleich darauf erscholl ein heller Silberklang.

Geräuschlos öffnete sich daraufhin im Hintergrund eine Tür. Eine ältere Dame, in starre dunkelblaue Seide gekleidet, trat ein und näherte sich langsam der Marquise.

»Du, Helene?« fragte Christina überrascht. »Ich habe nach Jean geläutet. Du weißt, ich würde dich niemals mit der Glocke zu mir rufen.«

»Ich hatte das Gefühl, dir nahe sein zu müssen«, gab Helene de Ravoux ruhig zurück. »Wenn dir meine Anwesenheit jedoch unerwünscht ist…«

»Aber nein, bitte bleib!«

Helene de Ravoux setzte sich umständlich in einen Sessel in der Nähe Christinas. Dann faßte sie diese schärfer ins Auge.

»Ist es nun eingetreten, Christina?«

Die Marquise senkte den Kopf und antwortete nicht. Was gab es da auch noch zu antworten?

»Was willst du tun, Christina?« Es klang gespannt und unruhig.

Die Marquise hob die schmalen Schultern.

»Was bleibt mir weiter übrig, als zu erfüllen, was ich einst versprach.«

»Du solltest es dir gründlich überlegen, Christina.«

»Das sagst du mir, die du mir in allem Lehrmeisterin warst, Helene? Wer anders als du hat mich denn gelehrt, ein Versprechen unter allen Umständen zu halten?«

Helene de Ravoux nagte an der Unterlippe.

»Ein Versprechen darf nicht bindend sein, wenn es Unglück für die Menschen heraufbeschwört«, entgegnete sie dann langsam.

»Das ist bisher durch nichts bewiesen.«

»Doch, Christina, weil du nicht imstande sein wirst, das zu halten, was man dir abverlangt hat. Du wirst mit der Lüge auf den Lippen leben müssen für lange Zeit, vielleicht sogar für immer.«

»Ich weiß es, Helene, ich habe es auch damals gewußt.«

»Aber nicht bis zur letzten Konsequenz durchdacht. Dir war die Lüge zeit deines Lebens verhaßt, Christina. Du wirst an der Lüge zerbrechen, und wozu soll das gut sein? Viel Zeit ist seither vergangen, und es ist noch sehr die Frage, ob man dir auch heute dieses unselige Versprechen abgerungen hätte, das dich zwingen will, die Heimat zu verlassen.«

Die Marquise de Roussillon erhob sich und trat mit gefalteten Händen an eines der hohen Fenster. Von der Gardine halb verborgen sah sie hinab auf den herrlichen Park.

Frühlingsblumen streckten ihre Köpfchen der Sonne entgegen. Rote Tulpen, unterpflanzt mit leuchtendblauen Vergißmeinnicht, flammten auf, umrahmt von ganzen Rabatten sattgelber Stiefmütterchen.

Minutenlang sah die Marquise auf dieses heitere Bild hinaus, bevor sie sich mit einem leichten Seufzer wieder ins Zimmer zurückwandte.

»Ich habe nicht das Recht, Angelika für alle Zeiten an mich zu fesseln. Ich versprach, sie nach Rothenstein zu bringen, wenn es an der Zeit sei. Der Tag ist gekommen, ich kann es nicht ändern.«

»Und du glaubst wirklich, es wird gut für Angelika sein? Du glaubst, es wird sie glücklicher machen? Du liebst Angelika doch und hast mehr für sie getan, als zu deinen Pflichten gehörte. Du hast ihr alles gegeben, was man einem Menschen nur schenken kann, nicht nur an Äußerlichkeiten, auch an Liebe. Du hast ihr dein ganzes Leben geopfert.«

»Sprich nicht vom Opfer, Helene, Angelika ist mein Kind. Wie könnte ich anders, als sie zu lieben und für sie dazusein. Sie ist mein ganzes Glück.«

»Sollte es für eine schöne junge Frau, wie du es bist, nicht noch ein anderes, größeres Glück geben als das der Mutterliebe allein?«

»Ich habe niemals etwas vermißt, Helene. «

»Weil du nur für Angelika lebtest, ich weiß es. Ich habe Prinzessin Angelika von Herzen gern, dennoch habe ich es oft bedauert, daß du ihretwegen bisher alle Bewerber um deine Hand zurückgewiesen hast. Dieses liebreizende Kind ist dir selbst zum Fluch geworden.«

»Sprich nicht so, Helene, ich will es nicht hören! Außerdem widersprichst du dir.« Die Marquise lächelte fein.

*

»Du weißt«, sagte Christina de Roussillon wenig später zu Angelika, »daß dein Großvater in Deutschland der Fürst von Rothenstein war.«

»Ich weiß, Mama«, erwiderte das zierliche schwarzhaarige Mädchen. »Weshalb fragst du?«

»Dein Großvater hat dich zu seiner Universalerbin eingesetzt. Dir gehört also Rothenstein, und um es für dich in Besitz zu nehmen, müssen wir dorthin fahren.«

»Aber ich kenne es nicht.«

»Du wirst es kennenlernen, Angelika. Es ist deine Heimat.«

»Nein, Mama, meine Heimat ist Roussillon. Hier bin ich geboren, und hier möchte ich leben. Ich möchte dich niemals verlassen.«

»Roussillon wird deine zweite Heimat bleiben, Angelika. Und verlassen wirst du nicht sein, da ich dich ja begleiten werde. «

»Du wirst bei mir bleiben auf Rothenstein?«

»Natürlich, Angelika. Du bist nach dem Gesetz des Landes, in dem Rothenstein liegt, noch nicht mündig. Deine Geschäfte dort müssen also vorläufig noch von mir abgewickelt werden.«

*

»Du lieber Himmel!« Cäcilie Gräfin von Seebach ließ sich entsetzt in einen Sessel sinken. »Das hat uns gerade noch gefehlt.«

Sie war eine ältere, ein wenig hagere Person, und man sagte ihr eine scharfe Zunge nach. Einige harte Linien um ihren Mund zeugten von einer gewissen Verbitterung, und Eingeweihte wollten wissen, es rührte daher, daß es ihr bisher nicht gelungen sei, bei Hofe zugelassen zu werden.

