ISBN: 978-3-86191-136-4
1. Auflage 2020
© 2017 Crotona Verlag GmbH & Co. KG, Kammer 11, D-83123 Amerang
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Für
Friederike und Lara,
die viel zu oft mein Verschwinden
an den Schreibtisch ertragen mussten.
Wenn ich meiner Frau vom Inhalt dieses Buches erzählte, dann schüttelte sie nur verwundert den Kopf und fragte, wieso ich das mit dem Lebendigen so kompliziert mache, das sei doch alles ganz klar, ganz einfach. – Wie recht sie hat! Tatsächlich spürt jeder Mensch Leben in sich, atmet, fühlt sich frisch und kräftig oder müde und schlapp. Kinder wachsen, Wunden heilen, der Körper regeneriert sich. Das Leben pulsiert. Das ist doch alles ganz offensichtlich und einfach. Kein Mensch hat das Gefühl, dass dies alles rein aus der Materie heraus geschieht, womöglich sogar aus dem Wechselspiel von Atomen oder gar Protonen und Elektronen. Kein Mensch glaubt das – außer den Naturwissenschaftlern, von denen man im Allgemeinen annimmt, dass sie nicht glauben, sondern wissen und durch sichere Beweise zu ihren Überzeugungen gelangt sind. Sie glauben es auch nur, solange sie sich in der Funktion als Wissenschaftler im Materiellen forschend und gedanklich analysierend betätigen und währenddessen ihre eigenen Alltagserfahrungen des Lebendigen ignorieren. Tatsächlich können sie streng genommen als Naturwissenschaftler nicht anders, denn die klassische naturwissenschaftliche Methodik mit ihrer verstandesmäßigen Logik lässt kein anderes Denken zu.
Das Lebendige an sich, als eigenständige, wenn auch ganz mit dem Materiellen verbundene Ebene, erfordert jedoch eine ganz andere Art des Zugangs, des Forschens und des Denkens. Dies ist seit der Antike vielen Naturphilosophen und Naturforschern bewusst gewesen. Viele interessante Ansätze für ein Verständnis des Lebendigen wurden von ihnen entwickelt und teilweise auch praktiziert, gerieten jedoch wegen des materialistisch-mechanistischen Mainstreams meist schnell wieder in Vergessenheit. Diese Ansätze, Strömungen und Wege exemplarisch anhand der Werke mir wesentlich erscheinender Persönlichkeiten aufzuzeigen, zu verbinden und zu einem kräftigen Strom zu bündeln, ist das Anliegen dieses Buches. Dabei sollen auch mögliche Sackgassen und ein mir als am zukunftsträchtigsten erscheinender Weg aufgezeigt werden.
Alle diese Naturphilosophen und Naturforscher hatten ein Problem, nämlich das, was sie wahrnahmen und anfingen intuitiv zu verstehen, sprachlich und dazu auch noch schriftlich zu formulieren und verständlich zu machen. Sie mussten dabei an die Grenze des verstandesmäßigen Denkens gehen. So sind viele ihrer Werke nicht leicht zu lesen und es bedarf teilweise einiger Mühe, ihren Gedankengängen zu folgen. Wenngleich ich versucht habe, diese Gedankengänge und die zugrunde liegenden Forschungsergebnisse zwar wissenschaftlich möglichst exakt, aber doch auch allgemeinverständlich darzustellen, bedarf es vermutlich auch für ein Verständnis meiner Ausführungen gelegentlich einiger Anstrengungen. Dennoch hoffe ich, dass Sie beim Lesen nicht nur eine erschöpfende Ermüdung, sondern auch eine anregende Erfrischung verspüren. In jedem Fall können Sie so gleich Erfahrungen mit ihren eigenen Lebenskräften machen.
Freude, Leid, Alltäglichkeiten, Beziehungen, Schicksalsschläge – herrlich, erbärmlich, mittelmäßig, interessant und unberechenbar – so kann unser menschliches Leben sein.
Das alles nur zu erleben, reicht uns allerdings nicht aus. Wir möchten unsere Lebensumstände angenehm gestalten, verbessern, das Leben und die Welt verstehen und eine glückliche Zukunft erreichen. Von klein an sammeln wir Erfahrungen, wobei wir die Welt nach und nach primär als auf uns selbst bezogen empfinden: Was nützt mir? Was schadet mir? Was ist angenehm, was unangenehm? Was gibt mir Sicherheit? Was muss ich unternehmen, um meine Wirkungsmöglichkeiten zu vergrößern? Bei einigen Menschen bilden sich auch philosophische und wissenschaftliche Fragen: Was ist das Bleibende hinter den Erscheinungen? Was ist die Ordnung hinter den Erscheinungen?
Unbewusste Verhaltensmuster bilden sich aus und mit zunehmender Verstandestätigkeit auch berechnende Intellektualität. Unser Denken erweist sich als äußerst hilfreich, um unsere Ziele zu erreichen. Neben der erfahrbaren Realität bilden sich zunehmend Vorstellungen und Konzepte, die unser Denken und Handeln beeinflussen. Diese Vorstellungen leiten sich nicht nur aus unserem Wahrnehmen der Welt her. Sie enthalten auch etwas, was wir aus unserem Inneren, aus unseren individuellen Impulsen der äußeren Welt entgegenbringen und was über das rein diskursive Denken weit hinausgeht. Dadurch kann Neues in die Welt hereinkommen.
