Wie wir die Verhältnisse im Kindergarten
endlich wieder vom Kopf auf die Füße stellen
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1. Auflage
© 2020 Ecowin bei Benevento Publishing Salzburg – München,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
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Gesetzt aus der Palatino, Vidaloka
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Printed by Finidr, Czech Republic
ISBN: 978-3-7110-0261-7
eISBN: 978-3-7110-5286-5
Gendererklärung
Für eine bessere Lesbarkeit verwenden wir im nachfolgenden Text zumeist die Sprachform des generischen Maskulinums. Personenbezogene Aussagen beziehen sich auf alle Geschlechter.
Ein Wort vorweg
Und nun, Frau Zukunftsingenieurin?
Kann ein Gesetz gute Kindergärten »machen«?
Oder: Wie Politik scheinbar reagiert und sich elegant aus der Affäre zieht
Von der Kindergartentante zur Konfliktmanagerin
Sozial, unsozial, scheißegal?
Kita tiefgekühlt und auf Droge
Essen, Ernährung und Gesundheit in der Kita
Er wollte doch so gern her! Kranke Kinder in der Kita
Oh, ein Schmetterling!
Wenn Kinder plötzlich verschwinden und warum hinter dem Wort Aufsichtspflichtverletzung viel mehr steckt, als wir glauben
Die Macht des Wörtchens »Nein«.
Mehr Selbstbewusstsein, bitte!
Der Antreibertest
Ach! Du hast wieder nur gespielt!
Ein Plädoyer für die Wichtigkeit des Spieles
Zwischen politischer Bildung und persönlichem Lebensassistent
Wie uns der goldene Mittelweg abhanden kam
Ansteckpartys und Virusferien
Was die Corona-Krise mit unserem Thema zu tun hat
Das Kapitän-und-Leuchtturm-Konzept
Für Fachkräfte: der Erzieherfragebogen
Nachwort/Danksagung
Es ist Herbst 2019. Die Tinte unter den Verträgen ist trocken, wir beginnen mit der Arbeit an diesem Buch. Die Marschrichtung ist klar: Wir werden über eine Krise schreiben, die Krise im System der Kindergärten und Kindertagesstätten, die sich hartnäckig hält, die Familien genauso belastet wie Erzieher in den Einrichtungen. Während wir schreiben, laufen die Kitas im Land im Normalbetrieb, kämpfen tagtäglich viel zu wenige Erzieher mit viel zu großen Gruppen von Kindern und mit Rahmenbedingungen, die oft alles andere als guter Arbeit zuträglich sind. Wir schreiben auch deshalb darüber, weil diese Krise längst business as usual geworden ist, der Normalbetrieb ist weit entfernt von einem Idealbetrieb. Wenn wir also im Herbst 2019 an Krise denken, dann gilt unser Gedanke eben diesem Normalbetrieb in den Kindertagesstätten.
Zeitsprung.
Es ist Frühsommer 2020. Das Manuskript ist fertig und draußen in der Welt scheint nichts mehr, wie es noch ein halbes Jahr zuvor gewesen ist. Wenn wir jetzt an Krise denken, über Krise sprechen, dann über eine, die alle anderen Krisen in den Hintergrund gerückt hat. Diese eine wird Corona-Krise genannt, ein griffiger Ausdruck, irgendwann von irgendeinem Journalisten zum ersten Mal benutzt und schließlich zur Beschreibung dessen geworden, was sich seit dem Beginn des Jahres wie ein grauer Schleier über die ganze Welt legt.
Zu dieser Welt gehören auch die Kitas und Kindergärten, zu ihr gehören die Kinder, die Eltern, die Erzieher, die Träger der Einrichtungen und die Politiker, die Entscheidungen über die Arbeit dieser Einrichtungen zu treffen haben. Während solche Entscheidungen sich jedoch bisher damit beschäftigten, wie viel Geld ins System fließen soll, wie die Arbeitsbedingungen vor Ort aussehen oder wie man dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann, geht es im April, Mai und Juni 2020 vor allem darum, wann und in welcher Form Kitas und Kindergärten wieder öffnen dürfen.
