Erkennen
Beurteilen
Vermeiden
Gender-Hinweis:
Zur leichteren Lesbarkeit unserer Texte verzichten wir auf eine geschlechtsspezifische Differenzierung und schreiben personenbezogene Hauptwörter in der männlichen Form. Dies ist als neutrale Formulierung gemeint, mit der wir ohne jegliche Diskriminierung alle Menschen gleichermaßen ansprechen möchten. Vielen Dank für das Verständnis.
Vorbemerkung
Gefahr und Risiko
Gesellschaft und Risiko
Der Begriff Risiko in der Lawinenkunde
Lawinengefahr, ein lebenslanges Lernfeld
Basisrisiko, Risikoreduktion und Restrisiko
Grundlagen
Lawinenarten
Lawinengrößen
Typisches Lawinengelände
Amtliche Lawinenprognose und weitere Infoquellen
Probabilistik: das Risiko abschätzen
Begrifflichkeit und Historie
Anwendung der SnowCard
Auswertung des Risikopotenzials
Die richtige Strategie
Kritik an der Probabilistik und Validierung mittels Unfallanalyse
Analytische Gefahrenbeurteilung
Geheimnis Schneedecke: Aufbau und Prozesse
Abbauende Umwandlung, Windumwandlung: Setzung und Stabilisation oder Bildung des überlagernden Brettes
Bildung von Schwachschichten und Schichtgrenzen
Schmelzumwandlung und Harschbildung
Schneebrettauslösung: Wie funktioniert ein Schneebrett?
Das Zusammenspiel von Bruchinitiierung und Bruchausbreitung
Spannungen in der Schneedecke: Welchen Einfluss haben die Größen der Schwachschichtkristalle?
Welchen Einfluss haben die überlagernden Schichten?
Welche Rolle spielt dabei die Hangneigung?
Räumliche Variabilität und ihre Ursachen
Hotspots: Prädestinierte Auslösepunkte
Lawinenprobleme und Gefahrenmuster: Erkennen und Beurteilen aus dem analytischen Blickwinkel
Neuschneeproblem
Triebschneeproblem
Altschneeproblem
Nassschneeproblem
Gleitschneeproblem
Günstige Situation
Kombination von Lawinenproblemen und Gefahrenmustern
Methoden zur Schneedeckenuntersuchung
Schnelle Einblicke am Wegesrand
Detailliertes Schneeprofil
Kleiner Blocktest
Extended Column Test (ECT)
Übertragbarkeit punktueller Schneedeckenuntersuchungen und -tests: Prozessdenken
Exkurs: Rutschblock und Propagation Saw Test (PST)
Faktor Mensch
Objektive Aspekte
Subjektive Aspekte
Situationsbedingte Aspekte
Praktische Umsetzung
Konsequenzanalyse
Konsequenzen des Geländes
Konsequenzen der abgleitenden Schneemassen
Konsequenzen in Bezug auf die involvierten Personen
Gesamtbewertung der Konsequenzen
Vorsichtsmaßnahmen im Gelände
Checkpunkte festlegen und prüfen
Abstand halten
Die Wahl der Spur
Hilfestellung bei schwierigen Schneeverhältnissen
Hilfestellung bei schlechten Sichtverhältnissen
Verhalten in der Gruppe
Lawinenmantra
Handwerkszeug und Bausteine
Die fünf Schritte im Lawinenmantra
Anwendungsphasen in der Praxis
Verschüttetensuche und Bergung
Lawinenverschüttung ist Lebensgefahr
Lawinenausrüstung
Checks vor der Tour
Lawinenverschüttung
Weiterführende Literatur und Websites
Stichwortverzeichnis
Lawinengefahr zu erkennen und das damit zusammenhängende Risiko zu bewerten, stellt für Wintersportler im freien Gelände das Hauptproblem dar. Keine andere alpine Gefahr konfrontiert mit ähnlich großen Herausforderungen. Die Materie Schnee und die Schneedecke, die sich im Laufe eines Winters bildet, unterliegen thermodynamischen Prozessen in einem chaotischen System. Selbst die hohe Schule der theoretischen Physik ist bis heute nicht in der Lage, das Phänomen Lawine in seiner Gesamtheit zu beschreiben. Auch nach Jahren intensiver Beschäftigung mit den komplexen Themenbereichen Schnee und Lawinen erlebt man immer wieder Überraschungen: Einerseits Hänge, die entgegen allen Einschätzungen stabil bleiben, andererseits Schneebretter, die sich in relativ flachen Hängen bei niedriger Gefahrenstufe lösen.
Der Versuch, uns die Natur zu unterwerfen und nach unseren Wünschen zu benutzen, stellt oft die Hauptursache für Lawinenunfälle dar.
Angesichts dieser Tatsache erscheint es fast anmaßend, mit welcher Überzeugung wir gerne glauben möchten, die Lawinengefahr beurteilen zu können. Hinzu kommt, dass die Güte unserer Entscheidungen in hohem Maß von unserer Wahrnehmung, unserer Psyche und letztendlich unserem daraus resultierenden Verhalten abhängt.
Das Risiko, dem wir am Berg ausgesetzt sind, verursachen wir letztendlich durch unser eigenes Handeln. Erst indem wir hinausgehen in die friedliche weiße Gebirgslandschaft, wird die dort existierende Gefahr relevant und somit zur Bedrohung für uns. Zuhause auf dem Sofa stellen Lawinenabgänge im Hochgebirge keine Gefahr für uns dar.