Wenn diese sich ergebenden Vorstellungen und Konzepte ein begründetes und vor allem nachvollziehbares Verhältnis zur Wirklichkeit haben, welches allgemein anerkannt wird, werden sie als Wissenschaft bezeichnet. Nachvollziehbarkeit wurde in der Entwicklung der Naturwissenschaft zunehmend so interpretiert, dass das Eigene, der äußeren Welt Entgegengebrachte, zu eliminieren sei und nur das apparativ Reproduzierbare zähle. Man glaubte, dies durch den Einsatz objektiver Messgeräte zu erreichen. Die Dinge und Vorgänge in der Welt sollten nur untereinander, abgelöst vom Menschen, in Beziehung gebracht werden. Man meinte, die Wissenschaft könnte unabhängig von der Erfahrung des Menschen existieren. Damit beschränkte man die Naturwissenschaft auf die mit Apparaten messbare und quantifizierbare, in der Regel sogar auf die materiell erfassbare Welt. Die wissenschaftliche Welt wurde zu einer Welt der vom Menschen abgetrennten Objekte.
Ausgehend von der Mechanik entwickelte sich im 16. Jahrhundert diese Betrachtungsweise, die im Prinzip alle Weltvorgänge auf die Bewegung von Körpern reduzierte. Eine materialistisch-mechanistische, scheinbar nur auf exakten Untersuchungen und logischem Denken basierende Weltsicht wurde das Leitbild der Wissenschaft. Dieses setzte sich nicht nur in der Physik, sondern auch in allen anderen Wissenschaftsgebieten einschließlich der Biologie und der Medizin als oberstes Paradigma durch. Wenn sich auch eine solche Art der wissenschaftlichen Betrachtung immer mehr vom wirklichen Erleben des Menschen entfernte, so wurden doch das gesamte heutige Weltbild und die tiefsten Schichten unseres Verhaltens davon geprägt. Die sich aus dieser Wissenschaft ergebenden technischen Errungenschaften, die Macht und Wohlstand verschafften und einer bestimmten, offenbar zeitgemäßen Art der Entwicklung der Menschheit dienten, waren einfach absolut überzeugend. Dass dieser durch Technik und Nutzung der Energieressourcen erreichte Wohlstand allerdings teilweise auf Kosten der Umwelt und der nachfolgenden Generationen ging, wurde erst im letzten Jahrhundert richtig deutlich.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in der Physik eine Revolution, die eigentlich das Weltbild hätte erschüttern müssen: Die Quantenmechanik wurde entwickelt. Strenge Kausalität löste sich als Wissenschaftsprinzip auf. Es zeigte sich, dass im Grunde genommen nur wahrscheinliche Aussagen wissenschaftlich möglich sind. Der Wissenschaftler verlor den Status des objektiven, unbeteiligten Beobachters. Die Grundlagen des Materiellen erwiesen sich als immateriell und lösten sich in Felder, Wellen und Strukturen auf.
Im allgemeinen Bewusstsein der Menschen kam diese Revolution allerdings nicht an. Die Auflösung des Greifbaren war einfach nicht zu begreifen, war einfach zu weit entfernt vom inzwischen sehr physisch geprägten Alltagserleben. Das materielle Weltbild saß und sitzt uns tief in den Knochen. Dass Felder, Strukturen und Beziehungen grundlegender sein sollen als die Materie, war und ist ein noch zu ungewohnter Gedanke. Für eine Annäherung an eine solche Sichtweise bedurfte es eines völlig anderen Forschungsgebietes, nämlich der Molekularbiologie.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der materiellen Seite des Lebendigen hatte schon im 19. Jahrhundert begonnen, doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts erfolgte der Durchbruch mit der Aufklärung der die Erbinformation darstellenden DNS-Struktur. Was sich schon vorher in der chemischen Substanz des Lebendigen gezeigt hatte, nämlich dass hier Strukturen eine viel entscheidendere Rolle spielen als beispielsweise die chemischen Elemente, gipfelte in der Strukturanalyse der DNS. Man verstand es zunehmend, die Informationen hinter den DNS-Strukturen zu lesen, wobei man weiterhin der festen Überzeugung blieb, dass die Materie die Strukturen prägt und nicht umgekehrt. Das ist etwa so, als wenn man der Überzeugung wäre, dass die Buchstaben in diesem Buch in ihrer Kombination den Inhalt prägen und diesen bewirken. Diese Betrachtungsweise ließe sich dadurch stützen, dass eine Veränderung von einigen Buchstaben und Wörtern den Inhalt ja tatsächlich erheblich verändern würde. Dies macht man gerade in der Gentechnik. Was man damit hier auf der »Inhaltsebene« bewirkt und welche Folgen das hat, ist letztlich nicht zu überschauen. Hier fehlen ganz einfach Kenntnisse und Erfahrungen bezüglich der »Inhaltsebene«, also der Ebene des gestaltenden Lebendigen.
Wie kann man sich dieser Ebene nähern, wie kann man diese Ebene des Lebendigen wahrnehmen und organisch verstehen? Eine organische Betrachtungsweise ist im Prinzip nichts Neues. Sie ist immer schon Teil unseres Alltags gewesen, bisher aber mehr im Unbewussten verblieben. Auch in der Wissenschaftsgeschichte finden sich von den Anfängen an immer wieder Ansätze zu einem ganzheitlichen, organischen Wahrnehmen und Erkennen. Wissenschaftliche Anerkennung konnten diese Ansätze nach dem modernen Wissenschaftsverständnis allerdings kaum finden. Das hat vielfältige Gründe. Einerseits war bei der Entwicklung der neuzeitlichen Naturwissenschaft im 16. Jahrhundert der mechanistische Ansatz wohl geeigneter, den Menschen aus dem Eingebettetsein in die Natur und in ein religiöses Weltbild zur freien, aufgeklärten Selbständigkeit zu bringen und ein unabhängiges, experimentelles Forschen gegen die das Weltbild beherrschende kirchliche Autorität durchzusetzen; andererseits war und ist die technische Umsetzung der auf der materiellen Ebene gewonnenen Erkenntnisse außerordentlich erfolgreich. Der Nutzen einer Erkenntnis des Lebendigen scheint dagegen weniger deutlich zu sein.