Dabei legt diese Diskussion ganz verschiedene Probleme offen, die vorher häufig nur hinter vorgehaltener Hand diskutiert wurden. Da ist zum einen das Anspruchsdenken mancher Eltern, das von Politikern, sei es aus Unkenntnis, sei es aus Wahlkampftaktik, noch gefördert wird. So zitiert der Spiegel den sächsischen Kultusminister Christian Piwarz während der Diskussion um die ersten Lockerungen mit den Worten:
»Gerade für Eltern kleinerer Kinder sei die Zeit der Schließung von Kitas enorm belastend, erklärte der Minister. ›Für nicht wenige ist die Schmerzgrenze erreicht.‹ Aber auch für die Kinder sei es ›von elementarer Bedeutung, spielen, toben und lernen zu können.‹ ›Der Erwerb der grundlegenden Kulturtechniken ist weder im Selbststudium möglich noch kann diese Aufgabe den Eltern übertragen werden‹, begründete Piwarz die Öffnung der Kitas und Schulen.«
Das mag, im ersten Moment nachvollziehbar klingen, doch schon beim zweiten Lesen beginnt das Stirnrunzeln über die Zuschreibung, die der Minister hier vornimmt. Nicht nur, dass er das Grundgesetz nicht zu kennen scheint, nach dem »Pflege und Erziehung der Kinder« nicht nur »das natürliche Recht der Eltern«, sondern auch »die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht« sind. Darüber hinaus bildet diese Äußerung eines hohen deutschen Bildungspolitikers sehr schön die aus dem Ruder gelaufene Anspruchshaltung gegenüber Kindertageseinrichtungen ab. Die ursprüngliche Funktion einer sinnvollen Ergänzung zur elterlichen Erziehung ist längst von einem Anspruch auf Rundumversorgung abgelöst worden. Die Diskussionen um ständige Erweiterungen von Öffnungszeiten, um Frühstück, Mittagessen und Abendbrot in der Kita oder um ständig wachsende Kompetenzen von Erziehern hat in der Corona-Krise dazu geführt, dass ein zeitweiliger Ausfall all dieser scheinbaren Selbstverständlichkeiten katastrophale Zustände in vielen Familien auslöst.
Damit wir uns richtig verstehen: Der plötzliche ungeplante Wegfall von Kinderbetreuungsmöglichkeiten hat natürlich zu organisatorischen Schwierigkeiten und sicher auch zu einer nervlichen Mehrbelastung bei vielen Eltern gesorgt. Das soll überhaupt nicht kleingeredet werden. Doch offenbart die Krise auch, dass die Annahme, Erzieher seien die sprichwörtliche Eier legende Wollmilchsau offenbar falsch war. Sie offenbart, dass in einer nicht eben kleinen Anzahl von Familien zwar das Kinderkriegen selbstverständlich war, nicht aber der entsprechende Aufwand für Pflege und Erziehung. Man hat sich daran gewöhnt, die Kinder vor allem in den entspannten und guten Momenten um sich zu haben. Das Bewusstsein dafür, dass es mit Kindern immer auch andere, schwierige, traurige und bisweilen nervenzerfetzende Momente gibt, ist dem Outsourcing von Erziehungsleistungen zum Opfer gefallen und kehrt nun zurück.
Das mag für einige Eltern hart sein, für unser Anliegen, die Problemstellungen in der Welt der Kitas und Kindergärten ins Licht zu rücken, ist diese Krise vielleicht sogar zuträglich. Denn wie kann etwas offenbar so wichtig und für das Seelenwohl vieler Familien so entscheidend sein, das doch bisher meist unter dem Radar von Politik und Gesellschaft lief? Viel ist vom Begriff der Systemrelevanz gesprochen worden in dieser Krise, und natürlich waren erst mal wieder Banken, Automobilkonzerne oder Fluggesellschaften gemeint. Erst im Laufe der Diskussion ging dann manchem ein Licht auf. Menschen, die in der Pflege und in anderen medizinischen Bereichen arbeiten, schienen wohl plötzlich doch auch systemrelevant zu sein, Verkäufer im Supermarkt ohne Möglichkeit, ins Homeoffice zu wechseln und sich der Ansteckungsgefahr zu entziehen, waren es irgendwie ebenfalls. Und, ja, auch Erzieher und Lehrer müssen wohl doch irgendwie systemrelevant sein, wenn ihre Dienstleistung nach nur wenigen Wochen bereits so schmerzlich vermisst wird.
