ISBN: 978-3-96861-054-2
1. Auflage 2020
© 2019 Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
Die Geschichte dieses Buches begann vor etwa zwanzig Jahren, als ich Peter Michel zum ersten Mal in Frankfurt auf der Buchmesse begegnete. Schon damals fassten wir den Entschluss, dieses Buch zu schreiben. Offensichtlich hat es eine lange Reifezeit gebraucht, bis es verwirklicht werden konnte.
Aus unterschiedlichen Richtungen kommend, verbindet uns die Liebe zum Christentum und der Wunsch, Leserinnen und Lesern diese große Weisheitslehre aus unserer Sicht näherzubringen. Sie werden bei den jeweiligen Kapiteln einen Hinweis finden, wer von uns beiden es geschrieben hat.
Der erste Teil des Buches wirft einen Blick auf herausragende Gestalten aus der Geschichte des Christentums und auf die Erkenntnisse und Botschaften, die sie uns hinterlassen haben. Im zweiten Teil geht es um ausgewählte Themen aus dem Bereich „Kosmisches Christentum“. Peter Michel wird Sie dabei auch mit dem Begriff des „Kosmischen Christentums“ vertraut machen.
Im dritten Teil, der mit „Mystik im Alltag“ überschrieben ist, geht es um die persönliche Erfahrung der christlichen Botschaft. Wir müssen dieses „Licht der Welt“ erfahren und uns von ihm erfüllen lassen, damit es in uns wirken kann. Unser reiches christliches Erbe stellt dabei einen unschätzbaren Wert dar. Gebete, Meditation, Rituale und Festtage gehören ebenso dazu wie die Botschaften, die uns die Mystikerinnen und Mystiker hinterlassen haben. Wir würden uns wünschen, dass viele Menschen, die sich aufgrund ihrer Kritik an der Kirche vom Christentum abgewendet haben, gerade durch die Beschäftigung mit der Mystik wieder einen Weg zu diesen Schätzen finden.
Bereichert werden diese „Wegbeschreibungen nach Innen“ durch das Wissen, das uns aus östlichen Übungswegen überliefert ist. Vor vielen Jahren wurde mir in einem Interview für eine Christliche Frauenbund-Zeitschrift die Frage gestellt, ob man eine christliche Grundeinstellung mit Yoga vereinbaren könne. Nach kurzem Nachdenken antwortete ich, dass uns die Yoga-Lehre praktische und für jeden umsetzbare Wege aufzeigt, wie wir mit „Leib und Seele“ die Botschaft Christi im eigenen Leben verwirklichen können. Damit konnte ich die Frage klar mit Ja beantworten. Jetzt, fast dreißig Jahre nach diesem Interview, kann ich sagen, dass man diese Frage sicherlich differenzierter beantworten müsste, aber grundsätzlich kann die Weisheit des Yoga die eigene spirituelle Praxis vertiefen und – wie in meinem Fall – die christlichen Wurzeln stärken.
Wie wichtig es ist, dass wir Zugang finden zu unserem inneren Wesen, zu der inneren Quelle der Lebenskraft, zeigt mir seit vielen Jahren meine Arbeit als Therapeutin.
Die Übungen, die Sie in diesem Teil finden, haben sich in meiner therapeutischen Arbeit sowie in meiner langjährigen Tätigkeit als Yoga-Lehrerin bewährt. Sie sollen dazu führen, dass die große Kraft der christlichen Botschaft Ihnen, in Ihrer ganz persönlichen Form, spürbar wird.
Wenn die Christus-Erfahrung zu einer inneren Wirklichkeit wird, entfaltet sie ein ungeahntes Potenzial, vermittelt Hoffnung und Trost, stärkt das Selbstvertrauen und den Mut, sich ganz auf das Leben einzulassen, und letztlich auch auf das Sterben.
