ISBN: 978-3-902975-45-4
1. Auflage 2020
Copyright © Verlagshaus Hernals, Wien 2009
Coverbild: Susanna Vrbka, Universität für angewandte Kunst, Klasse Prof. Attersee
Grafik: Johannes Ebner
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Alle Rechte vorbehalten.
Dies ist ein frei erfundener Roman und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig. Trotzdem erfüllt Sophie, stellvertretend für viele Mädchen mit Essstörungen, die grundlegenden Parameter dieser heimtückischen Krankheit. Wie im Literaturverzeichnis ersichtlich, betrieb die Autorin intensives Quellenstudium und bezieht sich auf fundierte Fachliteratur. Daher bietet der Roman sowohl Kranken als auch deren Angehörigen Hilfe und Unterstützung.
Das Buch soll Mut machen das Thema Magersucht offen anzusprechen, aber auch dort innezuhalten, wo Abstand geboten ist.
Gewidmet meinem Mann und meinen drei wunderbaren Kindern.
Bereits beim Läuten an der Haustüre wusste Anna, ob es bei Sophie in der Schule gut oder weniger gut gelaufen war. Schlecht lief es ohnedies nie. Flüchtig und ein wenig unpersönlich erkundigte sie sich nach ihrem Tag. Es interessierte die Mutter nicht wirklich, denn sie wusste die Antworten, bevor das Kind antwortete. Etwas anderes hätte sie nicht akzeptiert und auch nicht verziehen.
So war sie nicht besonders überrascht, als Sophie, die eigentlich in der Familie immer Soferl, manchmal auch „das Soferl", genannt wurde, strahlend verkündete, dass sie den Chemie-Test zurückbekommen hatte.
Aber das hörte Anna schon gar nicht mehr. Versunken dachte sie an die Worte des Volksschullehrers, als sie das erste Mal zu ihm in die Sprechstunde kam. Sophie sei ja so ein liebes, gutes Kind, sie wäre eine Bereicherung für jede Gemeinschaft. Sie sei der personifizierte Ausgleich in der Klasse. Wenn irgendwo eine Unstimmigkeit herrschte, käme sie dazu und schon wäre der Streit geschlichtet. Was für ein Kind. Was für eine Bürde. Bei Soferl gab es noch nie Probleme, das konnte Anna mit Stolz behaupten. Wenn sie da an ihre eigene Schulzeit dachte ...
„Wasch dir die Hände, wir können gleich essen." Die Mutter versuchte einen ungezwungenen Ton in ihre Stimme zu legen, so als ob alles in Ordnung wäre.
„Danke nein, ich habe keinen Hunger, ich möchte jetzt nichts", Soferls gute Laune verdüsterte sich ein wenig. Sie wollte in ihr Zimmer gehen und keine endlosen Debatten mit ihrer Mutter führen, warum sie nun wieder nichts aß. Sie wurde dann in eine Erklärerrolle gedrängt und meistens auch zum Schwindeln verleitet. Es tat ihr jedes Mal leid, wenn sie ihre Mutter anlog, aber irgendeine Ausrede musste sie erfinden, warum sie schon wieder keinen Hunger beziehungsweise keine Lust aufs Mittagessen hatte. Sie wurde regelrecht gezwungen zum Lügen. Es fielen ihr dann Sätze ein, wie: „Ich habe mein Jausenbrot erst spät gegessen, oder die Luise hatte Geburtstag und du weißt ja, wie ihre Mutter ist. Sie bringt immer kiloweise Kuchen mit in die Schule, den wir dann in den Pausen essen."
Es war kein angenehmes Gefühl für Soferl ihre Mutter anzuschwindeln, aber es blieb ihr nichts anderes übrig und danach hatte sie überhaupt keinen Appetit mehr auf ein Mittagessen.
Am Nachhauseweg überlegte sie manchmal, doch etwas zu essen. Es roch oft lecker.
Mami kocht echt gut und jetzt auch meistens was ich mag, stellte sie mit einer gewissen Befriedigung fest.
„Was war in der Schule?", fragte die Mutter gedankenverloren noch einmal.
Nie hört sie zu, dachte das Mädchen, sagte aber freundlich, wie es ihre Art war: „Es war nichts besonderes in der Schule. Auf den Chemie-Test habe ich einen Zweier." Sie erhielt keine Antwort.
„Warum sagst nichts?" Nach kurzem Zögern fragte sie weiter: „Ich freu mich, hab alle Formeln gut hinschreiben können und es war auch schwer." Soferl wirkte nicht mehr so strahlend wie beim Heimkommen.
Ist ihr das jetzt nicht gut genug, dachte sie. „Na, ja, ein Einser ist es nicht, aber ich kann mir das noch ausbessern, ich mach ein Referat, dann bekomme ich den Einser ins Zeugnis."
„Ja, das wäre schön", erwiderte die Mutter halbherzig. Es sollte freundlich klingen, aber Soferl glaubte doch eine gewisse Enttäuschung herauszuhören. Die ganze Freude über die gute Note war ihr mit einem Mal genommen. Dann gab es auch noch Brokkoliauflauf und Paradeisersalat.
„Den kann ich von allen essbaren Dingen am wenigsten leiden", murmelte Soferl vor sich hin. Jetzt war ihr der Tag wirklich verdorben und um das Maß so richtig voll zu machen, fragte ihre Mutter, ob sie nicht endlich anfangen wolle für die Matheschularbeit zu lernen. Als ob Soferl schon je zu spät angefangen hätte, sich für eine Schularbeit vorzubereiten und zu wenig gelernt hatte sie überhaupt noch nie. Man konnte es ihrer Mutter halt sehr schwer recht machen. Den Chemie-Test sah sie sich gar nicht erst an und der Vater würde sich auch nicht danach erkundigen.