Wie wohl alle Menschen hoffen auch wir, dass es ein »nach Corona« geben wird, das mit unserem vorherigen Leben noch möglichst viel zu tun hat. Während der Drucklegung dieses Buches ist vieles noch nicht absehbar, auch der Betrieb in den kurz zuvor wieder geöffneten Kitas und Kindergärten ist zu diesem Zeitpunkt ein mit vielen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten gepflasterter Weg. Und doch lässt sich sagen, dass wir aus dieser Krise etwas für die Zukunft mitnehmen sollten. Nämlich die Erkenntnis, dass Kindertageseinrichtungen besonders dann gute Arbeit leisten können, wenn sie einerseits nicht mit unrealistischen Erwartungen überfrachtet werden und andererseits die tägliche Leistung, sowohl von Elternseite aus als auch von der politischen Ebene, sehr viel stärker gewürdigt und unterstützt wird. Viele Eltern verhalten sich hier vorbildlich, und auch manchem Politiker ist sein ehrliches Bemühen anzumerken. Und doch ist hier viel Luft nach oben, gibt es viele Wünsche und Bedürfnisse, die kein Luxus, sondern Notwendigkeit sind.
Wenn also irgendwann »nach Corona« wieder so etwas wie ein Normalbetrieb in den Kindertageseinrichtungen möglich ist, wäre es schön, wenn die Erfahrungen der Krise in die Neugestaltung dieses Normalbetriebs eingehen würden und ihn zum Vorteil aller Beteiligten, Kinder, Eltern und Erzieher verändern würden.
Ein Tag im September, in einem Kindergarten irgendwo in Deutschland. Seit August sind die neuen Kinder in der Einrichtung, und eine aufregende Zeit für alle Beteiligten hat begonnen. Wie an jedem Tag herrscht ein ganz schönes Gewusel in den Räumen, aufgeregtes Geschnatter hier, intensives Spiel dort, und die Erzieher sind vollauf damit beschäftigt, Ordnung in das Gewusel zu bringen.
Mittendrin: Leonie, im Frühjahr drei Jahre alt geworden, ein etwas schüchternes, aber freundliches Mädchen mit einer hübschen Zopffrisur. Aufmerksam hört sie zu, als die Erzieherin Heike den Kindern das Bewegungsspiel erklärt, dem sich die Gruppe nun widmen soll. Im Turnraum der Einrichtung ist eine Bank in die Sprossenwand eingehängt. Die Kinder sollen vorsichtig die leicht schräge Bank hinaufbalancieren und am Ende zunächst auf einen kleinen, danebenstehenden Kasten hüpfen, danach von diesem auf den Boden und wieder von vorne beginnen. Sind die Kinder unsicher, geben die Erzieher Hilfestellung, die forscheren Jungen und Mädchen rennen die Bank selbstbewusst allein hinauf. Joshua, der daheim im Garten einen richtigen Kletterbaum zur Verfügung hat, beschwert sich, dass die leichte Übung ja »total langweilig« sei.
Die Bank wird nicht sonderlich beansprucht, drei- und vierjährige Kinder bringen nun mal noch nicht so viele Kilos auf die Waage. Nur bei einem Teilnehmer der sportlichen Runde biegt sie sich merklich durch und die Erzieher hoffen, dass die Sprosse, an der die Bank eingehängt ist, nicht durchbrechen wird. Kein Wunder, dass Bank und Sprossenwand hier ächzen, denn dieser Teilnehmer ist nicht drei oder vier Jahre alt, sondern bereits 35, er heißt Dirk, und außerdem ist er Leonies Vater.
Immer häufiger kommt es beim Wort »Eingewöhnungsphase« zu Fehlinterpretationen, so auch in diesem Fall. Zum einen scheint es so, als wenn weniger Leonie als ihr Vater sich eingewöhnen müsste, zum anderen zeigt dieser Fall exemplarisch, wie wenig selbstverständlich heute in vielen Fällen die ganz normalen Routinen im Umgang mit Kindern sind.