Wir wünschen Ihnen viel Freude auf dieser Entdeckungsreise, die Sie einerseits durch 2000 Jahre Geschichte führt und andererseits immer wieder in Ihr eigenes Herz.
(ar)
Seit das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion erhoben wurde, haben sich Theologen und Historiker ohne Zahl bemüht, das Leben des Jesus von Nazareth aus dem Dunkel der Geschichte ans Licht zu holen. Wenn man jene Publikationen sichtet, dann war dieses Unterfangen nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Wer will auch zweitausend Jahre später noch belegen, ob ein Text von Flavius Josephus korrekt ist oder vielleicht doch spätere Einschübe enthält. Ein äußerst mühsames Unterfangen, das zudem in der Regel nur den Beifall oder die Ablehnung einer kleinen akademischen Gemeinde finden wird.
Hält man sich dieses Dilemma vor Augen, das mit nahezu allen Geschehnissen verbunden ist, die sich in vergangenen Jahrtausenden abgespielt haben, dann drängt sich der berühmte Ausspruch des Angelus Silesius aus seinem „Cherubinischen Wandersmann“ geradezu auf:
„Und wäre Jesus tausendmal in Bethlehem geboren
und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“
Diese tiefsinnigen Worte weisen auf den entscheidenden Punkt hin, um den es bei der Beschäftigung mit einem mystischen oder spirituellen Christentum geht – die innere Erfahrung! Daher wird in unseren Ausführungen nicht oder nur ganz am Rande der historische Jesus der Forschung eine Rolle spielen, sondern vielmehr der „Kosmische Christus“. Jenes Wesen einer inneren Wirklichkeit, das nicht in den Mauern Jerusalems oder am Ufer des Jordan gefunden werden kann, das aber im Gebet oder in der Meditation in das Herz eines Gottliebenden eintreten kann. Das nannten frühere Mystiker die „Gottesgeburt in der Seele“; während heute eher von Erleuchtung oder von innerem Erwachen gesprochen wird. Festzuhalten bleibt bereits an dieser Stelle, dass jene innere Erfahrung oder Begegnung immer ein GESCHENK ist.
Die heutige abendländische Spiritualität ist in einem erheblichen Maße von östlichen religiösen Traditionen beeinflusst. Yoga oder ZEN-Buddhismus sind längst in das christliche Innenleben eingezogen, was uns als Autoren nur allzu bekannt ist. Seltsamerweise hat der interreligiöse Dialog bei vielen Menschen nicht zu einer neuen Ganzheitlichkeit geführt, sondern zu neuen Grenzen. Europäer oder Amerikaner, die sich zum Yoga oder zum Vajrayana hingezogen fühlen, nicht selten aus einer persönlichen konfliktbeladenen ‚christlichen Geschichte‘ heraus, verwechseln christliche Dogmatik mit Christentum – und lehnen alles „Christliche“ ab. Eine ebenso verständliche wie bedauerliche Entwicklung.
Wir wollen nachfolgend Wege beschreiten, die diese Grenzen, als menschengemachte Begrenzungen, hinter sich lassen möchten. Es geht uns um ein Christentum, das zwar aus der Erde erwächst, aber von ihr nicht begrenzt wird. Das ungeheure Universum, das uns Quanten- und Astrophysik in den vergangenen hundert Jahren enthüllt haben, ist nicht leer von GEIST. Die mystische Erfahrung hat – in allen spirituellen Traditionen – immer wieder glaubhaft nachgewiesen, dass wir uns „in Gott bewegen, leben und unser SEIN haben“. Wobei für uns dieser Satz auch dann Bestand hat, wenn ein Buddhist das Wort „Gott“ durch den Ausdruck „das klare Licht des Geistes“ ersetzen würde. Es geht ausschließlich um eine Erfahrung einer höheren Wirklichkeit, die inhaltlich zu füllen kommenden Generationen von Mystikern und Sehern vorbehalten bleiben wird. Ein ‚erleuchteter‘ Erdenbewohner bleibt doch ein inkarnierter Mensch. Welche unbeschreibliche Herrlichkeiten seiner noch warten, wird er nicht einmal erahnen können. Wer ‚erwacht‘ zu sein behauptet – falls er dies überhaupt öffentlich äußert – und nicht zugleich demütig im Angesicht der Unendlichkeit das Haupt senkt, der kann nicht erwacht sein.