Wahrscheinlich weiß er nicht einmal mehr, dass ich einen Test geschrieben habe, dachte das Kind verbittert. Sie hatte ihn einige Tage zuvor nach fachspezifischen Dingen gefragt und er hatte es ihr auch weitschweifig, wie es seine Art war, erklärt, aber sich nicht weiter interessiert, wozu sie all das überhaupt wissen wollte. Im Kalender hatte sie den Test zwar vermerkt, aber wen interessierte das schon. Alle hatten sie große Dinge im Leben vor und Wichtiges zu tun, wen kümmerte da ein Minitest. Eine Schularbeit wäre schon etwas Anderes. Da geht 's schließlich um was. Da steht Sehr gut oder Gut drunter oder auch „Nicht genügend". Das war bei Soferl allerdings noch nie passiert. Voll Schaudern dachte sie an so eine Möglichkeit.
Gibt es auch Noten fürs Leben?, sinnierte das Kind. Was passiert wenn man ein „Nicht genügend" bekommt? Fällt man dann durch? Aber wohin? Vielleicht ist das gar nicht so schlimm, ging es ihr durch den Kopf. Das ist dann wie bei Alice im Wunderland und man kommt in eine schöne neue Welt. Soferl wäre manchmal gerne im Wunderland bei Alice und dem Hasen. Zum Schluss würde sie Königin werden, wie Alice, aber sie, das Soferl, würde es besser machen und alle wären glücklich.
Nur von dem Tee darf ich nicht trinken, sonst wachse ich und werde groß und immer größer, wie Alice. Ich will nicht groß werden. Das darf ich nämlich nicht. Dann werden sie böse und mich vielleicht überhaupt nicht mehr beachten. Oder sie werden sagen: Was ist auf einmal mit unserer süßen Soferl los? Gedankenverloren kramte sie in ihrer Schultasche nach Heften und Büchern und versuchte sich auf ihre Hausübung zu konzentrieren.
Der Mutter tat es später leid, dass sie nichts zu diesem Test gesagt hatte. Sie überlegte, ob sie ihn jetzt noch erwähnen sollte. Als sie ins Kinderzimmer hinein schaute, sah sie ihre Tochter über der Matheaufgabe brüten, da wollte sie nicht stören.
Soferl lernte aber nicht so angestrengt, wie ihre Mutter fälschlicherweise vermutet hatte. Sie hörte Anna sehr wohl kommen und hoffte inständig, diese würde doch noch etwas zu dem schönen Testergebnis sagen. Es war nämlich wirklich eine gelungene Arbeit.
Nur eine, die ewige Klassenbeste hatte einen Einser und ein Zweier ist doch wirklich toll. Das wollte sie ihrer Mama sagen. Aber diese schaute nur kurz ins Zimmer und verschwand gleich wieder. So war es oft. Dabei konnten sie sonst über viele Dinge reden. Soferl mochte ihre Mutter wirklich gerne und sie hatte auch viel Spaß mit ihr. Aber beim Thema Schule hörte der Spaß auf.
Als Anna vor der Kinderzimmertüre stand, musste sie plötzlich an ihre eigene Kindheit denken.
Sie selbst war eine sehr schlechte Schülerin gewesen. Anna hatte nicht viel Freude am Lernen gefunden, immer nur das Notwendigste gemacht und so war es nur verständlich, dass sie von den Lehrern nicht gemocht wurde. Jedes Jahr begann nach Ostern das große Zittern, ob sie es diesmal schaffen würde, in die nächste Klasse aufzusteigen oder nicht.
Einmal hatte sie es nicht geschafft und musste den ganzen Sommer lernen. Das fand sie damals nicht so tragisch. Viel schlimmer war für Anna die Tatsache, dass ihre damalige beste Freundin, mit der sie im Sommer gelernt hatte, diese entscheidende Prüfung nicht geschafft hatte und die Schule verlassen musste. Von da an wollte Anna auch nicht mehr weitermachen. Sie und ihre Freundin waren ein eingeschworenes Team gewesen, so dass sich Anna jetzt wirklich verwaist vorkam. Die Schule wurde ihr von Woche zu Woche mehr zur Qual. Sie begann immer öfter zu schwänzen und machte immer weniger Hausübungen. Das Lernen hatte sie fast gänzlich eingestellt.
Nachdem sie einige Male von ihrem Klassenvorstand für nicht gebrachte Hausübungen und unzählige Fehlstunden ermahnt wurde, teilte man ihr mit, dass ihre Mutter oder noch besser, beide Eltern in die Schule kommen mussten. Da war es wieder, die Erinnerung an „beide Eltern". Das schmerzte auch nach vielen Jahren noch. Die Schulzeit behielt sie fälschlicherweise recht lustig im Gedächtnis, an alles Andere dachte sie am besten so gut wie gar nicht mehr.
Plötzlich war sie wieder die kleine Anna von einst und fühlte die Panik, die sie gehabt hatte, als sie ihrer Mutter von der Vorladung erzählen musste. Diese wusste ja überhaupt nichts, weder von dem Schwänzen, noch von den vielen nicht gemachten Hausübungen. Einmal hatte sie auch eine Schularbeit unterschlagen. Jetzt würde alles ans Licht kommen. Was sollte sie ihrer Mutter sagen und wann wäre dazu die beste Gelegenheit? Gibt es überhaupt eine beste Gelegenheit für die Tatsache, dass man eine Schularbeit unterschlagen hatte und man so gut wie nie mehr in der Schule anwesend war. Die Mutter würde höchstwahrscheinlich nicht mit ihr schimpfen, das wusste Anna schon im Voraus. Sie würde nur unheimlich traurig sein und irgendwann einmal murmeln: „Ach, habe ich denn nicht schon genug Sorgen."
Später würde sie ihr dann doch Vorwürfe machen. Nicht direkte und klar ausgesprochene, damit hätte Anna etwas anfangen oder sich wenigstens rechtfertigen können. Es waren aber immer nur versteckte Botschaften, nie direkt auf die Sache bezogene. Vieles davon verstand Anna einfach nicht.