Besonders um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Frage nach dem Lebendigen ein wichtiges Thema. Zu dieser Zeit entstanden in der Geisteswissenschaft mit Henri Bergson, Rudolf Steiner und vielen anderen wichtige Impulse zu einem organischen Denken und einer Lebensphilosophie. In der Biologie waren es vor allem die Entwicklungsbiologen Hans Driesch, Hans Spemann und Alexander Gurwitsch, die mit ihren Forschungen und Konzepten neue Perspektiven zum Lebendigen eröffneten. Auch die Physik dieser Zeit kam mit Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr und den folgenden Quantenphysikern zu revolutionär neuen Erkenntnissen, die eine Analogie zum Lebendigen aufwiesen, was besonders von Alfred North Whitehead ausgearbeitet wurde. Auf diese Epoche des Aufbruchs und diese Persönlichkeiten um die Jahrhundertwende wird im Besonderen eingegangen werden.
Die revolutionären Erkenntnisse der Quantenphysik wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Maxwells Feldtheorie vorbereitet. Auch diese physikalische Theorie schien für ein Verständnis des Lebendigen von Nutzen zu sein, was besonders durch die Biologen Alexander Gurwitsch und Rupert Sheldrake untersucht wurde. Da dieser Ansatz im Augenblick gerade sehr kontrovers diskutiert wird, werden die Entwicklung und das Potenzial einer Feldtheorie des Lebendigen im Folgenden besonders beleuchtet werden.
Erstaunlich ist, dass von Aristoteles an über Kant, Goethe, Steiner, Bergson bis hin zum Quantenphysiker Heisenberg immer wieder die Kunst, die künstlerische Wahrnehmung, die ästhetische Urteilskraft als wichtiger Zugang für eine Erweiterung der Naturwissenschaft gesehen wurde. Auch dieser Aspekt wird besondere Beachtung finden.
Ohne Zweifel ist es in unserer Zeit, in der die Front der Wissenschaft bei der Erforschung und Handhabung des gestaltenden Lebendigen angekommen ist, dringend erforderlich, eine dem Lebendigen angemessene Sichtweise und Wissenschaftsmethodik zu entwickeln, vielleicht in dem Sinne, wie Goethe sie im folgenden Zitat andeutet: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.«1 Womöglich befinden wir uns ja nun in der »hochgebildeten Zeit«, die Goethe für eine Steigerung des geistigen Vermögens in der Wissenschaft für erforderlich hielt.
1 HA, Bd. 12, S. 435.
Unsere menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten sind außerordentlich vielfältig: Mal lauschen wir in der Philharmonie den Sinfonieklängen eines Orchesters, mal beobachten wir am Abendhimmel einen Sonnenuntergang, mal stoßen wir uns an einer Kante den Kopf. Jedesmal ist unser Bewusstsein auf einen bestimmten Sinn fokussiert. Über das Ohr nehmen wir die akustische, über das Auge die optische, über den Körper die physische Welt wahr. Über unsere Sinneswahrnehmungen treten wir in Beziehung zur Außenwelt. Eine gemeinsame Wirklichkeit entsteht, wenngleich unser Bewusstsein von einer uns selbstverständlich erscheinenden Trennung vom Objekt geprägt ist.
Alle Ebenen der Wahrnehmung sind im Wachzustand gleichzeitig vorhanden. Sie wirken zusammen und ergänzen sich gegenseitig. Insgesamt bilden sie den äußeren Teil unserer Erlebnis- und Erfahrungswelt. Unser gerichtetes Bewusstsein kann sich schwerpunktmäßig auf eine dieser Ebenen konzentrieren. Ist es auch möglich, den Fokus auf eine Wahrnehmung der Ebene des Lebendigen zu konzentrieren? Ist uns überhaupt ein Sinn für eine solche Wahrnehmungsmöglichkeit gegeben?
Wir bringen unseren Sinneseindrücken viel Eigenes entgegen. Nur dadurch wird der Klang des Orchesters zum Musikerleben, nur dadurch wird der Sonnenuntergang zum Farb- und Stimmungserlebnis, nur dadurch wird das Kopfstoßen als Schmerz empfunden. Dieses Entgegenbringen leistet eine Messapparatur nicht. Eine Messapparatur kann also unser menschliches Wahrnehmen nie ersetzen. Wohl kann sie die Frequenz verschiedener Töne angeben, die Wellenlänge des roten Lichts der Abendsonne messen oder den Bewegungsimpuls eines Zusammenstoßes bestimmen. Dies ist die vom Menschen abgelöste Wahrnehmungsweise der heute üblichen Naturwissenschaft, die trotz grundlegend anderer Erkenntnisse der Quantenmechanik immer noch von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht.
Eine Frequenz ist natürlich etwas völlig anderes als ein Ton. Es ist eine nicht der akustischen Welt zugehörige, aber daraus abbildbare oder zum Beispiel als Schwingen einer Seite sichtbare Eigenschaft eines Tons. Frequenz, Wellenlänge, Bewegungsimpuls – dies alles ist unserem Erleben völlig fremd. Es handelt sich dabei um abstrakte Messwerte, die allerdings einem physikalisch Gebildeten durchaus bestimmte Informationen geben können. Diese Informationen zu Frequenzwerten sind allerdings etwas völlig anderes als das Klangerlebnis einer Sinfonie.
Wie lässt sich das hier Dargestellte auf die Wahrnehmung von Lebenskräften übertragen? – Jeder hat wahrscheinlich schon einmal die Erfahrung völliger Erschöpfung gemacht, vielleicht nach einer langen Bergbesteigung, nach einem Marathonlauf oder einfach nach einem anstrengenden Arbeitstag. Man fühlt sich dann völlig ausgelaugt, mit allen Kräften am Ende und möchte sich nur noch fallen lassen. Der Körper ist schwer, müde, völlig ohne Spannkraft. Richtet man das Bewusstsein auf dieses den gesamten Körper umfassende Gefühl des Ausgelaugtseins, so hat man eine intensive Wahrnehmung des Fehlens von Lebenskräften.