In der Tat war etwas Wahres daran. Sie hatte sehr gehofft, daß sich das ändern würde, wenn Michael erst einmal Fürst auf Rothenstein geworden war. Hatte sie so lange Geduld haben müssen, so kam es auf die zwei fehlenden Jahre auch nicht mehr an, zumal man Grund hatte, anzunehmen, daß die rechtmäßige Erbin von Rothenstein gar nicht oder nicht mehr existierte. Alle Nachforschungen waren seit Jahren im Sande verlaufen.

Und nun dies!

Sie ließ das Telegramm sinken und sah bis ins Innerste erschüttert zu ihrem Gatten auf.

Richard von Seebach starrte in das flackernde Kaminfeuer und antwortete nicht.

»So sage doch endlich etwas, Richard!« fuhr Cäcilie ärgerlich auf. »Du willst mir doch nicht einreden, es sei dir gleichgültig, daß man diese Angelika, an deren Existenz wir alle hier nicht so recht geglaubt haben, uns endlich gefunden hat.«

»Was ereiferst du dich nur so, Mama«, drang eine warme Männerstimme aus dem Hintergrund, und aus dem Halbdunkel trat eine schlanke aufrechte Männergestalt hervor.

Der junge Graf Michael von Seebach glich in manchem seiner Mutter. Von ihr hatte er die hochgewachsene Gestalt und das volle dunkle Haar.

Von ihr hatte er auch eine gewisse Zielstrebigkeit und seinen eisernen Willen. Die Augen jedoch waren ganz die seines Vaters, doch fehlte ihnen die Kälte.

»Wie soll ich mich da wohl nicht ereifern, Michael. Begreifst du denn nicht, was da auf uns zukommt?«

»Niemand weiter als die zukünftige Fürstin auf Rothenstein, Mama. Ich kann es mit dem besten Willen nicht anders sehen.«

»Und es ist dir völlig gleichgültig, daß du Rothenstein verlieren wirst?« fuhr Richard von Seebach dazwischen.

»Gott, Papa, wir Seebachs sind doch auch nicht gerade die Ärmsten. Ich habe es immer als ein wenig unrecht empfunden, daß wir bereits auf Rothenstein leben, als gehöre es uns.«

»Wir sind vom Nachlaßgericht eingesetzt worden. Man hat dort offenbar auch nicht mehr an die Existenz dieser sagenhaften Angelika de Roussillon geglaubt.«

»Das weiß ich ja, aber niemand kann etwas gegen sein Empfinden. Und ich habe mich hier eigentlich niemals heimisch gefühlt. Auf Seebach ist mir wohler, einfach weil ich weiß, dort gehöre ich hin.«

»Nun, du hättest auch hierher gehören können«, sagte Cäcilie, »aber der Besitz allein ist es ja nicht, was die Sache so unangenehm macht. Bedenke doch nur die Lage, in die wir kommen! Unsere gesellschaftliche Stellung wird bis in ihre Grundfesten erschüttert werden. Man wird uns nicht mehr einladen, man wird uns schneiden…«

»Das wirst du mir schon näher erklären müssen. Ich vermag nicht einzusehen, was das Eintreffen eines Kindes auf Rothenstein mit unserer immerhin recht gefestigten gesellschaftlichen Stellung zu tun haben soll.«

Cäcilie und Richard von Seebach warfen sich einen Blick zu.

»Mein Gott«, sagte Cäcilie darum langsam, »was ist da schon groß zu erklären. Christina gilt für die Gesellschaft schon seit langem als tot, da man niemals wieder etwas von ihr hörte. Ihr plötzliches Auftauchen hier wird natürlich alte Geschichten wieder aufleben lassen. Es war den Rothensteinern schon damals nicht angenehm, mit gewissen Dingen in Zusammenhang gebracht zu werden.«

»Christina von Rothenstein? Ich meine: Christina de Roussillon? Sie kommt also mit hierher?«

»Natürlich!« brummte Richard von Seebach und warf ergrimmt seinen Zigarrenstummel in das Kaminfeuer. Dann kam er näher.

»Ich weiß von Christina eigentlich recht wenig«, bemerkte Michael nachdenklich und ließ sich an der Seite seiner Mutter nieder. Ungerührt stopfte er sich dabei eine Pfeife. »Eigentlich nicht mehr und nicht weniger, als daß sie die einzige Tochter des Fürsten von Rothenstein ist und früh nach Frankreich geheiratet hat. Fürst Leopold war nie sehr gesprächig, wenn die Rede auf seine Tochter kam.«

»Er hatte Grund, sich nicht an sie zu erinnern.«

Graf Michael war ein nüchtern und sachlich denkender junger Mann und hielt seine Eltern in mancher Hinsicht für reichlich antiquiert.

Trotzdem packte ihn jetzt eine gewisse Neugier.

Die Mutter tat gerade so, als habe Christina ein Verbrechen begangen, zumindest in ihren Augen, und er war nun doch interessiert, Näheres darüber zu erfahren. Immerhin sollte er Christina, die er ja wohl als Tante betrachten mußte, bald gegenüberstehen, und selbst er hätte doch gern gewußt, welche Haltung er ihr gegenüber einnehmen mußte.