Dann ging es auch noch um die Schuldfrage. Wer war schuld? War dies erst einmal geklärt, konnte man daran gehen, das eigentliche Problem zu lösen. Wenn es dann überhaupt noch eines gab. Oft löste sich alles mit dem Schuldspruch auf und man hatte keine Sorgen mehr. Nur mehr einen Schuldigen, der musste dann sehen, wie er alleine mit dem Problem zurechtkam.
Obwohl all dies schon viele Jahre zurück lag, dachte Anna doch immer wieder daran. Manches Mal befiel sie wieder diese Angst und Verlassenheit, die sie schon als Kind erlebt hatte.
Das wird mir mit Soferl nicht passieren. Ich werde besser auf sie aufpassen, dachte sie trotzig, als sie so vor der verschlossenen Kinderzimmertüre stand. Und außerdem: Sie hat einen Vater.
Soferl wartete noch immer, dass ihre Mutter in ihr Zimmer käme. Gedankenverloren kritzelte sie kleine Püppchen an den Rand eines Heftes. Sie sollte eigentlich ihre Hausaufgaben machen, aber sie hätte spontan gar nicht sagen können, für welchen Gegenstand sie sich versuchte vorzubereiten. Sie wusste nur, dass sie schrecklichen Hunger hatte. Das war ja auch nicht verwunderlich, denn seit dem gestrigen Mittagessen hatte sie fast nichts mehr zu sich genommen. Und das war nicht wirklich viel gewesen. Eine kleine Portion Fisch und ein paar winzige heurige Kartoffel mit etwas Petersilie.
Voll Widerwillen hatte sie sich zu Tisch gesetzt, als ihre Mutter sie zum Essen überreden wollte. Noch letztes Jahr gehörte Fisch zu ihren Lieblingsspeisen. Jetzt fiel es ihr unsagbar schwer, diesen auch nur zu kosten. Je länger Soferl auf ihren Teller starrte, desto monströser und blässlicher wurden die Erdäpfel, das ganze Essen unappetitlich. Sie glaubte daran zu ersticken, wenn sie auch nur einen Bissen davon in den Mund stecken müsste. Anna hatte alles liebevoll angerichtet und den grünen Salat mit rotem Paprika garniert. Sie kochte gern und war überzeugt, wenn sie alles noch besser und noch netter machen würde, käme Soferls Appetit von ganz alleine zurück. Für das Kind aber war der Anblick der appetitlich hergerichteten Speisen eine einzige Katastrophe. Nicht nur, dass sie ohnedies wusste, dass ihr Essverhalten nicht richtig war, kam auch eine Portion Schuldbewusstsein hinzu. Die Mutter hätte gar nicht noch ausdrücklich sagen müssen: „Iss doch, Liebling, ich habe mich so bemüht, wenigstens mir zu liebe", der rote Paprika schrie es schon laut genug.
Das oder Ähnliches spielte sich fast jeden Tag in der Familie ab. Manchmal gingen Mutter und Tochter leichter darüber hinweg und fanden in ein unverfängliches Gespräch, manchmal schien Soferl die Situation jedoch zu erdrücken. Sie weinte dann meistens.
So war es auch diesmal. Immer wieder die gleichen Szenen beim Mittagessen und dann das fruchtlose Lernen waren zu viel für das geschwächte Mädchen. Sie lag schluchzend auf ihrem Bett, als ihre Mutter ein wenig später dann doch das Zimmer betrat.
„Warum weinst du denn? So schrecklich ist mein Essen?" Nicht zum ersten Mal versuchte Anna mit einem kleinen Spaß die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Dabei merkte sie gar nicht, dass sie damit alles nur noch schlimmer machte. Soferl war jetzt wirklich nicht zum Spaßen zumute, ganz im Gegenteil. Warum kann sie nicht einmal ernst bleiben, immer versucht sie alles ins Lächerliche zu ziehen. Die Mutter meinte es gut, als sie neben ihr auf dem Bett saß und sie streichelte, aber helfen konnte sie ihr in diesem Moment auch nicht. Sie will immer nur alles wissen, damit sie es kontrollieren und meistens auch verbessern kann, dachte Soferl unglücklich.
„Was ist denn gar so schlimm, dass du so verzweifelt bist?", fragte Anna noch einmal betrübt. Da war er wieder, dieser traurige Unterton in Mutters Stimme und damit meldete sich sofort Soferls schlechtes Gewissen: Warum bin ich so ein böses Kind und mache Mama nur Kummer. Sie bemüht sich mit allem und ich schaffe dann nicht einmal einen Einser in einem lächerlichen Fach wie Chemie.
Unter großer Willensanstrengung konnte Soferl ihren Tränenfluss unterdrücken. Sie schluckte und schluckte, bis all die vielen Tränen in ihrem Magen verschwanden. Dort bildeten sie einen tiefen See. Aber den sah ihre Mutter nicht, niemand konnte ihn sehen. Nur Soferl spürte ihn in ihrem Innersten. Dieses Gefühl hatte sie schon lange. Immer wenn Dinge eintraten, die sie nicht ändern konnte, kam diese Blase in ihrem Bauch. Manchmal dachte sie, wenn die eines Tages platzt, dann würde sie davonschwimmen.
Soferl blieb noch eine Weile auf ihrem Bett liegen. Es war ein schönes Gefühl, von ihrer Mutter gestreichelt zu werden. Sie genoss die Geborgenheit und fühlte sich wieder als kleines Mädchen. Der Druck in ihrem Bauch ließ auch ein wenig nach. Fast wäre sie eingeschlafen, so entspannt fühlte sie sich, hätte ihre Mutter nicht gerade da die raue Wirklichkeit wieder heraufbeschworen. In übertrieben heiterer Art sagte sie: „Geht doch wieder! Ich weiß, du bist mein braves Mädchen. Mach jetzt schnell die Aufgabe, dann gehen wir ..." Wohin sie gehen würden, hörte Soferl nicht mehr, denn das Telefon läutete und Anna stürzte hinaus. Es war ja auch egal, irgendetwas Lustiges würden sie schon unternehmen. Wenn das Soferl ein braves Mädchen war, wurde es auch belohnt.