Dieses Buch soll Zeugnis ablegen für jene wunderbaren Seelen, die Pioniere auf diesem Weg waren, und zugleich Inspiration und Ermutigung schenken, selbst den „pfadlosen Pfad“ zu beschreiten, um jene WIRKLICHKEIT zu erschauen, die sich im ureigensten inneren Erleben zeigt. Niemand erfährt dieselbe Wirklichkeit; aber wer sie erfahren hat, kann mit anderen, die sie ebenfalls erfahren haben, darüber sprechen. Andere können im Lauschen ein Ahnen davon erhalten. Daher stimmen wir Karl Rahners berühmten Ausspruch uneingeschränkt zu, dass das kommende Christentum ein mystisches sein wird. Es gibt viel Hoffnung auf dieses kommende mystische Christentum, weil es bereits eines in der Vergangenheit gab.
Wie dieses vergangene aussah, wollen wir zu zeigen versuchen, und wie sich das kommende verwirklichen lässt – ebenso.
(pm)
Es vergingen Jahrzehnte, ehe die Evangelien verfasst wurden, welche die „Geschichte Jesu“ überliefern sollten. Das älteste, das Markus-Evangelium, wurde um das Jahr 65 geschrieben. Matthäus folgte nach dem Jahr 70 und Lukas etwa fünfzehn Jahre später. Sie alle wiesen eine eher jüdische Grundausrichtung auf, während das noch später abgefasste Johannes-Evangelium bereits vom griechischen Denken und von der antiken „Logos-Vorstellung“ durchdrungen war. Daher unterschied man bereits in der Frühzeit des Christentums zwischen einem „Judenchristentum“ und dem sogenannten „Paulinismus“, da Paulus von der antiken Philosophie geprägt war.
Die Jünger hatten gehofft, zu ihren Lebzeiten das Kommen des „Reiches Gottes“ zu erleben, theologisch gesprochen – die Parusie. Doch diese Hoffnungen zerstoben spätestens mit dem Tod des letzten Augenzeugen von Kreuzigung und Auferstehung. Die junge Christengemeinde musste umdenken. Sie war gezwungen, ihrem Glauben einen Rahmen zu geben – der Anfang von Theologie und Dogmatik!
In den ersten beiden Jahrhunderten gab es natürlich keine ‚dogmatisch verbindliche‘ Auffassung darüber, wer dieser Jesus von Nazareth gewesen war. Anfänglich hielten ihn viele einfach für einen großen Lehrer, andere für einen Engelsboten aus einer himmlischen Sphäre. Doch damit wäre es für die Christen schwierig geworden, die „Einzigartigkeit“ ihres Meisters in einer Umwelt aufrechtzuerhalten, in der es eine Reihe von „Gottesboten“ unterschiedlichster Ausprägungen gab. So begann allmählich eine Diskussion, die in der Streitigkeit zwischen Arius und Athanasius gipfelte, ob Jesus von Nazareth, der Christus, möglicherweise „gottgleich“ sei – die berühmte „Homoousie-Debatte“. Auf dem Konzil von Nicäa behielt die Partei des Athanasius die Oberhand – und Jesus Christus wurde zur zweiten Person der Trinität. Dies ist er aus Sicht der Theologen noch heute.