Das Gegenteil, frische, starke Lebenskräfte, ist auch wahrnehmbar, wenngleich einem diese Wahrnehmung schwerfällt. Ein Mangel ist dem Bewusstsein für gewöhnlich leichter zugänglich als eine Fülle. Doch auch hier wird jeder vermutlich schon einmal den Zustand großer Motivation, überschäumender Lebenskräfte, Schwung, Spannkraft und Frische gespürt haben.
Kann man die Stärke von Lebenskräften auch materialistisch-wissenschaftlich erfassen? Ohne Zweifel – würden Mediziner, Biologen und Chemiker antworten. Nach einem Marathonlauf ließe sich die veränderte Herzaktivität über ein EKG messen. Laktatkonzentration, Blutzuckergehalt, Sauerstoff- und Kohlenstoffdioxidgehalt im Blut würden sich ebenfalls leicht feststellen lassen. Damit hätte man schon eine Reihe von charakteristischen, aussagekräftigen Messwerten, die dem Mediziner aufgrund von Erfahrungswerten einen erschöpften Körper anzeigen würden. Vielleicht ließe sich sogar über die Bestimmung der Konzentration des Glückshormons Serotonin eine Aussage über die psychische Verfassung des Marathonläufers machen. Dies alles kann die heutige Wissenschaft ohne Probleme leisten. Und doch kommt sie an das tatsächliche Erlebnis der Erschöpfung überhaupt nicht heran. Diese kann nur vom Marathonläufer selber erlebt werden. Die Wahrnehmung der eigenen Lebenskräfte ist eine völlig andere Welt als die Summe der medizinischen Messwerte, genauso wie die Summe von Frequenzangaben etwas völlig anderes ist als das Hören und Erleben einer Sinfonie. Nun ist natürlich das Hören und Erleben eines musikalischen Werkes das eigentlich Bedeutsame. Die Abfolge von Frequenzwerten ist nur eine abstrakte, lebensfremde Aufreihung von Zahlenwerten, die höchstens dem Intellekt für eine Analyse dienen können.
Ebenso können EKG und Blutwerte ausgewertet und damit durchaus Aussagen über den Zustand eines Marathonläufers gemacht werden. Auch eine potenzielle Gesundheitsgefährdung des Läufers kann diagnostiziert werden, woraufhin dann vielleicht sogar lebensrettende Maßnahmen ergriffen werden können. Wissenschaftliche Messwerte können also ohne Zweifel äußerst hilfreich sein und intensive Folgen in der Realität nach sich ziehen. Das eigentlich reale Erlebnis der Erschöpfung ist aber dennoch etwas völlig anderes. Es kann durch Analysieren all der Messwerte nicht erreicht werden. Maximal kann der Mediziner aufgrund eigener Erschöpfungserfahrungen den Zustand des Marathonläufers nachfühlen. Dieses aber wohl mehr durch Wahrnehmung des Marathonläufers als durch Wahrnehmung der Messwerte.
Die apparative Messwerterfassung ist also dem gesamten Erlebnispotenzial des Menschen gegenüber eine sehr verarmte und reduzierte Wahrnehmungsweise, wenngleich sie dennoch, wie am Beispiel des lebensgefährlich erschöpften Marathonläufers gezeigt, durchaus erhebliche Vorteile und Nutzen bringen kann. Sie ist prägend für die heutige Forschung. Aus dieser Forschung heraus werden Theorien entwickelt, die dann wieder die Grundlagen für neue Messgeräte und neue Technik bilden. Über eine solche reduktionistische Sichtweise hinauszugehen, ist folglich für die etablierte Wissenschaft kein einfacher Schritt. Vielleicht könnte er leichter von Menschen getan werden, die mehr im praktischen Umgang mit dem Lebendigen wahrnehmend und handelnd tätig sind, wie zum Beispiel Bauern, Gärtner oder auch erfahrene Ärzte.
Der Reduktionismus ist in der bisherigen Wissenschaft generell ein Problem. Im Bereich des Lebendigen wirkt er sich allerdings verheerend aus, denn hier führt er dazu, dass diese, wie gezeigt durchaus wahrnehmbare Ebene der Lebenskräfte, grundsätzlich ausgeblendet oder sogar ignoriert wird.
Natürlich darf sich ein Erforscher des Lebendigen nicht auf die Wahrnehmung eigener Befindlichkeiten beschränken. Die oben dargestellte Empfindung von Frische oder Müdigkeit sollte nur einen gut nachvollziehbaren Einstieg in die Wahrnehmung eigener Lebenskräfte bilden. Eine wissenschaftliche Wahrnehmung der gestaltenden Kräfte des Lebendigen erfordert einen weitergehenden Ansatz. Dies wird im Folgenden deutlich werden.
Ein Paradigmenwechsel, also ein Wechsel der grundlegenden Wissenschaftskriterien und Wissenschaftsmethodik, wird seit einigen Jahren immer stärker gefordert. Die Biologie müsse Leitwissenschaft werden – so lautet die Forderung von Biologen und Wissenschaftsphilosophen. Das ist völlig richtig, macht allerdings nur dann Sinn, wenn die Biologie sich auch wirklich ihrer eigentlichen Aufgabe zuwendet, nämlich der Wahrnehmung und Erforschung des gestaltenden Lebendigen und zwar auf der Ebene der gestaltenden Kräfte selbst und nicht nur auf der Ebene der bereits gestalteten Materie. Tatsächlich ist es im Augenblick so, dass die moderne Molekularbiologie den mechanistischen Ansatz eher weiter festigt, als dass sie zu einer neuen Betrachtungsweise des Lebendigen führt.
Wie noch gezeigt werden wird, eröffnet eine organische Betrachtungsweise neue Möglichkeiten für eine völlig neue Weltsicht und für ein völlig neues Handeln. Die Art, die Welt zu betrachten, hat nämlich, wie schon Goethe feststellte, erhebliche Rückwirkungen auf den Betrachter selber. Eine Erweiterung des mechanistischen Weltbildes zu einem umfassenderen organischen Weltbild kann daher auch den Menschen selber im Laufe der Zeit verändern.