So setzte sie sich wirklich wieder an ihren Schreibtisch um sich der Aufgabe zu widmen. Über den Chemietest freut sie sich nicht, dachte das Kind ein wenig verbittert, nicht einmal angeschaut hat sie ihn sich, aber als ich vorhin nichts gegessen habe, ist sie gleich angerannt und hat mich getröstet. Was ist ihr wirklich wichtig? Vielleicht sollte ich mich noch mehr anstrengen in der Schule.
Bedauerlicherweise fiel Soferl das Lernen in letzter Zeit immer schwerer. Sie hatte schon selbst den Eindruck, dass sie sich manche Dinge nicht mehr so schnell merken konnte und dass sie auch rasch ermüdete. Irgendwie konnte sie sich nicht mehr so gut konzentrieren, wie noch einige Monate zuvor. Dabei machte ihr das Lernen an und für sich große Freude. Sie beschäftigte sich gerne mit den Dingen, die ihr in der Schule geboten wurden und es machte ihr Spaß, sich zu Hause mit dem am Vormittag Gehörten noch einmal zu befassen. Sie liebte es, Referate auszuarbeiten oder Plakate zu entwerfen und mit den Fremdsprachen hatte sie so gut wie keine Probleme. Alles war ihr bis vor Kurzem noch gut von der Hand gegangen.
Heute war es leider nicht so. Sie konnte sich nicht konzentrieren, auf die Matheaufgabe nicht und die Vokabeln merkte sie sich ebenso wenig. Sie wollte wieder auf der Couch liegen und von ihrer Mutter gestreichelt werden. Aber sie wusste, dass dies nicht möglich war.
Obwohl sie jetzt nicht weinte, fühlte sie plötzlich wieder die Wasserblase in ihrem Bauch. Diese wurde immer größer und größer. Soferl glaubte jetzt gleich zerplatzen zu müssen. Als sie es nicht mehr aushielt, rannte sie aufs Klo und kotzte in die Klomuschel. Sie dachte, es würde jede Menge Wasser sein, das sie da von sich gab, aber es war nur der Rest von dem wenigen Mittagessen. Ein paar rote Stückchen Paradeiser konnte sie erkennen. Da musste sie wieder weinen, denn die erinnerten sie nur zu deutlich, was sie doch für ein böses Mädchen war.
Sie blieb noch eine Weile am Klodeckel sitzen. Der kleine, in sich geschlossene Raum schien sie auf eigentümliche Art zu beruhigen.
Als sie nach einer Weile wieder herauskam, fragte die Mutter: „Ist dir schlecht?"
„Nein, warum?"
„Nur weil du so lange am Klo warst." Soferl hatte nicht einmal gelogen, als sie die Frage der Mutter verneinte. Es war ihr wirklich nicht schlecht, im Gegenteil, sie fühlte sich sogar besser als zuvor. Der Druck und die Belastung waren verschwunden. Sie fühlte sich auf einmal leicht, fast beschwingt.
„Gehen wir jetzt?", fragte sie und schlüpfte in blaue Ballerina, die ihr die Mutter unlängst aus der Stadt mitgebracht hatte. Lieb schaut sie aus, so klein und zart, dachte diese, als sie zusammen das Haus verließen. Ich kann stolz auf sie sein. Da hörte sie ihre eigene Mutter sagen: „Es fällt alles auf dich zurück."
Es wurde wirklich ein sehr vergnüglicher Nachmittag. Sie hatten, wie so oft, viel Spaß miteinander und Anna beharrte nicht auf einem Kaffeehausbesuch. Sie wollten dann zu Hause jausen oder gar nicht. Am besten gar nicht, dachte das Kind.
Am Abend versuchte Anna ein Gespräch mit ihrem Mann zu beginnen. Die Szene am Nachmittag mit Soferl hatte sie doch nachdenklich gemacht und ein wenig beunruhigt. Irgendetwas war mit dem Kind nicht in Ordnung. Auch wenn Anna es nicht wirklich wahrhaben wollte, musste sie sich doch eingestehen, dass sie sich verändert hatte.
Darüber wollte sie mit Heinrich reden, schließlich war er Soferls Vater und Arzt überdies. Vielleicht würde er wissen, ob dies Anlass zur Besorgnis wäre und was man gegebenenfalls am besten unternehmen könnte. Doch soweit, dass Anna einen Rat erhalten hätte, kam es bei dem Gespräch zwischen den Ehepartnern gar nicht.
„Was willst du eigentlich", fuhr Heinrich seine Frau gleich unsanft an. „Es läuft doch alles bestens. Was soll sie schon für großartige Probleme haben? Du machst immer aus einer Mücke einen Elefanten. Hättest du erst meine Sorgen, würdest du dich um solche Firlefanzen gar nicht kümmern!" Dann rauchte er hastig eine Zigarette, dann noch eine, dann ging er in sein Zimmer. Für ihn gab es keine Probleme. Zumindest nicht zu Hause. Da war alles in Ordnung. Die Frau kümmerte sich um den Haushalt und die Kinder, er wollte nicht belästigt werden. Er hatte wichtigeres zu bedenken, als die überspannten Probleme einer Pubertierenden und deren unausgelasteten Mutter.
Für ihn bedeutete alles was mit der Familie zu tun hatte eine Last, die er neben seinem anstrengenden Beruf nicht bereit war zu tragen. Nicht einmal mitzutragen. Er stand auf dem Standpunkt, dass dies die Aufgabe seiner Frau wäre. Er verdiente schließlich das Geld und nicht wenig, wie er oft und mit Stolz betonte. Er fand es nur natürlich, dass er ein Recht darauf hatte von allen, wie er meinte, unwichtigen Dingen des Alltags verschont zu bleiben. Anna war in den vielen Jahren, die sie nun schon mit Heinrich verheiratet war, nie dahintergekommen, was für ihn eigentlich je wichtig gewesen war, ausgenommen seinen Berufen. Den liebte er wirklich und sie musste zugeben, dass er ein sehr guter Arzt war. Immer wieder sprachen Patienten von seinem Können und auch in der Kollegenschaft galt er als sehr angesehen.