Historisch sind die Fragen nach der Rechtmäßigkeit oder Wahrhaftigkeit dieser Anschauungen und Überlieferungen nicht zu beantworten. Es lassen sich nur die einzelnen Etappen theologischer Festlegungen herausarbeiten. Dogmen eignen von ihrem Wesen her die Eigenschaft zu, dass sie genau formuliert und dadurch meistens gut überliefert wurden – unabhängig von ihrer inneren Logik oder historischen Wahrscheinlichkeit. Wer sich genauer damit befassen will, dem sei die noch immer lesenswerte, längst berühmt gewordene „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ von Albert Schweitzer (1875-1965) empfohlen. Allerdings stellt es eine gewisse Geduldsprobe dar, die endlosen Windungen von Kritik und Gegenkritik, von Beweis und Gegenbeweis nachzuvollziehen. Ob man durch theologische Studien der historischen Figur des Jesus von Nazareth näher kommt, wage ich zu bezweifeln. Dem „Kosmischen Christus“ wird man auf diesem Pfad nur schwerlich begegnen!
Wir werden nachfolgend versuchen, über die Wege der Mystik und über persönliche Rückerinnerungen sowohl die historische als auch die mystische Wirklichkeit des Christentums herauszuarbeiten. Es gibt die klassische mystische Tradition, wie sie etwa Jakob Böhme oder teilweise Teilhard de Chardin verkörpern, es gibt die „mediale“ Rückschau oder Inspiration, wie sie in Personen wie Anna Katharina Emmerich (1774-1824) oder Jakob Lorber (1800-1864) zum Ausdruck kommt, und es gibt die persönlichen Rückerinnerungen, auf die Menschen zurückgreifen können, die von sich behaupten, den historischen Jesus im damaligen Palästina getroffen zu haben, wie die amerikanische Mystikerin Flower A. Newhouse (1909-1994) oder die „graue Eminenz“ der englischen esoterischen Tradition, Wellesley Tudor Pole (1884-1968). Wobei es schon an dieser Stelle festzuhalten gilt, wie nahezu deckungsgleich das bewegende Bild ist, das Newhouse und Pole von den Ereignissen vor mehr als zweitausend Jahren zeichnen.
Wenn wir von „Erinnerungen an Jesus von Nazareth“ sprechen, dann sollte hier vielleicht eines dieser persönlichen Erlebnisse wiedergegeben werden, wie es Pole in seinem gleichnamigen Buch veröffentlicht hat: „Ein unvergesslicher Eindruck von Jesus kehrt zu mir zurück. Er ist achtzehn Jahre alt und trägt bereits einen leichten Bart. Als er an den Ufern des Jordan (in jenen Tagen ein größerer und tieferer Fluss) umherstreift, entdeckt er einen jungen Hasen, der verwundet am gegenüberliegenden Ufer liegt. Ich beobachte ihn, wie er entblößt, gelassen und aufrecht da steht, bereit, ins Wasser zu springen und den Fluss zu überqueren, um ihm zu Hilfe zu eilen. Die lebenssprühende und energievolle Gestalt im Sonnenlicht gleicht eher einem jungen griechischen Gott als dem Sohn jüdischer Eltern aus der Provinz, die dem Mittelstand angehören. Er nimmt das verwundete Tier in seine Arme. Fast augenblicklich ist die Verletzung geheilt, und der Hase springt voller Freude über die wiedergewonnene Freiheit davon. In diesem Augenblick bemerke ich die helle, magnetische Aura, die die Hände Jesu umgibt, eine Eigenschaft, die ihm während seines Wirkens in den folgenden Jahren von Nutzen sein wird. Bei einer späteren Gelegenheit war es mir möglich, die Heilkraft aus seinen Augen strömen zu sehen.“
Natürlich ist das nicht überprüfbar. Natürlich gibt es keinen historischen Beleg für diese Episode. Natürlich muss man Pole für die Echtheit dieser Erzählung einen „Glaubensvorschuss“ geben. Und natürlich sind wir in diesem Buch bereit, jenen Autorinnen und Autoren, die wir anführen, diesen Glaubensvorschuss einzuräumen.
