Sündengarten

Thriller

Ronnie Bresich


ISBN: 978-3-902975-93-5
1. Auflage 2020
Copyright © Verlagshaus Hernals, Wien 2015, www.verlagshaus-hernals.at

Coverbild: Maria Theresia Rittsteuer
www.mtr.co.at
Grafik: Grafikbüro Ebner
www.grafik-ebner.at

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt

Wer heutzutage Karriere machen will,
muss schon ein bisschen Menschenfresser sein.

Salvador Dalí

Teil I

Nennen Sie mich einen Feigling, einen kleinen dreckigen Lügner. Aber glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage: Ich wollte nichts Schlimmes anrichten. Das soll freilich keine Entschuldigung sein. Ich weiß schon, was ich getan habe, und es tut mir unsagbar leid! Und wenn ich nochmal die Chance bekäme, von vorne anzufangen, dann würde ich bei Anitas und meinem dritten Hochzeitstag beginnen. Denn von da an lief so ziemlich alles schief.

Kapitel 1

Nirgendwo

»Sag es noch einmal, Jakob, sonst kann ich es nicht glauben.«

Das war die Reaktion meiner Frau auf mein Versprechen, nie wieder im Leben eine Zigarette anzufassen. Und als ich es ihr auch noch hoch und heilig schwor, war sie so aufgekratzt, dass ich glaubte, sie würde sich jeden Moment ins Höschen machen. Denn für die brave Anita, die biologisch abbaubare Möbel kaufte, ihren Toyota Hybrid vergötterte und uneingeschränkt hypervegan lebte, war jeder einzelne Glimmstengel grausamster Mord an meiner Lunge (und an der Umwelt sowieso).

»Du könntest genauso gut den Asphalt auf der Straße abschlecken, so viel Teer ist da drinnen«, hatte sie mir zuvor schon unzählige Male vorgehalten. Und wissen Sie was? Als sie mich als Gegenleistung für Sex ein Januarwochenende lang auf Entzug gesetzt hat, habe ich das sogar ernsthaft erwogen. Gerettet hat mich damals nur unser Terrier, den ich allein am Sonntag fünf Mal hinausgeführt habe, bloß um hinter der nächsten Mauerecke eine schnelle Zigarette durchzuziehen.

Klar wusste ich immer, dass es weit bessere Ehemänner auf dieser Welt gab. Männer, die nicht das Geschenk am dritten Hochzeitstag vergaßen und stattdessen mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken versprachen, das Rauchen aufzugeben. Männer, die Blumen am Valentinstag heimbrachten und mit der Liebsten fein ausgingen, anstatt mit Kumpels in der Bar einen zu heben und es danach auf den stressigen Job zu schieben. Männer, die auch einmal etwas anderes – beispielsweise ihre Frau - als nur ihr Ego befriedigten.

Ich hielt mich in meiner Rolle als Ehemann aber für durchaus akzeptabel, nicht perfekt, freilich, zumal ich dem abgedroschenen Klischee gerecht wurde, dass ich jedem Rock hinterher sah. Aber ich verbrannte mir nur selten die Finger, bis auf zweimal, und da würde ich es eine zwanghafte Affaire nennen, eine einmalige Gelegenheit, die sich kein Mann entgehen lassen konnte - so wie man sich unbedingt kratzen muss, wenn es einen fürchterlich juckt.

Anita wäre so ein Seitensprung natürlich nie im Leben passiert und ich bin mir nicht sicher, wie sie reagiert hätte, wenn sie von meinen erfahren hätte. Vermutlich hätte sie versucht, die Ehe bis zur Selbstaufgabe zu erhalten, bloß um ihrem Vater nicht eingestehen zu müssen, dass er völlig recht hatte, als er ihr von einer Ehe mit diesem Nichtsnutz abgeraten hatte. Deshalb dachte ich, es gäbe nichts auf dieser Welt, das Anita mir nicht verzeihen würde. Aber glauben Sie mir, es gibt immer eine Grenze, auch für eine sich selbstaufopfernde Frau. Es brauchte eine rasend schnelle Scheidung, damit ich das kapierte.

Wenn man an den wirklich wichtigen Gabelungen im Leben steht, sieht man die Dinge klarer. So ging es auch mir acht lange Monate später, als ich da mit meinem Auto auf dem Bahngleis parkte und mir eine Lucky-Strike aus der zerknitterten Packung klopfte. Ich steckte sie mir zwischen die trockenen Lippen und zog instinktiv daran, wie ich es schon tausendmal zuvor getan hatte. Ich kann aber nicht sagen, dass mir die Zigarette schmeckte, denn sie hinterließ einen schalen Beigeschmack. Vermutlich lag das in erster Linie daran, dass einem praktisch nichts mehr so richtig schmecken will, wenn man glaubt, dass man nur mehr zehn Minuten zu leben hat. Immerhin erleichterte es mir aber so die Entscheidung, die Packung (mit nicht mehr als drei übrigen Zigaretten, wenn überhaupt) aus dem Fenster zu werfen. Nach einigen kühnen Überschlägen kam sie auf dem Bahngleis zu liegen.

Es war ein gutes Gefühl, das Richtige zu tun. Ich schonte damit meine Lunge und die Umwelt natürlich auch. Und Anita wäre sicherlich stolz auf mich gewesen, dass ich für den (wenngleich nur mehr vergleichbar kurzen) verblieben Lebensabschnitt Nichtraucher geworden war. Exakt das waren meine Gedanken in diesen Sekunden – und allein das zeigt schon, dass der blassblaue Dunst noch mein geringstes Problem darstellte.

Denn seit der Scheidung von Anita hatte sich auch noch dieses kleine Alkoholproblem eingenistet. Ja, so nennen es die Gutmenschen dieser Welt - ein Problem, als wäre es eine lösbare Angelegenheit, als müsste man nur die Flasche mit etwas anderem auffüllen, laktosefreie Sojamilch mit künstlichem Vanillearoma etwa, und alles wäre wieder in bester Ordnung. Aber so einen unglaublichen Unsinn kann nur jemand verzapfen, der noch nie so tief gesunken ist, dass er sein Auto auf dem Bahngleis parkt und auf den letzten Zug nach Nirgendwo wartet. Aber immerhin: Ich hatte zumindest in meinen letzten zehn Minuten nur mehr die besten Vorsätze.

Ein allerletztes Mal setzte ich auch die Wodkaflasche an und nahm einen festen Schluck daraus, bei dem ich zu gierig zulangte und mich ziemlich hässlich verschluckte. Hustend und fluchend schleuderte ich die viereckige Flasche aus dem Seitenfenster und diese landete ziemlich genau dort, wo zuvor die Zigarettenpackung aufgeschlagen war, nur dass das Glas nun spektakulär auf der scharfen Gleiskante in tausend Stücke zerbrach. Zu guter Letzt schnippte ich die bis auf den Filter abgebrannte Zigarette hinterher.