Spätestens als Werner Munter, Schweizer Pionier in der Lawinenkunde, in den 1990er-Jahren seine Strategie 3×3 und die Reduktionsmethode vorstellte, fand in der praktischen Lawinenkunde ein Paradigmenwechsel statt:
Das Zusammenspiel von meteorologischen, schneephysikalischen und geländetypischen Faktoren, die für die Stabilität im Steilhang verantwortlich sind, ist hochkomplex und chaotisch – eine sichere Beurteilung ist nicht möglich. Die Abschätzung des Risikopotenzials und der Gefährdung mithilfe von Annäherungs- und Hilfsmitteln kann hier weiterhelfen.
Mit vielen Inhalten und Themen dieses Buches wird die Leserschaft auf die eine oder andere Weise – durch Bücher, Fachzeitschriften oder Ausbildungen – vielleicht schon in Berührung gekommen sein. Und doch wollen wir einen Überblick geben, was derzeit als probater Weg im Umgang mit der Lawinengefahr Anwendung findet. Wir glauben, dass es an der Zeit ist, den Erkenntnisstand der Lawinenkunde einer breiteren Leserschaft gut aufbereitet zugänglich zu machen.
Die neuesten Erkenntnisse der analytischen Schneekunde werden hier erstmals konkret zusammengefasst, kategorisiert und mit einem Bewertungsschema verknüpft. Dadurch ergibt sich eine klare Handlungsableitung. Des Weiteren wird mithilfe von Unfallanalysen die probabilistische Risikobeurteilung weiter evaluiert. Eine immerhin schon zwanzig Jahre alte Strategie wird so in vielen Details optimiert und in ihrer Wirksamkeit bestätigt.
Die Bausteine für eine umfassende Beurteilung der Lawinengefahr werden dabei im Rahmen einer klaren Strategie strukturiert und vernetzt, sodass eine praxistaugliche Entscheidung im Gelände für Anwender aller Erfahrungs- und Wissensstufen möglich wird.
Auch dem Anfänger in angewandter Lawinenkunde soll es möglich sein, das Risiko im lawinengefährdeten Gelände mit einfachen Maßnahmen grob einzuordnen. Dem Fortgeschrittenen wird ein breites Spektrum an Beurteilungsmöglichkeiten und Hintergrundwissen präsentiert, das an die Situation angepasst angewandt und interpretiert werden kann.
Der Notfall Lawinenverschüttung ist auf alle Fälle die falsche Situation, um in Nostalgie für die eigene alte Ausrüstung zu schwärmen – im übertragenen Sinne mit dem Oldtimer VW-Käfer, Baujahr 1950, unterwegs zu sein.
Auch in der Verschüttetensuche hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr viel getan. Die Maßnahmen bei einer Lawinenverschüttung wurden immer weiter optimiert und für die Helfer vereinfacht. Dabei spielt die kontinuierliche Verbesserung der Notfallausrüstung eine wesentliche Rolle. Vor allem die technisch hochwertige Ausrüstung reduziert die Dauer der Suche und erhöht damit die Chance auf eine effektive Rettung.
Selbst die umfassendste Ausbildung wird nie in der Lage sein, alle Unsicherheiten in der Einschätzung von Lawinengefahr aus dem Weg zu räumen. Und trotzdem ist es wichtig, sich mit Lawinengefahr auseinanderzusetzen und die Signale deuten zu lernen. Nur so ist es möglich, eigenverantwortlich und bewusst mit der Gefahr umzugehen und diese in den meisten Fällen dann auch meistern zu können. Nichts ist schlimmer, als sich selbst – und oft genug auch andere – aus Unwissenheit einem zu großen Risiko auszusetzen.
Auch dann, wenn die daraus resultierende Erkenntnis häufig zum Verzicht führt und das in unserer heutigen erfolgsorientierten Gesellschaft schwierig und unangenehm ist.
Mit diesem Buch hoffen wir, unsere insgesamt hundertjährige Überlebenserfahrung aus der Praxis im Schnee für euch greifbar zu machen. Wir wünschen euch viel Freude bei der oft auch mühsamen Beschäftigung mit dem Thema Lawinen, gute Entscheidungen, den besten Schnee und manchmal auch das letzte Quäntchen Glück.
Jan Mersch, Heli Mittermayr und Markus Fleischmann
Im Corona-Herbst 2020 zwischen Totem Gebirge, Chiemgau und München
Der Begriff des Risikos im Sinne einer abschätzbaren Eintrittswahrscheinlichkeit eines bestimmten Ereignisses besteht bereits im antiken Griechenland. Seit dem 12. Jahrhundert ist belegt, dass der Begriff als gewählte Entscheidung, als bewusstes Wagnis zur Handlung gehandhabt wird.
No risk, no fun, Restrisiko, Risikomanagement: Begriffe, die in unserer Gesellschaft schon längst Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben. Dennoch ist und bleibt das Risikoempfinden und -verständnis eine individuelle Sache: Jeder hat seine eigenen Assoziationen und Vorstellungen davon.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, warum Menschen überhaupt Risiken eingehen und sich absichtlich in riskante Situationen begeben. Was zieht den Menschen ins Hochgebirge, was lässt ihn sich in steile Flanken, in denen Lawinengefahr herrscht, wagen – warum setzt er sich diesen Unsicherheiten aus?