»Was hat Christina denn nun eigentlich verbrochen, Mama? Es hat doch wenig Sinn, wie die Katze um den heißen Brei herumzugehen. Wie sind wir überhaupt mit ihr verwandt?«

»Um etliche Ecken, Michael. Die Verwandtschaft ist auf jeden Fall weitläufig genug, um uns notfalls von Christina und deren Tochter distanzieren zu können. Ich glaube jedenfalls kaum, daß es Christina gelingen dürfte, in der Gesellschaft hier Fuß zu fassen.«

»Das ist noch nicht so sicher«, brummte Graf Richard vor sich hin, »sie hat nicht schlecht geheiratet.«

»Wenigstens nicht unter ihrem Rang«, meinte Cäcilie hochmütig.

»Sei froh.«

»Richard, ich bitte dich. Du nimmst die Sache ja schon fast ebenso gleichgültig hin wie Michael. Bei ihm kann ich das vielleicht noch verstehen, aber nicht bei dir, der du doch weißt, wie streng die Gesellschaft urteilt und wie wenig sie vergißt «

»Bitte, wollt ihr mir nicht endlich erklären, was man Christina de Roussillon vorzuwerfen hat?«

»Gar nichts«, sagte Richard von Seebach ernstlich wütend, »das ist es ja gerade. Mit Tatsachen kann man sich auseinandersetzen, aber was willst du gegen ein Gerücht tun, von dem du nicht weißt, wieviel Wahrheit es enthält und wieviel Lüge? Dagegen ist man machtlos, aber die Gesellschaft registriert es und ist vorsichtig. Sie stößt eher einen Unschuldigen aus ihren Kreisen aus, als daß sie einen möglicherweise Schuldigen in ihrer Mitte dulden würde. Das ist es, was deine Mutter beschäftigt. Und das ist es im Grunde wohl auch, was Christina in ihrer Jugend fortgetrieben hat.«

*

»Es ist sonderbar«, sann Angelika laut vor sich hin. Sie saß, in ein bezauberndes hellblaues Wollkostüm gekleidet, in einem Abteil Erster Klasse tief in die weißen Polster gelehnt und schaute versonnen aus dem Fenster auf die vorbeifliegende Landschaft. Ein schickes hellblaues Hütchen thronte auf dem schwarzen Haar. Am Revers trug sie eine brillantbesetzte Brosche in Form eines Käfers, am Finger den Ring, den der Marquis de Roussillon ihr als letztes vor seinem frühen Tod geschenkt hatte.

Ihr gegenüber saß Helene de Ravoux, Puck, den kleinen Rauhhaardackel, auf dem Schoß, da er sonst immer wieder versuchte, aus dem Abteil zu entwischen. Neben Angelika saß Christina.

In einem Wagen Zweiter Klasse fuhren noch einige Zofen mit, auf die weder Christina noch Angelika bei aller sonstigen Bescheidenheit hatten verzichten wollen, waren sie an deren freundliche Dienste doch allzusehr gewöhnt und wußten sie doch nicht, welcher Art Personal sie auf Rothenstein erwartete. Immerhin hielt Christina es nicht für gänzlich ausgeschlossen, daß man sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen würde.

»Was ist sonderbar?« fragte Christina ein wenig abwesend.

Sie hatte am Abend zuvor noch einmal das große Album durchgesehen und die vielen Fotos von Rothenstein und seinen Bewohnern sehr aufmerksam betrachtet, ja, sich gewissermaßen jedes einzelne Gesicht und jedes einzelne Zimmer eingeprägt. Dann hatte sie stundenlang über einem alten Bauplan des gewaltigen Schlosses von Rothenstein gebrütet und war schließlich völlig übermüdet schlafen gegangen.

»Daß ich mir meinen Großvater, den Fürsten Leopold von Rothenstein, so gar nicht vorstellen kann.«

»Du hast ihn stets nur auf Bildern gesehen. Da ist es sehr schwer, sich von einem Menschen eine lebendige Vorstellung zu machen.«

»Das mag wahr sein. Was war er für ein Mensch? Erzähle mir von ihm, Mama, bitte.«

»Nun, er war ein sehr aufrechter Mann von großer Willensstärke. Seine hervorstechendsten Wesenszüge waren wohl sein unbändiger Stolz und sein übersteigertes Ehrgefühl. Eine Beleidigung vergaß er niemals. Seine Ehre war ihm heilig und bedeutete ihm mehr als alles andere auf der Welt. Im übrigen aber galt er als warmherziger und edler Charakter.«

»Wie eigenartig du das sagst, Mama. Er galt… Es klingt, als hättest du deinen eigenen Vater gar nicht persönlich gekannt. «

Christina schoß eine tiefe Röte in die Wangen, ihr erschrockener Blick traf sich mit dem mahnenden von Helene de Ravoux, die unbehaglich hin und her zu rutschen begann.

»O nein«, sagte Christina da rasch. »Aber es ist für eine Tochter wohl immer schwer, den Vater objektiv zu beschreiben. Man greift unwillkürlich auf die Urteile der Umwelt zurück. Es geschieht ganz unbewußt und hat nichts zu bedeuten.«

*

Die Rothensteiner Wagen standen bereits zehn Minuten vor Eintreffen des Zuges am Bahnhof. Da man wußte, daß Christina mit einigem Gefolge kam, hatte man entsprechend vorgesorgt.

Cäcilie war auf Rothenstein geblieben. Man hatte sich mit allem einigermaßen abgefunden. Am Bahnhof waren Graf Richard und der junge Graf Michael und warteten.

