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Lektorat, Herstellung und Reproduktionen:
Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin
ISBN Print: 978-3-86867-501-6
ISBN epub: 978-3-86867-512-2
Es gibt kaum ein spannenderes und vielfältigeres Gebiet in der Zahnmedizin als die zahnärztliche Traumatologie. Und in den letzten 25 Jahren hat sich auf diesem Gebiet sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie viel getan. Jedes der fünf potenziell bei einem Zahntrauma verletzten Gewebe (Zahnhartsubstanz, Pulpa, Parodont, Gingiva, Alveolarknochen) profitiert von aktualisierten Konzepten und Therapieempfehlungen sowie von neuen Materialien und Techniken. Was aber unverändert blieb, sind die biologischen und physiologischen Grundlagen, die bei der Heilung der verletzten Strukturen relevant sind. Diese waren bereits vor einem Vierteljahrhundert weitgehend erforscht und können in zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen nachgelesen werden. Und doch hapert es oft in der klinischen Umsetzung. Eine vor 10 Jahren durchgeführte Umfrage zur Erfassung des Kenntnisstandes unter deutschen Zahnärzten zeigt dies ganz deutlich1. Mit dem Ziel, die flächendeckende Versorgung des dentalen Traumas zu verbessern, wurde 2011 von unserer Seite die App AcciDent erarbeitet und in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für Endodontologie und zahnärztliche Traumatologie e. V. (DGET) lanciert. Seit 2019 ist die dritte Version – mittlerweile auch in drei Sprachen (deutsch, englisch, spanisch) – erhältlich. AcciDent 3 soll eine schnelle und unmittelbare Hilfe bei der Diagnostik und Therapie von Zahnunfällen in der Praxis bieten2. Für einen detaillierten Einblick und ein tieferes Verständnis der relevanten Zusammenhänge soll dieses Buch sorgen. Es ist ein Puzzle aus teils bereits publizierten und teils neuen Beiträgen, die das Fachgebiet der zahnärztlichen Traumatologie gut abbilden.
Und das Zahntrauma selbst? Es ist jedes Mal aufs Neue ein 3D-Puzzlespiel, bei dem die richtigen Maßnahmen – abhängig von den verletzten Strukturen – zu einem Ganzen, einem Therapiekonzept, zusammengesetzt werden müssen. Wir hoffen, dass das Buch Ihnen hierbei hilft.
Viel Spaß bei der Lektüre!
Gabriel Krastl, Zahnunfallzentrum Würzburg
Roland Weiger, Zahnunfallzentrum Basel
Andreas Filippi, Zahnunfallzentrum Basel
1. Krastl G, Filippi A, Weiger R. German general dentists’ knowledge of dental trauma. Dent Traumatol 2009;25:88-91.
2. Weiger R, Krastl G, Filippi A, Lienert N. AcciDent 3. App für iOS und Android 2019.
Gabriel Krastl
Prof. Dr. med. dent.
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie/Zahnunfallzentrum
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kiefergesundheit
Universitätsklinikum Würzburg,
Pleicherwall 2, 97070 Würzburg
Roland Weiger
Prof. Dr. med. dent.
Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie/Zahnunfallzentrum
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB, Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Andreas Filippi
Prof. Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie/Zahnunfallzentrum
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Julia Amato
Dr. med. dent.
Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie/Zahnunfallzentrum
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Mauro Amato
Dr. med. dent.
Privatpraxis; Kohleberg 7, 4051 Basel, Schweiz
Vivianne Chappuis
Prof. Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie und Stomatologie
Zahnmedizinische Kliniken der Universität Bern
Freiburgstrasse 7, 3010 Bern, Schweiz
Thomas Connert
PD Dr. med. dent.
Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie/Zahnunfallzentrum
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Dorothea C. Dagassan-Berndt
Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Till Dammaschke
Prof. Dr. med. dent.
Poliklinik für Parodontologie und Zahnerhaltung
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Universitätsklinikum Münster
Waldeyerstraße 30, 48149 Münster
Christian Dettwiler
Dr. med. dent.
Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Kurt A. Ebeleseder
Ao. Univ.-Prof. Dr.
Abteilung für Zahnerhaltung, Parodontologie und Zahnersatz
Klinik für Zahnmedizin und Mundgesundheit, Medizinische Universität Graz
Billrothgasse 4, 8010 Graz, Österreich
Florin Eggmann
Dr. med. dent.
Klinik für Parodontologie, Endodontologie und Kariologie/Zahnunfallzentrum
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Kerstin Galler
Prof. Dr. med. dent., Ph.D.
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie
Universitätsklinikum Regensburg, Franz-Josef-Strauß-Allee 11, 93053 Regensburg
Fabienne Glenz
Dr. med. dent.
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Britta Hahn
Dr. med. dent.
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie/
Zahnunfallzentrum
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kiefergesundheit
Universitätsklinikum Würzburg,
Pleicherwall 2, 97070 Würzburg
Ralf Krug
OA Dr. med. dent.
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie/Zahnunfallzentrum
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kiefergesundheit
Universitätsklinikum Würzburg,
Pleicherwall 2, 97070 Würzburg
Sebastian Kühl
Prof. Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Silke Ostertag
Dr. med. dent.
Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Zürich
Plattenstrasse 11, 8032 Zürich, Schweiz
Fabio Saccardin
Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie/Zahnunfallzentrum
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Sebastian Soliman
Dr. med. dent.
Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie/
Zahnunfallzentrum
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kiefergesundheit
Universitätsklinikum Würzburg,
Pleicherwall 2, 97070 Würzburg
Sandra Tobiska
Dr. med. dent.
Poliklinik für Zahnerhaltung
Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Universitätsklinikum Tübingen, Osianderstraße 2-8, 72076 Tübingen
Thomas von Arx
Prof. Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie und Stomatologie
Zahnmedizinische Kliniken der Universität Bern
Freiburgstrasse 7, 3010 Bern, Schweiz
Hubertus van Waes
Dr. med. dent.
Klinik für Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Zürich
Plattenstrasse 11, 8032 Zürich, Schweiz
Andrea Zürcher
Dr. med. dent.
Klinik für Oralchirurgie und Dental Imaging
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB, Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
Nicola U. Zitzmann
Prof. Dr. med. dent., Ph.D.
Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin
Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel UZB
Universität Basel, Mattenstrasse 40, 4058 Basel, Schweiz
1 Unfallbedingte Zahnverletzungen – Klassifikation, Terminologie und Risikofaktoren
Andreas Filippi
2 Verhalten am Unfallort nach Zahntrauma
Andreas Filippi
3 Primärversorgung nach Zahntrauma: MUSS – SOLL – KANN
Gabriel Krastl, Andreas Filippi, Roland Weiger
4 Vitalerhaltung der Pulpa nach Trauma
Kerstin Galler, Till Dammaschke, Gabriel Krastl
5 Restauration von Kronenfrakturen
Gabriel Krastl, Julia Amato, Sebastian Soliman, Britta Hahn
6 Therapieoptionen nach Kronen-Wurzel-Fraktur
Ralf Krug, Gabriel Krastl
7 Wurzelfrakturen
Florin Eggmann, Roland Weiger
8 Langfristiger Erhalt oberer Schneidezähne mit zervikaler Wurzelfraktur in Kombination mit einer aggressiven Parodontitis
Sandra Tobiska, Gabriel Krastl
9 Therapie des akut traumatisierten Parodonts
Kurt A. Ebeleseder
10 Dislokationsverletzungen bleibender Zähne
Hubertus van Waes, Silke Ostertag
11 Avulsion und Replantation
Andrea Zürcher, Andreas Filippi
12 Diagnose und Therapie von Knochen- und Weichgewebsverletzungen im dentoalveolären Bereich
Vivianne Chappuis, Thomas von Arx
13 Schienung nach Zahntrauma
Gabriel Krastl, Roland Weiger, Andreas Filippi
14 Schienenentfernung nach Trauma
Thomas Connert, Christian Dettwiler, Fabio Saccardin, Andreas Filippi, Roland Weiger
15 Endodontische Spätfolgen nach Zahntrauma
Roland Weiger, Gabriel Krastl
16 Die digitale Volumentomografie nach Zahntrauma
Dorothea C. Dagassan-Berndt
17 Milchzahntrauma
Gabriel Krastl, Andreas Filippi, Roland Weiger
18 „Guided Endodontics“ nach Zahntrauma
Thomas Connert, Sebastian Kühl, Ralf Krug, Roland Weiger, Gabriel Krastl
19 Bleaching nach Trauma
Mauro Amato
20 Dekoronation als präimplantologische Maßnahme
Andrea Zürcher, Nicola U. Zitzmann, Andreas Filippi
21 Prothetischer Lückenschluss nach Frontzahnverlust
Nicola U. Zitzmann, Fabienne Glenz
Unfallbedingte Zahnverletzungen – Klassifikation, Terminologie und Risikofaktoren | 1 |
Bis 1998 wurden unfallbedingte Zahnverletzungen in Frakturen und Dislokationen unterteilt1,2,5. Für Zahnfrakturen, insbesondere für Kronenfrakturen, gab und gibt es verschiedene weitere Unterteilungen. Beispiele hierfür sind „Kronenfraktur Grad 1, 2 oder 3“, „Unkomplizierte oder komplizierte Kronenfraktur“ und „Schmelzfraktur, Schmelz-Dentin-Fraktur oder Fraktur mit Pulpaeröffnung“. Diese Einteilungen entsprachen dem Geschmack der jeweiligen Universität, an der sie vermittelt worden sind, und tragen keinesfalls zur Transparenz bei (Abb. 1). Didaktisch und therapeutisch sinnvoll ist aus heutiger Sicht lediglich „Kronenfraktur mit oder ohne vorhandenes Fragment“, da gerade die Therapie dieser Zahnhartsubstanzverletzungen kaum durch den Verlauf der Bruchlinie bestimmt wird.
Abb. 1 Schmelzfraktur Zahn 11 distal, Schmelz-Dentin-Fraktur Zahn 11 mesial und Fraktur mit Pulpaexposition Zahn 21 (Pulpa bereits abgedeckt)
Bei den Wurzelfrakturen wurde bisher zwischen „Frakturen im apikalen, mittleren oder koronalen Wurzeldrittel“ unterschieden. Dies ist aufgrund des schrägen Bruchspaltverlaufs ohnehin nicht exakt zuzuordnen und ebenfalls therapeutisch irrelevant (Abb. 2). Therapeutisch und prognostisch relevant hingegen ist die Unterteilung in „Wurzelfraktur mit oder ohne Dislokation der Fragmente“ und „Wurzelfraktur mit Erhalt oder Verlust der Pulpasensibilität“ (Tab. 1).