Er starb als Nichtraucher und Antialkoholiker.

Wenigstens etwas, das ich zusammengebracht hatte, auch wenn es Anita vermutlich nie erfahren würde. Wenn überhaupt, würde sie morgen bei ihrem Cornflakesfrühstück und dem mit einem Stück Würfelzucker gesüßten Englischen Tee aus den Lokalnachrichten von einem tragischen Unfall hören, der sich in der Nacht im Nordburgenland ereignet hatte.

»Aus bisher ungeklärten Umständen ist heute, kurz nach Mitternacht, der Wagen des Journalisten Jakob Habanek auf einem Bahnübergang im Ortsgebiet von Neusiedl am See zum Erliegen gekommen. Ein Güterzug konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und rammte den Volvo Kombi auf der Fahrerseite. Für Habanek kam bedauerlicherweise jede Hilfe zu spät.«

So oder so ähnlich würde es die künstlich betrübte Nachrichtensprecherin bringen, kurz innehalten und dann freudig erregt den Wetterbericht verkünden (drückend schwül mit aussichtsreicher Chance auf heftige Gewitter am späten Nachmittag).

Wahrscheinlich würde der guten Anita dann kurz der Appetit auf die in Biomilch ertränkten Flocken vergehen, weil all die Erinnerungen wieder nach oben drängten. Der erste Kuss in der Scheune ihres Vaters, die Hochzeit in Venedig und – natürlich – unser dritter Hochzeitstag. Vielleicht würde sie verstohlen vor ihrem neuen Mann eine Träne zerdrücken, die aber sicher nicht mir galt. Mehr Emotionen waren von Anita nach allem, was damals an unserem dritten Hochzeitstag geschehen ist, nicht zu erwarten.

Wie aus dem Nichts breitete sich plötzlich Unruhe in mir aus. Nein, ich hatte keine Zweifel an meinem Entschluss, ganz im Gegenteil. Denn mit einem Mal fragte ich mich in meinem Delirium, ob ich wirklich richtig geparkt hatte. Vielleicht war ich ja ein Stück zu weit gefahren (nur einen Meter) und der Zug würde bloß das kantige Heck des Wagens streifen, ihn herumwirbeln wie einen Kreisel, mich selbst aber unversehrt lassen.

Dieser Gedanke ließ mir bald keine Ruhe mehr. Ich stieg aus dem Volvo aus und torkelte einige Schritte weg vom Wagen. Mein Vater hatte den Kombi Mitte der Siebziger brandneu gekauft, als ich gerade erst drei Jahre alt war. Er war ein praktisch veranlagter Mann und deswegen wollte er als junger Vater mehr Sicherheit für seine Familie und Platz für den Kinderwagen – und der Kombi hatte genug von beidem. Mit den Jahren wurde der Volvo ein richtiges Familienmitglied und als mein Vater vor fünf Jahren starb, ging der Wagen in meinen Besitz über.

Ich vermisste meinen Vater damals sehr - und das obwohl wir seit der Trennung meiner Eltern unüberbrückbare Differenzen hatten und ich ihn nicht mehr als ein oder zwei Mal im Jahr sah. Sein Wagen erinnerte mich aber an die längst vergangenen besseren Zeiten (die gemeinsamen Ausflüge zum Fischen und die Urlaubsreisen) und den himmelblauen Lack habe ich sowieso immer geliebt. Wenn ich schon von dieser Bühne abtrat, dann nur in genau diesem Auto!

Nun kaschierte das gelbe Neonlicht der Straßenlaterne die Roststellen um die Radkästen herum und verwandelte den himmelblauen Lack in ein freundliches, lichtes Moosgrün. Wobei ich dazu anmerken sollte, dass ich noch genau weiß, welche Farbe der Lack in diesem diffusgelben Licht hatte. In meiner Erinnerung sehe ich diese Nacht aber nur mehr in kontrastreichem Schwarzweiß, vornehmlich Pechschwarz, wie beim Blick in ein schwarzes Loch, aus dem nichts mehr wiederkehrt.

Ich starrte auf die zwei – in meinem Dusel sogar vier – parallel verlaufenden Bahnschienen. Der Schienenstrang führte kerzengerade unter dem Auto hindurch. Normalerweise würde dieses Bild beunruhigend wirken. Ich lachte aber bei dem Anblick nur heiser über meinen Kontrollfummel und krabbelte wieder hinters Steuer.

Einige Minuten später überkam mich eine leise Unsicherheit. Klar, ich hatte die Gleise gesehen, die unter dem Kombi durchführten. Da es draußen ziemlich düster war, übermannten mich jedoch neuerliche Zweifel.

Ich verließ den Wagen ein zweites Mal und absolvierte das gleiche Prozedere wie zuvor, nur fasste ich nun die Schienen mit beiden Händen an, als könnten sie bloß ein Trugbild sein. Ich fühlte die Kälte des abgeschliffenen Stahls und fuhr die Schienen bis unter den Volvo entlang. Erst dann setzte ich mich wieder auf den Fahrersitz und schüttelte den Kopf über meinen neuen Spleen.

Er starb als Nichtraucher, Antialkoholiker und Neurotiker.

Oh Gott, was hätte ich jetzt für eine Zigarette gegeben!

 

Damals an unserem dritten Hochzeitstag auf der Rückfahrt von dem schicken Restaurant in den Wachauer Weinbergen hätte ich für eine Zigarette auch beinahe alles getan. Aber ich konnte mein hoch-heiliges Versprechen, das ich Anita eben erst vorher beim Essen gegeben hatte, doch nicht gleich wieder brechen, denn das hätte sie mir nie verziehen.

Die Fahrt zurück nach Wien war lang und der Novembernebel hing unheilvoll zwischen den Bäumen. Ich fuhr mit Anitas efeugrünem Prius, während sie selbst am Beifahrersitz eingeschlummert war (zwei Gläser Chardonnay und sie schlief danach immer wie ein Baby). Ich fühlte mich übertrieben gut und ausgelassen. Zu Hause in der Wohnung würde es Sex mit Anita geben – und der war immer am besten und schmutzigsten, wenn sie zuvor etwas getrunken und ein wenig voraus geschlafen hatte. Nur dann war sie locker genug, dass sie kein Blatt vor den Mund nahm und sich völlig gehen ließ. Allein bei dem Gedanken wurde mir heiß und deshalb stieg ich ordentlich aufs Gas. Nur ein winziges Detail fehlte mir in diesem Augenblick zum absoluten Glück.