Fauchend und prustend lief der Zug ein. Abteiltüren öffneten sich. Reisende stiegen aus, von Angehörigen mehr oder weniger stürmisch begrüßt.

Richard und Michael standen auf dem Bahnsteig und schauten sich die Augen aus nach einer Dame, die dem Bild einer Französin entsprechen mochte, und einem halbwüchsigen Kind.

Aber kein Kind entstieg dem Wagen Erster Klasse. Die Menschen verliefen sich bereits. Nur an einer Stelle des Bahnsteigs sammelte sich eine Menge Leute. Dort waren ein paar junge Damen aus einem anderen Abteil auf den Wagen der Ersten Klasse zugeeilt, begleitet von einem distinguiert aussehenden Herrn mit sonderbarem Haarschnitt. Koteletten, dachte Michael ein wenig amüsiert, wie altmodisch, und die Zwirnhandschuhe in ihrem schneeigen Weiß erinnern sehr an die Handschuhe des Butlers auf Rothenstein.

Er sah zu, wie die vier ein paar Damen aus dem Wagen Erster Klasse halfen. Eine grauhaarige Dame erschien zuerst. Ihr folgte eine bezaubernd schöne Frau, deren Alter schwer zu schätzen war. Graziös kam sie die Stufen herunter, gekleidet in ein elegantes marineblaues Kostüm. Ihr Haar schimmerte selbst im Dämmerlicht des überdachten Bahnsteigs golden auf. Michaels Augen hingen wie gebannt an ihr.

Dann aber schweifte sein Blick ab, gefesselt von einer Erscheinung, wie sie ihm noch nie begegnet war.

Eine junge Dame war in der Wagentür aufgetaucht, zierlich und anmutig, gekleidet in helles Blau, das zu ihrem fast schwarzen Haar in wunderbarem Kontrast stand. Ihr pikantes Gesichtchen war von unbeschreiblicher Süße und Reinheit. Sie hielt einen Rauhhaardackel im Arm, der alle Anstrengungen machte, ihr zu entwischen.

Michael wandte keinen Blick von der Erscheinung; er hatte seine Umwelt vollständig vergessen und wußte nicht mehr, weshalb er überhaupt hierhergekommen war.

Statt dessen zermarterte er sich das Gehirn, wie er die Bekanntschaft dieses zauberhaften Wesens dort drüben machen konnte, ohne aufdringlich zu erscheinen; denn daß sie der ersten Gesellschaft angehörte, stand außer Zweifel.

Durch seinen Vater wurde Michael unsanft aus seinen Träumen gerissen.

»Christina scheint nicht gekommen zu sein«, bemerkte er. »Das ist mehr als unangenehm. Wir können hier nicht gut die nächsten Züge abwarten.«

»Es wird uns kaum etwas anderes übrigbleiben, Vater«, meinte Michael ein wenig abwesend.

Von der Menschengruppe drangen fremde Laute zu ihnen herüber.

Ein wilder Verdacht durchzuckte Michael. Ein wenig atemlos fragte er: »Wie alt ist Prinzessin Angelika eigentlich, Vater?«

Dieser hob die Schultern. »Was weiß ich? Wir erfuhren ja erst ziemlich spät von ihrer Existenz, woher soll ich da wissen, wann sie geboren ist.«

Michael sah wieder zu den Menschen hinüber, die nun ein wenig unschlüssig dastanden und die Blicke suchend umherschweifen ließen. Gerade wollte er seinen Verdacht dem Vater gegenüber aussprechen, als Puck ihm zuvorkam. Es war ihm endlich gelungen, sich aus Angelikas Armen zu befreien, und nun schoß er mit Freudengekläff davon. Angelika eilte aufgeregt hinter ihm her.

Amüsiert beobachtete Graf Michael die Szene. Es war, als spiele der kleine Hund mit dem jungen Mädchen. Stets flitzte er einige Meter weiter, wenn seine bezaubernde Verfolgerin glaubte, ihn endlich greifen zu können.

Doch Puck gab nicht genügend acht. In seiner wilden Freude an der herrlichen Verfolgungsjagd kam er Michael zu nahe und wandte gleichzeitig den Kopf nach seiner Herrin.

Und schon hatte Michael das nun wild zappelnde und kläffende Etwas beim Genick gepackt und hob es zu sich empor.

Atemlos kam die junge Dame heran. Michael verneigte sich.

»Hier haben Sie den Ausreißer zurück, gnädiges Fräulein«, sagte er lächelnd, »es war mir ein Vergnügen, Ihnen behilflich zu sein. Erlauben Sie mir, daß ich mich vorstelle: Michael von Seebach.«

»Doch nicht Graf von Seebach?«

»Eben der.«

»Mein Gott! Und Mama glaubte schon, es sei niemand erschienen, um uns abzuholen. Ich bin Angelika de Roussillon.«

»Es ist mir ein Vergnügen.«

Michael wollte sich über die Hand Angelikas beugen, doch Puck machte seine Bemühungen zunichte, indem er auf Angelikas Armen wild zu zappeln begann, während er ein heftiges Knurren ausstieß und Michael sein durchaus nicht harmloses Gebiß präsentierte.

»Aber Puck«, sagte Angelika erschrocken, »benimm dich! Ich weiß gar nicht, was er hat. Er ist sonst nicht so unfreundlich Fremden gegenüber. Das sind Sie ja noch für ihn.«

»Wahrscheinlich nimmt er mir übel, daß ich ihn eingefangen habe. Er hätte Sie sicherlich noch gern über den ganzen Bahnsteig gehetzt.«

»Und wie gern«, gab Angelika lachend zu. Sie sah jetzt zu Michael auf. Dabei mußte sie den Kopf ein wenig in den Nacken legen, denn er überragte sie um Haupteslänge.