Dirk bringt Leonie von Beginn an in den Kindergarten, und schnell merken die Erzieher, dass es mit ihm herausfordernd werden wird. Er weicht dem Kind nicht von der Seite, guckt sich die Arbeit der Erzieher mit großem Interesse an und schreckt auch nicht vor der einen oder anderen Handlungsempfehlung zurück. Leonie findet es natürlich toll, dass ihr Papa die ganze Zeit anwesend ist, und so hatte sie auch heute die Idee, dass er doch an der Sportrunde teilnehmen könnte. Hatten die Erzieher bis hierhin noch gedacht, es könne selbst für Dirk eine Grenze geben, so wurden sie nun eines Besseren belehrt. Ein erwachsener Mann, der ganz offenbar nichts Außergewöhnliches daran findet, mitten in einer Kindergartengruppe von Drei- und Vierjährigen mitzumachen, als wenn er selbst dazugehören würde. Hatten die Erzieher bisher noch darauf gesetzt, dass sich das »Thema« Dirk irgendwann von alleine erledigen würde, so erschien ihnen nun doch akuter Handlungsbedarf. Anstatt sanfter Hinweise, seine Tochter doch einfach in Ruhe ihren Kindergartenalltag erleben zu lassen, bat die Leiterin ihn zum Gespräch. Auf die nun deutlicheren Worte, dass sein Verhalten unangemessen sei, reagierte er verunsichert. Er wolle seiner Tochter doch nur die Eingewöhnung erleichtern. Sie brauche doch das Gefühl, dass Papa die ganze Zeit für sie da sei, auch in der ungewohnten neuen Umgebung des Kindergartens.
Erst nach einigen Minuten des Gesprächs kam eine erste unsichere Frage seinerseits, ob er es denn tatsächlich übertreibe. Diese Erkenntnis, das war ganz deutlich zu spüren, musste sich erst langsam in ihm ausbreiten, bisher war er wirklich felsenfest davon ausgegangen, zum Wohle seiner Tochter zu handeln, sein Verhalten kam ihm nicht im Geringsten merkwürdig vor.
Wenn wir von Beispielen wie diesen erzählen, schwanken die Reaktionen zwischen lautem Lachen, ungläubigem Staunen, traurigem Kopfnicken und dem im Brustton der Überzeugung vorgetragenem Vorwurf, das hätten wir uns doch alles nur ausgedacht, um die Leser zu schocken. Als wir vor drei Jahren die Arbeit an Die Rotzlöffel-Republik abgeschlossen hatten und das Buch erschienen war, zeigten uns die Reaktionen, dass wir in ein Wespennest gestochen hatten. Begeisterte Zustimmung einerseits, Protest und fehlender Glaube, dass das, was wir beschrieben tatsächlich existiert, andererseits, erreichten uns sowohl auf Veranstaltungen als auch schriftlich. Kinder, ihre Entwicklung, frühkindliche Bildung, die Betreuungssituation in einer Zeit, in der immer mehr Eltern nicht mehr aus dem Hamsterrad auszusteigen vermögen, all das bewegt viele Menschen, mehr noch: Es erzeugt unglaublich viele unterschiedliche Ansichten, wie wir uns angesichts der aktuellen Entwicklungen zu verhalten haben.
Naturgemäß geraten in dieser Diskussion zuerst die Kinder selbst aus dem Blick, denn diese können im Alter bis zu sechs Jahren noch nicht so viel Einfluss auf die öffentliche Diskussion nehmen. Ihre Interessen jedoch müssten gegenüber der Politik, die die Rahmenbedingungen zu schaffen hat, gleichermaßen vom Kita-Personal und von den Eltern vertreten werden. Leider ist das immer seltener der Fall, und man hat als erfahrener Erzieher immer häufiger das Gefühl, an allen Fronten gegen Mauern zu rennen, wenn man auf Missstände aufmerksam macht.
