In kuriosen Anekdoten
durch die Weltgeschichte
Aus dem Englischen von Katja Bendels
Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.
Copyright © Giles Milton 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015.
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
Fascinating Footnotes From History
bei John Murray (Publishers), einem Imprint der Hachette UK Company
1. Auflage
Copyright der deutschen Erstausgabe © 2020 Benevento Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull
Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Gesetzt aus der Palatino, Bodoni 72
Umschlaggestaltung: total italic, Thierry Wijnberg (Amsterdam/Berlin)
Umschlagmotiv: © jumpingsack/Shutterstock.com
Autorenillustration: © ClaudiaMeitert/carolineseidler.com
ISBN 978-3-7109-0077-8
eISBN 978-3-7109-5087-2
Vorwort
Teil I: Ganz schön kalt da draußen
Ein Toter auf dem Mount Everest
Betrunken auf der Titanic
Der Mann, der lebendig begraben wurde
Teil II: Was ich noch nicht über Adolf Hitler wusste
Hitlers englische Freundin
Hitlers amerikanischer Neffe
Als Hitler kokste
Teil III: Getarnte Damen
Agatha Christies rätselhaftester Fall
Eine Frau steht ihren Mann
Eine gefährliche Mission
Teil IV: Als Stalin eine Bank ausraubte
Der rätselhafte Tod des Josef Stalin
Der Rote Frankenstein
Als Stalin eine Bank ausraubte
Teil V: Bemerkenswert seltsam
Der Eismann
Der gestohlene Charlie Chaplin
Der Mann, der nie starb
Teil VI: Gegen die Regeln
Das fehlende Glied in der Kette86
Die geheimste Adresse der Welt
Der Mann, der die Mona Lisa entführte
Teil VII: Als Lenin sein Hirn verlor
Als Lenin sein Hirn verlor
Ins Affenhaus
Menschliche Freakshow
Teil VIII: Pech gehabt
Monsterwellen
Der letzte Posten
Chinas letzter Eunuch
Teil IX: Nicht ganz normal
Eiffels Rivale
Der Mann, der seine Frau entführte
Der lange Krieg des Hiroo Onoda
Teil X: Von Präsidenten, Päpsten und anderen Herrschern
Sir Osman von Hyderabad
Die Sklaven des Präsidenten
Das Kastanienbankett
Teil XI: Wählen Sie »M« für Mord
Wer hat Rasputin ermordet?
Inspector Dews Verdacht
Tot wie ein Dodo
Teil XII: Gesprengte Ketten
Reportage mit Hindernissen
Weg waren sie
Edwin Darlings Albtraum
Teil XIII: Als Churchill Schafe opfern ließ
Als Churchill Schafe opfern ließ
Das schwarze Schaf
Winstons Bombe
Teil XIV: Eine Frage der Identität
Das Doppelleben des Chevalier d’Eon
Wie fängt man eine Spionin
Das letzte Geheimnis des Kalten Krieges
Teil XV: Von Königen, Königinnen und Verrückten
Der Wahnsinn des King George
Wie man die Queen im Bett antrifft
Der Mann mit dem tödlichen Geheimnis
Teil XVI: Die Blase platzt
Der schlechteste Banker aller Zeiten
Die Knochenkriege
Das Doppelleben des Jonathan Wild
Literatur
Register
Über den Autor
Im Sommer 2012 tauchte in den USA eine außergewöhnliche Sammlung medizinischer Berichte auf, unter denen sich auch Aufzeichnungen von Dr. Theodor Morell, dem Leibarzt Adolf Hitlers, sowie die Notizen von vier weiteren seiner Ärzte befanden.
Auf den ersten Blick scheinen diese Dokumente kaum mehr als eine historische Fußnote zu sein, die sich in die Masse des bereits existierenden Materials über Hitler einreiht. Aber Fußnoten beinhalten nicht selten auch ein paar Edelsteine, und diese hier eröffnete ein völlig neues historisches Kapitel. Diese medizinischen Berichte belegen, dass dem Führer ein wirkungsstarker Cocktail aus Kokain, Amphetaminen, Testosteron und anderen Substanzen verabreicht wurde. Er nahm jeden Tag bis zu achtzig verschiedene Drogen, und das, während er gleichzeitig versuchte, die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Ich verbringe einen Großteil meiner Arbeitszeit in diversen Archiven, wo ich mich durch Briefe und persönliche Dokumente arbeite, so wie die von Dr. Morell. Die riesige Sammlung der nationalen Archive ist nicht vollständig katalogisiert, und so weiß man nie, was man in den einzelnen Kisten voller Dokumente finden wird. Manchmal vergehen Tage, ohne dass man auf etwas Interessantes stößt – ich vergleiche das immer mit den Schatzsuchern, die bei Ebbe mit ihren Metalldetektoren die schlammigen Ufer der Themse absuchen in der Hoffnung, einen Shilling oder Siegelring aus dem 17. Jahrhundert zu finden.