Was sie sah, gefiel ihr. Er schaute gut aus und war natürlich und unbefangen. Seine Gesichtsfarbe war frisch, wie sie nur Leuten zu eigen ist, die häufig an der freien Luft sind. Seine Augen blickten hell und klar, und Wärme lag in ihnen. Das Gesicht war schmal und männlich, und sein ein wenig vorstehendes Kinn zeugte von Energie.

Das alles nahm Angelika keineswegs bewußt wahr, dazu fehlte ihr die Erfahrung und die Menschenkenntnis. Sie fand ihn nur ungemein sympathisch und glaubte sogleich, sich gut mit ihm zu verstehen.

So lächelte sie also freundlich.

Michael aber fiel in eben jenem Augenblick der Vater ein und weshalb sie hergekommen waren.

Rasch wandte er sich zur Seite, aber Graf Richard hatte blitzschnell reagiert und war mit Riesenschritten auf die Gruppe zugeeilt.

Michael sah, wie er sich soeben galant über die Hand der reizvollen Blondine beugte. Das also mußte Christina de Roussillon sein, eine bezaubernde Frau, aber ganz anders als ihre Tochter, dachte Michael.

Angelika war seinen Blicken gefolgt.

»Meine Mutter«, erklärte sie denn auch sogleich, »die andere Dame ist Madame de Ravoux, die erste Kammerfrau meiner Mutter, eigentlich aber mehr ihre liebe Freundin und meine Erzieherin. Ich mag sie sehr gern.«

»Wir wollen hinübergehen«, schlug Graf Michael vor, »ich möchte die Damen begrüßen.«

»Mama ist, glaube ich, ein wenig neugierig auf Sie«, bekannte Angelika, während sie die wenigen Schritte zu der Gruppe auf dem Bahnsteig zurücklegten. Michael kam nicht mehr zu einer Antwort.

Zwei helle Augen von sonderbar intensivem Blau musterten ihn so forschend, als wollten sie ihm bis auf den Grund seiner Seele sehen, aber es war ihm nicht unangenehm, denn es lag nichts Aufdringliches darin.

Es erfolgte eine allgemeine Vorstellung und Begrüßung, und bald darauf saß man in dem großen Wagen.

Michaels heimlicher Wunsch, zusammen mit Prinzessin Angelika fahren zu dürfen, war dabei in Erfüllung gegangen, da Graf Richard sich schicklicherweise zu Christina setzen mußte, was er auch sichtlich gern tat.

Angelika fuhr also mit Michael im zweiten Wagen, doch nicht ohne die Begleitung von Madame de Ravoux, die Michael mehrmals mit sonderbarem Blick von der Seite musterte.

Aufmerksam betrachtete Angelika die Landschaft. Weit dehnten sich die Wiesen in ihrem ersten Grün, unterbrochen von riesigen Äckern. Hin und wieder fuhren sie durch ein freundliches Dorf. Rote Dächer über weißgestrichenen Wänden, grüne Läden vor blitzblanken Fenstern, spitze Kirchtürme. Es gefiel Angelika. Dann säumten hohe Tannen den Weg, wechselten mit Eichen und Buchen ab.

Der Wald blieb zurück. Hinter den Pappeln, die zu beiden Seiten in regelmäßigen Abständen die Allee säumten, zeigten sich jetzt die gepflegten Anlagen eines offensichtlich riesigen Parks.

Die Allee machte einen großen Bogen, und dann lag Schloß Rothenstein vor ihnen, ein imposanter Bau. An den Seiten erhoben sich Türme, trotzig und wehrhaft fest, und gaben dem Schloß beinahe den Eindruck einer Festung. Trotzdem wirkte Schloß Rothenstein keineswegs düster.

An einer Seite des Schlosses wuchs dichter Efeu empor, an einer anderen Stelle rankten sich Kletterrosen, die jedoch noch blatt- und blütenlos waren. Im Sommer mußten sie eine wahre Pracht sein.

»Oh«, sagte Angelika überrascht, »wie ist Schloß Rothenstein groß. Wirklich nicht kleiner als das Palais Roussillon. Das habe ich gar nicht erwartet.«

Graf Michael lächelte.

»O ja, die Fürsten zu Rothenstein waren zu allen Zeiten ein mächtiges und reiches Geschlecht, und sie wußten es nach außen hin zu zeigen. Könige waren hier zu Gast.«

»Wie man auch von Roussillon sagt. Mir scheint, es bestehen da nicht so viele Unterschiede. «

»Hoffentlich nicht.«

»Wie meinen Sie das, Michael?«

Eingedenk der Erklärung ihrer Mutter, daß sie ja irgendwie miteinander verwandt seien, nannte Angelika ihn ganz selbstverständlich beim Vornamen. Sie ahnte nicht, wie glücklich sie den jungen Grafen damit machte; denn er hielt es für ein Zeichen persönlicher Sympathie.

»Ich wünsche sehr, daß Rothenstein Ihnen zu einer echten Heimat wird, Angelika«, sagte er ernst.

Angelika schaute zu ihm auf.