Abb. 2 Typisch schräger Verlauf des Bruchspalts bei Wurzelfrakturen
Tab. 1 Unterteilung der unfallbedingten Zahnfrakturen
Art der Zahnfraktur |
Beschreibung |
Therapeutisch relevante Unterteilung |
Schmelzriss/-sprung |
Keine üblich |
|
Kronenfrakturen |
Extraalveolärer Verlauf des Bruchspalts |
a. Fragment vollständig vorhanden oder verloren b. Mit oder ohne Pulpaexposition |
Kronen-Wurzel-Frakturen |
Kombiniert intra- und extraalveolärer Verlauf des Bruchspalts |
Aus therapeutischer Sicht keine erforderlich |
Wurzelfrakturen |
Intraalveolärer Verlauf des Bruchspalts |
a. Mit oder ohne Dislokation der Fragmente b. Pulpasensibilität erhalten oder verloren |
Tab. 2 Unterteilung der unfallbedingten Zahndislokationen
Art der Dislokation |
Beschreibung |
Antiquierte und/oder falsche Synonyme |
Konkussion |
Erschütterung des Zahnes ohne Lockerung |
Kontusion |
Lockerung |
Lockerung des Zahnes ohne Dislokation |
Subluxation |
Dislokation |
Verlagerung des Zahnes, meist palatinale Dislokation der Zahnkrone, seltener extrusive oder bukkale Dislokation |
Luxation |
Intrusion |
Verlagerung des Zahnes in die Alveole hinein |
|
Avulsion |
Der Zahn verlässt die Alveole vollständig |
Totalluxation Exartikulation |
Auch die Dislokationsverletzungen werden in „klassische“ Verletzungsarten unterteilt (Tab. 2, Abb. 3 bis 7). Insbesondere im deutschsprachigen Raum sind teilweise noch immer antiquierte und/oder falsche Synonyme im Gebrauch. Begriffe wie Subluxation, Totalluxation oder Exartikulation stammen aus der Gelenklehre und haben nichts mit der parodontalen Verankerung zu tun. Neue deutsche Wortkreationen wie Eluxation werden international nicht verstanden und sind daher überflüssig. All diese falschen, veralteten und zum Teil unverständlichen Termini sollten heute grundsätzlich vermieden werden5.
Die bis 1998 ausschließlich verwendete Klassifikation unfallbedingter Zahnverletzungen ist international etabliert. Ein Nachteil besteht jedoch darin, dass jedem verletzten Zahn eine Hauptverletzung zugeteilt wird (beispielsweise Intrusion Zahn 21), was dann vielfach als alleinige Diagnose in der Krankengeschichte des Patienten erscheint. Dadurch werden neben der Hauptverletzung häufig vorhandene Begleitverletzungen nicht berücksichtigt und oft auch nicht therapiert. Aus diesem Grund wurde 1998 eine neue und exaktere Einteilung von Zahnverletzungen etabliert, nämlich die nach den Anfangsbuchstaben der Begriffe Zahnhartsubstanz, Endodont, Parodont, Alveolarknochen und Gingiva benannte ZEPAG-Klassifikation3. Diese fragt nicht nach der Hauptverletzung des Zahnes, sondern berücksichtigt, welche Gewebe nach einem Zahnunfall tatsächlich und wie stark verletzt sind (ZEPAG-Diagnoseliste im Internet erhältlich unter www.andreas-filippi.ch). Grundsätzlich können fünf Gewebe unabhängig voneinander verletzt sein: die Zahnhartsubstanzen, die Pulpa, das Parodont, der Alveolarknochen und die umliegenden Weichgewebe. Diese müssen für jeden verletzten Zahn einzeln diagnostiziert und – falls erforderlich – auch separat behandelt werden. Das garantiert nicht nur eine lückenlose und nachvollziehbare Diagnose, sondern auch eine vollständige Therapie.
Abb. 3 Lockerung der Zähne 11 und 12
Abb. 4 Palatinale Dislokation Zahn 21
Abb. 5 Extrusion Zahn 11
Abb. 6 Intrusion Zahn 21 mit begleitender Kronenfraktur
Abb. 7 Avulsion Zahn 21
Aktuelle und risikoreiche Trendsportarten haben in den letzten Jahren immer wieder zu einem saisonalen Anstieg unfallbedingter Zahnverletzungen geführt. Besonders viele Zahnunfälle passieren beim Inlineskating, beim Kickboarding und in Schwimmbädern. Heute erleiden über 50 % aller Kinder und Jugendlichen ein Zahntrauma noch vor dem 17. Lebensjahr. Häufigkeitsmaxima finden sich zwischen dem 3. und 4. (Milchzähne) sowie dem 9. und 12. Lebensjahr und im Alter von 16 Jahren. Betroffen sind überwiegend die mittleren Schneidezähne im Oberkiefer. Laterale Inzisivi im Oberkiefer oder Schneidezähne im Unterkiefer werden deutlich seltener verletzt und Eckzähne, Prämolaren oder Molaren prozentual betrachtet so gut wie nie. Die häufigste Verletzung im bleibenden Gebiss ist die Kronenfraktur, während im Milchgebiss die Dislokation überwiegt. Etwa zwei Drittel aller Zahnunfälle passieren zu Hause oder an öffentlichen Sport- und Spielstätten.