Doch Ausdauer macht sich nicht selten bezahlt, und dieses Buch – eine etwas eigenwillige Sammlung faszinierender Anekdoten der Weltgeschichte – ist das Ergebnis meiner eigenen Schatzsuche. Zwischen all dem Treibgut und Strandgut habe ich (so hoffe ich) einige Edelsteine aufgetan. Da wäre zum Beispiel der einsame japanische Soldat, der 1974 noch immer den Zweiten Weltkrieg kämpfte. Oder der britische Agent-cum-Auftragskiller, der Rasputin ermordete und dessen Geschichte wie die von Dr. Morell erst kürzlich ans Licht gekommen ist. Oder die Geschichte der schiffsbrüchigen niederländischen Seefahrer, die vermutlich den letzten lebenden Dodo verspeisten.
Ein paar dieser Geschichten klingen wirklich unglaublich. Die Schilderungen von Sun Yaoting, dem letzten Eunuchen von China, sind nicht nur schmerzlich, sondern auch ausgesprochen ergreifend. Er berichtet vom Ende der Kaiserzeit in China, als jahrhundertealte Traditionen plötzlich ihre Bedeutung verloren und Sun Yaoting feststellen musste, dass er zu den Verlierern der Geschichte gehören würde.
Ich bin schon lange davon überzeugt, dass historische Details bei dem Versuch, die Vergangenheit zu rekonstruieren, von wesentlicher Bedeutung sind. Gerade vermeintliche Nichtigkeiten können größere Ereignisse auf eine Art untermalen, wie es der grobe Pinselstrich meist nicht vermag. Die obsessive Suche der sowjetischen Wissenschaftler nach Lenins Genialität in dessen Hirn ist ein perfektes Beispiel dafür. Es lehrt uns einiges über die Neurologie in den 1920ern, die damals noch in den Kinderschuhen steckte, und noch mehr über den Persönlichkeitskult der damaligen Sowjetunion, der zu dieser Zeit seinen Anfang nahm.
Viele der Geschichten in diesem Buch erzählen von einzelnen, meist ganz normalen Menschen, die sich plötzlich in einer wahrhaft außergewöhnlichen Situation wiederfinden. Manche von ihnen wurden, wie der Eunuch Sun Yaoting, förmlich durch bedeutende geschichtliche Ereignisse hindurchgeschwemmt. Andere wurden unfreiwillig Zeuge von Katastrophen, wie Charles Joughin, der den Untergang der Titanic nicht nur überlebte, sondern auch noch eine unglaubliche Geschichte zu erzählen hatte.
Ich frage mich oft, was ich wohl getan hätte, wenn ich mich in einer ähnlichen Situation befunden hätte wie die Männer und Frauen in diesem Buch. Wäre ich ebenso cool geblieben wie Walter Harris, der Korrespondent der Times in Marokko, als er 1903 in die Gefangenschaft islamistischer Extremisten geriet? Ich bezweifle es.
Die Gefahr, heutzutage als menschliche Freakshow präsentiert zu werden wie Ota Benga, ist ebenso gering, wie lebendig begraben zu werden, was Augustine Courtauld erleben musste. Aber uns allen könnte alles passieren – wer weiß, vielleicht finden Sie sich plötzlich in einem Abenteuer wieder, das man eines Tages als eine kostbare Anekdote der Geschichtsschreibung betrachten wird.
Giles Milton
Ganz schön kalt da draußen
Schadensersatzansprüche für Tiere,
die beim Untergang der Titanic im
eisigen Wasser ertranken:
Robert W. Daniel
Eine reinrassige Französische Bulldogge mit Namen
Gamin de Pycombe: $ 750
William Carter
Ein King Charles Spaniel und ein Airedale Terrier:
$ 300
Ella Holmes White
Vier Hähne und Hennen: $ 207,87
Harry Anderson
Ein Chow-Chow: $ 50
Die Leiche war gefroren und von der Sonne ausgebleicht. Sie lag in Hangrichtung ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten im Schnee. Ihr Oberkörper war durch das Eis wie an den Berg geschweißt. Die Arme, noch immer muskulös, lagen ausgestreckt über dem Kopf.