Um sich dem Lebendigen als eigener Ebene gedanklich anzunähern und zu einem organischen Weltbild zu kommen, muss man nicht ganz neu anfangen. Ganz im Gegenteil, seit der Antike hat man in vielfältiger Weise versucht, das Lebendige philosophisch, biologisch oder gar von der Physik her zu verstehen – und es liegt eine Fülle von interessanten Ideen, Gedanken, Forschungsergebnissen und Theorien vor. Diese unterschiedlichen Wege der Erkenntnis exemplarisch in ihrer geschichtlichen Abfolge darzustellen, bildet den Hauptteil dieses Buches. Um einem Wissenschaftsanspruch gerecht zu werden, ist es dabei notwendig, dass wir uns weit in den Bereich der gedanklichen Abstraktion hinein bewegen. Tatsächlich führt jegliche Abstraktion eher vom Lebendigen weg. Sie führt aber auch zu einer gedanklichen Klarheit, die den weiteren Weg der Wissenschaft erleuchten kann. Im Resümee wird dann am Ende dieses Buches versucht, die gewonnene gedankliche Klarheit mit der lebensgesättigten eigenen Erfahrungswelt zu verbinden und einen aus all dem Dargestellten resultierenden Weg zu einem Erahnen des Lebendigen aufzuzeigen.
Bekanntermaßen hat die abendländische Philosophie ihre Wurzeln in der griechischen Antike. Hier haben die wesentlichen Weichenstellungen für unser heutiges Denken stattgefunden. Auch ein organisches Denken, soweit es als Philosophie entwickelt und überliefert wurde, hat hier seinen Ursprung.
Bereits vor der Hochblüte der griechischen Philosophie, im 4. Jahrhundert v. Chr., hatte eine Veränderung des Weltbildes, nämlich der Übergang vom Mythos zum Logos, stattgefunden. Das Miterleben der überlieferten mythologischen Erzählungen der Vergangenheit und der umgebenden Natur war schon von den Vorsokratikern durch selbstständiges, zunehmend Subjekt und Objekt trennendes Denken ersetzt worden. Verschiedene philosophische Schulen hatten sich gebildet, und die Grundfragen der Philosophie waren aufgeworfen worden. Platon hatte einen weiteren, entscheidenden Schritt auf dem Weg vom kosmologischen Erleben des Menschen zur menschenbezogenen Philosophie getan: Er hatte eine Ideenwelt postuliert, deren Schattenwurf unsere äußere Welt darstellen sollte.
In dieser Situation betrat nun Aristoteles die Bühne. Als 17-Jähriger wurde er 367 v. Chr. in Platons Akademie aufgenommen. Zunächst beschäftigte er sich mit den damals gängigen Gedanken über Mathematik, Rhetorik und Logik. Nach und nach entwickelte er dann zu fast allen philosophischen Fragen sein eigenes, teils rein gedankliches, teils auch schon auf Empirie gegründetes philosophisches und naturwissenschaftliches Lehrgebäude. Dabei ging er erheblich konkreter und erdverbundener an die physische Welt heran als sein Lehrmeister Platon. Von dessen Sichtweise einer selbstständigen, von der erlebten Wirklichkeit abgetrennten Ideenwelt setzte er sich deutlich ab. Von den erstaunlicherweise schon damals recht einflussreichen Atomisten und Materialisten hatte er sich schon vorher distanziert. Anders als diese betrachtete er die Natur weniger als das Geschaffene, sondern vielmehr als das Schaffende selbst. Dieses Schaffende selbst ist bei Aristoteles allerdings nicht, wie bei Platon, abgelöster ideeller Natur, sondern ganz konkret im Physischen tätig und nur im Zusammenhang mit der physischen Welt existent.
Aristoteles unterscheidet sehr klar die belebte von der unbelebten Natur. Diese für ihn auch von der Erkenntnisart her grundlegende Unterscheidung wird in den über zwei Jahrtausenden nach ihm kaum wieder so deutlich formuliert. In seiner Schrift »De Anima« (»Über die Seele«), in der er die unterschiedliche Beseeltheit der verschiedenen Naturreiche behandelt, widerlegt er zunächst die idealistischen und materialistischen Vorstellungen seiner Vorgänger und entwickelt dann seine eigene Sichtweise der belebten Welt. Nur eines übernimmt er von Platon und den Vorsokratikern: Auch für ihn ist völlig offensichtlich, dass die belebte Welt sich als beseelt von der unbelebten Welt als unbeseelt grundsätzlich unterscheidet. Was heute jedem Naturwissenschaftler nur schwer, wenn überhaupt, über die Lippen geht und was dieser lieber den Psychologen und Theologen überlässt, nämlich dass die belebte Welt nicht ohne Seele gedacht werden kann, das war für Aristoteles eine Selbstverständlichkeit. Die Seele ist für ihn »gleichsam Prinzip der belebten Wesen«.1 Sie ist »erste Wirklichkeit (entelecheia) eines natürlichen organischen Körpers«.2 Sein Begriff »psychē«, der als »Seele« übersetzt wird, hat also nicht unbedingt mit Gefühlsregungen oder geistigen Dimensionen zu tun, sondern ist auch schon dem bloß Belebten zuzuordnen. Die mit diesem Begriff verbundene Vorstellung unterscheidet sich also sowohl von unserer heutigen Vorstellung der Psyche wie auch der Seele. Für Aristoteles ist, wie zu der Zeit üblich, Belebtsein und Beseeltsein identisch. Allein die Qualität des Lebendigseins stellt für ihn eine Ebene dar, die über das tote Materielle hinausgeht und die er als beseelt betrachtet.