Abb. 8a bis c Professioneller, vom Zahnarzt in Zusammenarbeit mit einem zertifizierten Zahntechniker angefertigter Zahnschutz. Ansicht von bukkal (a), okklusal (b) und lateral (c)
Nicht alle Kinder und Jugendlichen erleiden gleich häufig Zahnunfälle. Es gibt heute zahlreiche wissenschaftlich identifizierte Risikofaktoren, welche die Wahrscheinlichkeit eines Zahntraumas erhöhen4,7-11. Zu den „klassischen“ Risikofaktoren gehören der große Overjet, die Protrusion der Oberkieferfrontzähne, der insuffiziente Lippenschluss, das männliche Geschlecht sowie das Ausüben von Risikosportarten. Neuere und daher nicht so bekannte Risikofaktoren sind das kindliche Übergewicht, Hyperaktivität bei Kindern und die sozioökonomische Umgebung. Zusätzlich scheint es ein gewisses genetisches Risiko zu geben.
Verantwortungsvolle und prophylaxeorientierte Zahnärzte evaluieren solche Risikofaktoren bei ihren Patienten und geben entsprechende Empfehlungen zur Prophylaxe von Zahnunfällen. Dies kann bei Zahnstellungsanomalien (großer Overjet, Protrusion der Oberkieferfrontzähne, insuffizienter Lippenschluss) eine frühzeitige kieferorthopädische Intervention sein. Bei so genannten Risikosportarten wie Eishockey, Handball, Basketball und vielen Kampfsportarten sollte das Tragen eines Zahnschutzes empfohlen werden (Abb. 8a bis c).
1. Andreasen JO, Andreasen FM, Andersson L. Textbook and color atlas of traumatic injuries to the teeth. Copenhagen: Munksgaard, 2007.
2. Filippi A, Krastl G. Traumatologie im Milch- und Wechselgebiss. Quintessenz 2007;58: 739-752.
3. Filippi A, Tschan J, Pohl Y, Berthold H, Ebeleseder K. A retrospective classification of tooth injuries using a new scoring system. Clin Oral Investig 2000;4:173-175.
4. Forsberg CM, Tedestam G. Etiological and predisposing factors related to traumatic injuries to permanent teeth. Swed Dent J 1993; 17:183-190.
5. Kirschner H, Pohl Y, Filippi A, Ebeleseder K. Unfallverletzungen der Zähne. München: Elsevier, 2005.
6. Marcenes W, Alessi ON, Traebert J. Causes and prevalence of traumatic injuries to the permanent incisors of school children aged 12 years in Jaragua do Sul, Brazil. Int Dent J 2000;50:87-92.
7. Marcenes W, Zabot NE, Traebert J. Socio-economic correlates of traumatic injuries to the permanent incisors in schoolchildren aged 12 years in Blumenau, Brazil. Dent Traumatol 2001;17:222-226.
8. Petti S, Cairella G, Tarsitani G. Childhood obesity: a risk factor for traumatic injuries to anterior teeth. Endod Dent Traumatol 1997;13:285-288.
9. Petti S, Tarsitani G. Traumatic injuries to anterior teeth in Italian schoolchildren: prevalence and risk factors. Endod Dent Traumatol 1996;12:294-297.
10. Sabuncuoglu O. Traumatic dental injuries and attention-deficit/hyperactivity disorder: is there a link? Dent Traumatol 2007;23:137-142.
11. Wasmer C, Pohl Y, Filippi A. Traumatic dental injuries in twins: Is there a genetic risk for dental injuries? Dent Traumatol 2008;24:619-624.
Verhalten am Unfallort nach Zahntrauma | 2 |
Das Verhalten unmittelbar nach einem Zahnunfall kann für die Therapie und die Prognose des verletzten Zahnes entscheidend sein. Dies gilt vor allem für Kronenfrakturen und Avulsionen. Zähne oder deren Bruchstücke müssen sofort gesucht werden. Während koronale Fragmente lediglich feucht gelagert werden sollten, um ein Austrocknen und somit eine Verfärbung nach dem Wiederbefestigen (reattachment) zu verhindern, müssen avulsierte Zähne möglichst rasch in ein zellphysiologisches Medium eingebracht werden. Das Überleben der Zellen auf der Wurzeloberfläche (Zementoblasten, Parodontalfibroblasten) ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Replantation mit parodontaler Heilung2,3,6,8 (Abb. 1). Das Absterben dieser Zellen führt immer zum Zahnverlust durch Ankylose und externe Wurzelresorption (osseous replacement, bei unbehandelter Pulpanekrose: infection-related resorption), was bei Kindern einen Stopp des lokalen Kieferwachstums und somit kaum lösbare Probleme zur Folge hat1,5.