Seit Erscheinen des Buches ist die Großwetterlage nicht besser geworden, und wir werden zusätzlich noch die Folgen der Corona-Krise zu meistern haben, auch wenn, wie im Vorwort beschrieben, hier sogar positive Effekte eintreten könnten. Natürlich wird in sehr vielen Einrichtungen nach wie vor großartige Arbeit geleistet, die Kinder sind dort gut aufgehoben. Doch die Bedingungen, unter denen dies geschieht, verschlechtern sich weiter, und zwar in gleichem Maße, wie die Anzahl der Problemfälle aufseiten der Kinder und Eltern steigt.
Im letzten Kapitel der »Rotzlöffel-Republik« ging es um die Erzieher als »Zukunftsingenieure« – ein Begriff, der beschreiben sollte, dass gerade in diesen ersten sechs Jahren außerhäuslicher Betreuung von Kindern die Weichen für die Zukunft gestellt werden und die Erzieher dabei eine viel wichtigere Rolle spielen, als ihnen unsere Gesellschaft derzeit zuweist. Es sollte an dieser Stelle gerechterweise nicht verschwiegen werden, dass der Fachkräftemangel zumindest in Ansätzen dafür gesorgt hat, dass die Politik einen anderen Blick auf das Berufsfeld bekommt. Ein Ergebnis dessen ist etwa das sogenannte Gute-Kita-Gesetz. Dieses Gesetz sorgt dafür, dass zusätzliches Geld in den Elementarbereich fließt. Problem also gelöst? Nicht wirklich. Es ist jedem Bundesland freigestellt, wie diese Mittel verwendet werden. Damit tritt eher selten der Effekt ein, dass endlich mehr Personal vorhanden ist und die Betreuungslage sich tatsächlich entspannt. Stattdessen wird vielerorts noch mehr Geld beispielsweise in Qualitätsmanagementprojekte mit zweifelhaftem Output gesteckt. Mit anderen Worten: Einfach nur mehr Geld ins System pumpen reicht nicht, wenn es anschließend sinnlos »verbrannt« wird.
Schauen wir also genau hin, was passieren muss, um einer der wichtigsten Keimzellen unserer Gesellschaft wieder besser zu stärken. Dazu lohnt es sich, das »Gute-Kita-Gesetz« einer näheren Prüfung zu unterziehen.
Natürlich heißt das »Gute-Kita-Gesetz« gar nicht so. Tatsächlich heißt es »Kita-Qualitäts- und Teilhabeverbesserungsgesetz« oder wie man unter Abkürzungsfetischisten sagt: »KiQuTG«. Aber bleiben wir trotzdem bei der interessanten Formulierung, die auch vonseiten der Politik durchaus genehm zu sein schien. »Gute-Kita-Gesetz«, das soll positiv klingen, Aufbruchsstimmung hervorrufen. Vor allem aber soll es uns alle glauben lassen, es bedürfe lediglich eines simplen Gesetzes, um jahrzehntelange Misswirtschaft auszumerzen. Tatsächlich wirft diese Bezeichnung mindestens zwei Fragen auf: Wenn die Kitas nun per Gesetz »gut« gemacht werden sollen, waren sie vorher alle schlecht? Und: Ist es so einfach? Kann man die unzähligen Kitas im Land einfach per Dekret »gut« oder gar besser machen?
Zugegeben, diese Fragen sind vielleicht ein wenig spitzfindig, und vielleicht werden Sie sagen, wir sollten uns doch freuen, dass sich die Politik endlich für das Wohlergehen der Kitas interessiert. Das ist auch der Fall, in der Not greift man schließlich nach jedem Strohhalm. Letztlich gilt jedoch: Man kann das eine tun, ohne das andere zu lassen. Soll heißen: Wir freuen uns tatsächlich, dass es offenbar zumindest eine erhöhte Wahrnehmung der Probleme im Elementarbereich seitens der politischen Entscheidungsträger auf höchster Ebene gibt. Gleichzeitig jedoch weist das, was bei dieser Wahrnehmung am Ende herausgekommen ist, so entscheidende Mängel auf, dass es unerlässlich ist, das Ganze genauer unter die Lupe zu nehmen und den Entscheidungsträgern ins Stammbuch zu schreiben, warum dieses Gesetz zum Rohrkrepierer zu werden droht.