Je nach Art des Lebewesens, ob Pflanze, Tier oder Mensch, teilt er die Seele in drei Funktionen oder Kategorien ein:
Aristoteles spricht also völlig selbstverständlich von verschiedenen Ebenen des Nichtsinnlichen, wie wir es heute bezeichnen würden, an denen die verschiedenen Lebewesen in unterschiedlicher Weise teilhaben.3
Für unsere Betrachtung der Lebenskräfte ist Aristoteles’ Abhandlung zur Nährseele, der anima vegetativa, von besonderer Bedeutung. Diesen Seelenteil beschreibt er als Lebensprinzip und als Form- und Wirkursache des Lebendigen, welcher, neben der Materie als Stoffursache, real existiert. Die Form eines lebendigen Körpers ist für ihn nicht einfach eine Eigenschaft der Materie. Vielmehr ist die vegetative Seele Ursache der Formbildung des Organischen. Sie ist die organisierende Kraft des Lebendigen. Dabei ist die Seele selber nicht materiell, wohl aber mit dem Materiellen verbunden.
Dieses bildende Prinzip der vegetativen Seele vergleicht er mit dem Gestalten eines bildenden Künstlers, der Material für seine Gestaltung verwendet, aber selber die Form- und Wirkursache des Kunstwerkes darstellt. Anders als es gewöhnlich bei einem Kunstwerk der Fall ist, bilden Stoff- und Wirkursache, also Material und Form, bei einem Lebewesen aber eine untrennbare Einheit. Dabei kehrt Aristoteles das materialistische Denken geradezu um: Materie ist für ihn etwas völlig Ungeformtes, was nur der Möglichkeit nach existiert und erst durch die Form Wirklichkeit erhält: »Der Stoff existiert dem Vermögen nach, weil er zur Form gelangen kann; sobald er aber der Verwirklichung nach existiert, ist er in der Form.«4 Ein solches Denken ist für uns heute normalerweise schwer nachvollziehbar, weil wir eher die Materie als das primär Existente betrachten und die Struktur- und Formkräfte meist nachordnen oder gar ganz ignorieren, und das, obwohl vor knapp hundert Jahren die Quantenphysiker, die am tiefsten in die Materie eindrangen, zu dem gleichen Ergebnis kamen wie Aristoteles, indem sie konstatieren mussten, dass Strukturen und Beziehungen grundlegender und realer sind als Materie.
Auch zur Wahrnehmung von gestaltenden Kräften äußert Aristoteles sich: Wahrnehmungsobjekte werden mit inneren Vorstellungsbildern betrachtet, und diese »Vorstellungsbilder sind nämlich wie die Wahrnehmungsobjekte, nur ohne Materie«.5 Die Seele des Wahrnehmenden wird in der Erkenntnis mit dem Wahrgenommenen identisch und zwar der Form oder der Qualität nach, nicht der Materie nach, da »die Wirklichkeit des Wahrnehmbaren und des Wahrnehmungsfähigen eine ist, ihr Sein jedoch verschieden«.6 Form bedeutet dabei bei Aristoteles nicht die nur äußere Gestalt, sondern eher das von einer allgemeinen Idee, von einem Wesen Gestaltete. Form entsteht nicht, sie ist wie die Materie von Anfang an da und drückt sich nur im konkreten Einzelfall aus. In der »Metaphysik« erklärt Aristoteles: »Unter Form verstehe ich das begriffliche Wesen.«7
Die sinnlich wahrnehmbare Form wird vom Wahrnehmungssinn erfasst, die damit identische intelligible Form (lat. intelligibilis - geistig erkennbar) wird von der Vernunft erfasst. An anderer Stelle spricht Aristoteles allgemein über die Wahrnehmung: »Die Wahrnehmung ist das Aufnahmefähige für die wahrnehmbaren Formen ohne die Materie, wie das Wachs vom Ring das Zeichen (Siegel) aufnimmt ohne das Eisen oder das Gold (des Ringes, d. Verf.).«8 Nicht das Materielle als konkrete Größe, sondern das »Zeichen«, also der Inhalt, die übergeordnete allgemeine Gestalt oder Qualität wird wahrgenommen: »Das eigentliche Sein des Wahrnehmungsfähigen wie auch der Wahrnehmung ist jedoch nicht Größe, sondern ein gewisser Begriff und Vermögen jenes.«9 Über 2000 Jahre später greift der französische Philosoph Henri Bergson diese Gedanken des Aristoteles wieder auf und beschreibt in dem Zusammenkommen von Qualitäten äußerer Wahrnehmungsobjekte mit den Erinnerungen innerer Bilder die Möglichkeit der Verbindung von Materie und Geist.
Aristoteles kommt zu der Frage, »warum die Pflanzen nicht wahrnehmen, obwohl sie doch einen Seelen-Teil haben und von dem Tastbaren selbst etwas erleiden […]. Der Grund davon ist nämlich der, dass sie keine Mitte und kein derartiges Prinzip haben, das die Formen des Wahrnehmbaren aufzunehmen vermag.«10 Neben der vegetativen Seele ist beim Wahrnehmen also ein weiterer Seelenteil notwendig, der die Qualität einer Mitte beziehungsweise eines Innenraums hat.11 Dieser Seelenteil findet sich erst beim Menschen und beim Tier mit ihrer sensitiven Seele. Der Mensch kann zusätzlich die wahrgenommene Form als intelligible Form nachbilden. Dieses Nachbilden wird von Aristoteles an ganz anderer Stelle genauer betrachtet. In seiner Schrift »Poetik« nimmt das Miterleben und Nachbilden des Zuschauers, der ein Theaterstück erlebt, eine zentrale Stellung ein. Theater, so fordert Aristoteles, muss den Zuschauer ganz mitreißen, so dass ihm nicht die Möglichkeit bleibt, Distanz zu wahren. Er muss seelisch die Läuterung der tragischen Gestalten durch innerliche Nachahmung mitvollziehen. Dieses Nachahmen, griechisch Mimesis genannt, ist dem Menschen angeboren: »Denn sowohl das Nachahmen selbst ist dem Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat.«12 Durch Nachahmung kommt ein Künstler zum künstlerischen Schaffensprozess, was nicht nur für die Schauspielkunst, sondern auch für die Malerei und die plastizierende Kunst gilt.