Anna fühlte sich immer öfter hinten angereiht. Sie hatte in seinem Berufsleben keinen Platz, auch gedanklich nicht, denn er hatte sie von Anfang an nie an diesem teilhaben lassen. Sie war immer nur die Hüterin seines häuslichen Feuers gewesen. Das beliebte er auch zu sagen: „Die Frau gehört ins Haus!", dann fügte er noch, „gell Bärli!" hinzu. Alle lachten, auch Anna. Am Anfang hatte sie stolz gelacht, er war ein aufstrebender Arzt, ganz im Sinne ihrer Mutter. So hatte sich wenigstens deren Wunschvorstellung erfüllt: Mädchen genügt die Matura, den Titel bringt der Mann in die Ehe ein, sie die Tisch- und Bettwäsche, aber mit Monogramm!
Später hat sie nur mehr gequält gelächelt, wenn er seine Spielchen in der Öffentlichkeit mit ihr trieb und versucht das Thema zu wechseln. Jetzt sagt sie gar nichts mehr. Was war aus der Wäsche geworden? Manchmal dachte sie traurig, dass ein paar Laken und Damasttischtücher doch nicht für ein glückliches Leben ausreichen, selbst wenn schöne Servietten dabei sind.
Es hatte auch an diesem Abend keinen Sinn mit Heinrich ein ernsthaftes Gespräch zu führen. Er wollte es nicht wahrhaben, dass in seiner Familie etwas nicht nach Plan lief. Deshalb verschloss er die Augen und Ohren. Was er nicht sah und hörte, konnte ihn auch nicht belasten. Das war schon immer sein Leitspruch gewesen, warum sollte er jetzt, nachdem er so viele Jahre damit gut zurechtgekommen war, diesen aufgeben und sich mit Dingen befassen, die wahrscheinlich keine gravierenden Probleme darstellten oder sich bald von alleine lösen würden. Während er sich eine weitere Zigarette anzündete, war er in Gedanken schon nicht mehr bei seiner Familie.
Gerade als Anna im Begriffe war noch einen kurzen Spaziergang zu machen, um den Hund Gassi zu führen und dabei ihre Gedanken ein wenig zu ordnen, läutete das Telefon. Eigentlich wollte sie jetzt mit niemandem reden. Das fruchtlose Gespräch mit Heinrich hatte sie doch sehr belastet. Sie ließ es einige Male läuten und wollte schon gehen, dann hob sie doch ab und meldete sich. Es war Georg, ihr ältester Sohn.
„Hallo, Mama, wie geht 's euch?", Anna freute sich immer wenn er anrief. Georg war seit drei Jahren mit einer Französin verheiratet und lebte mit seiner Frau in Paris. Beide waren Journalisten und sehr engagiert in ihren Berufen. Georg reiste viel in der Weltgeschichte herum, so hatte er wenig Zeit und Gelegenheit seine Familie zu treffen. Aber auch wenn er nicht all zu oft nach Wien kam oder auch nicht häufig mit seiner Mutter telefonierte, wusste er doch über die meisten Dinge Bescheid, die sich in seiner Stammfamilie ereigneten. Trotz der großen räumlichen Entfernung waren sich Mutter und Sohn nahe.
Eigentlich wollte Anna ihrem Sohn nichts von ihren Sorgen wegen Soferl am Telefon erzählen. Er hatte die Absicht in den nächsten Wochen für einige Tage nach Wien zu kommen. Da wäre, so glaubte Anna, eine bessere Gelegenheit über all das zu sprechen, was sie beunruhigte. Vielleicht bildete sie sich auch manches nur ein und Soferls Veränderung war mit der beginnenden Pubertät ganz logisch erklärt. Daher antwortete sie übertrieben enthusiastisch: „Gut, mein Lieber! Und wie geht es dir? Wann kommst du nach Wien? Kommt Yvonne auch mit?"
Georg konnte gar nicht so schnell auf all die Fragen seiner Mutter antworten. Als guter Journalist, der er nun einmal war, nicht umsonst hatte er schon Interviews mit allen führenden Politikern dieser Erde gemacht und war für seine Schlagfertigkeit und subtile Art Fragen zu stellen, gefürchtet, hörte er sofort am hektischen Tonfall seiner Mutter, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Seine Mutter wollte offensichtlich von einer unangenehmen Sache ablenken, das spürte er genau. Sonst hätte sie nie mit unpersönlichen Floskeln das Telefonat begonnen. Sie redeten kurz über Georgs Arbeit und als das Gespräch ins Unpersönliche abzugleiten drohte, stockten beide und für kurze Zeit war es ganz still, so als ob die Leitung tot wäre. Noch bevor Anna etwas sagen konnte, fragte Georg: „Mama, was ist los? Sag jetzt nicht, nichts und du willst mich nicht belasten." Anna war den Tränen nahe, warum musste ihr Sohn auch tausend Kilometer entfernt leben. Jetzt hätte sie ihn am liebsten umarmt. Beherrscht, wie es ihre Art war, sagte sie: „Ich weiß auch nicht recht was bei uns eigentlich los ist. Das Soferl ist in letzter Zeit so verändert, so still und lustlos und sie weint auch wegen jeder Kleinigkeit. Am liebsten ist sie in ihrem Zimmer und träumt vor sich hin." Georg konnte darauf nicht allzu viel erwidern. Er liebte seine jüngste Schwester sehr, aber da er sie nicht oft sah, konnte er nicht beurteilen, ob ihre jetzige Veränderung wirklich besorgniserregend wäre oder einfach nur pubertätsbedingt. Er wollte seiner Mutter aber unter gar keinen Umständen das Gefühl geben, er würde die Angelegenheit bagatellisieren. „Vielleicht ist sie einfach nur müde. Das Schuljahr ist lang und anstrengend. Die Ferien werden sicher eine Besserung bringen." „Ja, hoffentlich. Leider dauert es bis dahin noch eine Weile", antwortete Anna zögernd. „Aber da ist doch noch etwas, das dich bedrückt", ließ Georg das Thema nicht fallen. „Ich hätte auch gerne mit deinem Vater über Soferl geredet, aber du weißt ja, wie er ist, nur keine Probleme in der eigenen Familie. Du hast sicher recht, die Ferien werden uns allen gut tun. Und zum Reden hab ich ja euch! Gut, dass ihr so viele seid!", fügte sie etwas fröhlicher hinzu.