»So erscheine ich Ihnen nicht als unerwünschter Eindringling, dem Sie eigentlich gram sein müßten?«

»Wie könnte ich!« rief er enthusiastisch aus und legte seine Hand dorthin, wo sein Herz wild klopfte. »Wie könnte ich einer so bezaubernden jungen Dame jemals gram sein. Ein Königreich möchte ich Ihnen zu Füßen legen.«

Angelika lachte hellauf, und auch Helene de Ravoux konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

»Es überrascht mich einigermaßen«, sagte Helene zu Michael, »daß es in diesem Land ebenso stürmische Kavaliere zu geben scheint wie in meiner Heimat.«

»Oh, Madame«, entgegnete Michael, »die gibt es wohl in jedem Land, wenn ein Engel wie dieser vom Himmel auf die Erde niedersteigt und unser Auge blendet.«

Michael begriff sich selbst nicht. Was nur riß ihn, den sonst so sachlichen und nüchternen Mann, zu derart poetischen Worten hin?

»Warten Sie nur ab«, meinte Helene de Ravoux. »Sie werden diesen Engel schon noch in seinem ganzen irdischen Temperament kennenlernen.«

»Wie sehr ich das hoffe.«

Michael war nicht zu bremsen. Wann jemals wieder würde er Gelegenheit haben, mit Angelika längere Zeit in einem Wagen zu sitzen, mit ihr zu sprechen?

Die Seebachs hatten Rothenstein längst für Christina und Angelika geräumt. Sie gehörten nicht zu denen, die sich krampfhaft und vergeblich an Verlorenes klammerten und verstanden immer, das Beste aus einer Situation zu machen, wenn es für Cäcilie und Richard von Seebach auch schmerzlich war, auf Rothenstein zu verzichten.

Und Michael wußte noch nicht recht, ob er in Zukunft auf Rothenstein für die Damen ein willkommener Besucher sein würde. Aufdrängen konnte er sich schlecht. So bemühte er sich, sich wenigstens jetzt von seiner besten Seite zu zeigen, um später dafür, wenn sie sich auf Gesellschaften wiederbegegnen würden, wenigstens Gnade vor ihren Augen zu finden und, falls ihm ein Glücksstern leuchtete, vielleicht sogar zu den von ihr bevorzugten Bewunderern zu gehören.

Vergessen waren die Befürchtungen von Cäcilie. Diese junge Prinzessin würde überallhin eingeladen werden, und überall würde sie der Mittelpunkt einer Gesellschaft, eines Balles sein, daran hegte Graf Michael nicht den geringsten Zweifel. Dafür würde schon die Herrenwelt sorgen. Ein so reizvolles Wesen wie Prinzessin Angelika würde nicht im verborgenen blühen.

Mit sanftem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Vor ihnen stieg bereits Christina aus, auf Graf Richards Hand gestützt.

Sie warf einen Blick an der Fassade des Schlosses empor und wandte dann langsam den Kopf nach beiden Seiten, als wolle sie sich das, was sie sah, besonders einprägen.

Sie wartete, bis Angelika mit Helene und Graf Michael heran waren. Dann stieg sie leicht auf den Arm von Graf Richard gestützt, die breiten Stufen der geschwungenen Freitreppe empor.

Niemand ahnte, wie rasend das Herz Christinas schlug und welch ein Sturm von Gefühlen sie durchtobte.

Dies war die bisher schwerste Bewährungsprobe in ihrem Leben, und niemand außer Helene de Ravoux wußte davon.

Christina lächelte, als sie durch das Portal schritt. Eine weite kühle Halle, sonderbar hell, nahm sie auf. Im Hintergrund wieder eine Freitreppe, diesmal die Stufen aus weißem Marmor, bedeckt mit einem leuchtendroten Läufer, ein Geländer aus kunstvoll geschmiedetem Eisen zu beiden Seiten. Am Treppenabsatz zwei Kandelaber, besteckt mit Kerzen, die jedoch jetzt nicht brannten.

In der Halle bestand der Boden aus schwarzem Marmor, hin und wieder ein kostbarer Teppich in leuchtenden Farben. Hell die Wände, viele bogenförmige Durchgänge, davor schwere Samtportieren. Alles machte einen gediegenen Eindruck, und man erkannte, daß die Rothensteiner Geschmack besessen hatten. Alles war ungeheuer prunkvoll und kostbar, ohne jedoch im geringsten überladen zu wirken.

Angelika fand es schön, nur vermißte sie Blumen, die sie doch so sehr liebte.

Inmitten der Halle war das wichtigste Schloßpersonal in zwei Reihen angetreten. Butler und Stubenmädchen? Zofen und Köche, letztere ganz in Weiß und mit hohen weißen Mützen auf dem Kopf. Küchenmädchen – sie alle standen da und hielten Blumensträuße in den Händen.

Jede Gruppe der riesigen Dienerschaft hatte ihren Vertreter gestellt. Sie alle warteten auf die neue Herrin von Rothenstein.

Cäcilie hatte das arrangiert. Sie wußte, wie man die künftige Herrin empfing.

Vor den beiden Reihen stand Cäcilie von Seebach; aufrecht und stolz. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid aus stumpfer Seide und um den Hals eine mehrreihige Perlenkette, aber sie sah durchaus vornehm aus.

Mit ausgestreckten Händen ging sie auf Christina zu, um sie zu begrüßen.

Christina kam ihr lächelnd entgegen, und gerührt von diesem Empfang küßte sie Cäcilie auf beide Wangen und dankte ihr.

Dann kam Angelika. Kindlich freute sie sich über diesen Empfang, den Graf Michael im stillen ein wenig respektlos mit »großer Bahnhof« bezeichnete. Alle wurden sie Christina und Angelika vorgestellt. Christinas eigenes Personal stand bescheiden im Hintergrund, und Blicke flogen hin und her.

Graf Michael hatte die Befürchtung, daß es unter der Dienerschaft wohl bald heimliche, dafür aber um so heftigere Kämpfe um die Bedienung der beiden Dämen geben würde; denn daß diese allen gefielen, war offenkundig.