Das Gesetz trat zum 1. Januar 2019 in Kraft, also lange bevor der erste Buchstabe des Manuskriptes für dieses Buch in die Tastatur getippt war. Ende 2019, als erste Teile dieses Buches ihrer Fertigstellung entgegensahen, hatte mit Hessen endlich das letzte Bundesland den Vertrag mit dem Bund unterschrieben. Fast ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes waren also tatsächlich alle Bundesländer im Boot, und möglicherweise ist nun, da Sie dieses Buch in Ihren Händen halten, auch »schon« das erste Geld geflossen. Allein an diesem Prozedere, nämlich der dem Bildungsföderalismus geschuldeten Notwendigkeit, mit jedem Bundesland einen eigenen Vertrag abzuschließen, zeigt sich ein Grundproblem deutscher (Bildungs-) Politik. Bis Probleme erkannt und ihre vermeintlichen Lösungen in Gesetzesform gegossen sind und mit der Umsetzung begonnen werden kann, geht so viel Zeit ins Land, dass sich die bestehenden Probleme verschärft haben und neue hinzugekommen sind.
Da sich die Große Koalition nicht so richtig einig werden konnte, wofür denn die stattliche Summe von 5,5 Milliarden Euro aus dem Paket tatsächlich eingesetzt werden sollen – die CDU war mehr für Investitionen in Qualität, die SPD für eine stärkere Entlastung der Eltern bei den Beiträgen – entschloss man sich, im Gesetz zehn »Handlungsfelder« festzulegen, für die die Länder das Geld vom Bund selbstständig verwenden sollen. Das klingt dann so:
1.ein bedarfsgerechtes Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsangebot in der Kindertagesbetreuung schaffen, welches insbesondere die Ermöglichung einer inklusiven Förderung aller Kinder sowie die bedarfsgerechte Ausweitung der Öffnungszeiten umfasst,
2.einen guten Fachkraft-Kind-Schlüssel in Tageseinrichtungen sicherstellen,
3.zur Gewinnung und Sicherung qualifizierter Fachkräfte in der Kindertagesbetreuung beitragen,
4.die Leitungen der Tageseinrichtungen stärken,
5.die Gestaltung der in der Kindertagesbetreuung genutzten Räumlichkeiten verbessern,
6.Maßnahmen und ganzheitliche Bildung in den Bereichen kindliche Entwicklung, Gesundheit, Ernährung und Bewegung fördern,
7.die sprachliche Bildung fördern,
8.die Kindertagespflege (§ 22 Absatz 1 Satz 2 des Achten Buches Sozialgesetzbuch) stärken,
9.die Steuerung des Systems der Kindertagesbetreuung im Sinne eines miteinander abgestimmten, kohärenten und zielorientierten Zusammenwirkens des Landes sowie der Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe verbessern oder
10.inhaltliche Herausforderungen in der Kindertagesbetreuung bewältigen, insbesondere die Umsetzung geeigneter Verfahren zur Beteiligung von Kindern sowie zur Sicherstellung des Schutzes der Kinder vor sexualisierter Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung, die Integration von Kindern mit besonderen Bedarfen, die Zusammenarbeit mit Eltern und Familien, die Nutzung der Potentiale des Sozialraums und den Abbau geschlechterspezifischer Stereotype.
Viele schöne Worte, gleichwohl nur schwer mit Inhalt zu füllen. Allein die Tatsache, dass es den Bundesländern vollkommen freigestellt ist, wie sie die Mittel verwenden, führt dazu, dass mindestens ein großes Dilemma bereits deutlich zutage tritt und aufzeigt, warum sich qualitativ durch dieses Gesetz wohl nur wenig zum Besseren verändern wird. Dieses Dilemma hört auf den wohlklingenden Namen »Beitragsfreiheit«.
In vielen Köpfen führender Politiker hat sich die Meinung festgesetzt, dass gute Kinderbetreuung vor allem etwas damit zu tun habe, dass jeder diese geschenkt bekomme. Etwas ketzerisch könnten wir an dieser Stelle auf den alten Spruch »Wat nix kost’, dat is’ auch nix« verweisen, würden uns damit aber natürlich auf eine populistische Stufe mit der Politik stellen.