Ich ließ das Fenster auf meiner Seite ein paar Zentimeter hinunter, gerade so weit, dass Anita durch die hineinziehende, kalte Luft nicht aufwachen würde, aber weit genug, dass der verräterische Rauch nach draußen ziehen konnte. Dann zündete ich mir eine Zigarette an und zog daran – und glauben Sie mir – das war die beste Zigarette meines ganzen Lebens! Ich rauchte sie hastig etwa bis zur Hälfte, hielt sie dabei stets nahe am Fenster und blies den blauen Dunst in die eiskalte Nachtluft hinaus. Ich fühlte mich großartig – bis es passierte.

Ich weiß nicht mehr warum, vielleicht war da eine Bodenwelle auf der Waldstraße, aber Fakt ist, dass Anita sich plötzlich bewegte und vielleicht schlug sie sogar die verschlafenen Augen einen Spaltbreit auf. Sie war wohl noch zu sehr in ihrem Traum verhangen, als dass sie wirklich verstand, was da vor sich ging. In der Panik fiel mir aber nichts Besseres ein, als die glimmende Zigarette durch den Fensterspalt zu drücken. Zumindest habe ich das versucht, das müssen Sie mir glauben.

Tatsächlich fiel mir die Zigarette aber hinunter in den Fußraum, genau zwischen Gas- und Bremspedal. Dort hätte sie in wenigen Sekunden die trockene Stoffmatte in Brand gesetzt. Was blieb mir da anderes übrig, als sie aufzuheben? Ich meine, natürlich, ich hätte vorher anhalten sollen, aber dann wäre Anita aufgewacht – und wie wäre ich dann wohl dagestanden?

Nein, ich möchte nichts beschönigen! Es war meine, und nur meine alleinige Schuld. In den zwei, drei Sekunden (gut, vielleicht waren es auch eher fünf oder sechs), die ich brauchte, um in den Tiefen des Fußraumes nach der Zigarette zu tauchen, verlor ich die Straße aus den Augen. Als ich den Kopf wieder hob, stand dieser verdammt riesige Rehbock auf meiner Straßenseite. Da war ich schon viel zu nahe, um noch rechtzeitig bremsen zu können.

Es kann gut sein, dass meine Reaktionszeit besser gewesen wäre, wenn ich nicht die vier doppelten Whiskys getrunken hätte. Dann wäre ich vielleicht rechts auf das Bankett ausgewichen und ich hätte mir schlimmstenfalls einen Platten geholt oder den Seitenspiegel an den Schneestangen abgefahren. In diesem Augenblick sah ich aber nur den Rehbock (und der hat auch mich erstaunt angestarrt). Wir beide waren wie in einem Tunnel gefangen und ich schwöre auf alles, was mir noch etwas bedeutet: Ich habe nicht gesehen, dass auf der anderen Straßenseite dieser Wagen entgegenkam, sonst wäre ich nie nach links ausgewichen. Mit einem Mal war das Rotwild verschwunden, dafür blendeten mich nun zwei grellweiße Lichter.

Ich träume diese Szene seitdem immer wieder. In den Tiefen der Nacht höre ich die Frau in dem anderen Wagen schreien (»Nein. Nein. NEIN!«). Aber wahrscheinlich hatte sie nicht einmal mehr genügend Zeit, um überhaupt den Mund zu öffnen.

Es war ein uralter VW Käfer, mehr hatte sich die alleinerziehende Mutter nicht leisten können. Keine Airbags, keine Gurtstraffer und nichts, was einer modernen Knautschzone nahe kam. Und auf dem Beifahrersitz saß ihr vierjähriger Sohn.

Sein Name war Tommy (wie ich später erfahren sollte).

Und genau an jenem fünfzehnten Juni, an dem ich nun auf dem Bahngleis stand, wäre er fünf geworden und hätte mit strahlenden Augen seine Geschenke ausgepackt. Stattdessen lag nun sein kleiner, toter Körper zwei Meter tief unter der Erde am Wiener Zentralfriedhof.

Bei dem Gedanken, was mich selbst in ein paar Minuten ereilen würde, wäre ich doch beinahe noch einmal aus dem Volvo gestiegen, nur um mir eine letzte Lucky aus der eben vorhin weggeworfenen Packung zu fischen (und natürlich, um nochmals zu kontrollieren, ob der Wagen auch tatsächlich richtig stand). Doch da drang aus der Ferne schon ein flüsterndes Rattern heran, zarte Vorboten des nächtlichen Güterzuges, der es eilig hatte, an sein Ziel zu gelangen. Bald würde sein Rattern lauter werden, bis es eine ohrenbetäubende Lautstärke erreicht. Zeitgleich würde eine Karawane aus unbiegsamem Stahl aus der Dunkelheit hervorbrechen, unaufhaltsam im Höllentempo durch den geschlossenen Bahnhof rasen und erst an ihrem fernen Bestimmungsort haltmachen – das freilich nur, wenn ihr nicht zufälligerweise ein himmelblauer 1976iger Volvo Kombi im Weg stand, dessen Wrack der Zug selbst nach einer verzweifelten Notbremsung noch mindestens zweihundert Meter vor sich herschieben würde.

Nun wurde es ernst, denn rasend schnell näher kommende Lichter machten die finstere Nacht zu einem trügerisch strahlenden Tag. Begleitet wurde dieses Schauspiel vom nervösen Tuten des Lockführers und dem Quietschen der Bremsen, als sich Stahl auf Stahl rieb.

Ich schloss die Augen und dachte an eine saftig grüne Weide, auf der dottergelber Löwenzahn unter einer Eiche blühte. Friedlich zwitscherten Rotkehlchen und Buchfinken in der dichten Baumkrone und die sattgrünen Blätter raschelten im Morgenwind. Im Schatten der Eiche wollte ich mich an den dicken Stamm lehnen und ausruhen. Ein wenig kitschig, ja, ich weiß, aber heute schiebe ich es auf den Wodka und vielleicht auch ein bisschen auf die nicht ganz alltägliche Situation, wenn man eben sein Ticket für den Zug nach Nirgendwo gezogen hatte. Trotzdem zuckte ich zusammen, als ich in meiner Vorstellung zu den armdicken Ästen hinaufsah und da ein verdammt hässlicher Strick herabhing, der nur darauf wartete, dass ich meinen Kopf in die Schlinge steckte.

Plötzlich hatte ich genug von meiner Todessehnsucht. Ich dachte, was auch immer ich tun könnte, es würde den Jungen nicht mehr lebendig machen. Und schlussendlich siegte die Feigheit in mir. Ich wollte nur noch weg von diesem Bahnübergang.

In Panik fasste ich nach dem Zündschlüssel. Kaltes Metall in einer schwülen Juninacht. Ich drehte den Schlüssel im Uhrzeigersinn (Klick-Klick), bis die Lämpchen auf dem Armaturenbrett rot aufglühten, und dann noch eine Vierteldrehung weiter.