Die hoch spezialisierten Zellen auf der Wurzeloberfläche können nur in einer Zahnrettungsbox (SOS Zahnbox, Fa. Hager & Werken, Duisburg; Dentosafe, Fa. Medice Arzneimittel Pütter, Iserlohn; EMT ToothSaver, Fa. SmartPractice, Phoenix, USA) nennenswerte Zeiträume überleben8,12 (Abb. 2). Sie enthält sämtliche erforderlichen Nährstoffe sowie Aminosäuren und gewährleistet ein extraorales Überleben der Zellen und somit des Zahnes von mindestens 25 bis 30 Stunden (Abb. 3). Lassen die Umstände eine Replantation des Zahnes innerhalb dieser Zeit nicht zu, kann er in eine neue Rettungsbox umgelagert werden; Zeiträume von 2 bis 3 Tagen lassen sich problemlos überbrücken. Auf diese Weise können zunächst ggf. schwerwiegendere Verletzungen in der Unfallchirurgie oder im Kinderspital behandelt werden. Auch kann eine Replantation im nächtlichen Notfalldienst der zahnärztlichen Praxis auf den nächsten Tag mit besserer personeller Infrastruktur verschoben werden, ohne prognostische Kompromisse machen zu müssen.
Ein weiterer Vorteil der Zahnrettungsbox besteht darin, dass nach dem Unfall noch genügend Zeit für die zahnärztliche Diagnostik sowie die Information und Aufklärung der Eltern/Erziehungsberechtigten bleibt. Letzteres ist um so wichtiger, je schlechter sich die Prognose der verletzten Zähne darstellt. Die Zahnrettungsbox enthält einen Puffer, der in der Lage ist, den pH-Wert über die genannten Zeiträume hinweg konstant physiologisch zu halten, und einen Farbindikator, der das rosa Medium bei einem Absinken des pH-Wertes unter 6 gelb werden lässt (Abb. 4). Dies stellt einen wichtigen Anhaltspunkt für den behandelnden Zahnarzt dar.
Abb. 1 Immunhistochemische Darstellung von Zementoblasten auf der Wurzeloberfläche
Abb. 2 Die verschiedenen, bezüglich des Inhalts identischen Zahnrettungsboxen. Von links nach rechts: SOS Zahnbox, Dentosafe und EMT ToothSaver
Abb. 3 Inhaltsstoffe des Organtransplantationsmediums in der Zahnrettungsbox
Abb. 4 Bei einem Absinken des pH-Wertes unter 6 verfärbt sich das rosa Medium (links) gelb (rechts)
Die Zahnrettungsbox ist 3 Jahre haltbar und sollte auch aufgrund der regressiven Veränderungen des Zellnährmediums darüber hinaus nicht verwendet werden. Die Box wird mit und ohne Zahn bei Raumtemperatur gelagert. Temperaturen über 40 °C zerstören das hoch komplexe Zellnährmedium, und Kühlschranktemperaturen verschlechtern die Prognose des Zahnes nach der Replantation. Für deutlich kürzere Zeiträume kommt als alternative Lagerungsmöglichkeit kalte und ultrahocherhitzte Milch in Frage. Nur wenn sie kalt und ultrahocherhitzt ist, können die meisten Zellen dort vorhersagbar etwa 2 Stunden überleben. Auch das Einwickeln des Zahnes in Frischhaltefolie kurz nach dem Unfall kann das Überleben der Zellen für etwa 2 Stunden ermöglichen. Medien wie sterile isotone Kochsalzlösung (vorhersagbares Überleben der meisten Zellen etwa 1 Stunde), Speichel oder Wasser führen rasch zum Zelltod. Sie sollten definitiv weder empfohlen noch verwendet werden.
Realität ist, dass die wenigsten betroffenen Kinder und Jugendlichen wissen, wie man sich nach einem Zahnunfall richtig zu verhalten hat. Dies gilt aber auch für deren Aufsichtspersonen in Schulen und Freizeiteinrichtungen sowie Sporttrainer. Immer wieder werden Zahnfragmente oder ganze Zähne nicht gesucht oder gar weggeworfen. Der Informationsgrad ist nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei den Verantwortlichen in Schulen, Sportclubs und öffentlichen Schwimmbädern sehr gering. Daher werden vom Zahnunfallzentrum in Basel immer wieder Informationsplakate für Kinder und Jugendliche entworfen, die heute von zahlreichen zahnärztlichen Gesellschaften und Institutionen in verschiedenen Sprachen vertrieben werden. Das aktuelle Poster (Abb. 5) macht insbesondere darauf aufmerksam, nach einem Zahnunfall sämtliche Bruchstücke zu suchen, die Zähne nicht zu reinigen, sie so schnell wie möglich in eine Zahnrettungsbox, Milch oder Frischhaltefolie zu lagern und immer sofort einen Zahnarzt bzw. eine Zahnklinik aufzusuchen. Dieses Poster sollte heute in allen Kindergärten, Grund- bzw. Primarschulen, Sporthallen, öffentlichen Schwimmbädern und auch in möglichst vielen Zahnarzt- und Kinderarztpraxen hängen. Es kann im Internet unter www.andreas.filippi.ch als PDF heruntergeladen werden. Neben dem Poster für die bleibenden Zähne gibt es noch eines für Milchzahnverletzungen (Abb. 6).