Der Bergsteiger George Mallory war am 8. Juni 1924 zum letzten Mal gesehen worden, bevor er und Andrew Irvine bei dem Versuch, als Erste den Gipfel des Mount Everest zu erreichen, verschwanden. Ob sie ihr Ziel erreichten? Darüber wird seit nunmehr neunzig Jahren spekuliert.
Im Frühjahr 1999 gründete der Amerikaner Eric Simonson die Mallory and Irvine Research Expedition. Fünf erfahrene Bergsteiger wurden auf den Mount Everest geschickt, um die Leichen der Männer zu finden. Die Expedition hatte ein paar Anhaltspunkte, an der sie sich orientieren konnte. 1975 war der chinesische Bergsteiger Wang Hung-bao auf einer Höhe von etwa 8100 Metern über einen »englischen Toten« gestolpert. Wang berichtete seinem Kletterpartner von diesem Fund und wurde kurz darauf selbst von einer Lawine davongeschwemmt. Die exakte Position des »englischen Toten« konnte nie ermittelt werden.
Eric Simonsons fünfköpfiges Team erfahrener Bergsteiger ließ sich davon nicht beirren. Conrad Anker, Dave Hahn, Jake Norton, Andy Politz und Tap Richards waren fest entschlossen, ihre Aufgabe zu erfüllen, auch wenn ihre Erfolgschancen nur sehr gering waren. Die Suche konzentrierte sich auf eine breite Schneeterrasse in der Größe von etwa zwölf Fußballfeldern. Diese um dreißig Grad geneigte Terrasse lag auf einer Höhe von fast 8000 Metern. Die Männer wussten, wenn sie das Gleichgewicht verlören, würden sie über 2000 Meter tief bis hinunter auf den Rongbuk-Gletscher stürzen.
Am 1. Mai rief Conrad Anker, der den Hang durchkämmte, plötzlich nach seinen Kameraden. Er hatte eine Leiche gefunden, weiß wie Alabaster, die aus dem Eis hervorragte. Der Rest des Teams kam herüber und fing an, den Toten aus seiner gefrorenen Ruhestätte zu befreien. Dabei untersuchten sie seinen Körper genauer. Sein rechtes Schien- und Wadenbein waren gebrochen, der rechte Ellbogen ausgekugelt und die gesamte rechte Seite schwer verletzt. Das Sicherungsseil hatte sich fest um seinen Brustkorb geschlungen.
Es dauerte nicht lange, den Toten zu identifizieren. Tap Richards warf einen Blick in dessen Kleidung. Auf dem Namensschild stand: G Mallory. »Vielleicht war es die Höhe und der Umstand, dass wir alle unsere Sauerstoffgeräte abgelegt hatten«, sagte Dave Hahn, »aber es dauerte eine Weile, bis uns klar wurde, dass es tatsächlich George Mallory war, den wir da vor uns hatten.«
Nach wie vor blieb jedoch die Frage, ob Mallory und Irvine es bis zum Gipfel geschafft hatten. Starben sie auf dem Weg nach oben? Oder auf dem Weg nach unten? Die Männer hofften, Mallorys Kamera zu finden, denn die Experten bei Kodak hatten erklärt, dass man den Film trotz seines Alters möglicherweise würde entwickeln können. Doch als die Männer den Beutel öffneten, den Mallory um den Hals trug, lag dort nur eine Metalldose mit Brühwürfeln.
Daneben fanden sich noch ein Höhenmeter aus Messing, ein Taschenmesser, ein mit einem Monogramm besticktes Taschentuch und in einer Innentasche eine unversehrte Sonnenbrille. Die Sonnenbrille könnte ein wichtiger Hinweis darauf sein, was damals im Juni 1924 geschehen war. Nur wenige Tage vor Mallorys Versuch, den Gipfel zu erreichen, hatte sein zweiter Kletterpartner Edward Norton unter einer ernsten Schneeblindheit gelitten, weil er keine Sonnenbrille getragen hatte. Mallory hätte seine Brille nicht abgezogen, wenn er bei Tageslicht geklettert wäre. Der Umstand, dass sie sich in seiner Tasche befand, lässt vermuten, dass die beiden Männer ihren Aufstieg bei Tageslicht beendet hatten und sich nun nach Sonnenuntergang auf dem Weg nach unten befanden.