Obwohl Mutter und Sohn noch einige organisatorische Dinge wegen seines bevorstehenden Wienaufenthaltes besprachen, war das Gespräch nicht oberflächlich oder gar unpersönlich und sie trennten sich in der Vorfreude auf ein baldiges Wiedersehen. Vielleicht, so hofften beide, hatte sich dann schon wieder alles in Wohlgefallen aufgelöst.
Einige Tage später überraschte Soferl ihre Familie mit einem bombastischen Abendessen. Sie hatte keine Mühe gescheut und für acht Personen ein warmes Nachtmahl gekocht. Es gab mehrere Gänge, warme und kalte Speisen wechselten sich ab, Fleisch, Fisch und Salate. Da sie auch beim Einkaufen keine Hilfe annehmen wollte, bedeutete der Abend eine gewaltige Anstrengung für sie. Soferl hatte nichts dem Zufall überlassen, alles aufs Sorgfältigste geplant, sowohl das Kochen, als auch die Dekoration des Tisches. Alles musste perfekt sein. Eine überaus aufwendige Nachspeise, köstlich zubereitet und wunderschön angerichtet, bildete, mit einem Mokka den Abschluss des Mahles. Die ganze Familie war begeistert und voll des Lobes. Niemandem, außer vielleicht der älteren Schwester, war aufgefallen, dass Soferl selbst nichts von all den Köstlichkeiten gegessen hatte. Sie wurde zwar mehrmals aufgefordert mit am Tisch Platz zu nehmen, aber sie hatte sich immer mit „Küchenarbeit" entschuldigt. Später, als alle satt und zufrieden beim Kaffee und einem letzten Glas Wein saßen, räumte sie die Küche auf. Diesmal sollten einmal wirklich alle zufrieden mit ihr sein.
So war es auch. Es war ein schöner, entspannter Abend im Kreise der ganzen Familie gewesen, auch Freunde der Zwillinge, sowie die Großmama waren zugegen. Die Gespräche waren lustig, etwas oberflächlich, aber ungezwungen gewesen, selbst Heinrich war guter Laune. Der Wein war vorzüglich und das Essen ohnedies von höchster Qualität, Chrisi meinte sogar, es sei haubenverdächtig. Lachend sagte er zu seiner Zwillingsschwester Elisabeth: „Gell Lilly, gut, dass wir das Soferl haben, sonst gäbe es Fertigpizza!" Da war Soferl dann sehr stolz! Dies aus dem Munde ihres Bruders, der als der Kritischste in der Familie galt, zu hören, bedeutete ihr ungemein viel. Obwohl sie zum Umfallen müde war, fühlte sie sich sehr gut. Allen hatte es geschmeckt, sie wurde gelobt und sie hatte nicht mitessen müssen. So war es auch für sie selbst ein toller Abend. Unerwartet ernst fragte Elisabeth plötzlich: „Warum macht die Kleine das eigentlich?"
„Sie kocht halt gerne", war die eher schnippische Antwort, obwohl Anna selbst ein wenig verwundert über die allzu große Hilfsbereitschaft ihrer Jüngsten war.
Später sagte Lilly zu ihrer Mutter: „Aber normal ist es nicht, dass sich eine Fünfzehnjährige so viel Arbeit für ihre Familie macht." Plötzlich herrschte betretenes Schweigen und niemand wusste darauf etwas zu erwidern. Anna ärgerte sich ein wenig über ihre Tochter. Es war ein toller Abend, warum musste sie jetzt so provokant sein.
Aber was genau hatte die Schwester gesagt, dass Anna so verärgert reagierte? Die Mutter wusste selbst nicht, woher plötzlich ihre schlechte Laune kam. Lilly war nur verwundert, dass sich eine Fünfzehnjährige freiwillig die viele Arbeit antat, um ihre Familie zu erfreuen.
Die Mutter wollte sich keine Gedanken machen, sie hatte genug andere Sorgen, sie wollte einfach darüber hinwegsehen, wie es auch Heinrich des Öfteren tat. Es wäre so einfach gewesen. Hatten denn nicht auch all die befragten Fachärzte einfach darüber hinweg gesehen?
Als Soferl vor einem halben Jahr immer öfter über Übelkeit und Schwindelanfälle klagte, hatte der wenig später konsultierte Arzt auch nichts von einer ernsthaften Bedrohung im Sinne einer Essstörung vermuten lassen. Heinrich hatte ihn sogar darauf angesprochen: „Mit dem regelmäßigen Essen gibt es halt Probleme", sagte er damals. Doch der Arzt wollte davon offensichtlich nichts wissen: „Das ist Elternsache, da mische ich mich nicht ein." Und da auch Heinrich immer dachte, Elternsache wäre Müttersache, mischte er sich auch nicht mehr ein.
Eine Zeit lang später konsultierten die Eltern noch eine zweite Internistin. Soferls Magenschmerzen waren in letzter Zeit immer schlimmer geworden und das Essen schmeckte ihr gar nicht mehr.
Anna dachte, dass eine Frau vielleicht mehr Einfühlungsvermögen hätte. Aber die Dame, selbst sehr schlank, wunderschön geschminkt und mit viel Schmuck dekoriert, konnte auch keinen brauchbaren Rat geben, außer den, dass regelmäßiges Essen mit magerem Fleisch, Fisch und viel Salat keinesfalls dick mache.
„Du willst nicht dick werden, habe ich das richtig verstanden?", fragte sie das Kind provokant.