Angelika hatte bald ebenso wie Christina beide Arme voll Blumen, und als sie zum Schluß in liebenswürdiger Weise allen dankte, da wurde ein lautes »Hoch!« ausgebracht, das eigentlich gar nicht in Cäcilies Plan vorgesehen war und diese für einen Augenblick neidisch die Lippen zusammenpressen ließ.

Aber sofort wurde Cäcilies Aufmerksamkeit von etwas Unvorhergesehenem in Anspruch genommen.

Christina war zu Cäcilie zurückgekehrt und wandte der Freitreppe den Rücken zu, allein Angelika stand noch im Hintergrund, da öffnete sich neben der Freitreppe eine verborgene kleine Tür, hinter der ein Gang zu den Wirtschaftsräumen führte, und eine sehr alte, gebeugt gehende Frau mit schlohweißem Haar, in ein langes dunkles, sehr einfaches Gewand gekleidet, kam näher. Auf dem Kopf hatte sie ein altmodisches Häubchen. Das Gesicht war völlig verrunzelt, und nur die alten Augen blickten noch hell in die Welt.

In den Händen hielt die Alte, die einem Märchenbuch entstammen konnte, einen großen hölzernen Teller. Cäcilie konnte nicht so recht erkennen, was darauf lag.

Sie biß sich nervös auf die Unterlippe. Das hätte sie voraussehen müssen, daß die alte Anna den feierlichen Empfang stören würde. Seit frühester Jugend hatte diese in unwandelbarer Treue den Rothensteinern gedient, und jetzt genoß sie das Gnadenbrot im Schloß, vom übrigen Personal hoch geachtet.

Sie hätte wissen müssen, daß Anna trotz ihres Verbotes in ihrem greisenhaften Starrsinn und ihrer im Grunde rührenden Treue und Anhänglichkeit es sich nicht nehmen lassen würde, die von ihr über alles geliebte Christina persönlich willkommen zu heißen und die junge Herrin zu sehen.

Angelika wandte sich überrascht der Greisin zu und sah deren durchdringende Blicke auf sich gerichtet. Forschend schaute Anna zu Angelika auf, die sich freundlich zu der Alten beugte. Dann ging ein Lächeln über das runzlige Gesicht.

»Ja«, murmelte Anna vernehmlich in die eingetretene Stille, »du bist eine echte Rothenstein. Zug für Zug deines Gesichts bist du es.«

Sie streckte die mageren Arme vor. Auf hölzernem Teller lagen Salz und Brot.

»Nimm von diesem Salz und Brot, daß Segen über deinem Haupte liege, auf daß Glück deinen Eintritt begleite und dich niemals verlasse, solange du auf Rothenstein weilst.«

Angelika warf einen hilflosen Blick in die Runde. Sie kannte diesen schönen Brauch nicht, aber sie wollte die Alte auch nicht gern enttäuschen.

Mit sicherem Instinkt tat sie das Richtige: Sie nahm das Brot, brach es, tunkte ein Stückchen davon in das Salz und schob es in ihren Mund.

Die Greisin lächelte dankbar und irgendwie stolz.

»Ich wußte doch, daß eine Rothenstein mich richtig verstehen und der alten Anna nicht zürnen würde«, murmelte sie wieder.

Aus einem plötzlichen Gefühl heraus nahm Angelika ihre Blumen und legte die Hälfte davon in die Hände der Greisin.

»Danke«, sagte sie hell und lieblich, »ich danke sehr für diesen Empfang und die guten Wünsche. Jetzt weiß ich, daß auch ich eine Rothenstein bin.«

Die Spannung löste sich, alles lächelte, während die Greisin fassungslos auf die Blumen in ihren Händen starrte und Tränen der Freude und Dankbarkeit aus den alten Augen flossen.

In diesem Moment hatte Angelika ein unendlich treues Herz für alle Zeiten gewonnen. Und da man auf Anna hörte, konnte sie sicher sein, daß jeder ihrer Wünsche erfüllt werden würde, selbst die, die man ihr von den Augen ablesen mußte.

Cäcilie war irgendwie befreit. Lächelnd wandte sie sich nun Christina de Roussillon zu und blickte in ein schneeweißes, vor Schrecken fast erstarrtes Gesicht. Christinas Augen gingen an Cäcilie vorbei und hingen an der alten Anna.

Helene de Ravoux trat rasch an Christinas Seite.

Das Gesicht der alten Dame hatte sich ebenfalls auf erschreckende Weise verändert. Kalte Entschlossenheit lag jetzt darin, und ein harter Zug veränderte den Mund.

Helene de Ravoux ergriff leicht den Arm Christinas.

Der junge Graf Michael hatte die reizende Szene zwischen Angelika und Anna lächelnd beobachtet. Ohne den Kopf zu wenden, sagte er zu Christina: »Jetzt sind Sie an der Reihe, Christina, denn im Grunde ist die alte Anna wohl nur erschienen, um Sie nach so langen Jahren wiederzusehen.«

Christina de Roussillon fühlte die Knie weich werden. Helene de Ravoux stützte sie unauffällig. Von Helene, die das Unabänderliche, das da auf sie zukam, fühlte, wurde Christina langsam vorwärtsgeschoben.

Fast willenlos ging die Marquise auf das alte Weiblein zu, das, ein wenig kurzsichtig, wartend dastand.

Angelika sah der Mutter entgegen, aber ihr Lächeln erstarb, als sie deren schreckensbleiches Gesicht erblickte.

Christina de Roussillon stand vor Anna.