Denn die Diskussion über die Beitragsfreiheit ist vor allem genau das: populistisch. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig war beispielsweise mit dem Versprechen der totalen Beitragsfreiheit in den Wahlkampf gegangen und hatte dabei offenbar die ganze Zeit im Hinterkopf, dass sie dieses Versprechen für ihr Bundesland irgendwann auf Kosten des Bundes würde einlösen können. Und siehe da: MV ist eines der Länder, das die komplette Zuwendung dafür einsetzt, den Besuch des Kindergartens im Land kostenlos zu machen.
Aber auch in anderen Bundesländern ist ein erklecklicher Teil des Geldes dafür gedacht, die Eltern zumindest von einem Teil der Beiträge zu entlasten. Begründung unter anderem: Beitragsfreiheit animiere Eltern dazu, mehr Kinder immer früher in eine Betreuung zu schicken, da sich arbeiten stärker lohne. Nun könnte man angesichts solcher Begründungen zum einen diskutieren, wie sinnvoll es ist, immer mehr Kinder immer früher fremdbetreuen zu lassen, zum anderen zeigt das aber auch, dass der Wegfall der Beiträge gleichzeitig auch für eine noch höhere Belastung von Kitas sorgen wird, deren Bewältigung mit dem Rest des Geldes kaum aufzufangen sein wird.
Und dann ist da noch die Sache mit der Befristung. All das schöne Geld wird es nämlich nach gegenwärtigem Stand nur einmal geben. 2022 sind die 5,5 Milliarden dann verteilt und werden für was auch immer verwendet, anschließend ist der Geldhahn erst einmal wieder zu. Zwar hat die zuständige Ministerin Franziska Giffey munter getwittert, die Gelder würden »über 2022 hinaus verstetigt«, doch gibt es für diese Aussage keinerlei konkrete Grundlage. Im Gesetz steht die Befristung, alles andere sind Absichtserklärungen, von denen wir alle wissen, was sie aus dem Munde von Politikern häufig wert sind, viel mehr noch, nachdem jedem klar sein muss, dass die Folgekosten der Corona-Pandemie immens sein werden und mit Sicherheit unter anderem durch Kürzungen in verschiedenen Bereichen finanziert werden.
Darüber nachzudenken lohnt sich indes. Was machen wir, wenn der Geldstrom tatsächlich wieder versiegt? Wenn man die Systemrelevanz von Kindertageseinrichtungen nach Corona schnell wieder vergessen hat? Werden dann plötzlich wieder Gebühren erhoben? Gehälter gesenkt? Gar Einrichtungen geschlossen? An diesem Detail lässt sich erkennen, mit welchem Problem wir es generell in der Bildungsdebatte und speziell in der Diskussion um Verbesserungen im Elementarbereich nur zu häufig zu tun haben: Es wird zu selten mit nachhaltigen Konzepten agiert und stattdessen mit unausgegorenen Schnellschüssen reagiert.
Natürlich gibt es auch diverse gute Ideen und Maßnahmen, für die das Geld verwendet werden soll. Eine Entlastung der Kita-Leitungen steht in Bayern im Fokus, in Berlin plant man eine Gehaltszulage für Erzieher in Brennpunkt-Kitas und mehr Unterstützung bei der Qualifizierung von Quereinsteigern. Die letzten beiden Punkte bieten für sich genommen auch schon wieder Diskussionspotenzial (wie entstehen Brennpunkt-Kitas, ist es sinnvoll, im Elementarbereich auf Quereinsteiger zu setzen?), aber wir sollten anerkennen, wenn akute Probleme zumindest zunächst einmal bearbeitet werden.
Nun wollen wir an dieser Stelle nicht dabei verharren, welche Auswirkungen das Gute-Kita-Gesetz nicht haben wird. Das Geld ist ja nun mal da, und aus unserer Sicht muss eine ganz bestimmte Verbesserung im Fokus stehen. Mit all dem Geld sollten wir Zeit kaufen.
Wie kauft man Zeit in der Kita? Nun, indem man jedem einzelnen Erzieher mehr davon zur Verfügung stellt, damit er sich in Ruhe um die ihm anvertrauten Kinder kümmern kann. Und indem man den Kita-Leitungskräften mehr davon zur Verfügung stellt, um ihre Einrichtung führen und weiterentwickeln zu können.
