Kerri Maher
Grace.
Das Mädchen mit den weißen Handschuhen
Roman
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann
Insel Verlag
Das hier ist für dich, Dad –
dafür, dass du immer an mich geglaubt hast.
Märchen erzählen erfundene Geschichten. Ich bin ein lebender Mensch. Ich existiere.
Falls eines Tages die Geschichte
meines Lebens als wahre Frau erzählt werden sollte, würden die Leute endlich erkennen,
wer ich wirklich bin.
(Gracia Patricia von Monaco)
Wenn Gracie einen Fürsten heiraten kann, dann kann es jedes amerikanische Mädchen … Ich bin sicher, eines Tages werden wir wahrheitsgemäß sagen können: »Und sie heirateten und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.«
(Margaret Majer Kelly)
März 1955
»Warum sind wir noch gleich hier?«, fragte Peggy, die flache Hand schützend über den Rand der Sonnenbrille gelegt. Es war erst Frühling, doch die Sonne in Jamaika schien bereits so gleißend und heiß wie in den Hollywood Hills im Juli.
»Schwesterherz, wir sind im Paradies. Da fragt man nicht nach dem Warum. Genieß es einfach«, erwiderte Grace lachend und griff nach dem cremeweißen Telefon, um einen Krug Ananassaft bringen zu lassen. Eigentlich hatte sie zwei Daiquiris mit hiesigem Rum bestellen wollen, aber dann erinnerte sie sich daran, dass Peggy gesagt hatte, sie wolle etwas kürzertreten, was den Alkohol betraf, und sie selbst musste einen klaren Kopf behalten, für Howell Conant, der später mit seinen Kameras kommen würde. Und für die bevorstehende Oscar-Verleihung wollte sie in Bestform sein. Auch wenn sie natürlich nicht gewinnen würde – es war vollkommen klar, dass Judy Garland die begehrte Statue bekommen würde, für ihre Rolle in Ein neuer Stern am Himmel.
Doch schon allein die Nominierung war ein großes Kompliment, und eines, das Dore Schary, der Chef von MGM, nicht lange ignorieren können würde – auch wenn Ein Mädchen vom Lande nicht aus seinem Studio stammte und nicht Teil ihres Vertrags mit ihm war. Wenn er sie weiter in seinem Stall haben wollte, würde er ein paar Opfer bringen müssen. Selbst er musste einsehen, dass sie ihre Strahlkraft als Star verlor, wenn er sie nur in Schrottfilmen wie Grünes Feuer spielen ließ, bloß weil es eine MGM-Produktion war. Und ebenso würde Oleg Cassini, wenn er, wie er behauptete, mit ihr zusammen sein und sein Leben mit ihr verbringen wollte, seine unerträgliche Eifersucht zähmen müssen. Sie hatte zu hart gearbeitet, um das alles einfach so hinzunehmen. Schließlich waren es ihr Leben und ihre Karriere. Schary und Oleg würden lernen müssen, sie ernst zu nehmen. Nach sieben Jahren beim Film wusste sie, welche Macht die Kamera hatte, und Howell Conant war das perfekte Instrument, um diese Macht einzusetzen.
Peggy verschwand in der Hütte und ließ Grace allein auf der steinernen Terrasse zurück, die auf den weiten, weißen Strand hinausging – ein endloser Bogen, der das sanft plätschernde blaue Wasser zu umarmen schien. Grace spürte den Sand unter ihren nackten Füßen und spielte mit den Zehen, deren Nägel unlackiert waren. Die Hände in die Hüften gestemmt, blinzelte sie in das grelle Mittagslicht und atmete tief ein. Ihre Schultern hoben sich mühelos und ihre Lunge füllte sich mit der warmen, salzigen Luft. So fühlte sich Freiheit an.
Auf einmal erinnerte sie sich daran, wie sie über den Holzsteg in Ocean City gelaufen war, Sand zwischen den Füßen, das Rauschen der Wellen, die auf den Strand rollten, über ihr das Geschrei der Möwen. Auch dort hatte sie sich frei gefühlt, in dieser schmalen, langgezogenen Stadt an der Küste von New Jersey, wo sie mit ihrer Familie jeden Sommer verbracht hatte. Solange sie draußen gewesen war, um sich vermeintlich auf dem Fahrrad oder im Meer auszutoben, und nicht in den kühlen, stuckverzierten Zimmern der Villa im spanischen Stil saß und mit ihren Puppen spielte oder las, hatten ihre Eltern sie in Ruhe gelassen. Unbeobachtet hatte sie stundenlang mit anderen Kindern Meerjungfrauen und Piraten gespielt, und als sie älter wurde, hatte sie ein Buch unter das Handtuch in ihrer Tasche geschmuggelt und war mit dem Rad so weit die Bay Avenue hinuntergefahren, dass sie außer Sichtweite ihrer Geschwister war und ungestört im Schatten eines Sonnenschirms lesen konnte.