Soferl nickte, die Mutter sagte schnell, dass es aber in erster Linie um die ewigen Magenschmerzen ginge. Warum hört uns denn keiner wirklich zu, dachte sie frustriert. Die Ärztin sprach kurz über ausgewogenes Essen und keine schweren Mahlzeiten am Abend. Anschließend wurde Soferl noch abgemessen und gewogen, aber alle ihre Maße wurden für nicht besonders besorgniserregend befunden. Nur, dass sie noch keine Menstruation hatte, verwunderte ein wenig.
Doch dafür hatte wiederum Anna eine Erklärung, denn alle in der Familie wären spät dran gewesen mit der Regelblutung. „Ja, ja, das kommt vor", meinte daraufhin auch die Ärztin zustimmend.
Soferl hörte sich alles ein Weile still an, dann sagte sie plötzlich: „Ich bin froh, dass ich keine Regel habe. Ich möchte auch keine Frau werden, mit Hüften und Fett am Bauch und überall das Dicke." Die Doktorin schaute erstaunt und indigniert auf das Kind. Was sollte das dumme Gerede, das Mädchen war ja so klein nun auch wieder nicht, man könnte etwas mehr Intelligenz und Verständnis erwarten. Sie meinte daher auch eher unfreundlich:
„Aber jedes Mädchen wird einmal eine Frau. Du wirst bald deine Regel bekommen, das ist ganz normal, dass sich der Körper verändert. Du musst nicht dick werden, aber du wirst dich verändern. Alles wird runder und weiter, damit du einmal ein Kind empfangen und gesund zur Welt bringen kannst. Deshalb wird sich dein Körper verändern ."
Das alles hörte Soferl schon nicht mehr. Sie hörte nur die Worte, du wirst dich verändern und runder werden, runder, runder, runder. Die Worte hallten immer mehr in ihren Ohren und dann glaubte sie fett, fett, fett zu hören. Sie konnte förmlich sehen, wie in einem Spiegelkabinett im Prater, in dem sie einmal mit ihrem Vater gewesen war, wie sich ihr Körper veränderte und die Hüften, die Beine, ja sogar ihre Finger anschwollen und ihr schöner, zarter Körper zu einer fetten schwammigen Masse wurde. Alles an ihr war teigig und fühlte sich ekelig an. Es grauste ihr regelrecht vor ihr selbst.
Die Ärztin redete noch eine Weile auf Soferl ein, obwohl diese gar nicht mehr aufpasste und eigentlich nur den Wunsch hatte, die Praxis möglichst schnell verlassen zu können. Jedoch die Mutter hörte aufmerksam zu und war offensichtlich von dem Vortrag sehr beeindruckt. Die attraktive Internistin war überzeugt das Richtige zu raten. Was weiter mit der jungen Patientin geschehen sollte, interessierte sie offensichtlich aber bald nicht mehr und sie erteilte Anna keine konkreten Ratschläge wie sie gegen die Übelkeit und Magenschmerzen vorgehen sollte. Wozu waren sie hierher gekommen?
Nur um zu hören, das Soferl solle sich vernünftig ernähren und viel Sport betreiben. „Ich verschreibe dir noch Vitamintabletten, dann wird schon alles wieder werden!" Während sie mit ihrer goldenen Füllfeder, einer Parker, wie Anna ein wenig neidvoll dachte, ob sie die wohl von ihrem Mann oder von einem zufriedenen Patienten erhalten hatte, das Rezept schrieb, zwinkerte die Ärztin Heinrich kollegial und vielsagend zu. Dann plauderten beide noch über einige andere gemeinsame Fälle. Das Mädchen schien sie nicht mehr zu interessieren. Es gab aber auch wirklich spektakulärere Patienten, als ein verwöhntes Arztkind.
Auf der Heimfahrt schimpfte Soferl über den vergeudeten Nachmittag. Die Konsultation hatte keine Klarheit gebracht, außerdem war ihr die Ärztin sehr unsympathisch gewesen.
„Die hat ja mehr Schmuck auf sich hängen als wir am Christbaum!" Das fand auch Anna und sie musste herzlich über ihre schelmische Tochter lachen. Noch lieber hätte sie allerdings mit Heinrich besprochen, was jetzt weiter gegen die ewigen Magenschmerzen unternommen werden sollte. Dieser war aber nicht mit seinen beiden Damen nach Hause gefahren, sondern an der Klinik geblieben, schließlich hatte er ja auch einen Beruf. Man könne am Abend reden. An welchem Abend hatte er nicht dazu gesagt. Obwohl sich Anna von dieser Internistin mehr Hilfe versprochen hatte, versuchte sie ihre Tochter auf der Heimfahrt von der Richtigkeit des Gesagten zu überzeugen.
„Das verstehst du doch. Das hat dir die Frau Doktor doch gut erklärt. Findest du nicht, dass sie mit allem recht hatte, was sie sagte."
„Ja, ja, wird schon so sein", murmelte Soferl.
„Na eben, ich weiß ja, dass du mein braves, gescheites Mädchen bist. Du wirst sehen, du wirst dich bald besser fühlen und alles wird gut."