Ihre Augen waren verzweifelt, bettelnd und um Hilfe flehend auf die Greisin gerichtet, die von ihr zu Helene und wieder zurückschaute.

Angelika wandte sich ebenfalls Anna zu.

»Das ist meine Mutter, Christina

de…«

Weiter kam Angelika nicht.

Hochauf richtete sich das alte Weiblein. Es schien um Zentimeter zu wachsen.

Die alten Augen schienen zu lodern. Den mageren Arm weit vorgestreckt, kreischte sie mit sich überschlagender Stimme:

»Christina! Nein …«

Da war Helene de Ravoux neben ihr. Mit hartem Griff riß sie die Greisin herum, hielt sie fest am dünnen Arm.

Über die Schulter zu den anderen gewendet sagte Helene, und ihr Gesicht war unnahbar hoheitsvoll: »Es war zuviel für sie. Ich werde mich um sie kümmern.«

Ohne den Griff zu lockern und ohne sich einzusehen, führte sie die Greisin zur verborgenen Tür.

Anna ließ sich die Überraschung sekundenlang ihres Willens beraubt, widerstandslos dorthin schieben.

Erst im Personalgang kam Anna einigermaßen zu sich. So gut sie es mit ihren schwachen Kräften vermochte, versuchte sie, sich von Helene de Ravoux zu lösen.

»Lassen Sie mich!« keuchte Anna. »Wer sind Sie? Was wollen Sie? Das ist…«

»Ich bin Helene de Ravoux, die erste Kammerfrau der Marquise und die Erzieherin der jungen Prinzessin. Ich möchte mit Ihnen reden. Führen Sie mich in ein Zimmer, in dem wir ungestört sind.«

Die Greisin wollte sich aufbäumen, aber ein Blick in das entschlossene Gesicht von Madame de Ravoux ließ sie in sich zusammensinken.

Sie öffnete am Ende des Ganges eine Tür, die in einen kleinen Personalaufenthaltsraum führte.

Helene de Ravoux trat an der Greisin vorbei gelassen ein. Hinter ihr schloß Anna die Tür.

*

In der Halle war eine sehr verwirrte und überraschte Gesellschaft zurückgeblieben, die minutenlang nicht wußte, wie der Situation zu begegnen sei.

Angelika war zu Christina getreten, die noch immer sehr blaß, aber schon ein wenig gefaßter war. Angelikas Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Christina legte den Arm um die bebenden Schultern und zog Angelika fest an sich.

Mit heißem Mitleid sah Graf Michael auf diese Szene. Das hatten die beiden Damen zum Empfang gewiß nicht erwartet und Christina nach so langen Jahren der Abwesenheit auch nicht verdient, dachte er.

Richard von Seebach hatte eine steile nachdenkliche Falte auf der Stirn, und sein Blick strahlte jene Kälte aus, die allgemein so gefürchtet war.

Cäcilie von Seebach blickte mehr erschrocken als begreifend. Sie faßte sich dann auch als erste. Dem Personal mußte man nicht unbedingt ein Schauspiel bieten, das Ganze war ohnehin peinlich genug.

Sie klatschte leicht in die Hände, sprach abwesend ein paar freundliche Entlassungsworte und sah zu, wie die Leute sich bedrückt und verständnislos zurückzogen. Was hätte sie ihnen auch erklären sollen, verstand sie das Ganze ja selber nicht.

Sie ging auf Christina zu und versuchte zu retten, was doch nicht mehr zu retten war.

»Nimm es bitte nicht so ernst, Christina«, sagte sie, »Anna ist alt geworden und ein wenig wunderlich dazu. Sie weiß oft nicht mehr so recht, was sie tut und spricht. Du darfst das nicht tragisch nehmen. Ich hatte angeordnet, daß Anna nicht erscheinen sollte, weil etwas Derartiges bei ihr immer zu erwarten ist, aber sie hat mein Verbot übertreten. Daraus kannst du schon sehen, daß sie nicht mehr richtig im Kopf ist. Wenn es euch recht ist, lasse ich euch jetzt die Zimmer zeigen, die ich vorerst für euch habe herrichten lassen. Ihr werdet euch vor dem Essen erfrischen wollen. Später werdet ihr sicherlich selbst die Wahl eurer Zimmer treffen, aber ich dachte, daß erst mal…«

»Ja«, bemerkte Christina mit ein wenig starren Lippen, »ich bin dir sehr dankbar für deine Fürsorge und Voraussicht, Cäcilie.«

»Ich habe ein Essen euch zu Ehren richten lassen. Wenn ihr euch also erfrischt habt …«

Christina, schon am Fuß der Freitreppe, wendete sich fast ruckartig um. Ihre Augen waren groß auf Cäcilie gerichtet.

»Gäste? Das ist mir gar nicht lieb. Wir sind müde von der Reise.«

»Aber nein«, lächelte Cäcilie beruhigend, »nur wir. Wir Seebachs werden uns dann auch bald zurückziehen. Aber vielleicht hast du noch Fragen, Christina, vielleicht brauchst du auch meinen Rat. Du warst sehr lange fort, und manches hat sich verändert in der Zeit. Manches wird dir daher fremd erscheinen.«

»Das ist sehr freundlich von dir, Cäcilie.«

Christina wußte kaum, was sie sagte. Alles kam ihr wie mechanisch über die Lippen.

Prinzessin Angelika folgte stumm und ernst.

Später bei Tisch im kleinen, ganz in Weiß und Rot und Gold gehaltenen Speisesaal kam kein richtiges Gespräch mehr zustande.

Christina stocherte in ihrem Essen herum und gab zerstreute Antworten, soviel Mühe Cäcilie sich auch geben mochte, sie zu unterhalten.