Wir werden am Ende unserer Reise durch zwei Jahrtausende mystisches Christentum feststellen müssen, dass nicht alle Erfahrungen, Visionen oder Botschaften deckungsgleich sind. Kann das verwundern? Wir versuchen, anhand der Werke und Überlieferungen und in wenigen Fällen anhand persönlicher Eindrücke, das Leben eines Menschen nachzuzeichnen, der vor zwanzig Jahrhunderten gelebt und die Geschichte der Menschheit auf einzigartige Weise inspiriert hat. Schon wenn wir ins 16. Jahrhundert zurückgehen oder etwa in die Zeit des Franziskus, wird die Quellenlage sehr viel dürftiger als es etwa bei Goethe oder Schiller der Fall ist; und vielleicht darf an dieser Stelle als gleichsam historische Fußnote erwähnt werden, dass noch immer trefflich darüber gestritten wird, wer die Werke Shakespeares geschrieben hat!
Die „Wahrheit“ über Jesus Christus lässt sich nur im eigenen Herzen finden. Wem die „Wahrheit“ eines Jakob Böhme, einer Flower A. Newhouse oder eines Wellesley Tudor Pole nicht in seinem tiefsten Inneren aufschimmert, der wird sie nicht erfassen – selbst wenn sie im vollsten Sinne historisch oder geistig „wahr“ ist! Nur der Mystiker wird den Mystiker verstehen, nur der Erwachte den Erwachten. Mystik ähnelt in dieser Hinsicht der Lyrik. Um ein vollendetes Gedicht zu verstehen, bedarf es eines ganz bestimmten „Einschwingens“ auf den Geist des Gedichtes. Poesie bedeutet Eingestimmtsein. Daher kann das berühmte „Liebeslied“ des vielleicht mystischsten aller Dichter, Rainer Maria Rilke, auch auf das Mysterium der Liebe zum Göttlichen bezogen werden.
Liebes-Lied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.
Darum hoffen wir, dass dieses Buch mit dem Herzen gelesen wird, denn so wurde es geschrieben. Mit dem Verstand kann man zwar die Worte erfassen, nicht aber seine wirkliche Botschaft. Diese schwingt jenseits der Worte.
(pm)
Das bedeutendste spirituelle Zentrum der alten Welt war in den ersten Jahrhunderten nach der Zeitenwende nicht Athen, nicht Rom, nicht Jerusalem – sondern Alexandria. Vor allem die legendäre Bibliothek dürfte ein machtvoller Anziehungspunkt für die klügsten Köpfe der damaligen Zeit gewesen sein, bis sie – wahrscheinlich im 3. Jahrhundert – der Zerstörung anheimfiel.
Aus christlicher Sicht trat um das Jahr 180 als erster bedeutender Lehrer der aus Sizilien stammende Pantänus auf. Ihm folgte als weitaus einflussreichere Persönlichkeit Clemens nach. Wobei Pantänus nicht als sein direkter Lehrer und Vorgänger anzusehen ist, sondern beide lehrten wohl nebeneinander in Alexandria.
In einer vom griechischen Denken geprägten Familie wurde Clemens wahrscheinlich um das Jahr 150 in Athen geboren. Nach ausgedehnten Reisen im Mittelmeerraum ließ er sich als Lehrer und Autor in Alexandria nieder, das er aber Anfang des dritten Jahrhunderts, bedingt durch die Christenverfolgung unter Septimus Severus, in Richtung Kleinasien verließ, wo er vermutlich vor dem Jahr 215 verstarb.
Clemens war hochgebildet und bestens vertraut mit der griechischen Philosophie und der klassischen Literatur der Antike. Man darf nie vergessen, dass die „Bildungslektüre“ der ersten christlichen Jahrhunderte natürlich weitgehend aus Werken der griechischen Philosophen bestand. Von daher mutet es seltsam an, wenn die christliche Dogmatik gerade den alten Kirchenvätern, die ja viel näher an den Ursprüngen ihrer eigenen Überlieferung waren, Jahrhunderte später schwere „Glaubensirrtümer“ vorwarf. Möglicherweise ist es gerade umgekehrt!