Erklärungen dazu lassen sich in der Soziobiologie, der Psychologie und anderen verwandten Disziplinen finden. In unserer westlichen Wohlstandsgesellschaft besteht ein relativ geringes objektives Risiko für den Einzelnen. Wir werden nicht direkt von Kriegen bedroht, die Kriminalitätsrate ist vergleichsweise gering, Hungersnot ist faktisch nicht vorhanden. Unsere existenziellen Bedürfnisse sind befriedigt. Uns friert nicht und den Kampf auf Leben und Tod kennen wir nicht. Im Hochgebirge suchen wir Naturerlebnis und Entspannung. Dort können wir uns aber auch in künstliche, nicht an existenziellen Bedürfnisse gebundene Gefahrensituationen begeben. Das führt zur Stimulation, einerseits direkt durch Hormonausschüttung, andererseits indirekt durch soziale Anerkennung. Held zu sein bedeutet einen hohen sozialen Rang und bringt Ansehen. Es unterstreicht die eigene körperliche Fitness und macht attraktiv.
Damit lässt sich auch der Boom im Bereich der Risikosportarten begründen, der heutzutage auf weitaus höhere Akzeptanz und Befürwortung als früher trifft. Gleichzeitig geht der Trend in der Gesellschaft aber auch in Richtung »Versicherungsmentalität« und dahin, möglichst alle Eigenverantwortung abzugeben. Das Bewusstsein des eigenverantwortlichen Umgangs mit Risiken nimmt ab. Mode und gesellschaftliche Trends bestimmen unser Tun mehr denn je und beeinflussen unseren freien Willen und unsere Selbstständigkeit.
Kommt es im alpinen Gelände zu einem Unfall, wird sofort die Frage nach dem Schuldigen laut. Während Extrembergsteiger und Freerider in ihrem heldenhaften Treiben einerseits nahezu glorifiziert werden, bricht bei Unfällen in diesem Bereich sofort die Verurteilungswelle auf sie herein – sowohl in der konventionellen Presse als auch in den sozialen Netzwerken. Dabei hat häufig nur das unwahrscheinliche letzte Quäntchen Restrisiko zugeschlagen, wie es das beizeiten schon immer getan hat.
Ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur gesellschaftlichen Wahrnehmung kommt heute den Medien, den sozialen Netzwerken und der Politik zu. Ein objektives Maß für Risiko existiert im Grunde nicht. Spätestens seit Fukushima gilt die Atomenergie in weiten Teilen der Gesellschaft als sehr riskant, obwohl das tatsächliche Risikomaß aufgrund der sehr niedrigen Eintrittswahrscheinlichkeit eher gering ist. Das Auto wird im Gegensatz dazu als wenig riskante Möglichkeit zur Fortbewegung empfunden, obwohl die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens beachtlich ist.
Die Wirtschaftswissenschaften verstehen unter Risiko den Zusammenhang von Schadensschwere und Eintrittswahrscheinlichkeit einer möglichen Gefährdung – also eine simple Nutzen-Kosten-Relation. Im gesellschaftlichen Umgang mit dem Risikobegriff spiegelt sich das nicht wider, dieser ist abhängig von kulturellen und sozialen Werten.
Viele Disziplinen verstehen unter dem Risikobegriff Unterschiedliches, und so wird der Risikobegriff auch in der angewandten Lawinenkunde vielschichtig gebraucht.
Der Begriff Risiko wird in der angewandten Lawinenkunde in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Das führt häufig zu Verwirrung und Missverständnissen. Risiko kann allerdings verschiedene Aspekte haben, facettenreich sein und ist faktisch oft auch Ansichtssache:
Die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen Lawinenunfall, also eine Auslösung mit Personenbeteiligung, ist relativ gering. Wenn es dann aber zum Unfall kommt, ist das mögliche Schadensausmaß relativ hoch, bis hin zum Tod der Beteiligten. Das Schadensausmaß hängt aber sehr stark von der Geländesituation und dem Verhalten der Beteiligten ab.
Die Anwendung der analytischen Lawinenkunde geht vor allem einer Gefahrenbeurteilung nach, um das Risiko abzuschätzen. Dabei geht es vor allem um die Auslösewahrscheinlichkeit einer Lawine und den Einzugsbereich der Lawine. Nachgegangen wird also der Frage: »Der Hang ist sicher/unsicher, weil …«
Probabilistische Methoden treffen anhand langjähriger Unfalldaten eine Aussage zur Wahrscheinlichkeit für Lawinentote in Abhängigkeit von Gefahrenstufe und Geländeparametern. Es geht also nicht nur um die Wahrscheinlichkeit einer Lawinenauslösung – wie in der analytischen Lawinenkunde –, sondern um die Eintrittswahrscheinlichkeit für einen tödlichen Lawinenunfall. In der SnowCard wird diese ungefähre Wahrscheinlichkeit mit Farben (grün, gelb, rot) verdeutlicht. Am Ende steht also die Aussage: »Das Risiko hier ist so oder so groß.«
Hier steht das Schadensausmaß im Vordergrund. Hanggröße und Hangauslauf, Steilheit, Abbrüche, Geländefallen, Anzahl und Art der Personen im Hang, Hindernisse, Aufstiegs- oder Abstiegssituation: All diese Faktoren beeinflussen das effektive Risiko bei der Befahrung oder Begehung eines Hanges entscheidend.
Erst durch unser Handeln werden Naturgefahren zu Risiken für uns. Fähigkeiten und Können, Erfahrungswerte, Gruppenfaktoren, Werthaltungen, Motive und Bauchgefühl beeinflussen das Risiko in einem viel größeren Umfang, als wir uns das oft eingestehen wollen.
Risiken können durch Maßnahmen reduziert werden. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten: das Befahren eines Hanges vermeiden, durch Entlastungsabstände oder geschickte Routenwahl die Auslösewahrscheinlichkeit oder das Schadensausmaß – etwa durch Einzelfahrten – reduzieren.