Nicht weniger interessant als die Brille war ein Briefumschlag, den man bei Mallory fand und auf dem jede Menge Zahlen notiert waren: Druckangaben der Sauerstoffflaschen, die die beiden Männer bei sich trugen. Lange war man davon ausgegangen, dass sie nicht genug Sauerstoff dabeigehabt hatten, um den Gipfel zu erreichen, doch die Zahlen zeigten, dass die Männer fünf, vielleicht sogar sechs Flaschen bei sich trugen – mehr als genug, um bis ganz nach oben zu kommen.
Noch aufschlussreicher aber war ein anderer Gegenstand, den das Suchteam bei Mallory zu finden erwartet hatte. Er hatte ein Foto seiner geliebten Frau Ruth bei sich getragen und versprochen, es auf dem Gipfel zurückzulassen. Doch das Foto war nirgends zu finden, obwohl seine Brieftasche und alle anderen Papiere unversehrt geblieben waren. Anhand dieser Hinweise rekonstruierten die Männer, was möglicherweise an dem schicksalhaften Abend im Jahr 1924 geschehen war. Es ist eine Geschichte voller Abenteuer, und sie erzählt von einer folgenschweren Fehlentscheidung, die wohl am Ende zu Mallorys Tod führte.
Es ist spät am Abend des 8. Juni. Die Dunkelheit ist schon lange hereingebrochen, und die beiden Männer sind noch immer hoch oben im Berg. Sie sind erschöpft und haben möglicherweise Probleme mit dem Sauerstoff. Also versuchen sie verzweifelt, wieder in sicherere Höhen hinab zu gelangen. Als sie die Sequenz aus Marmor und Schiefer, das berüchtigte »Gelbe Band«, überqueren, rutscht einer der beiden aus.
Es kann gut Mallory gewesen sein. Falls es so war, dann hat das Seil seinen Fall abgefangen und ihn gegen einen Felsen geschleudert. Er bricht sich die Rippen und kugelt sich den Ellbogen aus. Doch das Seil hält ihn, sodass er nun in der Luft hängt. Doch dann reißt es plötzlich. Er fällt in die Dunkelheit, landet auf einem steilen Schneebrett und bricht sich dabei den Unterschenkel. Doch auch hier bleibt er nicht liegen. Die Schwerkraft reißt ihn mit rasender Geschwindigkeit die Nordseite des Berges hinunter.
Mallory hat Todesangst und unglaubliche Schmerzen, doch er ist noch bei Bewusstsein und versucht sich irgendwie zu retten. Verzweifelt krallt er seine Finger in das Eis. Immer schneller rast er den Abhang hinab, bis er mit der Stirn gegen einen scharfkantigen Felsen prallt, der ihm ein Loch in den Schädelknochen schlägt. Er bleibt liegen und verliert das Bewusstsein. Schmerz und Unterkühlung überwältigen ihn. Nur wenige Minuten später ist George Mallory tot.
Seinen Partner Andrew Irvine hat mit ziemlicher Sicherheit das gleiche Schicksal ereilt. Er ist gefallen, schwer verletzt und ebenfalls unterkühlt. Nur wenige Minuten nach Mallory erliegt auch er der eisigen Kälte. Aber haben die beiden es bis zum Gipfel geschafft? Waren sie die Ersten, denen es gelungen war, den Mount Everest zu besteigen? Eric Simonsons Team kann diese Frage nicht zweifelsfrei beantworten. George Mallorys Leiche zu finden war ein außergewöhnlicher Erfolg, doch dieses Rätsel wird wohl ungelöst bleiben, bis vielleicht eines Tages jemand die Kamera findet.
Nur einer fühlte sich in der Lage zu entscheiden, ob Mallory und Irvine den Titel »Bezwinger des Mount Everest« verdient haben oder nicht. Mallorys Sohn John war erst drei, als er seinen Vater verlor. Ihm lieferte der Umstand, dass George Mallory nicht wieder zurückkehrte, die Antwort, die er brauchte. »Für mich«, sagte er, »bedeutet einen Berg zu bezwingen, lebend von ihm zurückzukommen. Wenn du nicht wieder runterkommst, hast du die Aufgabe nur zur Hälfte erfüllt.«
Es war der 14. April 1912, und Charles Joughin lag nach einem harten Arbeitstag endlich in seiner Koje und schlief. Plötzlich wurde er von einem massiven Stoß aus dem Schlaf gerissen. Er spürte, wie das Schiff unter ihm erzitterte. Dann, nach einer kurzen Pause, fuhr es weiter.