Abb. 5 Zahnunfallposter des Zahnunfallzentrums in Basel für die Unfallverletzungen bleibender Zähne
Abb. 6 Zahnunfallposter des Zahnunfallzentrums in Basel für die Unfallverletzungen von Milchzähnen
Die Zahnrettungsbox sollte heute nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus juristischer Sicht in jeder Zahnarztpraxis vorhanden sein. Kein Zahnarzt ist verpflichtet, einen avulsierten Zahn in seiner Praxis zu replantieren, aber er muss sicherstellen, dass sich durch die Nichtbehandlung die Prognose für den Zahn nicht verschlechtert. Die wenigsten beherrschen zudem die antiresorptiven und regenerationsfördernden Therapiekonzepte (ART) nach Avulsion oder haben die erforderlichen Medikamente (Tetrazykline, Steroide, Emdogain) vorrätig4,9-11,13. Das Einlegen eines avulsierten Zahnes in eine Zahnrettungsbox und das Überweisen an einen Spezialisten oder eine Universitätszahnklinik mit einer Expertise in zahnärztlicher Traumatologie (z. B. Zahnunfallzentrum) sind ebenfalls eine adäquate und zellphysiologische Behandlung. Dies verhindert auch, dass man ggf. dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung ausgesetzt werden kann.
Die Zahnrettungsbox sollte weiterhin in jeder unfallchirurgischen Klinik und in jedem Notarztwagen vorhanden sein. Außerdem sollte sie dort verfügbar sein, wo häufig Zahnunfälle passieren: in Sporthallen, Schulen und öffentlichen Schwimmbädern. In Österreich beispielsweise sind landesweit alle Primarschulen mit der Zahnrettungsbox ausgerüstet. In Deutschland und der Schweiz gibt es einige regional begrenzte Projekte. So sind etwa alle Zahnärzte in den Schweizer Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft flächendeckend mit der Zahnrettungsbox ausgestattet worden, wobei die Kosten auf den Jahresbeitrag der Mitgliedschaft in der kantonalen Zahnärztegesellschaft aufgeschlagen wurden. Alle öffentlichen Schwimmbäder in diesen beiden Kantonen besitzen eine Zahnrettungsbox und das Zahnunfallposter.
Das am längsten und besten dokumentierte Projekt ist jedoch das des Arbeitskreises Jugendzahnpflege in Frankfurt/ Main. Es konnte gezeigt werden, dass nach flächendeckender Verteilung in Grundschulen in Hessen im Haltbarkeitszeitraum der Zahnrettungsbox (3 Jahre) erstaunlich viele Boxen zur Rettung eines unfallverletzten Zahnes eingesetzt worden sind7. Befindet sich die Rettungsbox in der Schule und somit nahe am Unfallort, dauert es meist nur wenige Minuten, bis ein avulsierter Zahn in der Box gelagert wird7. Dies ist ein ganz entscheidender Faktor für die Prognose nach Replantation.
1. Andersson L, Bodin I, Sorensen S. Progression of root resorption following replantation of human teeth after extended extraoral storage. Endod Dent Traumatol 1989;5:38-47.
2. Andreasen JO, Andreasen FM, Andersson L. Textbook and color atlas of traumatic injuries to the teeth. Copenhagen: Munksgaard, 2007.
3. Andreasen JO, Borum M, Jacobsen HL, Andreasen FM. Replantation of 400 avulsed permanent incisors. 4. Factors related to periodontal ligament healing. Endod Dent Traumatol 1995;11:76-89.
4. Cvek M, Cleaton-Jones P, Austin J, Kling M, Lownie J, Fatti P. Effect of topical application of doxycycline on pulp revascularisation and periodontal healing in reimplanted monkey incisors. Endod Dent Traumatol 1990;6:170-176.
5. Filippi A, Arx T von, Buser D. Externe Wurzelresorptionen nach Zahntrauma: Diagnose, Konsequenzen, Therapie. Schweiz Monatsschr Zahnmed 2000;110:712-729.
6. Filippi A, Krastl G. Traumatologie im Milch- und Wechselgebiss. Quintessenz 2007;58:739-752.
7. Filippi C, Kirschner H, Filippi A, Pohl Y. Practicablitiy of a tooth rescue concept – the use of a tooth rescue box. Dent Traumatol 2008;24:422-429.
8. Kirschner H, Pohl Y, Filippi A, Ebeleseder K. Unfallverletzungen der Zähne. München: Elsevier, 2005.
9. Krastl G, Filippi A, Weiger R. German general dentists’ knowledge of dental trauma. Dent Traumatol 2009;25:88-91.
10. Pohl Y, Filippi A, Kirschner H. Results after replantation of avulsed permanent teeth. II. Periodontal healing and the role of physiologic storage and antiresorptive-regenerative therapy (ART). Dent Traumatol 2005;21:93-101.
11. Pohl Y, Filippi A, Kirschner H. Is antiresorptive regenerative therapy working in case of replantation of avulsed teeth [letter to the editor]. Dent Traumatol 2005;21:347-352.