Das Risiko auszulagern ist eine weitere Möglichkeit, damit umzugehen. Diese Strategie ist aus anderen Risikobereichen bekannt: In vielen Projekten wird durch Outsourcing bei der Auftragsvergabe das Risiko weitergegeben. In unserem Fall passiert das dann, wenn wir die Verantwortung an einen Bergführer oder Tourenleiter abgeben, sprich: uns führen lassen.
Im winterlichen Hochgebirge herrscht Lawinengefahr. Diese ist je nach Wetterbedingungen und Gelände unterschiedlich groß. In vielen Gebirgsregionen gibt es Lawinenwarnzentralen, welche die Gefahr und Ausprägung in Lawinenlageberichten im Detail beschreiben. Es gibt allerdings auch Gebiete ohne Lawinenwarnzentralen, ohne Lagebericht oder mit nur sehr rudimentären Gefahrenbeschreibungen.
An sich stellt die Lawinengefahr für den Menschen kein Problem dar, solange er zuhause bleibt und ihn die Gefahr nicht betrifft. Begibt er sich allerdings ins Gebirge, wo Lawinengefahr herrscht, wird diese zu einer Bedrohung. Oft sind es die Wintersportler selbst, welche die Lawine auslösen, die sie begräbt.
Über die Freiheit zu verfügen, eigenverantwortlich mit dem eigenen Leben umzugehen, bereichert und gibt Sinn. Sie ermöglicht, an selbst gewählten Aufgaben zu wachsen. Im Zusammenhang mit der Einschätzung und Beurteilung der Risiken durch Lawinengefahr sollte jeder die Freiheit haben, sein persönliches Maß an Restrisiko festzulegen und eigenverantwortlich zu entscheiden, wo die persönlich vertretbare Grenze liegt.
Dazu ist es aber notwendig, die Gefahr zu erkennen und das damit verbundene Risiko abschätzen zu können. Gerade im Umgang mit der Lawinengefahr ist das keine ganz einfache Angelegenheit. Letztendlich bewegen wir uns im winterlichen Gebirge mit all seinen Naturgefahren und somit in einer hochkomplexen, dynamischen Umwelt, deren Gefahrenpotenzial sich aus einer Vielzahl von Variablen zusammensetzt. Diese können wir unmöglich alle berechnen, kennen oder in eine Risikoformel einfügen. Aus diesem Grund können wir sie auch nur schwer abschätzen. Wir sind also gut beraten, eine akribische Informationssammlung und Vorplanung durchzuführen und diese immer wieder zu prüfen. Mindestens ebenso wichtig ist es, einen gesunden Zugang zur eigenen Intuition und dem eigenen Erfahrungswissen zu haben. Speziell für Anfänger und Einsteiger ist das eine schwierige Ausgangsposition. Der Angst als internem Überlebenstrieb kommt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Bedeutung zu. »Nur ein alter Bergsteiger ist auch ein guter Bergsteiger« heißt es. Vielleicht ist er aber auch nur ein ängstlicher Bergsteiger.
Für die Beurteilung der Lawinengefahr ist es wichtig, eine offene Strategie anzuwenden. Eine, die über unterschiedliche Zugänge versucht, die Gefahr und das daraus resultierende Risiko zu bewerten. So eine Strategie muss quer durch alle Erfahrungslevel – vom Anfänger bis zum Experten – anwendbar sein. Die Treffsicherheit ihrer Anwendung wird aber stets vom tatsächlichen Wissen und Können, von der Situation und ihren Umständen abhängen.
Alpine Kompetenz hängt maßgeblich von den Bausteinen Regeln, Wissen, Intuition und Distanz ab, die je nach Können des Anwenders bei der Beurteilung zum Einsatz kommen. Der Baustein Regel meint die Orientierung an einfachen Handlungsempfehlungen und -anleitungen, wie beispielsweise der SnowCard (→ Kapitel 4). Der Baustein Wissen umfasst beispielsweise das analytische Urteilsvermögen über Verhältnisse wie Schneedeckenaufbau, Lawinenprobleme oder Hangcharakteristika (→ Kapitel 3 und 5). Mit dem Baustein Intuition kommt dem menschlichen Bauchgefühl und unserem Erfahrungslernen eine entscheidende Rolle zu. Der Baustein Distanz beschreibt die Fähigkeit zur kritischen Reflexion über das eigene Tun sowohl in der Aktion als auch im Nachgang – denn nur aus den Fehlern werden wir in komplexen Umwelten lernen können (→ Kapitel 6).
Ein kompetenter Wintersportler sollte bei der Beurteilung der Lawinengefahr in der Lage sein, alle vier Bausteine bewusst einzusetzen, und somit ein schärferes Bild der Situation zeichnen zu können als der Anfänger. Dieser wird wiederum mehr Unterstützung von außen – von erfahrenen Freunden, Bergführern oder einem Verein – benötigen und die Verantwortung für die Entscheidungen im Risikofeld Lawine lieber abgeben.
Um in der Einschätzung des Risikos besser und rascher sattelfest zu werden, kann es hilfreich sein, sich von Bergführern begleiten zu lassen. Das wird allerdings nicht zur tatsächlichen Entwicklung im Umgang mit Lawinengefahr beitragen, weil dazu die notwendige Eigenverantwortung fehlt.
Auf einem Berg befinden sich stets Menschen mit unterschiedlichen Wissensständen und Erfahrungsschätzen: Anfänger, Fortgeschrittene und Experten. Auch diese drei Gruppen sind nicht einheitlich zusammengesetzt. Die Gruppe der Experten umfasst beispielsweise nicht nur Bergführer, sondern auch Einheimische, Gutachter, Lawinenprognostiker, Lawinenkommissionsangehörige, Schneeforscher und so weiter.