Joughin wunderte sich, machte sich aber keine weiteren Gedanken. Er wusste, dass man Eisberge im Wasser gesichtet hatte, und dass Kapitän Edward Smith einen anderen Kurs angeordnet und die Titanic auf eine weiter südlich gelegene Route gelenkt hatte, um eine mögliche Katastrophe zu vermeiden. Da Joughin davon ausging, dass die Gefahr vorüber war, versuchte er wieder einzuschlafen. Doch gegen 23.35 Uhr, nur wenige Minuten nach dem Stoß, wurde er auf die Brücke gerufen und erhielt äußerst unwillkommene Informationen.
Kapitän Smith hatte ein Team unter Deck geschickt, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Die Männer waren mit der schrecklichen Nachricht zurückgekehrt, dass das Schiff einen Eisberg gerammt und die Heftigkeit des Aufpralls den Schiffsrumpf massiv eingedellt hatte. Über eine Länge von gut neunzig Meter waren die Nieten aus der Außenwand gedrückt worden, durch die nun Tonnen von Meerwasser ins Schiff eindrangen.
Man hätte erwartet, dass diese Nachrichten Panik auslösten. Das taten sie aber nicht. Man hielt die Titanic für unsinkbar. Sie verfügte über wasserdicht abzuschottende Abteilungen, was bedeutete, das selbst ein ernster Schaden am Schiffsrumpf eingedämmt werden konnte. Doch wie sich nun im Augenblick der Krise zeigte, waren diese wasserdichten Abteilungen falsch konstruiert worden. Als sie sich füllten, drückten sie den Bug des Schiffes unter Wasser, was dazu führte, dass Letzteres nun auch in andere Teile des beschädigten Schiffes eindringen konnte. Eine vierte, fünfte und sechste Abteilung waren bereits vollgelaufen, und Kapitän Smith erkannte, dass die Titanic untergehen würde.
Jetzt wurde Joughin, der Erste Bäcker des Schiffes, aktiv. Er weckte seine Kollegen, und gemeinsam begannen sie, alle Brote, die sie finden konnten, zusammenzutragen und jeweils vier Laibe in jedes der Rettungsboote zu legen. Ihnen war bereits klar, dass es nicht genug Boote für alle Passagiere gab. Auf der Titanic befanden sich 2223 Menschen, doch auf den Rettungsbooten war nur Platz für 1178.
Charles Joughin erkannte, dass er als Mitglied der Crew keinen Platz in einem der Boote bekommen würde. Als das Schiff sich gefährlich zur Seite neigte, beschloss er deshalb, sich bewusstlos zu trinken. Er stieg nach unten in seine Kabine, trank eine enorme Menge an Whiskey (einem Bericht zufolge leerte er zwei Flaschen) und kehrte dann an Deck zurück, wo er mit alkoholgetränkter Energie begann, Frauen in die Rettungsboote zu schieben. Als das erledigt war, wankte er über das bereits extrem schräg stehende Promenadendeck und überlegte, wie lange es wohl dauern würde, bis das Schiff unterging. Er warf gut fünfzig Liegestühle sowie einige weitere Stühle und Kissen über Bord in der Hoffnung, dass die Menschen im Wasser sie möglicherweise als Floß verwenden konnten.
Bald darauf fand auch er sich im eisigen Atlantik wieder. »Ich gelangte auf die Steuerbordseite des Poopdecks«, erinnerte er sich später, »und war im Wasser. Ich glaube nicht, dass mein Kopf überhaupt unter Wasser kam. Ich glaubte, Wrackteile zu sehen.« Joughin arbeitete sich in Richtung der schwimmenden Wrackteile, wobei er dank des Alkohols in seinem Blut die Kälte nicht spürte, und »stieß auf ein Notboot B mit Lightoller und fünfundzwanzig Mann drin«. Doch es gab keinen Platz mehr für Joughin. »Ich versuchte hinaufzuklettern«, sagte er, »doch sie stießen mich wieder runter. Aber ich blieb in der Nähe. Ich schwamm rüber auf die andere Seite, und Koch Maynard, der mich erkannte, half mir und hielt mich fest.«
Es war ein Wunder, dass Joughin zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch lebte. Die Wassertemperatur lag bei minus zwei Grad Celsius. Die meisten anderen Passagiere und Crewmitglieder im Wasser waren innerhalb von einer Viertelstunde an Unterkühlung gestorben. Doch Joughin hielt es noch vier weitere Stunden aus, bevor er endlich auf ein Rettungsboot gezogen wurde. Gemeinsam mit den anderen Überlebenden wurde er schließlich von der RMS Carpathia gerettet, die um 4.10 Uhr die Unglücksstelle erreichte. Joughin war sich sicher, dass er sein wundersames Überleben dem hohen Alkoholgehalt in seinem Blut verdankte. 1517 andere Passagiere und Crewmitglieder hatten weniger Glück und starben nüchtern in den kalten Fluten.