„Ich mach alles, was ihr von mir wollt", murmelte sie, dachte aber hingegen: Aber was wollen die eigentlich wirklich von mir, dass ich noch dicker werde und das Gerede von Frau sein interessiert mich überhaupt nicht. Aber ich werde das schon schaffen, ich habe schon so viel alleine geschafft, und meine ganze Familie hat sich nur so gewundert, damals, als ich vierzig Tage fastete, wie Jesus in der Wüste. Manche Menschen können das nicht einmal vier Tage. Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man etwas kann, das den meisten Menschen schwerfällt. Ich glaube, sie waren dann plötzlich alle sehr stolz auf mich. Warum eigentlich? Was war so besonderes daran? Ich habe nur keine Schokolade gegessen und keinen Kakao getrunken. Mit jedem Mal dies nicht zu tun, habe ich mich toll gefühlt, viel besser, als nach den Schokoladefressorgien, die ich sonst manchmal veranstalte. Es ist einfach schön, dieses Gefühl, das man hat, wenn die Schokolade so vor einem liegt, man braucht nur ein kleines Stückchen abbrechen, auf die Zunge legen und langsam im Mund zergehen lassen. Erst dann schlucke ich es hinunter. Es breitet sich ein feiner, süßer Geruch um mich aus. Ein winziger Rest Schokolade liegt noch auf meinen Lippen, ich lecke ihn vorsichtig mit der Zunge weg und schlucke noch das letzte Stückchen hinunter. Es ist nur mehr ein Hauch von Schokolade, aber ich kann es fühlen und schmecken. Dann nehme ich noch ein kleines Stückchen, lege es wieder auf meine Zunge, diesmal kann ich aber nicht abwarten, bis dieses von meiner eigenen Körperwärme zu schmelzen beginnt. Ich beiße fest darauf und abermals spüre ich das süße Gefühl in meinem Mund. Ich kann nicht mehr so geduldig warten, ich schlucke alles auf einmal hinunter und schon nehme ich mir ein neues Stück. Diesmal ein etwas Größeres. Ich habe nicht mehr so viel Muße und kann es kaum erwarten, dass sich dieses wohlige Gefühl in meinem Mund ausbreitet. Ich werde immer hastiger und schneller, schon stopfe ich zwei Stücke gleichzeitig in mich hinein, kaue einige Male und schlucke den ganzen Schokoladebrocken hinunter. Jetzt geht es immer schneller, noch ein Stück und noch eines, dann habe ich die ganze Tafel aufgegessen. Das warme, gute Gefühl ist aber auch nicht mehr da. Plötzlich ist es verschwunden, und eigentlich ist mir nur mehr schlecht.
Aber jetzt habe ich das gute Gefühl noch vor mir. Ich habe nicht einmal ein winziges Stückchen gegessen, nicht mal ein Bröslein gekostet und trotzdem ist dieses besondere Gefühl gekommen. Vielleicht gerade deshalb, weil alles noch vor mir liegt. Ich kann das, dieses Hinauszögern, um den Genuss zu erhöhen. Denn das kann nur der wahre Genießer, nämlich selbst bestimmen, wann man für den echten Genuss bereit ist. Das verstehen die wenigsten Menschen. Alle wollen immer alles sofort, aber das ist ja gerade das Tolle, es nicht zu bekommen oder erst später, wenn man wirklich bereit dazu ist. Wenn man sich selbst bereit dazu gemacht hat. Ich bin noch ganz am Anfang, aber ich weiß jetzt, dass ich viel weiter kommen kann.
Ich kann mir so viele Freuden bereiten, wie ich selber will. Ich habe die Macht über mich. Das habe ich jetzt ganz deutlich erkannt. Und das ist ein großartiges, erhebendes Gefühl. Mir kann nur mehr wenig geschehen, denn ich kann bestimmen, was mit mir passiert. Ich fühle mich stark und stolz. Auch wenn sie oft an mir herumkritisieren, kann ich doch Dinge, die sie nicht können. Ich habe Macht über meinen Körper. Ich weiß jetzt, dass ich alles kann, wenn ich es nur wirklich will.
Dieser Satz sollte noch viel Unglück hervorrufen und der tragische Leitsatz für lange Zeit von Soferl werden.
All diese Gedanken lagen schon einige Monate zurück und es verging wieder eine Woche nach der anderen in der nichts Besonderes geschah.
Georg war für einige Tage nach Wien gekommen. Er war ohne seine Frau Yvonne angereist und wohnte zu Hause, bei seinen Eltern.
Obwohl die ganze Familie Yvonne ausgesprochen nett und sympathisch fand, bedeutete es für die Familie immer etwas Besonderes, Georg ganz für sich zu haben, auch wenn es meistens nur für einige Tage war. Es war wieder so wie früher, als noch alle Kinder zu Hause lebten.
Georg hatte zwar beruflich sehr viel zu tun, aber trotzdem fand er Zeit mit seiner Mutter in der Küche zu sitzen und über all das zu reden, wofür sonst das Telefon herhalten musste. Sie tranken dann heißen Milchkaffee in riesigen Schalen ohne Untertassen. Die hatte er aus Paris mitgebracht, als er das erste Mal auf Urlaub nach Hause kam.
Anna hatte sie in sentimentaler Weise immer dann verwendet, wenn sie ihrem Sohn nahe sein wollte. Es war dann in Wien ein bisschen Paris und sie konnte sich in das Leben, das ihr ältester Sohn im Ausland führte noch besser hineinversetzen. Mittlerweile hatte sie sich an den Zustand gewöhnt und da sie auch den innigen Kontakt zu Georg nicht verloren hatte, fand sie die Trennung nicht mehr so schlimm. Aber am Anfang war sie sehr unglücklich gewesen.
Er war gleich nach der Matura das erste Mal für ein Jahr ins Ausland gegangen um Englisch und Politologie zu studieren. Das hatte sie nicht so sehr beunruhigt. Viele Kinder in ihrem Freundeskreis studierten eine Weile im Ausland. Das würde den Horizont erweitern und sie wollte keine Mutter sein, an deren Rockzipfel die Kinder ewig hingen.
Als Georg nach einem knappen Jahr wieder nach Wien zurückkehrte, war er seltsam verändert. Er war ernster und verschlossener, vielleicht auch nur reifer, als ein Jahr zuvor. Er wolle jetzt in Wien bleiben, teilte er seinen Eltern mit und möglichst schnell sein Studium beenden, um dann bei einer Zeitung als freier Journalist zu arbeiten. Er war voller Enthusiasmus und stellte sich vor, auch politisch einiges aufdecken zu können, wenn er genau recherchierte und mit den richtigen Leuten in Kontakt käme. Er hatte das oberflächliche, nur auf materielle Werte bezogene Leben satt. Zu viel hatte er davon im Ausland kennengelernt und sich bald mit den meisten Kommilitonen nicht mehr verstanden.
Vergiss mich nicht,