Eigentlich sollte jetzt der klapprige Vierzylindermotor des Volvos hustend und keuchend wie ein Asthmatiker zum Leben erwachen. Dort vorne unter der lang gezogenen Motorhaube jaulte aber nur hoffnungslos der Anlasser, dem erschreckend schnell der Saft ausging. Gleichzeitig stellte die Beleuchtung des veralteten Kassettenradios flackernd den Betrieb ein. R.E.M. sangen noch ein, zwei Takte (Try not to breathe), während die Stimmen gedehnt wie alter Kaugummi mehrere Oktaven tiefer glitten, um schließlich ganz zu verstummen.

Wahrscheinlich waren die Scheinwerfer die ganze Zeit über eingeschaltet gewesen. Immerhin hatte ich, nachdem ich mich perfekt auf dem Bahnübergang eingeparkt hatte, auch nicht vorgehabt, den Wagen nochmals zu starten.

Jetzt fühlte ich mich plötzlich fürchterlich alleine auf dieser Welt. Nur ich und der Zug, der nicht mehr rechtzeitig anhalten würde.

Kapitel 2

Engelsgesicht

Der Knall, der mir in beiden Ohren beinahe das Trommelfell zerfetzte, überraschte mich nicht wirklich. Ebenso wenig der Tritt ins Kreuz. Letzterer presste mir mit einem Satz die verbliebene Luft aus den Lungen und beinahe die Augäpfel heraus, so heftig kam er. Nur die Richtung schien nicht zu stimmen. Denn es wirkte auf mich, als hätte mich der Zug direkt von hinten gerammt (was natürlich rein physikalisch schon nicht sein konnte, stand ich doch quer über den Gleisen).

Mir wurde augenblicklich schwarz vor den Augen. Das änderte freilich nichts daran, dass ich noch am Leben war. Ich spürte deutlich, wie der Volvo langsam auf der Straße ausrollte. Und als er sanft zum Stehen kam, wollte ich nichts mehr als raus aus dem Wagen. Sicherlich war es etwas leichtsinnig von mir, die Wagentür zu öffnen und einfach auszusteigen (eigentlich mehr herauszufallen). Aber genau das tat ich und landete prompt vornüber auf der Straße.

Benommen lag ich so da, den Geruch von Teer und Asphalt in der Nase, auf der Zunge ein ekeliger Metallgeschmack und in den Ohren klingelte es wie von einem hysterischen Nachttischwecker.

Ich rollte mich auf den Rücken und der schwarze Schleier vor meinen Augen lichtete sich. Der unbeschrankte Bahnübergang lag nun schätzungsweise fünfzig Meter hinter mir. Die Warnlichter glühten noch grellrot, während die letzten, dunklen Güterwaggone vorbeiratterten. Nur wenige Meter entfernt stand ein Geländewagen quer über der Straße, ein bulliger Pajero mit auffälligen Chromspiegeln und breiten Trittbrettern unter den Türen. Aus der zu einem Zelt aufgeworfenen Motorhaube drang dichter Wasserdampf hervor. Auch ohne hellseherisches Talent war mir klar, dass der Fahrer des Pajeros mich auf dem Bahnübergang gerammt haben musste – und mir damit im allerletzten Moment zweifellos das Leben gerettet hatte (worüber ich nun doch unbeschreiblich froh war).

Dennoch schob ich es zunächst auf eine ­Sinnestäuschung, als ich eine Gestalt wie ein Gespenst durch den Rauch laufen sah. Sicheren Schrittes kam sie auf mich zu, dabei hob sich eine unscharfe Silhouette vom Wasserdampf ab.

Ich weiß nicht, was (oder wen) ich erwartete hatte, aber sicher nicht diese grazile Frau mit safranfarbenem Haar, das in lockeren Wellen über ihren Schultern wippte. In ihrem elfenbeinweißen Kleid sah sie aus, als käme sie gerade von einer Cocktailparty. Für mich war sie aber ein vom Himmel gefallener Engel.

Wirklich glauben konnte ich es erst, als ihre Fingerspitzen an meinem Hals nach dem Puls tasteten und ihr wohlig warmer Atem auf meinen Wangen für ein belebendes Kribbeln sorgte. Dazu formten ihre Lippen Worte, die in meinen noch immer klingelnden Ohren nur verzerrt ankamen. Aber ich könnte schwören, sie flüsterte mir diesen einen Satz zu: »Ich glaube, jetzt habe ich mir eine Belohnung verdient.«

Es brauchte keinen Mechaniker, um festzustellen, dass der Pajero Schrott war. Mit seiner aufgebogenen Motorhaube und den scharfen, hervorstehenden Streben des Kühlergrills sah er ein wenig nach einem T-Rex aus Altmetall aus. Es reichte gerade noch dafür, ihn auf den leeren Parkplatz des nahen Supermarktes zu rollen.

Viel besser war es meinem treuen, alten Volvo aber auch nicht ergangen. Das Heck war fast bis zur hinteren Sitzreihe eingedrückt und der Auspuff hing lustlos herunter. Es brach mir fast das Herz, den Wagen, mit dem ich so viele Kindheitserinnerungen verband, in diesem Zustand sehen zu müssen.

Auf allen Vieren krabbelte ich hinter das Steuer. Zu meinem großen Erstaunen sprang der Schwede auf den ersten Drücker an und der Motor schnurrte wie in seinen besten Tagen. Ich frage mich heute noch, weshalb er zuvor auf den Gleisen keinen Mucks von sich gegeben hatte. Aber im Vergleich zu dem, was die nächsten Tage und Wochen bringen sollten, war das noch wirklich die geringste Überraschung.

Meine Lebensretterin setzte sich auf die Beifahrerseite.

»Ich begleite dich nach Hause«, hörte ich wie durch eine Nebelwand von ihr.

Eigentlich hätten das meine Worte sein sollen – immerhin war ich der Mann. Und auch ihr vertrauter Umgangston irritierte mich anfangs ein wenig. Aber in solchen besonderen Situationen waren übertriebene Förmlichkeiten wohl nicht mehr angebracht.

»Wo wohnst du?«, setzte sie nach.

Eine Frage, die nicht so einfach zu beantworten war. Als hätte ich diese Information, von der ich angenommen hatte, sie nicht mehr zu brauchen, aus meinem Gedächtnis verdrängt. Ich kramte in den Tiefen meines brummenden Schädels wie in einer Schublade mit Schmutzwäsche und muss dabei ziemlich bescheuert ausgesehen haben, weil ich erntete vom Beifahrersitz ein entzücktes Grinsen.

»Du weißt es nicht?« Sichtlich amüsiert rollte sie mit den Augen. »Irgendwo muss ich dich aber abliefern, weil zu mir nach Hause kann ich dich jedenfalls nicht mitnehmen.«

Bei diesem Satz kam ich mir wie ein räudiger Straßenköter vor, der einer feinen Dame zugelaufen war. Auch ihr musste diese Unpässlichkeit aufgefallen sein. Sie deutete sofort entschuldigend auf den goldenen Ring an ihrer rechten Hand.