Doch dieser Strandurlaub gehörte ihr allein. Niemand, den sie austricksen musste, und niemand, dem sie es recht machen musste, außer ihr selbst. Sie war fest entschlossen, ihn zu genießen, zusammen mit ihrer älteren Schwester, die eine Erholung gebrauchen konnte. Sie klatschte in die Hände und rief: »Peggy! Komm, lass uns in diesem herrlichen Wasser schwimmen!«
Es war eine wundervolle Woche. Das Wasser war warm, die Einheimischen waren freundlicher als alle Leute, denen sie seit Ewigkeiten in Los Angeles oder New York begegnet war, und wohin sie auch blickte, überall leuchteten üppige tropische Blumen in sämtlichen Schattierungen von Orange, Rot und Rosa. Und es gab Unmengen von Früchten. Auf jedem Markt aß sie eine Mango oder eine Orange am Stiel, fein säuberlich geschält und vorgeschnitten.
Selbst Peggy, die zu Hause immer depressiver geworden war, lebte auf. Zu Grace' Freude verzichtete sie sogar darauf, sich ein Bier oder ein Glas Rum zu bestellen, wenn sie in ihr Lieblingsrestaurant gingen, wo es dieses köstliche Jerk Chicken gab, von dem sie nicht genug bekommen konnten. Das Restaurant war sehr einfach, kaum mehr als ein paar Plastiktische und -stühle auf der nackten Erde, beschirmt von geflochtenen Bananenblättern, aber Howell hatte sie überzeugt, es auszuprobieren. »Laut einem befreundeten Journalisten ist es das beste auf der ganzen Insel«, hatte er gemeint. Grace war ziemlich stolz auf sich, weil sie sich gleich am ersten Abend hingewagt hatte. Am nächsten Morgen hatte sie einen Brief an Hitch, ihren Freund Alfred Hitchcock, geschrieben und fröhlich gespottet, die pingelige Lisa Fremont, ihre Rolle in Das Fenster zum Hof, könnte ohne weiteres den Fotografen Jeff Jefferies auf seinen Weltreisen begleiten, wenn Grace Kelly aus Philadelphia es schaffte, in Jamaika mit den Fingern scharf gewürztes Hühnchen zu essen.
Howell hielt alles fest – wie sie schwamm, in der Sonne lag, aß und lachte, stets vor dem bewegten Hintergrund des Meeres. »Die wahre Grace Kelly«, sagte er immer wieder und schüttelte in ungläubigem Staunen den Kopf. »Ganz bei sich. Niemand hat je zuvor einen Star gesehen, der so ehrlich und unverstellt ist.« Wenn er die Aufnahmen entwickelte, konnte sie es kaum erwarten, die fertigen Bilder zu sehen.
Gegen Ende der Woche saß sie bei Sonnenuntergang mit Howell und Peggy auf der Terrasse. Sie hatten gerade perfekt gegrillte Hamburger gegessen – immer noch ihr Lieblingsessen, ganz gleich, wie lecker andere Gerichte auch sein mochten.
»Ich möchte dir danken«, sagte Howell und erhob seinen Becher mit Rum, um mit ihrem Wasserglas anzustoßen. »Erst fand ich es riskant, diese Urlaubsaufnahmen von dir zu machen. Das gab es bisher noch nie. Aber ich habe das Gefühl, wenn die Leute diese Bilder sehen, könnte daraus ein neuer Trend werden.«
»Ich dachte mir, ich schlage zwei Fliegen mit einer Klappe«, erwiderte Grace. Sie fühlte sich satt und zufrieden und angenehm träge in der feuchten Abendluft, die ihr Haar am Nacken kleben ließ.
»Und welche Fliegen sind das?«, fragte Peggy, die sich offenbar plötzlich wieder an die Frage erinnerte, die sie am Anfang der Woche gestellt und dann angesichts des faulen Inseldaseins prompt vergessen hatte. Warum sind wir noch gleich hier?