Der Untergang der Titanic war nicht Joughins einziges Schiffsunglück. Er war auch an Bord der SS Oregon, als diese vor Long Island sank, und überlebte auch das. Allerdings ist nicht bekannt, ob er sich auch damals mit ein oder zwei Flaschen Whiskey gestärkt hat.
Augustine Courtauld, ein junger Londoner Börsenmakler, langweilte sich in seinem Job. Der Papierkram langweilte ihn. Seine Kollegen langweilten ihn. Er brauchte dringend mehr Aufregung in seinem Leben.
Im Jahr 1930 erfuhr er, dass Freiwillige für eine Expedition gesucht wurden, die auf der Icecap Station, einer Wetterstation auf dem Grönländischen Eisschild, Wetterbeobachtungen durchführte. Die Station lag 2600 Meter über dem Meeresspiegel und 180 Kilometer westlich der Basisstation der Expedition. Und dort war es sehr, sehr kalt. Wetterdaten aus dem arktischen Grönland waren Mangelware und wurden dringend gebraucht. Die schnellste Flugroute von Europa nach Nordamerika führte über den Eisschild, doch niemand wusste, wie das Wetter dort war, vor allem in den Wintermonaten. Augustine Courtauld beschloss, es herauszufinden.
Mit einem Versorgungstrupp, dessen Aufgabe es war, die Wetterstation mit genügend Vorräten für zwei Personen auszustatten, reiste er von der Küste ins Landesinnere. »Doch die widrigen Wetterbedingungen hatten die Reise so weit verzögert, dass der größte Teil der Lebensmittelvorräte, die für die Station gedacht gewesen waren, bereits auf dem Weg dorthin aufgebraucht wurden. Es sah so aus, als würde man die Station aufgeben müssen«, schrieb einer der Männer, die den Versorgungstrupp begleiteten.
Courtauld dachte, es sei doch eine Schande, die ganze Expedition abzublasen, nur weil es nicht genug zu essen gab. »Ich rechnete aus, dass ich alleine fünf Monate lang überleben konnte«, schrieb er später. »Und da ich schon Frostbeulen an den Zehen hatte, war ich nicht besonders erpicht darauf, die ganze Reise wieder zurück zu machen. Also beschloss ich, alleine dort zu bleiben und die Wetterstation am Laufen zu halten.«
Frostbeulen an den Füßen sind ein etwas exzentrischer Grund, um mitten im Winter fünf Monate lang allein auf dem Grönländischen Eisschild auszuharren, aber für Courtauld machte es Sinn. So konnte er zumindest eine Weile die Füße hochlegen. Kurz nachdem er sich in seinem neuen Zuhause eingerichtet hatte, begann es zu schneien. Heftig. Courtaulds kleines Zelt wurde von Schneeverwehungen bedeckt, bis nur noch die Spitze des Lüftungsrohrs hinausschaute. Schon bald war er komplett eingeschneit und somit praktisch lebendig begraben.
Sein Vorrat an Lebensmitteln und Brennstoff ging rapide zur Neige, und er hatte keine Möglichkeit, mit der Außenwelt in Kontakt zu treten. Doch er blieb optimistisch, dass ein Rettungstrupp ihn über kurz oder lang schon finden würde. »Mit jedem Monat, der verging, ohne dass jemand kam, wurde ich zuversichtlicher, dass es bald so weit sein würde«, schrieb er später. »Als ich vollständig eingeschneit war, hatte ich keinen Zweifel mehr daran, was mir großen Trost spendete. Ich werde nicht versuchen, es zu erklären, sondern es einfach als Tatsache betrachten, die mir damals absolut klar war: Wenn ich nicht in der Lage war, mir selbst zu helfen, würde eine äußere Kraft für mich arbeiten, denn es war mir nicht vorherbestimmt, meine Knochen auf dem Grönländischen Eis zu lassen.«
Er verzagte nicht. Stattdessen träumte er von einem knisternden Feuer und von seiner Frau Mollie, die für ihn sang. Und er betete, dass Gino Watkins, mit dem er gemeinsam zum Basiscamp gereist war, schon bald zu seiner Rettung kommen möge. »Ich war voller Zuversicht«, schrieb er. »Ich wusste, dass Gino mich nicht im Stich lassen würde, selbst wenn er auf besseres Wetter warten musste. Mir war klar, dass man mich hier nicht sterben lassen würde. Ich spürte die Arme des Herrn, die mich trugen.«
Am 5. Mai, exakt fünf Monate, nachdem Courtauld allein im Eis zurückgelassen worden war, gab sein Gaskocher auf. »Kurz darauf hörte ich einen Lärm wie bei einem Fußballspiel über mir. Sie waren gekommen! Ein Kreis aus strahlendem Sonnenlicht erschien auf dem Dach, und ich hörte Ginos Stimme, die zu mir sagte: ›Hier, zieh die an.‹ Er reichte mir eine Schneebrille. Wie anders die Welt plötzlich aussah im Vergleich zum letzten Mal, als ich sie gesehen hatte! Es war Mai und strahlender Sonnenschein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so sein würde.