Mehr Zeit für jeden einzelnen Erzieher bedeutet natürlich nicht längere Arbeitszeiten, sondern eine Veränderung des Personalschlüssels, Neueinstellungen und eine Erhöhung der Attraktivität des Berufs auch durch bessere Bezahlung.
Je besser der Personalschlüssel, je weniger Kinder also einem Erzieher zugeordnet sind, desto mehr Zeit kann der einzelne Erzieher mit »seinen« Kindern verbringen, desto ruhiger kann er mit entstehenden Problemen umgehen und desto mehr Zeit ist auch, im Zweifelsfall mit Eltern oder Großeltern zu sprechen, und zwar ebenfalls in Ruhe.
Die komplette Beitragsfreiheit ist letztlich nur ein Leckerli für die aktuellen und angehenden Eltern mit Kindern im entsprechenden Alter unter den Wählern. Die meisten Eltern sind durchaus bereit, für eine gute Betreuung in der Kita einen angemessenen Beitrag zu zahlen. Ihnen ist bewusst, dass Bildung nicht kostenlos zu haben ist und die im Bildungsbereich tätigen Menschen nicht von Luft und Liebe leben.
Mehr Personal also. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es verschiedene Stellschrauben, an denen gedreht werden kann. Eine davon heißt »Bezahlung«. Es ist dringend geboten, in einer Branche, in der immer noch viel zu häufig davon ausgegangen wird, dass es den meisten Mitarbeitern vollkommen reicht, einer wichtigen und sinnvollen Tätigkeit nachzugehen, endlich über Geld zu sprechen. Fragen Sie doch mal eine Führungskraft aus der Versicherungsbranche, wie sie ein angemessenes Gehalt definiert. Da bekommen Sie zum Teil Antworten wie »Na ja, so um die 120.000 Euro Jahreseinkommen sollten es schon sein.« Der Blick auf eine Verdienstbescheinigung im Bekanntenkreis zeigte für einen Mann, der für einen Energieversorger im Montagebereich tätig ist, 78.000 Euro Jahreslohn und für seine Frau, die 19,5 Stunden im medizinischen Bereich arbeitet, zusätzlich noch einmal 25.000 Euro. Erzieher in einer Vollzeitbeschäftigung bringen es häufig nicht einmal auf 40.000 Euro Jahreseinkommen und das nach langen Jahren im Berufsleben.
Die meisten Menschen reden nicht gern über Geld, schon gar nicht, wenn es den Wert ihrer Arbeit beziffern soll, und diejenigen, die im sozialen Bereich arbeiten, sprechen wohl am seltensten über dieses Thema. Seltsamerweise findet sich unter den zahllosen Fortbildungsveranstaltungen für Erzieher nie eine mit dem Titel »Besser übers Gehalt verhandeln«. Sinnvoll wäre es.
Sinnvoll wäre aber vor allem, einen Teil der Gelder aus dem Gute-Kita-Gesetz für eine bessere Bezahlung an der Basis einzusetzen. Damit auch das Einstiegsgehalt eines Erziehers zumindest so aussieht, dass dieser einigermaßen davon leben kann. Tatsächlich jedoch berichteten bei den Interviews zu diesem Buch viele Erzieher, die über einen Wechsel der Einrichtung nachdachten, dass ihnen bei Vorstellungsgesprächen deutlich weniger Gehalt angeboten wurde als auf ihrer aktuellen Stelle. Das wirkt dann nicht unbedingt, als wenn der potenzielle neue Arbeitgeber die neue Kraft wirklich unbedingt haben möchte. (Ändert sich aber tatsächlich ansatzweise durch den Fachkräftemangel.)
Picknick, natürlich in Vor-Corona-Zeiten, im Kindergarten »Kunterbunt«. Es ist warm, im Außenbereich ist auf einem der großen Tische ein schön anzuschauendes Buffet mit vielen leckeren Speisen aufgebaut. Von diesem Buffet holen sich die Kinder kleine Portionen Obst und Salat, Frikadellen oder auch Wackelpudding. Als jeder versorgt ist, setzen sich alle in einen Kreis und beginnen zu essen.