»Aber ich habe schon eine Idee, wie ich dir helfen kann.«

Ich solle einfach nur geradeaus weiterfahren, die Straße zum Neusiedler See entlang. Schon noch einigen Metern zweigten zu beiden Seiten Wege ab, die parallel zur Seestraße weiterführten.

»Nach rechts und park dich gleich vor dem Hotel ein!«

Direkt vor mir glühte auf dem ausladenden Vordach der Schriftzug des Hotels in unnatürlichem Gelbgrün und vereinzelt standen davor Autos, hauptsächlich solche mit ausländischem Kennzeichen.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht hier wohne«, monierte ich, während ich den Kombi anhielt.

Sie ließ sich davon nicht beirren.

»So, da bist du dir sicher«, plapperte sie mir nach. »Aber ich weiß, dass der Nachtportier um diese Zeit im Zimmer hinter der Rezeption schläft. Ich denke, er hat nichts dagegen, wenn wir uns für die Nacht einen Zimmerschlüssel ausleihen.«

Meine Lebensretterin saß im Dunkeln und ich konnte nicht erkennen, ob sie das tatsächlich ernst meinte. Ich war fast schon verleitet, die Leselampe einzuschalten, nur um den Ausdruck auf ihrem Gesicht zu sehen. Gerade da wurde der Innenraum für einen fürchterlich kurzen Augenblick von einem fernen Gewitterblitz erhellt. Das reichte aus, um die sanften Rundung ihrer Wangen und die wachen Augen zu erkennen, die wie afrikanische Smaragde funkelten. Noch bevor der Donner grollte, hörte ich sie mit ruhiger Stimme sagen: »Ich habe einen Mann. Aber er betrügt mich in gewisser Weise.«

Sie sog hörbar die schwere, feuchte Luft ein und seufzte. »Nun, es ist sehr kompliziert.«

»Ist es das nicht immer?«, bemerkte ich.

Sie lächelte höflich, aber leicht gequält. Und für einen unbedachten Moment kaute sie nervös an den Fingernägeln ihrer rechten Hand. Heute bin ich mir sicher, sie wollte mir damals schon etwas mitteilen, ich war jedoch mit meinen Gedanken noch immer beim heranrasenden Zug.

»Ich bin nicht wirklich zufällig auf diesem Bahnübergang gestanden ...«, sagte ich völlig unpassend.

»Das habe ich auch keine Sekunde lang angenommen.«

Eine bedrückende Stille füllte den engen Innenraum. Ich wusste nicht, ob ich jetzt etwas erwidern sollte (vielleicht etwas vermeintlich Witziges, wie »He, wenn du nicht da gewesen wärst, könnte man jetzt meine Überreste in eine Dose Hundefutter quetschen!«). Gut, dass ich meinen Mund gehalten habe, sonst hätte sie nicht Folgendes zugegeben.

»Vorigen Samstag bin ich genau dort gestanden und habe auf den Güterzug gewartet.«

Mir fiel die Kinnlade hinunter. Egoistisch, wie ich damals war, hatte ich doch tatsächlich geglaubt, ich wäre der Einzige, der zu so einer Dummheit fähig wäre.

»Bloß weil dein Mann dich betrogen hat? Das ist doch kein Grund ...«

»Nein, das ist es nicht«, fiel sie mir ins Wort. »Ich habe etwas Schreckliches getan – und das ist noch nicht eimal das Schlimmste. Ich wusste einfach nicht mehr weiter.«

»Ich verstehe nicht.«

»Da gibt es auch nichts zu verstehen«, würgte sie das Gespräch abrupt ab.

Mehr würde ich jetzt aus ihr nicht herausbekommen und ich wollte auch nicht in der offenen Wunde herumstochern. Ich fühlte trotzdem eine innige Verbundenheit zu ihr.

Meine Lebensretterin war genauso schwach wie ich.

»Und was hat dich gerettet? Ich meine, war da auch jemand, der ...«

»Nein, um Himmels willen, das wäre mir echt peinlich gewesen«, lachte sie kurz und ich war froh, dass es stockfinster war, weil ich bin sicher knallrot angelaufen.

»Es war etwas viel Banaleres! Der Zug verspätete sich und ich hatte keine Lust, noch länger in der Hitze zu warten.«

Ein weiterer greller Blitz (dieses Mal schon viel näher) hellte wie ein zerplatzender Bühnenscheinwerfer ihr Gesicht auf. Ich sah eine Träne auf ihrer Wange.

»Ich habe dich heute mindestens zwanzig Minuten lang aus sicherer Distanz beobachtet«, sagte sie. »Erst im letzten Augenblick habe ich mich entschieden loszufahren – als ich sah, dass du weg wolltest.«

Ein heftiger Donnerschlag brachte die Scheiben zum Zittern.

»So, und jetzt bist du an der Reihe«, schwenkte sie um. »Also warum?«

»Was warum?«

»Warum du eben dort gestanden bist, natürlich. Geldprobleme? Drogen? Oder gar wegen einer Frau?«, fragte sie kokett.

Ich antwortete nicht. Zu sehr schämte ich mich. Sie fasste mein betretenes Schweigen aber als Geständnis auf.

»Ah, es ist also wegen einer Frau!«

Trotz Dunkelheit wusste ich, dass sie eben triumphierend grinste.

»Nein, das ist es nicht! Wegen Anita würde ich mich nicht auf ein Bahngleis stellen.«

»Wer ist Anita?«, fragte sie vorwurfsvoll wie eine eifersüchtige Ehefrau.

Ich drückte mich um die Wahrheit herum. Aber was hatte ich in einer solchen Nacht noch zu verlieren?

»Es war nicht wegen einer Frau«, erwiderte ich schließlich mit zitternden Lippen. »Es war wegen dem Jungen.«

Ich musste bei dem Gedanken schlucken und konnte nur mit Mühe den aufkommenden Würgereflex bezwingen.

»Tommy, er wäre heute fünf geworden, wenn ich nicht diesen Unfall verursacht hätte. Die Schuld, mit der ich jeden Tag aufwachen muss, bringt mich fast um.«

»Das tut mir leid.«

Aus ihrem Mund klang das sogar aufrichtig und ich war froh, dass sie nicht weiter auf dem Thema herumritt.

»Ich werde dir meinen Namen nicht verraten – du kannst dir aber einen für mich aussuchen«, sagte sie. »Nicht Anita, außer es muss unbedingt sein ...«

»Nein!«, fuhr ich wohl etwas zu vehement dazwischen.