12. Pohl Y, Tekin U, Boll M, Filippi A, Kirschner H. Investigations on a cell culture medium for storage and transportation of avulsed teeth. Aust Endod J 1999;25:70-75.
13. Sae-Lim V, Metzger Z, Trope M. Local dexamethasone improves periodontal healing of replanted dogs’ teeth. Endod Dent Traumatol 1998;14:232-236.
Primärversorgung nach Zahntrauma: MUSS – SOLL – KANN | 3 |
Die Prognose traumatisierter Zähne hängt sowohl vom Schweregrad der Verletzungen als auch von der durchgeführten Therapie ab. Neben dem Verhalten am Unfallort bestimmen insbesondere die durch den erstbehandelnden Zahnarzt eingeleiteten Sofortmaßnahmen maßgeblich den weiteren Heilungsverlauf2. Somit sind bereits im Rahmen der Primärtherapie schnelle und kompetente Entscheidungen bei vielfältigen Verletzungsmustern gefragt. Sie bilden die Basis für die nachfolgenden Behandlungsschritte. Diese müssen einerseits negative Auswirkungen auf das Kieferwachstum vermeiden und andererseits der hohen Lebenserwartung der zumeist jungen Patienten Rechnung tragen13.
Der vorliegende Beitrag fokussiert ausschließlich auf die erforderlichen Sofortmaßnahmen im Rahmen der Erstvorstellung am Unfalltag. Da Patienten mit einem Zahnunfall gewöhnlich unangemeldet in die Praxis kommen und die freien Valenzen für die Behandlung von Notfällen in der Regel limitiert sind, gilt es zu entscheiden, was zwingend notwendig ist und worauf verzichtet werden kann, ohne die Prognose der verletzten Strukturen zu kompromittieren. Anhand eines Stufenschemas wird aufgezeigt, welche Maßnahmen unbedingt ergriffen werden müssen (MUSS), welche idealerweise erfolgen sollten (SOLL) und welche in der Priorität zwar nicht ganz oben stehen, aber vorgezogen werden können, sofern Zeit, Know-how und Ausstattung vorhanden sind (KANN) (Abb. 1).
Oberste Priorität im Rahmen der Primärdiagnostik hat der Ausschluss eines Schädel-Hirn-Traumas. Ferner sind Alveolarfortsatz-, Unterkiefer- und Mittelgesichtsfrakturen sowie andere möglicherweise schwerwiegendere nicht dentogene Verletzungen auszuschließen. Der Tetanus-Impfschutz muss überprüft werden. Aus forensischen Gründen ist zu dokumentieren, dass eine Abklärung dieser wichtigen allgemeinmedizinischen Aspekte tatsächlich stattgefunden hat. Noch bevor die weitere zahnärztliche Untersuchung erfolgt, muss sichergestellt werden, dass eventuell mitgebrachte avulsierte Zähne sofort in eine Zahnrettungsbox gelegt werden.
Bei einem dentoalveolären Trauma können fünf Gewebe potenziell verletzt sein: Zahnhartsubstanz, Pulpa, Parodont, angrenzender Alveolarknochen und Mundschleimhaut. Zur Gesamtbeurteilung des Verletzungsausmaßes und für eine adäquate Therapie ist eine ausführliche Diagnostik aller beteiligten Gewebe erforderlich6,8.
Abb. 1 Stufenschema im Rahmen der Primärversorgung nach Trauma
Abb. 2 Primärdiagnostik nach Trauma
Die klinische Untersuchung umfasst die Feststellung von Zahnlockerungen, Dislokationen, zirkulären Sondierungstiefen und Verletzungen der Weichgewebe sowie die Überprüfung von Sensibilität und Perkussion. Obwohl der Sensibilitätstest unmittelbar nach dem Trauma Hinweise auf den Schweregrad der Pulpaverletzung liefern kann, hat er zunächst keinen Einfluss auf die Wahl der Therapiemaßnahmen am Unfalltag.
An die klinische schließt sich die radiologische Untersuchung der potenziell betroffenen Zähne an. Die zweidimensionale Röntgendiagnostik in Form eines Zahnfilms ist in den meisten Fällen ausreichend. Bei Dislokationen besteht die Gefahr, eine traumatisch erweiterte Alveole als apikale Läsion fehlzuinterpretieren18. Eine digitale Volumentomographie (DVT) kann in komplexen Fällen wertvolle Informationen für den späteren Therapieentscheid liefern (z. B. Darstellung der Frakturverläufe bei subgingivalen Zahnfrakturen)5, hat jedoch meistens keinen Einfluss auf die Primärversorgung am Unfalltag.
Da oftmals mit kombinierten Verletzungen zu rechnen ist, dürfen weniger offensichtliche Läsionen am gleichen Zahn, an Nachbarzähnen oder an antagonistischen Zähnen nicht übersehen werden. Aus der vollständigen Erfassung und der übersichtlichen Dokumentation sämtlicher Befunde leiten sich die Diagnose und alle notwendigen Therapieschritte ab.