Je nach Anwendergruppe müssen unterschiedliche Methoden benutzt und diskutiert werden. Der Lawinenwarner wird mit seinen Blocktests, die er den ganzen Winter über täglich mehrmals in mehr oder weniger derselben Region durchführt, bestens bedient sein. Dem durchschnittlichen Skitourengeher bringt ein Blocktest wenig bis gar nichts, wenn er diesen nicht sinnvoll einordnen kann.
Ganz unabhängig von Erfahrung und Wissen lässt sich sagen, dass das Phänomen Lawine für uns Wintersportler ein lebenslanges Lernfeld ist. Eines, in dem die Demut der beste Ratgeber ist. Bruce Tremper, amerikanischer Pionier auf dem Gebiet der angewandten Lawinenkunde, brachte es 2018 auf dem International Snow Science Workshop vor einem internationalen Expertenpublikum auf den Punkt: »What I’ve learned in forty years as an avalanche forecaster and instructor is the following: ›Keep it simple.‹ When I teach classes I focus on two things: 1. Know before you go. If you don’t know, learn. If you do know, gather information. 2. If it’s dangerous, don’t go there.« (Übersetzung: »Was ich in vierzig Jahren in der Lawinenprognose und als Ausbildner gelernt habe, ist Folgendes: ›Je einfacher, desto besser.‹ Wenn ich unterrichte, konzentriere ich mich auf zwei Dinge: 1. Kenne die Grundlagen, bevor du losgehst. Wenn nicht, lerne sie. Wenn du sie kennst, sammle aktuelle Informationen. 2. Ist es gefährlich, geh nicht hin.«)
Aufgrund der Gefahrensituation einerseits und den individuellen Möglichkeiten andererseits, ergibt sich im Entscheidungsfeld des Lawinenrisikos ein Spektrum der tatsächlichen Gefährdung, das von sehr gering bis hin zu sicherlich tödlich reicht. Diese Bandbreite beschreibt das Basisrisiko, das bei jedem Aufenthalt im Lawinengelände eingegangen wird. Eigenkönnen und gezielte Vorsichtsmaßnahmen ermöglichen eine punktuelle Risikoreduktion, sodass am Ende entweder mehr oder weniger Restrisiko bestehen bleibt. Für den Umfang des Restrisikos ist in erster Linie das Level des stets vorhandenen Basisrisikos entscheidend.
Das Restrisiko hoch zu wählen ist zwar gefährlich, aber letztendlich eine Frage der individuellen Entscheidung. Inakzeptabel ist es, wenn ein zu hohes Risiko unwissend und ohne nachzudenken gewählt wird, und damit auch noch andere Beteiligte gefährdet werden.
Sobald sich eine Gruppe von Menschen im Lawinengelände bewegt, kommt der Aspekt der Verantwortung für den anderen mit ins Spiel. In diesem Zusammenhang wird von der Gesellschaft ein zurückhaltender Umgang mit dem Restrisiko gefordert, gleichzeitig soll aber dem immer höher werdenden Anspruch an Erlebnis- und Spaßfaktor nachgekommen werden. In diesem Problemfeld, das nicht nur Bergführer und Tourenleiter, sondern auch Ehepaare und Freundesgruppen betrifft, hilft uns auf Dauer nur eine klare Risikokommunikation. Eine, die transparent und offen ist und den notwendigen Verzicht für alle Beteiligten klar erkennbar vorschreibt. Für den Großteil der Skitourengeher geht es darum, eine Skitour bei akzeptablem Risiko zu unternehmen, und nicht darum, im Vorfeld tagelange Recherchearbeit zu betreiben und am Tag selbst mehrere Schneedeckenuntersuchungen durchzuführen, um dann vielleicht doch die mögliche Steilrinne zu probieren. Für Bergführer und Tourenleiter sollte es andererseits auch nicht darum gehen, das letzte unverspurte Fleckchen herauszukitzeln, um die Gäste zufriedenzustellen, sondern darum, ihnen ein verantwortungsvolles Gesamterlebnis im Rahmen der Bedingungen und Möglichkeiten zu bieten.
Bei Lawinengefahrenstufe 3 ist in einem großen, unüberschaubaren und sehr steilen Hang mitten in der Kernzone des LLB das Basisrisiko schon so hoch, dass auch eine ausgefeilte Risikoreduktion mit umfassenden Vorsichtsmaßnahmen die Lage kaum entschärfen wird können. Das Restrisiko wird recht hoch bleiben.
Eine Skitour durch einen lichten Bergwald bei Gefahrenstufe 2 in mäßig steilem, kleinräumigem kupiertem Gelände birgt hingegen ein überschaubares Basisrisiko. Bei der Anwendung üblicher risikoreduzierender Maßnahmen wird ein vertretbares Restrisiko bestehen bleiben. Das bedeutet allerdings nicht, dass auch in solchen Fällen das Schicksal seine grausame Seite zeigen kann und dieses letzte Quäntchen Restrisiko zuschlägt.
Lawinen werden im wissenschaftlichen Kontext primär nach dem Auslösemechanismus definiert. Die drei Lawinenarten Lockerschneelawine, Schneebrettlawine und Gleitschneelawine beschreiben damit also zunächst die Entstehungsform der jeweiligen Lawine. Jede Lawinenart kann dabei trockenen, feuchten oder nassen Schnee beziehungsweise eine Mischform mit sich führen.