Zwar schreibt Aristoteles, dass der Mensch seine Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt, er dem Wahrgenommenen Vorstellungsbilder entgegenbringt13 und die Vernunft durch Bildung der intelligiblen, also nur von der Vernunft erfassbaren, Form mit der wahrnehmbaren Form identisch wird. Dass Nachahmen aber bei der Erkenntnis des Lebendigen eine wesentliche Rolle spielt, ist in den überlieferten Schriften des Aristoteles nicht explizit ausgeführt. Es könnte aber aus dem bisher Beschriebenen hergeleitet werden.
Aristoteles zeigt verschiedene grundlegende Arten von Erkenntnismöglichkeiten auf: »Von den Grundgegebenheiten werden die einen durch Induktion (Abstrahieren einer allgemeingültigen Aussage aus mehreren konkreten Einzelfällen, d. Verf.) erkannt, die anderen durch Intuition (unmittelbare Empfindung, d. Verf.), die einen durch eine Art von Gewöhnung und andere wiederum auf andere Weise.«14 Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen hat schon immer die zwei prinzipiell unterschiedlichen Möglichkeiten gehabt, diskursiv (über das Denken und Analysieren) oder intuitiv (über die Anschauung einer Ganzheit) vorzugehen. Das diskursive, analytische Denken hat sich in der Naturwissenschaft durchgesetzt, das intuitive Denken wurde in den Bereich der Subjektivität oder gar der Mystik abgeschoben. Bei der Erforschung des Lebendigen ist aber das Erfassen einer Ganzheit, im Sinne von Aristoteles das Wahrnehmen der gestaltenden vegetativen Seele, sicherlich dem analytischen Denken zumindest zur Seite zu stellen: »Das Prinzip, wodurch wir leben und wahrnehmen, wird auf zweifache Weise benannt, wie auch das Prinzip, wodurch wir etwas wissenschaftlich verstehen: Wir nennen es einerseits die Wissenschaft, andererseits auch die Seele, denn durch jede von beiden, so sagen wir, verstehen wir wissenschaftlich.«15
Die intuitive Wahrnehmung ist nach Aristoteles der Ausgangspunkt der Wissenschaft. Wahrnehmungen können erinnert werden und ergeben in ihrem Zusammenwirken Erfahrungen. Das Allgemeine dieser Erfahrungen und die Kenntnis der erklärenden Ursachen führt dann mit Hilfe der Vernunft zur Wissenschaft. Im Gegensatz zur heutigen Wissenschaft beschränkt er seine Ursachenforschung aber nicht auf die materielle Welt: »Die Materie bewirkt doch nicht ihre eigene Veränderung. Ich meine es etwa so: weder das Holz noch die Bronze sind Ursache dafür, wenn sich eines von ihnen verändert; weder stellt das Holz ein Bett her noch die Bronze eine Statue, sondern etwas anderes ist die Ursache der Veränderung. Dies aber zu suchen bedeutet ein davon verschiedenes Prinzip suchen.«16 Dieses von der Materie verschiedene Prinzip findet er im Formprinzip oder in der Zweckursache.
Die später in Darwins Evolutionstheorie wieder auftauchende, schon von Empedokles um 450 v. Chr. geäußerte Ansicht, dass die Gestaltung der Lebewesen und ihrer Organe sich durch zufällige Variation und anschließende Selektion ergeben habe, lehnt Aristoteles kategorisch ab: »Wo nun alles sich traf, wie wenn es zu einem Zwecke entstanden wäre, da ward gerettet, was von ungefähr sich so passend zusammengefunden hatte; was sich aber nicht traf, das ging unter, und geht unter, wie Empedokles sagt […] Es kann sich aber dies nicht auf diese Weise verhalten.«17 Als Beispiel führt er die Zähne an, »die vordern scharf, geeignet auseinander zu teilen, die Backenzähne breit und tüchtig zu zerkauen die Speise«.18 Die Form passt eindeutig zur Funktion, was nach Aristoteles nicht zufällig sein kann. »Wenn nun […] dies aber nicht weder aus Zufall noch von ungefähr sein kann, so muss es wohl einen Zweck haben. […] Folglich gibt es ein Weswegen in dem, was von der Natur geschieht und ist.«19 Müsste ein Produktdesigner Zähne zum Schneiden und Kauen entwerfen, so würden diese nach Aristoteles‘ Meinung genauso ausfallen, wie die Natur sie geschaffen hat: »Und könnte […] das Natürliche nicht durch Natur, sondern durch Kunst entstehen, so würde es ebenso werden, wie es von Natur ist.«20 Für ihn ist klar, dass »von Natur zugleich und eines Zweckes wegen die Schwalbe ihr Nest macht«.21 Besonders in seinen zoologischen Studien wird immer wieder deutlich, wie tief verwurzelt diese Grundhaltung bei Aristoteles ist, dass sich nämlich die Gestaltungen des Organischen zweckorientiert auf die Funktion hin und dem Wesen des Lebewesens entsprechend ergeben.22
Im dritten Kapitel seiner »Physik« unterscheidet Aristoteles vier Ursachen:
Bei seinen Betrachtungen zur Natur fasst er meist die letzten drei Ursachen zusammen und unterscheidet im Wesentlichen zwischen Stoffursache und Formursache oder Zweckursache.