Sie verloren keine Zeit damit, mich herauszuziehen, und ich stellte fest, dass es mir ganz gut ging. Nur meine Beine waren ein wenig schwach. Gleich am nächsten Tag machten wir uns auf den Rückweg. Ich fuhr den ganzen Weg auf einem Schlitten und las den Graf von Monte Christo. Die Bedingungen waren gut, und nach nur fünf Tagen erreichten wir unser Ziel. Auf dem Hinweg hatten wir sechs Wochen gebraucht.«
Courtauld kehrte nicht wieder in sein altes Leben als Börsenmakler zurück. Stattdessen unternahm er eine fast tausend Kilometer lange Reise entlang der bis dato noch nicht kartierten grönländischen Küste, und zwar in einem etwa fünfeinhalb Meter langen offenen Walfängerboot. Das war interessanter, als in London am Schreibtisch zu sitzen.
Was ich noch nicht über Adolf Hitler wusste
Göring has only got one ball,
Hitler’s are so very small,
Himmler’s so very similar,
And Goebbels has no balls at all.
Göring hat nur eins von zwei‘n,
Hitlers, die sind winzig klein,
Himmlers seh‘n auch nicht anders aus,
Und Goebbels? Bei dem sind die Eier aus.
Originalfassung des Lieds
»Hitler Has Only Got One Ball«,
etwa August 1939,
vermutlich von Toby O’Brien,
Pressesprecher des British Council
Unity Mitford war eine unscheinbare Frau mit schlechten Zähnen und dickem Bauch. Doch ihr Aussehen hatte sie nie sonderlich bekümmert, denn sie wusste, dass sie den Mann ihrer Träume nicht so sehr durch Zurschaustellung ihrer körperlichen Reize gewinnen konnte, sondern vielmehr indem sie offen ihre Meinung kundtat.
Im Sommer 1934 reiste sie nach München in der Hoffnung, ihrem Idol zu begegnen: Adolf Hitler. Obwohl er der deutsche Reichskanzler war, sah man ihn nicht selten in der Öffentlichkeit, denn er verbrachte viel Zeit in der Stadt und speiste jeden Tag in denselben Cafés und Restaurants. Als Unity erfuhr, dass er häufig zum Lunch in der Osteria Bavaria einkehrte, begann sie ebenfalls, regelmäßig dort zu essen. Dabei gab sie sich alle Mühe, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch ganze zehn Monate sollten vergehen, bevor Hitler die hartnäckige junge Engländerin schließlich an seinen Tisch bat. Die beiden plauderten eine halbe Stunde und stellten bald fest, dass sie Seelenverwandte waren.
»Das war der wundervollste und schönste [Tag] meines Lebens«, schrieb Unity an ihren Vater. »Ich bin so glücklich, dass es mir überhaupt nichts ausmachen würde, auf der Stelle tot umzufallen. Ich glaube, ich bin das glücklichste Mädchen auf der Welt. Für mich ist er der größte Mann aller Zeiten.« Ihre Gefühle wurden erwidert. Hitler war vor allem von Unitys zweitem Vornamen fasziniert – Valkyrie. Und er war geradezu begeistert, als er erfuhr, dass ihr Großvater die antisemitischen Schriften von Houston Stewart Chamberlain, einem seiner Lieblingsautoren, aus dem Deutschen übersetzt hatte.