Die Unterscheidung nach der Entstehungsart und das Verständnis der jeweiligen Auslösemechanismen sind essenziell, um Gefahren richtig zu erkennen und das Risiko angemessen bewerten zu können.
In seltenen Fällen – vor allem bei trockenem Schnee, sehr steilem Gelände und großen Höhenunterschieden – können Lockerschneelawinen enorme Geschwindigkeiten von bis über 300 Stundenkilometer erreichen. Das gilt im Grunde für alle Lawinenarten aus trockenem Schnee.
Das typische Erkennungsmerkmal von Lockerschneelawinen ist ihr punktförmiger Beginn. Oberflächlich lockerer Schnee, bei dem die Bindung der Schneekörner gering ist, kommt dabei auf zunächst kleinem Raum ins Rutschen und nimmt dann rasch weiteren Schnee in der Lawinenbahn und Umgebung mit. Lockerschneelawinen haben daher meist ein kegelförmiges Aussehen und werden nach unten breiter und gegebenenfalls auch tiefer, wenn im Verlauf des Lawinenabgangs auch darunterliegende Bereiche der Schneedecke mitgerissen werden.
Lockerschneelawinen starten zwar immer klein und langsam, können im Verlauf jedoch schnell an Geschwindigkeit zulegen. Sie lösen sich spontan, also ohne menschliches Zutun, typischerweise während oder nach größeren Neuschneefällen in Geländebereichen, die um 40 Grad oder steiler sind. Ursächlich für die Auslösung ist häufig auch ein Feuchtigkeitseintrag durch Sonneneinstrahlung, Wärme, hohe Luftfeuchtigkeit oder Regen. Lockerschneesituationen sind im Gelände meist eindeutig erkennbar und zeichnen sich durch eine hohe Lawinenaktivität aus.
Natürlich können Lockerschneelawinen auch durch Menschen oder Tiere ausgelöst werden. Ein unbeabsichtigtes Anschieben ist bereits ab einer Hangneigung von ungefähr 35 Grad möglich. Die größte Gefahr besteht dann für diejenigen, die sich unterhalb des Auslösers befinden.
Lockerschneelawinen können in trockenem, feuchtem oder nassem Schnee entstehen – Hauptsache, die Oberfläche ist locker. Bei sehr trockenem Schnee ist die Lawinenbahn oft relativ schmal und die entstehenden Ablagerungen bleiben verhältnismäßig geringmächtig. Da allerdings schon geringste Schneemengen in Bewegung ausreichen können, um Personen mit oder ohne Ski mitzureißen, spielt das umgebende Gelände eine wichtige Rolle. Hindernisse, Absturzgelände oder besonders ungünstige Verschüttungsstellen werden hier schnell zum Verhängnis.
Je feuchter beziehungsweise nasser der Lawinenschnee ist, umso breiter und tiefer kann die umgebende Schneedecke mitgerissen werden.
Von den drei Lawinenarten sind die Gefahren durch Lockerschneelawinen am einfachsten zu beurteilen. Die notwendigen Rahmenbedingungen in Hinblick auf Gelände, Schneedecke und meteorologische Faktoren sind relativ klar. Im alpinen Unfallgeschehen von Wintersportlern spielen sie daher auch eine untergeordnete Rolle.
Schneebrettlawinen stellen mit 90 Prozent den Löwenanteil am Lawinenunfallgeschehen von Wintersportlern im Alpenraum dar. Das ist insofern nachvollziehbar, als Schneebretter eine Zusatzbelastung zur Auslösung benötigen, die sehr häufig durch die involvierten Personen selbst geschieht. Das Zusammentreffen von Schneebrett und Wintersportlern ist also in den seltensten Fällen zufällig.
Die meisten Lawinenunfallopfer lösen die Lawine, die am häufigsten in Form eines trockenen Schneebretts auftritt, selbst aus.
Natürlich gibt es auch Situationen, in denen durch Masseneintrag im Einzugsgebiet Schneebrettlawinen von selbst losbrechen. Ähnlich wie bei Lockerschneelawinen sind diese Situationen jedoch üblicherweise an markante Wetterlagen geknüpft und daher für Warndienste wie auch Wintersportler leichter erkennbar. Entsprechend niedriger ist dann die Begehungs- und Befahrungsfrequenz im freien Gelände und somit auch die Anzahl an Unfällen.
Das typische Erkennungsmerkmal von Schneebrettlawinen ist ihr linienförmiger Anriss sowie die Abtrennung einer aufliegenden, brettartigen Schicht vom Rest der Schneedecke, die unmittelbar nach dem Auslösen in Schollen zerbricht und hangabwärts rutscht.
Wintersportler, die ein Schneebrett auslösen, finden sich oft unvermittelt inmitten der abgleitenden Schneemassen wieder. Flüchten oder ausfahren ist nur in den seltensten Fällen möglich – und wenn, dann nur von sehr versierten Personen. In Sekundenschnelle kann der ganze Hang in Bewegung geraten.
Damit die für Wintersportler so gefährlichen Schneebrettlawinen entstehen können, müssen folgende Mindestvoraussetzungen im Gelände gegeben sein:
Existenz einer Schwachschicht oder Schichtgrenze im Inneren einer geschichteten Schneedecke
Existenz einer überlagernden, gebundenen Schicht, dem sogenannten Brett
Mindesthangneigung von etwa 30 Grad
Auftreten einer Zusatzbelastung – zum Beispiel durch Skifahrer oder Neuschnee –, die letztendlich zum flächigen Versagen der Schwachschicht führt
Die genauen schneephysikalischen Vorgänge, die durch Bruchinitiierung und Bruchfortpflanzung zum Auslösen von Schneebrettlawinen führen, sind hochkomplex. Entsprechend schwierig und anspruchsvoll ist daher ihre Interpretation und eine sich daraus ableitende Gefahreneinschätzung. Aufgrund der Brisanz der Lawinenart Schneebrett ist es jedoch für alle, die sich im freien alpinen Gelände selbstständig bewegen wollen, enorm wichtig, diese Vorgänge zu verstehen.