»Okay. Du musst mir auch gar keinen Namen geben«, ruderte sie plötzlich zurück, schien aber im selben Moment erleichtert, dass ich ihr nicht den Namen einer anderen Frau geben wollte.

»Ich werde dich Michael nennen«, flüsterte sie

Von mir aus konnte sie mich nennen, wie sie wollte, also nickte ich nur. Das schien ihr zu reichen.

»Ich will heute Nacht nicht alleine einschlafen«, sagte sie und sah zum Hotelfoyer, das im sanften Schein des Nachtlichts völlig verlassen aussah.

»Kommst du mit mir, Michael?«

Sie ließ mir keine Sekunde Zeit zum Überlegen, sondern schnappte sich überfallsartig den Schlüssel aus dem Zündschloss des Volvos und sprang aus dem Wagen.

Kurz (sehr kurz, zugegeben) zog ich in Erwägung, ihr nicht zu folgen. Heute schiebe ich dieses Zögern auf die Nachwirkungen des heftigen Zusammenstoßes mit dem Pajero. Meine Gedanken lösten sich aber Schritt für Schritt vom Bahngleis und der klammen Vorstellung, dass ich nur mehr Sekunden zu leben hätte. Meine quirlige Lebensretterin hatte es in einer knappen Viertelstunde geschafft, dass mir das Leben nun weit süßer schmeckte, als in all den dunklen Monaten zuvor.

Was also hätte ich sonst tun sollen, als ihr in das Hotel nachzulaufen?

Kapitel 3

Aufwachen

Ein Richterhammer, der penetrant auf einen Holztisch schlägt. Genau so hörte sich das dumpfe Geräusch in meinem Traum an. Und es wirkte so real, dass ich augenblicklich aufschrak.

Grelles Sonnenlicht blendete meine verschlafenen Augen und anfangs wusste ich nicht einmal, wo ich war. Blinzelnd sah ich mich in dem fremden Zimmer um und dann huschten Fetzen der letzten Nacht wie eine Vorschau im Kino vorbei.

Ich war meiner Lebensretterin bis in das Zimmer Nummer 107 gefolgt. Dort hatten wir die Nacht gemeinsam verbracht. Reflexartig fuhr meine Hand über durchwühlte Bettlaken und verstreute Polster und suchte die samtweiche Haut meiner geheimnisvollen Retterin.

Doch das Bett war kalt und leer.

Ich wusste nicht, wie ich mich dabei fühle sollte, aber »in Nacht und Nebel verlassen« traf es ziemlich genau auf den Punkt.

Von draußen drang brütend heiße Luft durch das gekippte Fenster hinein, naher Autolärm war zu hören und in der Ferne lachten Kinder. Nach meiner Armbanduhr war es halb fünf Uhr nachmittags und ich hatte fast den ganzen Tag verschlafen.

Ich gähnte und hielt mir aus blanker Gewohnheit die Hand vor den Mund. Nach schätzungsweise zehn Stunden Schlaf sollte ich mich eigentlich frisch und erholt fühlen, aber ich war todmüde. Das war in meinem speziellen Fall nicht ungewöhnlich und seit dem Autounfall acht Monaten zuvor regelmäßig so.

»Essen Sie Spinat, Herr Habanek, und schlafen Sie mehr!«, hatte mir mein Hausarzt geraten.

Natürlich aß ich kein einziges Spinatblatt und schluckte auch keine der hellblauen Eisentabletten, die Dr. Horten mir verschrieben hatte. Denn eines wusste ich genau, meine bleierne Müdigkeit rührte nicht vom Eisenmangel her (nein, das sicher nicht), sondern war eine Spätfolge des Autounfalls. Der Tod des Jungen nagte an mir wie eine Ratte an einem Stück verfaultem Fleisch. Wer könnte da noch ein Auge zumachen?

Irgendwann fand ich mich damit ab, dass ich schlafen konnte ohne wirklich zu schlafen und dass ich trotz zehn Stunden Schlaf an chronischer Schlaflosigkeit litt. Mir blieb einfach nichts anderes übrig.

Das Hämmern war für meinen Schlaf auch nicht gerade förderlich. An Albträume hatte ich mich aber fast schon gewöhnt (die schreiende Mutter aus dem VW Käfer gehörte mit zu den schlimmsten). Und nicht selten setzten sich die Albträume in der Realität fort. So wunderte es mich nicht sonderlich, dass auch das Hämmern noch da war, als ich munter wurde (so wach, wie ein chronisch Schlafloser nun mal werden konnte). Nur klang es nun nach den Fäusten einer wütenden Putzfrau, die meine Zimmertür unnachgiebig bearbeitete.

Ich beschloss, das Klopfen zu ignorieren, und drückte mir einen Polster auf die Ohren. Als das nichts half, ­begann ich die Melodie eines Liedes zu summen, das ich irgendwann im Radio aufgeschnappt hatte. Nach einigen Minuten kehrte dann tatsächlich Ruhe ein. Ich atmete durch und wankte ins Bad. Dort stand ich unbekleidet vor dem Spiegel und starrte auf mein Spiegelbild.

Seit meiner Teenagerzeit hatten mich meine widerspenstigen, dunkelblonden Haare gestört, weil Tom Cruise und all die anderen coolen Typen dunkelhaarig waren. Nun fielen aber wenigstens die grauweißen Strähnchen, die ich in den letzten Monaten immer zahlreicher bekommen hatte, nicht sonderlich auf. Für einen Mann, der diesen September seinen Vierziger feiern (oder besser bedauern) würde, hatte ich auch schon tiefe Sorgenfalten auf der Stirn angesammelt und wenn ich so an mir herabsah, musste ich feststellen, dass meine über Jahre hinweg mühsam trainierten Bauchmuskeln zunehmend von einem schlabberiges Etwas überlagert wurden.

Anita hatte nie etwas an meinem Aussehen auszusetzen gehabt, ja, sie fand (damals) sogar, dass ich spitzbübisch wie ein kleiner Junge daherkam. Wenn sie sich über mich ärgerte, meinte sie wiederum, ich sei unreif wie ein Teenager. Mit dem tragischen Tod von Tommy waren meine unbeschwerten Tage jedoch für immer vorbei und ich wurde mit einem Schlag in die Midlife-Crisis katapultiert. Weil – so seltsam es auch klingen mag – seit diesem schrecklichen Unfall machte ich mir beinahe täglich Gedanken über mein Alter.

Mit gemischten Gefühlen stieg ich in die Dusche und sehnte mich nach zehn entspannenden Minuten. Kaum dass das Wasser halbwegs warm geworden war, ging das Hämmern an der Tür wieder los, nun sogar noch lauter (und fordernder) als zuvor. Verärgert stieg ich aus der Dusche, trocknete mich hastig ab und schlüpfte in meine Jeans und in das (inzwischen völlig verknitterte) Hemd vom Vortag. Immerhin war ich nun wach genug, dass mir klar wurde, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Denn meine Lebensretterin und ich hatten uns die Schlüssel zum Hotelzimmer einfach so geschnappt. Schon alleine deshalb mahnte ich mich zur Vorsicht.