Hitler traf sich immer häufiger mit seiner blonden englischen Bekannten – sehr zum Ärger seiner ›offiziellen‹ Geliebten Eva Braun. Sie »heißt Walküre und sieht so aus, die Beine eingeschlossen«, schrieb Braun verächtlich in ihr Tagebuch. »Das Wetter ist so herrlich u. ich, die Geliebte des größten Mannes Deutschlands und der Erde sitze und kann mir die Sonne durchs Fenster begucken.«
Unity wurde den Mitgliedern von Hitlers engstem Zirkel vorgestellt. Besonders gut verstand sie sich mit Julius Streicher, dem aggressiven Verleger der antisemitischen Wochenzeitung Der Stürmer. Als Unity einmal eine rassistische Brandrede gegen die Juden hielt, fragte Streicher, ob er diese wohl in seiner Zeitung abdrucken dürfe. Unity war geschmeichelt. »Das allgemeine englische Volk hat keine Ahnung von der Judengefahr«, begann sie ihren Artikel. »Unsere schlimmsten Juden wirken nur hinter den Kulissen … Wir freuen uns auf den Tag, an dem wir mit Gewalt und Autorität sagen können: ›England für die Engländer! Die Juden hinaus!‹ Mit deutschem Gruß! Heil Hitler!« Und sie schloss mit den Worten: »[V]eröffentlichen Sie bitte meinen ganzen Namen … ich will, dass ein jeder weiß, dass ich eine ›Judenhasserin‹ bin.«
Hitler war über Unitys Artikel so erfreut, dass er sie mit einem goldenen Hakenkreuz-Abzeichen und einer Privatloge bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin bedachte. Von nun an gehörte Unity zu Hitlers engsten Vertrauten, besuchte ihn häufig und äußerte immer wieder ihre Bewunderung für ihn. Und auch er war ihr offenbar verfallen: 1938 bot er ihr sogar eine Wohnung in München an. Unity machte sich ernste Hoffnungen, eines Tages die Stelle von Eva Braun in seinem Herzen zu übernehmen.
Mittlerweile hatte ihr Verhalten die Aufmerksamkeit des britischen Secret Service auf sich gezogen. Der Leiter des MI5, Guy Liddell, war über ihre Nähe zu Hitler besonders alarmiert. Seiner Ansicht nach reichte ihre Freundschaft mit dem Führer aus, um sie bei ihrer Rückkehr nach England wegen Hochverrats vor Gericht zu stellen.
Unity weigerte sich jedoch, Deutschland zu verlassen, selbst als England Hitler am 3. September 1939 den Krieg erklärte. Die Ereignisse deprimierten sie zutiefst, nicht zuletzt wegen der Auswirkungen, die der Krieg auf ihr Verhältnis zum Führer hatte. Sie ging in den Englischen Garten, hielt sich eine perlenbesetzte Pistole – ein Geschenk Adolf Hitlers – an den Kopf und drückte ab.
Unity Mitford überlebte ihren Selbstmordversuch wie durch ein Wunder schwer verletzt. Man brachte sie in ein Krankenhaus in München (die Rechnung bezahlte Hitler) und später in die Schweiz. Als sie halbwegs wieder auf den Beinen war, flog ihre Schwester Deborah nach Bern, um Unity nach England zurückzuholen. »Wir waren nicht im Geringsten auf den Anblick vorbereitet, der uns erwartete: Der Mensch vor uns im Bett war schwer krank. Sie hatte fast fünfzehn Kilo abgenommen und bestand nur noch aus riesigen Augen und glanzlosem Haar, das niemand mehr berührt hatte, seit die Kugel in ihren Kopf eingedrungen war.«
Die weiteren Ereignisse bleiben nebulös. Offiziellen Angaben zufolge wurde Unity Mitford ins Haus ihrer Familie in Swinbrook, Oxfordshire, gebracht. Sie lernte wieder zu gehen, ohne jemals vollständig zu genesen. Im Jahr 1948 starb sie schließlich an einer Hirnhautentzündung, ausgelöst von der Kugel in ihrem Hirn.
Doch man erzählt sich noch eine andere, faszinierendere Geschichte über ihre Rückkehr nach England. Unbestätigten Gerüchten zufolge brachte man sie in eine private Geburtsklinik in Oxfordshire, wo sie heimlich Hitlers uneheliches Kind zur Welt brachte. Val Hann, von der diese Information stammt, ist die Nichte der damaligen Klinikleiterin Betty Norton. Offenbar hatte Betty ihrer Schwester davon erzählt, die es wiederum an Val weitergab.