In → Kapitel 5 tauchen wir tief in diese Materie ein. Die Prozesse, die bei einer Schneebrettauslösung eine Rolle spielen, sind dabei zentraler Bestandteil und haben die moderne Art und Weise, sich als Wintersportler dem Thema Schnee- und Lawinenkunde zu nähern, entscheidend geprägt.
Gleitschneelawinen besitzen einen völlig anderen Funktionsmechanismus als Locker- oder Schneebrettlawinen und stellen die dritte grundlegende Lawinenart dar.
Das typische Erkennungsmerkmal von Gleitschneelawinen ist die hangparallele Bewegung der gesamten Schneedecke. Ursächlich für das Abgleiten ist ein erhöhter Flüssigwassergehalt in der bodennahen Schicht. Die Gleitfläche selbst ist immer der Boden. Handelt es sich dabei um glatte Wiesen oder Felsplatten, wirkt sich das begünstigend auf das Abgleiten aus.
Auch wenn Gleitschneelawinen bei entsprechenden Verhältnissen zahlreich auftreten können, sind sie für Wintersportler von untergeordneter Bedeutung. Gleitschneelawinen sind die einzige Lawinenart, die nicht durch Zusatzbelastung, also Personen selbst auslösbar ist. Sie entstehen immer spontan. Für die wenigen Lawinenunfälle unter Schneeschuhwanderern, Tourengehern, Skifahrern und Freeridern im Zusammenhang mit Gleitschneelawinen gilt: »Zur falschen Zeit am falschen Ort.«
Nähere Infos zum Gleitschneeproblem auf → Seite 145.
Sogenannte Gleitschneemäuler – auch Fischmäuler genannt – kündigen das Schneegleiten im Gelände an und sind die Vorstufe zur Lawine. Die konkrete Gefahrenbeurteilung an solchen Stellen gilt jedoch allgemein als sehr schwierig, denn der tatsächliche Abgangszeitpunkt von Gleitschneelawinen ist kaum vorhersehbar. Er ist so gut wie unabhängig von der Tageszeit und momentanen Lufttemperatur und nur grob über ausgedehnte Aktivitätszyklen beurteilbar.
Wie auch beim Schneebrett und der Lockerschneelawine gibt es beim Gleitschnee die trockene und feuchte beziehungsweise nasse Variante. Da nur eine Mindestfeuchtigkeit an der Schneebasis gegeben sein muss, ist der Zustand der restlichen Schneedecke irrelevant.
Die Größenbezeichnungen von Lawinen sind in Europa durch die Lawinenwarndienste (European Avalanche Warning Services, EAWS) einheitlich festgelegt. Das ist wichtig, weil die Größen zu erwartender Lawinen Eingang in die Lageberichte finden und Teil der abgestimmten Gefahrenstufendefinitionen sind.
Neben den Dimensionen Länge – gerechnet vom Anbruchgebiet bis zum Ende des Auslaufbereichs – und Volumen der abgleitenden Schneemassen fließt auch das Schadenspotenzial in diese Klassifizierung mit ein. Insgesamt gibt es fünf Größenklassen:
Typisches Ausmaß
Länge: < 50 m
Volumen: 100 m3
Reichweite
Kommt typischerweise noch im Bereich des Steilhangs zum Stillstand.
Schadenspotenzial
Eine Verschüttung ist unwahrscheinlich, außer bei ungünstigem Auslaufbereich. Im extremen Gelände überwiegt die Absturzgefahr.
Typisches Ausmaß
Länge: 50–200 m
Volumen: 1000 m3
Reichweite
Kann den Hangfuß erreichen. Größe entspricht der typischen Skifahrerlawine.
Schadenspotenzial
Kann eine Person verschütten, verletzen oder töten.
Typisches Ausmaß
Länge: mehrere 100 m
Volumen: 10 000 m3
Reichweite
Überwindet flachere Geländeteile (deutlich unter 30 Grad) über eine Distanz von weniger als 50 Meter.
Schadenspotenzial
Kann Pkw verschütten und zerstören, schwere Lkw beschädigen, kleine Gebäude zerstören und einzelne Bäume brechen.
Gelangen Skifahrer in Lawinen dieser Größe, ist das Todesfallrisiko sehr hoch.
Typisches Ausmaß
Länge: 1–2 km
Volumen: 100 000 m3
Reichweite
Überwindet flachere Geländeteile (deutlich unter 30 Grad) über eine Distanz von mehr als 50 Meter. Kann den Talboden erreichen.
Schadenspotenzial Kann schwere Lkw und Schienenfahrzeuge verschütten und zerstören. Kann größere Gebäude und kleine Waldflächen zerstören.
Typisches Ausmaß
Länge: > 2 km
Volumen: > 100 000 m3
Reichweite
Erreicht den Talboden und ist die größte bekannte Lawine.
Schadenspotenzial
Kann die Landschaft verwüsten und hat katastrophales Zerstörungspotenzial.