So stand ich dann barfuß mit dem Ohr an der Tür und lauschte nach Stimmen auf der anderen Seite, während sich meine Zehen in den angenehm weichen Teppich gruben. Langsam zweifelte ich daran, ob vor der Tür wirklich die Putzfrau stand, denn ich hörte zwei Männer, die sich aufgeregt unterhielten.

Nun, ich kann nicht behaupten, dass ich ein sonderlich gutes Gefühl dabei hatte (kurz sah ich mich sogar nach dem Fenster um, aus dem ich ins Freie hätte springen können). Das hielt mich aber nicht davon ab, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen, was im Nachhinein betrachtet nicht das Allerklügste war.

Ich hatte noch nicht einmal etwas gesehen (außer einem blaugrauen Schatten, wenn überhaupt), da knallte schon die schwere Holztür auf meine Stirn und ich selbst taumelte auf meinen kraftlosen Beinen zurück bis zum Bett, auf dem ich zum Sitzen kam.

»Keine Bewegung!«

Vor mir positionierten sich breitbeinig zwei Polizisten wie bei »Tatort«. Der Ältere trug einen buschigen Schnauzer und Brille, der Jüngere war zaundünn und sah ungesund blass aus. Die Glock-Pistolen im Anschlag zielten sie unvermittelt auf meinen Kopf. Ich war völlig perplex und wusste nicht, was ich sagen sollte.

Das muss ein Versehen sein, schoss es mir nach dem ersten Schock ein. Sie hielten mich vermutlich für einen Terroristen oder Attentäter. Dabei hatte ich die Hotelbesitzer bloß um eine Nacht in einem billigen Doppelzimmer geprellt. Mir deswegen gleich die Polizei auf den Hals zu hetzen, schien mir reichlich überzogen.

»Hören Sie, das muss ein fürchterliches Missverständnis ...«, beteuerte ich, kam aber nicht einmal bis zum Ende des Satzes, weil der Ältere mit dem Schnauzer mir rüde ins Wort fiel.

»Das sagen sie alle! Hände vor!«

So schnell konnte ich gar nicht reagieren, da riss er schon meine Arme noch vorne und schloss routiniert die Handschellen. Spätestens jetzt, als ich den kalten Stahl spürte, war mir der Ernst der Lage bewusst.

»Okay, okay. Sie haben mich überzeugt: Ich bezahle das Zimmer, was immer es auch kostet«, gab ich klein bei.

Die Polizisten tauschen stumme Blicke aus. Im Gesicht des Dünnen konnte ich eine gewisse Verwunderung erkennen (nicht dass ihm ein Lachen ausgekommen wäre, dazu schien er nun doch zu ernsthaft).

»Das wird nicht reichen«, knurrte der Ältere humorlos und zog mich an den Handschellen in die Höhe.

Das Polizeirevier lag in einem unscheinbaren Betongebäude am Stadtrand und hätte architektonisch auch gut als kommunistischer Plattenbau durchgehen können. Drinnen bestätigte sich dieser Eindruck durch endlos kahle Korridore und abgesperrte Sicherheitstüren. Wahrscheinlich sah die ehemalige KGB-Zentrale, die berüchtigten Lubjanka in Moskau, auch nicht viel anders aus.

Ohne Umwege wurde ich über eine steile Treppe hinauf in den zweiten Stock und in einen Raum am Ende des Ganges geführt. Die beiden Polizisten hatten ihre Arbeit damit erledigt, sie verließen gleich darauf das Zimmer und ich blieb alleine zurück.

In Hollywoodfilmen hatte ich oft genug Vernehmungsräume gesehen, möbliert mit nur einem langen Tisch und zwei unbequemen Sesseln – und der halbdurchsichtige Spiegel durfte natürlich auch nie fehlen. Ganz im Gegensatz dazu mutete dieser Raum hier fast schon ein wenig heimelig an. Nette türkisfarbene Tapeten, natürliches Sonnenlicht und überall gepflegte Grünpflanzen. Es hätte auch ein bequemes Wohnzimmer sein können, wenn da nicht auf dem breiten Schreibtisch ein Stapel Papierakten gelegen hätte. Erst auf den zweiten Blick fiel mir die eigentliche Besonderheit des Raumes auf: Durch ein Fenster an der Längsseite (statt des hinterlistigen Spiegels) konnte man ungehindert in den nebenan liegenden Raum sehen.

Dieser hatte wenig Einladendes zu bieten und die Betonwände hätten gut zu einem Vernehmungsraum gepasst. Ich fragte mich, ob dieses Fenster nicht in Wirklichkeit ein einseitiger Spiegel war und mich die Polizisten nur versehentlich in den falschen Raum geführt hatten. Auf der anderen Seite stand ein Mann. Ich konnte ihn zwar nur von hinten sehen, doch das reichte aus, um festzustellen, dass er kein Polizist war. Ein kleiner Staatsdiener hätte sich dieses extravagante Sakko in Überlänge nicht geleistet. Wie ein Kaftan reichte es bis fast hinunter zu den Knien und brachte Schulterpartie und Taille des Trägers perfekt zur Geltung. Der Schnitt kaschierte geschickt den schlaksigen Körperbau, ließ dabei aber die imposante Größe des Mannes unangetastet. Das Besondere an dem Kaftan war jedoch sein Stoff. Nie werde ich diesen Moment vergessen, in dem ich diesen schwarzen Samt das allererste Mal gesehen habe, der wie das Fell einer Raubkatze glänzte und dem Träger eine magisch schimmernde Aura violetten Lichts verlieh.

Ich war noch ganz eingenommen von diesem Anblick, als die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen wurde.

Herein trat eine Polizistin mit hochgestecktem Haar. Fast unmerklich zog sie das rechte Bein ein wenig hinterher und ihre blaugraue Uniform spannte sich an Bauch und Hüften um den gedrungenen Körper, der eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Birne aufwies. Mit der auf einer zierlichen Halskette baumelnden Lesebrille mochte sie auf dem ersten Blick als nette, großmütterliche Mittfünfzigerin durchgehen. Vielleicht hatte sie auch ursprünglich dieses sanfte Gemüt gehabt, bevor etwas völlig Unerwartetes in ihr Leben getreten war und ihr eine andere Richtung gegeben hatte.

Wortlos trat sie zum Fenster (dem einseitigen Spiegel?) und ließ die Jalousie herunter. Anschließend ging sie in aller Ruhe zum Schreibtisch und setzte sich auf den bequem aussehenden Ledersessel.