Zweckorientiertes Handeln setzt beim Menschen eine Überlegung, also eine mentale Leistung, voraus. Diese ist nach Aristoteles‘ Meinung in der Natur implizit vorhanden. »Es kann aber Bezug auf einen Zweck haben sowohl was nach Überlegung geschieht als auch was von Natur.«24 Die Zweckorientiertheit der Naturprozesse abzulehnen, weil man diesen kein Überlegen zusprechen möchte, ist ihm völlig fremd: »Sonderbar aber ist es, nicht glauben zu wollen, dass etwas eines Zweckes wegen geschehe, wenn man nicht das Bewegende überlegen sieht.«25 Ein Überlegen ist im Lebendigen nicht notwendig, da der Zweck einfach in der Natur enthalten ist und die Natur nur ihrem natürlichen Zwecke nachgeht: »Wie nämlich die Vernunft um eines Zweckes willen wirkt, so in gleicher Weise auch die Natur, und das ist ihr Zweck.«26
Obwohl Aristoteles immer wieder den Vergleich zwischen Form und Stoff bei einem Kunstwerk und bei einem lebendigen Organismus zieht, unterscheidet er doch sehr deutlich zwischen einer zweckorientierten künstlerischen Gestaltung einer Skulptur, die von außen das Material formt, und einer zweckorientierten natürlichen Gestaltung eines Organismus, die von innen heraus einem lebendigen Formprinzip entsprechend sich materialisiert. Die Hand einer Statue ist beispielsweise etwas völlig anderes als die Hand eines lebendigen Menschen. Eigentlich dürfte sie seiner Meinung nach gar nicht als Hand bezeichnet werden, genauso wenig wie die Hand eines toten Menschen, die auch nur noch der materiellen Form nach eine Hand ist. Entscheidend ist also die Gestaltung in ihrer Lebendigkeit und ihrer Funktion. Die Form hat also nur in ihrem funktionalen Sinn ihren Zweck.27
Aristoteles sieht es als Aufgabe der Naturwissenschaft an, sowohl die Stoffursache als auch die Zweckursache zu betrachten, wobei er den Schwerpunkt allerdings auf die Zweckbetrachtung legt: »Beiderlei Ursachen hat der Naturforscher abzuhandeln; mehr aber das Weswegen, denn Ursache ist diese des Stoffes, nicht aber dieser des Endziels. Und das Endziel, das Weswegen, ist auch zugleich der Anfang von der Bestimmung und dem Begriffe.«28 Oder an anderer Stelle: »Denn seine aufgrund seiner Gestalt sich ergebende Natur ist wichtiger als seine materielle Natur.«29
Auch die bei Kant wieder auftauchende Diskussion um die Frage der Zwanghaftigkeit von Materieursache und Zweckursache wird bereits von Aristoteles abgehandelt. Wie später auch Kant sieht Aristoteles Determinismus nur im Materieprinzip: »Es ist also ersichtlich, dass die Notwendigkeit in der Natur als der Stoff und dessen Bewegung gilt.«30 Das Lebendige dagegen entsteht nicht aufgrund von Notwendigkeit, allerdings auch nicht ohne diese Notwendigkeit, die im Stofflichen existiert. Das Stoffliche ist aber nicht der Grund für das Entstehen und die Bildung eines lebendigen Organismus. Dieser ist nur in dem übergeordneten Zweckprinzip und dem Formprinzip zu finden, welche in der Seele vereinigt sind. Die Seele ist als Zweck und als Wesen Ursache der beseelten Körper. »Dass sie es als Wesen ist, leuchtet ein: denn bei allen Dingen ist die Ursache des Seins das Wesen, das Leben ist aber bei den Lebewesen das Sein, und Ursache und Prinzip hiervon ist die Seele. […] Offenkundig ist aber die Seele Ursache und Zweck.«31 Hier schließt er wieder an die gestaltende Seele an: »Wenn dies (was die Beschaffenheit oder Form ausmacht) also Seele ist oder Teil der Seele oder nicht ohne Seele […], dann muss es Aufgabe des Naturwissenschaftlers sein, über die Seele zu reden und Bescheid zu wissen, und wenn nicht über die ganze Seele, dann doch über eben das, gemäß dem das Lebewesen eine bestimmte Beschaffenheit besitzt.«32 Das, »gemäß dem das Lebewesen eine bestimmte Beschaffenheit besitzt«, wurde bereits besonders der anima vegetativa zugeschrieben. Dieser Seelenteil sollte insbesondere bei der Erforschung des Lebendigen betrachtet werden: »Es ist also klar, dass man nicht über die ganze Seele reden muss, und es ist auch nicht die ganze Seele Natur, sondern nur ein Teil von ihr oder auch mehrere Teile.«33
1 De an. I 1, 402a.
2 De an. II 1, 412b5f.
3 vgl. Stefan Bleecken, Das ganzheitliche Weltbild des Aristoteles, tabularasa, Nr 28, 2007.
4 Met Q8 1050a, zitiert nach Bleeken, 2007.
5 De an II 9, 432a.
6 De an III 2, 426a.
7 Aristoteles, Metaphysik, Lasson, 1907, S. 113.
8 De an II 12, 424a.
9 Ebenda, 424a.
10 De an II 12, 424b.
11 vgl. Stefan Bleecken, Das ganzheitliche Weltbild des Aristoteles, tabularasa, Nr 28, 2007.
12 Poet. 4, 1448b.
13 De an II 9, 432a.
14 NE, VII, 1098b 2-4.
15 De an. II 2, 414a
16 Met. A3, 984a, zitiert nach Bleeken, 2007.
17 Phys. II 8, S. 45.
18 Ebenda, S. 45.
19 Ebenda, S.45.
20 Ebenda, S.46.
21 Ebenda, S. 47.
22 z. B. Part. An. II 17, 660a.
23 vgl. Stefan Bleecken, Das ganzheitliche Weltbild des Aristoteles, tabularasa, Nr 28, 2007.
24 Phys. II 5, S.39.
25 Phys. II 8, S. 48.
26 De an. II 4, 415b.
27 Part. an. I 1,640b.
28 Phys. II 9, S. 50.
29 Part an. I, 640b.
30 Phys. II 9, S. 50.
31 De an. II 4, 415b.
32 Part. an. I 1, 641a.
33 Ebenda, 641b.