Die typische Skifahrerlawine
Trockene Schneebrettlawinen der Größe 2 (mittlere Lawine) stellen mit Abstand die häufigsten Unfalllawinen von Wintersportlern dar. Gemittelt über alle Unfälle ergibt sich für den Alpenraum in etwa folgendes Bild:
Breite: 50 Meter
Länge: 150 Meter
Anrisshöhe: 50 Zentimeter
Verschüttungstiefe: 70 Zentimeter
Hangneigung im Anrissbereich: 38 Grad
Exposition: Nordost
Lawinengefahrenstufe: 3
Trotz modernster Technik und weit fortgeschrittener Erkenntnisse der Lawinenentstehung können Zeit und Ort von Lawinenabgängen nicht so präzise vorhergesagt werden, wie wir es uns als Wintersportler wünschen würden.
Lawinen und potentielle Gefahrenstellen sind nicht zufällig im Gelände verteilt. In der Regel lassen sich Aussagen zur Eingrenzung der Höhenlage und Hangausrichtung, zur sogenannten Exposition, und dem vermehrten Auftreten beziehungsweise der erhöhten Auslösewahrscheinlichkeiten innerhalb einer Region treffen. In den Lawinenprognoseberichten werden solche Zonen als besonders gefährdete Bereiche, vorwiegende Gefahrenstellen oder Kernzonen des Lawinenlageberichts beschrieben.
Im Alpenraum finden folgende Höhenstufenbezeichnungen Anwendung:
Hochalpine Lagen / Hochgebirge: oberhalb von 3000 Höhenmeter
Hohe Lagen: 2000 bis 3000 Höhenmeter
Mittlere Lagen: 1000 bis 2000 Höhenmeter
Tiefe Lagen: unterhalb von 1000 Höhenmeter
Die Begriffe sind insofern von Bedeutung, da sie regelmäßig in den Gefahrenbeschreibungen der Lageberichte Verwendung finden und dabei für konkrete Angaben zu definierten Höhenlagen stehen.
Nähere Infos zu probabilistischen Methoden in Kapitel 4 → Seite 52.
Schneebrettlawinen können bereits ab circa 30 Grad abgehen, weshalb Wintersportler im freien Gelände alle Hänge ab dieser Neigung als potentielles und damit genauer zu beurteilendes Lawinengelände betrachten sollten. Mit zunehmender Steilheit steigt die Auslösebereitschaft und damit die Anzahl der Gefahrenstellen sowie die Anzahl der Lawinen im Gelände. Auf dieser einfachen Grundlage bauen probabilistische Methoden zur Gefahreneinschätzung auf.
Zur Beschreibung der Geländesteilheit haben sich in der praktischen Lawinenkunde folgende Steilheitsklassen etabliert:
Mäßig steiles Gelände: unter 30 Grad
Steiles Gelände: 30–35 Grad
Sehr steiles Gelände: 35–40 Grad
Extrem steiles Gelände: 40 Grad und mehr
Die meisten Lawinenunfälle ereignen sich in sehr steilem Gelände, also bei 35 bis 40 Grad Hangneigung.
Der Begriff Steilhang beschreibt damit also potenzielles Lawinengelände ab 30 Grad Hangneigung. Felsdurchsetztes Gelände weist meistens Hangneigungen von 40 Grad und mehr auf und wird daher als extremes Gelände bezeichnet. Dies bezieht sich jedoch vornehmlich auf die Lawinenbeurteilung und weniger auf die skitechnischen Schwierigkeiten.
In diesem Zusammenhang sei auf den Effekt des S-Profils beim Arbeiten mit topografischen Karten hingewiesen. Kleinräumige Geländeversteilungen stoßen in Höhenlinienbildern schnell an die Grenzen der Darstellbarkeit. Eine 40 Meter hohe Steilstufe kann bei einem Höhenlinienabstand von 20 Metern unter Umständen komplett verloren gehen. Digitale Hangneigungskarten mit einer höheren Pixelauflösung sind hierfür zwar weniger anfällig, auch diese einzelnen Bildpunkte können aber leicht übersehen werden.
Im Gebirge kommen aufgrund seiner geomorphologisch markanten Geländeformen immer wieder Stellen vor, die vor allem für die Schneebrettbildung prädestiniert sind.
Rinnen und Mulden
In Rinnen und Mulden sammelt sich vermehrt Triebschnee an, der zur Auslösung als Schneebrettlawine durch einen einzelnen Wintersportler ausreichen kann. Rinnen und Mulden sind also besonders in Triebschneesituationen markante Gefahrenstellen. Da es sich dabei meist um lokale Stellen handelt, lassen sie sich aber häufig umgehen.
Kammlagen, Pässe und Joche
Nähere Infos zur Bildung von Schwachschichten auf → Seite 79.
Im Winter sind alpine Kammlagen dem Wind besonders oft und intensiv ausgesetzt, was zu unterschiedlichen Gefahrenursachen führen kann. Einerseits kann sich ähnlich wie in Rinnen und Mulden vermehrt Triebschnee ansammeln, andererseits führt das Abtragen von Schnee an den windexponierten Stellen zu geringmächtigen Schneedecken. Das forciert wiederum die Bildung von Schwachschichten. Im Bereich von Pässen, Jochen, Übergängen oder Scharten wird dieser Vorgang durch Düseneffekte nochmals verstärkt.
Trogschultern und Steilhänge unterhalb von Plateaus
Kalte Fallwinde, hervorgerufen durch lokale Windzirkulation, führen besonders unter Geländekanten zu vermehrten Gefahrenstellen. Speziell dann, wenn darüber große Plateaus oder Gletscherzonen liegen, wo sich umfangreich Kaltluft bilden oder sammeln kann.