»Nun ja, einerseits entspannen und der Welt von Hollywood entfliehen«, antwortete Grace, »und andererseits Howell das Coverfoto für Collier's geben, um das er mich gebeten hat. Ich wusste einfach nicht, wann ich das sonst unterbringen sollte. Und es war doch großartig, dich hier bei uns zu haben, Howell. Ohne dich hätten wir nie dieses Hühnchen gegessen –«
»Oder den traumhaften Strand auf der anderen Seite der Insel entdeckt«, fügte Peggy hinzu.
»Und wenn wir Schary dabei noch eine kleine Lektion erteilen, umso besser«, sagte Howell schmunzelnd.
»Nanu, Howell, hältst du mich für so machiavellistisch?«, fragte Grace mit Unschuldsmiene, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, wie sie es schon so oft erfolgreich vor der Kamera getan hatte. Ingénue. Wie sie dieses Wort hasste, das quasi gleichbedeutend mit ihrem Namen geworden war. Aber immerhin hatte sie gelernt, diese mädchenhafte Unschuld zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Howell lachte und trank den Rest von seinem Rum. »Ach, Grace, der Mann, den du mal heiratest, tut mir jetzt schon leid. Gegen dich hat er keine Chance.«
»Mach dir deswegen mal keine Sorgen, Howell«, sagte Peggy schläfrig. »Die Kelly-Frauen sind überaus fügsam, wenn es um die Männer geht. Dafür hat Daddy schon gesorgt.« Grace zuckte innerlich zusammen. Jack Kelly war der Letzte, an den sie in diesem Augenblick erinnert werden wollte. Er würde von diesen Fotos nicht beeindruckt sein; er ließ sich von gar nichts beeindrucken.
In der Nacht schlief sie nicht gut, und als Howell sie am nächsten Tag beim Schwimmen fotografierte, fühlte sie sich eigenartig, die Arme und Beine waren wie aus Gummi. Und all die Kraft, die sie die ganze Woche über gespürt hatte, schien plötzlich verschwunden zu sein.
Als sie mit dem Kopf aus dem Wasser auftauchte, kniete Howell in den Wellen und neigte sich mit dem ganzen Körper nach links, das Gesicht hinter seiner Kleinbildkamera verborgen. Er sagte: »Du siehst hinreißend aus, Grace. Und du bist intelligenter und talentierter, als sie alle glauben. Stell dir Scharys Gesicht vor, wenn du den Oscar kriegst.« Und für einen winzigen Moment, gerade so lange, wie die Kamera brauchte, um die Blende zu öffnen und wieder zu schließen, verzog sie ihre Lippen zu einem angedeuteten Lächeln und glaubte an das Unmögliche.
1969
Vierzig. Noch nie zuvor hatte sie angesichts eines Geburtstags den Drang verspürt, wegzulaufen und sich zu verstecken, aber jetzt war es so weit. Bis zu dem Tag selbst war es noch Monate hin, aber Rainier und die Kinder und das Personal im Palast wollten wissen, wie Ihre Durchlaucht feiern wollte.
»Gar nicht«, sagte sie zu Rainier, als sie im Fond des schwarzen Mercedes saßen, auf dem Weg zu einem weiteren offiziellen Diner. Unterwegs in kleinen, abgeschlossenen Räumen, die sie von A nach B brachten – das schienen mittlerweile die einzigen Gelegenheiten zu sein, bei denen sie sich sahen.
»Komm schon, Grace, das sieht dir gar nicht ähnlich«, sagte Rainier und ergriff ihre Hand. Sie entzog sie ihm und legte sie in ihren Schoß, der in pfirsichfarbene Shantung-Seide gehüllt war. Das Kleid würde am nächsten Morgen in allen Zeitungskolumnen erwähnt werden; sie würden den eleganten Schnitt und die kunstvollen Stickereien beschreiben und kaum oder gar kein Wort über die Bücher verlieren, aus denen sie morgens den Kindern im Krankenhaus vorgelesen hatte, oder über die vielen Stunden, die sie damit zubrachte, die Rote-Kreuz-Gala vorzubereiten, sich in der ermüdenden Kunst der Diplomatie zu üben, damit sie keinem der Spender auf die Zehen trat und alle wichtigen Leute sich hinreichend geschmeichelt fühlten.
»Verzeih mir, Rainier«, sagte Grace in ihrem liebenswürdigsten Tonfall. »Ich bin wohl … einfach nicht ich selbst.« So eine vage Erklärung war die beste Strategie bei ihrem Mann. Er interessierte sich nicht für ihre wahren Gefühle und Gedanken. Das hatte lange an ihr genagt, diese Erkenntnis, dass er sie nicht verstand und auch gar kein Interesse daran hatte, sie zu verstehen. Doch vor einer Weile war ihr klar geworden, wie viel leichter ihr Leben hier in Monaco dadurch wurde. Solange er nicht fragte, brauchte sie nichts zu erklären, und so konnte sie ihre Kräfte für die Dinge schonen, bei denen sie wirklich unterschiedlicher Meinung waren.