»Kommissarin Hedwin Meyers«, stellte sie sich mit einem leichten, wohl angeborenen Lispeln vor und fixierte mich dabei mit kleinen grauen Augen.

»Sie wissen, warum Sie hier sind, Herr Habanek?«

Mein Gedächtnis hatte den kurzen Aussetzer nach den Ereignissen am Bahngleis überwunden und war nun wieder voll funktionstüchtig. Trotzdem konnte ich mir nicht so recht erklären, weshalb man mich wegen eines nicht bezahlten Hotelzimmers wie einen Schwerverbrecher behandelte.

Wahrscheinlich hätte ich spätestens jetzt einen Rechtsanwalt verlangen sollen, aber mein Vertrauen in diese Berufsgattung war nicht sonderlich gut ausgeprägt. Und im Moment interessierte mich ohnedies mehr eine schnelle Verbesserung meiner misslichen Lage, denn die engen Handschellen schnitten mir ins Fleisch und meine rechte Hand begann schon ganz taub zu werden.

»Sie haben nicht zufälligerweise den Schlüssel dabei?«, fragte ich vorlaut. »Ich verspreche auch, ich beiße nicht.«

Eigentlich sollte das amüsant klingen und die angespannte Atmosphäre auflockern, aber Kommissarin Meyers zuckte nicht einmal mit den Mundwinkeln.

»Das heißt wohl Nein?«, hielt ich zerknirscht fest.

Ich würde mich wohl mit den drückenden und zwickenden Handschellen noch einige Zeit lang arrangieren ­müssen.

»Wissen Sie, warum Sie hier sind, Herr Habanek?«, fragte die Kommissarin.

Beantworte eine Frage immer mit einer Gegenfrage!

Diese geschickte Hinhaltetaktik hatte ich bei den amerikanischen Krimiserien im Fernsehen aufgeschnappt und sie schien mir (zumindest anfangs noch) ziemlich vielversprechend.

»Geht es um das Hotelzimmer?«

In Meyers schlauen Augen blitzte etwas auf und ich vermochte nicht zu sagen, was es war. Dann setzte sie sich die Lesebrille mit den viereckigen Gläsern auf die Nasenspitze und schlug den altrosa Aktendeckel vor sich auf.

»Ich behandle den Fall Aurora Roth.«

Anklagend hielt sie mir das vergrößerte Schwarz-Weiß-Foto einer Frau hin. Es schien mir schon etwas älter zu sein, weil die Haare waren kürzer und die Wangen pausbäckiger. Aber ich erkannte meine Lebensretterin von gestern Nacht trotzdem wieder – und wenigstens wusste ich jetzt ihren Namen: Aurora Roth.

»Wo haben Sie Frau Roth kennengelernt?«, setzte die Kommissarin nach und ihre Fragen machten mich immer misstrauischer. Schon alleine deshalb wollte ich vorerst nicht zu viel verraten.

»Wieso glauben Sie denn, dass ich die Frau kenne?«

»Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Herr Habanek«, knurrte sie. »Wenn Sie denken, dass Sie hier die Fragen stellen, können wir gleich die Plätze tauschen.«

Ohne Handschellen hätte ich jetzt meine Arme stur vor der Brust verschränkt. Meyers musste aber auch so spätestens jetzt verstanden haben, dass die Sache kompliziert werden würde. Deshalb wechselte sie geschickt die Taktik.

»Gut, dann werde ich Ihnen erst einmal sagen, was ich weiß«, kündigte sie in rauem, lispelndem Ton an. »Für den Fall, dass Ihnen das wirklich nicht bekannt sein sollte, Frau Roth ist eine angesehene Autorin. Ihr Roman ‚Im Herzen einer aufrechten Frau' war vor einigen Jahren ganz oben in den Bestsellerlisten. Die ergreifende Geschichte einer Mutter, die nach dem tragischen Tod ihrer Tochter wieder ins Leben zurückfindet.«

Augenscheinlich hatte Kommissarin Meyers das Buch gelesen und aus irgendeinem Grund war es ihr nahe gegangen. Ich für meinen Teil hatte noch nie davon gehört und stellte mir zu dem kitschigen Titel eine Schnulze à la Rosamunde Pilcher oder Konsalik vor. So hätte ich Aurora nun wirklich nicht eingeschätzt. Aber es sollte – so viel kann ich verraten – nicht die letzte Überraschung bleiben.

»In letzter Zeit hat Frau Roth sehr zurückgezogen gelebt«, setzte Meyers fort, »aber sie war seit Kurzem auch als Malerin erfolgreich.«

Natürlich beeindruckte mich Auroras Lebensgeschichte und ich fühlte mich geschmeichelt, dass diese bekannte Künstlerin mit mir die Nacht verbracht hatte. Gleichzeitig war ich noch immer ahnungslos, weshalb ich vernommen wurde (das Hotelzimmer war definitiv nicht der Grund). Offensichtlich ging es hier nicht um mich, sondern um Aurora.

»Frau Roth war mit dem weltbekannten Künstler Hermes Roth verheiratet«, führte sie aus.

Genau da hörte ich diesen Namen – Hermes Roth – das erste Mal und natürlich wusste ich da noch nicht, wie sehr dieser Mann mein Leben verändern würde. Nur nebenbei fiel mir auf, dass Meyers von Aurora in der Vergangenheitsform sprach, doch ich schenkte diesem Umstand (noch) keine große Aufmerksamkeit.

»Hermes? Soll das ein Künstlername sein?«, fragte ich.

»Würde Sie mich bitte ausreden lassen!«

Ihre Augen funkelten vor Zorn. Sie war sichtlich nicht gewohnt, in ihren Ausführungen unterbrochen zu werden. Vorsichtshalber hielt ich meinen vorlauten Mund.

»Gestern Abend hat Frau Roth in Begleitung ihres Mannes ihre erste Vernissage im Wiener Künstlerhaus eröffnet. Von dort ist sie gegen zweiundzwanzig Uhr alleine mit ihrem Wagen aufgebrochen.«

Die Kommissarin sah mich an, als fragte sie sich, ob mir jetzt ein Licht aufging (was definitiv nicht der Fall war).

»Heute Nacht kurz vor Tagesanbruch«, erklärte sie nach einer kurzen Pause, »hat ein Tourist, der in einem Zimmer über dem Seerestaurant wohnt, einen Schuss gehört. Dieser Schuss kam seiner Aussage nach vom benachbarten Seeufer.«

Langsam klang die Sache wirklich ernst und ich muss eingestehen, dass mir vor Anspannung der Mund trocken wurde.

»Der Mann hat den Notruf gewählt, einige Minuten später waren die Kollegen vor Ort und haben bei der Mole West die Leiche von Frau Roth aus dem Wasser gezogen.«

Mein Herz trommelte bedrohlich gegen den Brustkorb.

»Sie ist tot?«