Abb. 3 Primärversorgung nach Kronenfraktur ohne Pulpabeteiligung
Bei Kronenfrakturen ohne Pulpaexposition sind im Rahmen der Primärversorgung Maßnahmen zu ergreifen, die eine Infektion der Pulpa über offene Dentintubuli verhindern. Ein Abdecken der Dentinwunde mit einem Calciumhydroxidzement mag für kurze Zeiträume (wenige Tage) ausreichend sein. Bessere Voraussetzungen bietet hingegen ein adhäsiver Wundverband. Vorhandene Zahnfragmente können adhäsiv wiederbefestigt werden, sofern sie nicht ausgetrocknet sind. Bei ausgetrockneten Fragmenten wird das Wiederbefestigen auf den nächsten Tag verlegt und das Fragment bis dahin in Wasser gelagert. Die zwischenzeitliche Rehydrierung des Fragments verbessert sowohl die Farbanpassung als auch den Haftverbund zum Zahn14. Wenn die Fragmentwiederbefestigung am nächsten Tag erfolgen soll, ist im Rahmen der Erstversorgung von einem adhäsiven Wundverband der Dentinwunde abzusehen, da sich dieser nur schwer vollständig entfernen lässt und somit die Passgenauigkeit des Fragments reduziert ist. Stattdessen sollte die Dentinwunde mit einem einfacher zu entfernenden Calciumhydroxidzement versiegelt werden.
Bei Kronenfrakturen mit Pulpaexposition stehen – weitgehend unabhängig vom Patientenalter – vitalerhaltende Maßnahmen im Vordergrund12. Insbesondere die partielle Pulpotomie bietet eine hohe Erfolgssicherheit und kann im Gegensatz zur direkten Überkappung auch bei breitflächiger Exposition und nach längeren Expositionszeiten erfolgreich eingesetzt werden (vgl. den Beitrag Galler et al. „Vitalerhaltung der Pulpa nach Trauma“ ab Seite 27 in diesem Buch). Die partielle Pulpotomie kann, muss aber nicht zwingend im Rahmen der Erstversorgung erfolgen. Es ist auch möglich, sie als Zweitmaßnahme innerhalb der ersten Tage nach initialer Abdeckung der Pulpa mit geeigneten Materialien durchzuführen17.
Der langfristige Erhalt von Zähnen mit Kronen-Wurzel-Fraktur ist durch den oftmals tief subgingivalen Frakturverlauf stark eingeschränkt und erfordert meistens aufwendige Maßnahmen (vgl. den Beitrag Krug/Krastl „Therapieoptionen nach Kronen-Wurzel-Fraktur“ ab Seite 45 in diesem Buch)10. Unabhängig davon orientiert sich die Primärversorgung dieser Zähne weitgehend am Vorgehen nach Kronenfraktur. Allerdings erfordert die Beurteilung des Frakturverlaufs die Entfernung des mobilen, aber häufig noch an der Gingiva befestigten koronalen Fragments. Dies provoziert in der Regel eine Blutung und erschwert somit die Primärversorgung. Als einfache und zeitsparende Alternative bietet sich das adhäsive Befestigen des gelockerten Fragments in der meist zugänglichen labialen Region an. Dieses Vorgehen lässt zwar die letzte Konsequenz in Bezug auf einen bakteriendichten Verschluss vermissen, sorgt aber in der Mehrzahl der Fälle für Beschwerdefreiheit. Da die Haltbarkeit dieser Restauration stark eingeschränkt ist, sollte eine zeitnahe Weiterversorgung – idealerweise am Folgetag – in die Wege geleitet werden.
Abb. 4 Primärversorgung nach Kronenfraktur mit Pulpabeteiligung
Abb. 5 Primärversorgung nach Kronen-Wurzel-Fraktur
Abb. 6 Primärversorgung nach Wurzelfraktur
Die Primärversorgung von Zähnen mit intraalveolärer Wurzelfraktur ist einfach und beschränkt sich auf eine korrekte Reposition des koronalen Fragments mit anschließender Schienung3,4. Es sollte zügig eine Weiterversorgung erfolgen, die insbesondere dann wichtig ist, wenn im Rahmen der Primärdiagnostik kein sicherer Ausschluss einer Kommunikation zwischen Frakturspalt und Mundhöhle über den Sulkus gelingt.
Abb. 7 Primärversorgung nach Konkussion
Zähne mit Konkussion müssen im Rahmen der Primärtherapie nicht behandelt werden, da kein Einfluss auf die ohnehin sehr gute Prognose zu erwarten ist. Dennoch bietet eine flexible Schienung für den Patienten Vorteile, weil sie die Berührungsempfindlichkeit der betroffenen Zähne reduziert und damit den Kaukomfort erhöht.
Da eine traumatische Zahnlockerung immer mit einer gewissen Erweiterung der Alveole einhergeht, ist zur Reduktion der Mobilität eine Schienung sinnvoll.
Zähne mit lateraler Dislokation müssen zeitnah reponiert und geschient werden. Viele dislozierte Zähne sind mit der Wurzelspitze im Alveolarknochen verkeilt, so dass es zunächst erforderlich ist, sie vorsichtig zu lockern. Die häufig als Begleiterscheinung der Zahndislokation auftretende Fraktur der labialen Knochenwand wird durch die Reposition und Zahnschienung mit therapiert. Verstreicht zu viel Zeit bis zur Erstversorgung, steht ein verfestigtes Blutkoagulum einer korrekten und schonenden Reposition möglicherweise im Wege.