Alexandria war ein Schmelztiegel der Kulturen. Daher besaßen die frühen Kirchenväter durchaus Kenntnis der asiatischen Traditionen oder der griechischen Mysterienkulte, wie die Lektüre von Clemens‘ Hauptwerk „Stromata“ (Teppiche) belegt (etwa Buch 1, Kap. XV, 68). Es kann daher nicht verwundern, dass Clemens und später Origenes deutlich unterschieden zwischen dem Glauben der einfachen Bevölkerung und der „Gnosis“ der Wissenden. Wobei ihre „Gnosis“ eine christliche war, die sich durchaus von späteren als „Gnostiker“ bezeichneten Gruppierungen unterschied. Es war eher etwas, was man heute als Wissen eines „Eingeweihten“ oder „Erwachten“ bezeichnen würde.
Für Clemens gab es keinen Zweifel, dass dieses Erwachen, diese Rückkehr zur Göttlichen Quelle, jedem möglich war, worin er sich wohltuend von der späteren Erbsündenlehre eines Augustinus unterschied. „Gott ruft jeden, der sich aus freiem Willen vorgenommen hat, durch Übung und Belehrung die Erkenntnis der Wahrheit zu erlangen, zur Sohnschaft, zur höchsten Entwicklungsstufe, die es gibt.“ (Teppiche, Buch 1, Kap. XVI, 75)
Clemens denkt sein Christentum ausdrücklich von der platonischen Philosophie her und zitiert an zahllosen Stellen aus den Werken Platons. „Wenn eine Seele über die irdische Schöpfung emporgestiegen und für sich allein ist und mit den Urbildern verkehrt, so wie es bei dem im „Theaitetos“ geschilderten „obersten Führer“ der Fall ist, dann ist er bereits gleichsam zu einem Engel geworden und wird mit Christus zusammen sein, einer, der zu schauen imstande ist, der seinen Blick immer auf den Willen Gottes richtet.“ (Teppiche, 4. Buch, Kap. XXV, 2)
Es ist bewegend, wenn man sich die blutige Geschichte des Christentums in den 1800 Jahren nach Abfassung dieses Werkes vor Augen hält, zu lesen, welche spirituelle Größe und vor allem welche spirituelle Offenheit an der alexandrinischen Schule geherrscht haben müssen. Wären ihre Lehren doch prägend für die kommende Entwicklung der christlichen Lehre geblieben.
Origenes wurde um das Jahr 185 in Alexandria geboren. Interessant scheint mir die Namensgebung zu sein, die wörtlich „der von Horus Abstammende“ bedeutet. Auch wenn es zur damaligen Zeit wohl nicht ungewöhnlich war, dass auch christlich ausgerichtete Eltern ihren Kindern von der ägyptischen Mythologie geprägte Namen gaben, dürfte der Bezug auf den ehrwürdigen „Himmelsgott“ des Alten Reiches wohl nicht völlig unbedacht gewählt worden sein.
Die Bedeutung der Person und der Werke von Origenes kann überhaupt nicht hoch genug angesetzt werden. Für Jahrhunderte prägte er das christliche Denken, und trotz der zweifachen Verurteilung seiner Lehren im 6. Jahrhundert erlebt er gerade erneut eine Renaissance.
Origenes war, wie sein berühmter Zeitgenosse Plotin, Schüler der geheimnisvollsten Gestalt der damaligen Epoche – Ammonios Sakkas. Die These, es habe zeitgleich einen zweiten Mann namens Origenes gegeben, der als neuplatonischer Denker Schüler bei Ammonios war, erscheint mir wenig glaubhaft. Wir dürfen eher davon ausgehen, dass Ammonios zwei entscheidende Ströme abendländischer Spiritualität gleichzeitig maßgeblich initiiert hat: Den Neuplatonismus und ein mystisches Christentum. Von daher kann es nicht den geringsten Zweifel geben, in Origenes einen der Gründerväter des „christlichen Platonismus“ zu sehen.
Origenes lehrte eine ursprünglich geistige Schöpfung. Die materielle Ebene war die Reaktion auf einen „Fall“. Ohne den „Abfall der Seelen“ hätte es niemals eine materielle Welt gegeben; die Seelen wären in der geistigen Welt verblieben. Dort hätten sie sich zu ihrer ursprünglich geplanten „Gottebenbildlichkeit“ entwickeln sollen; wobei Origenes diese nicht als ein „Aufgehen in Gott“ verstanden wissen wollte, sondern als ein „vergeistigtes Leben im SEIN Gottes“.
Der „Abfall“ war möglich geworden, weil die Geschöpfe einen vollkommen freien Willen besaßen – auch Origenes darf als Kronzeuge gegen Augustinus ins Feld geführt werden. In seinem Hauptwerk „Peri Archon“ (Von den Prinzipien) spricht er sich zudem für den Reinkarnationsgedanken aus, was Generationen von christlichen Dogmatikern immer wieder – vergeblich – zu widerlegen versuchten. „Was Esau und Jakob betrifft, so findet man bei genauerem Studium der Schrift, dass keine Ungerechtigkeit ist bei Gott, so dass ehe sie geboren waren und etwas getan hatten – nämlich in diesem Leben – gesagt war, der Ältere sollte dem Jüngeren dienstbar sein; und man findet, dass es auch keine Ungerechtigkeit war, dass Jakob im Mutterleib seinen Bruder zu Fall brachte. Wir müssen nur annehmen, dass er auf Grund von Verdiensten eines früheren Lebens von Gott mit Recht geliebt wurde, so dass er auch nach Verdienst dem Bruder vorgezogen wurde.“ (II,9,7)
Mehrere Jahrhunderte lang muss also die Lehre von Reinkarnation und Karma im Christentum zumindest denkbar gewesen sein. Das änderte sich, als im Jahr 553 auf dem Konzil von Konstantinopel die Lehren des Origenes explizit verurteilt wurden. „Wenn einer die erdichtete Präexistenz der Seelen und ihre daraus folgende phantastische Wiederherstellung vertritt – so sei er im Bann.“ Insgesamt verabschiedete das Konzil damals fünfzehn Anathematismen gegen Origenes, deren verhängnisvolle Auswirkungen kaum überschätzt werden können. Von diesem Tag an gab es keine Möglichkeit mehr, die Reinkarnationslehre mit dem Christentum zu versöhnen; denn wenn vor der Geburt nichts „prä-existierte“, konnte auch nichts „re-inkarnieren“. Diese verhängnisvolle Entscheidung hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die christliche Jenseitslehre und machte es unmöglich, das Schicksal auf Erden sinnvoll zu erklären. Für alle Unglücke und Katastrophen, aber auch für alle Glücksfälle und geniale Begabungen blieb nur – der „unerforschliche göttliche Ratschluss“.
Es dauerte fast anderthalb Jahrtausende, bis auch in den christlich geprägten Zivilisationen durch innere Erfahrungen, durch Nahtod-Erlebnisse und durch parapsychologische Untersuchungen eine Bresche in die versteinerte kirchliche Dogmatik geschlagen wurde und ein altes, urchristliches Wissen auch im Christentum wieder eine Heimat fand. Heute glaubt, nach letzten Umfragen, ein gutes Viertel aller Christen an Reinkarnation und Karma. Wo ständen die christlichen Kirchen heute, wenn sie nicht Augustinus und anderen gefolgt wären, sondern Clemens und Origenes!
(pm)