»Könntest du versuchen, bis zum zwölften November wieder du selbst zu sein?«, fragte er. »Denn unsere Untertanen würden ihrer Fürstin an diesem besonderen Tag gern ihren Respekt erweisen, und ich fürchte, sie würden es nicht verstehen, wenn es keine Feier gäbe.« Sein Tonfall war durchaus geduldig, aber sie wusste, dass er es in einer Woche nicht mehr sein würde, wenn sie nicht nachgab. Jetzt zog er nur die dunklen Brauen hoch, um anzudeuten, dass er natürlich verstand, warum es ihr widerstrebte, einen so privaten Anlass mit einem Fürstentum zu teilen, aber dass sie beide wussten, was richtig war und was getan werden musste.
Dennoch spürte Grace die Ironie der Situation ganz deutlich: Wenn Rainier zu viel Aufwand trieb, würde man sie als selbstherrlich verurteilen und ihre harte Arbeit für das Fürstentum noch weniger anerkennen. Eine regelrechte Marie Antoinette mit Hermès-Tasche und Diamantdiadem. Aber wenn sie ihren Geburtstag nicht feierte und einfach in Jeans und Pullover mit ihrer Familie Hamburger essen ging, würde sie ihrem eleganten Fürstentum nicht gerecht werden, dessen Untertanen von ihr erwarteten, dass sie stets wie einem Modemagazin entstiegen aussah.
Sie fand es erstaunlich und deprimierend, dass sie nach fast dreizehn Jahren als Ehefrau und Fürstin noch immer mit diesem Dilemma rang. Erst letzte Woche hatte sie das Krankenhaus besucht, das sie mit derselben Sorgfalt renoviert und modernisiert hatte, wie die meisten Frauen sie auf ihr Zuhause verwendeten, sodass aus Monacos schlecht ausgestattetem medizinischen Zentrum ein modernes Vorzeigekrankenhaus geworden war. Da sie wusste, dass man sie fotografieren würde, wenn sie die Patienten auf der Krebsstation besuchte, hatte sie ein schlichtes Sommerkostüm angezogen und dazu ihre Chambray-Keds, ihre »hässlichen Turnschuhe«, wie die erst zwölfjährige, aber schon sehr modebewusste Caroline sie nannte. Sie bat die Fotografen, ihre Füße nicht mit aufs Bild zu nehmen, und erklärte ihnen, sie habe die Turnschuhe extra angezogen, damit sie so viele Patienten wie nur möglich besuchen könne, ohne selbst in der Orthopädie zu landen.
Sie hatte gedacht, der Scherz würde die Stimmung auflockern, aber mehrere der anwesenden Krankenschwestern runzelten die Stirn, und eine schüttelte sogar missbilligend den Kopf. Diese Krankenschwester war sehr alt; die vielen Sommer am Strand hatten tiefe Furchen in ihr gebräuntes Gesicht gegraben. Grace unterdrückte ein Seufzen angesichts dieser verbreiteten und oft widersprüchlichen Reaktionen auf ihre Anwesenheit: Verehrung für ihre Mutterschaft, aber Verurteilung ihrer Erziehungsmethoden; Dankbarkeit für ihre Wohltätigkeit, aber Kritik an ihrer Kleidung; und vor allem Freude über ihre Schönheit, aber Feindseligkeit, weil sie aus einem weit entfernten Land stammte, einer »imperialistischen« Nation, die mit Frankreich unter einer Decke steckte, das Monaco unter dem Pantoffel halten wollte.
All das war immer noch besser als die unverhohlene Feindseligkeit, die Rainier zu Beginn ihrer Ehe gespürt und zum Anlass genommen hatte, ihre sämtlichen Filme im Fürstentum zu verbieten. Doch Grace verzweifelte an dem Gefühl, dass die Monegassen sie niemals wirklich als eine von ihnen anerkennen würden, ganz gleich, was sie als ihre Fürstin tat. Wie sich gezeigt hatte, waren sie viel schwerer zu beeindrucken als die Kinobesucher, die sie als Schauspielerin gefesselt hatte.
Aber dann lachte eine der ganz jungen Krankenschwestern, deutete auf ihre eigenen weißen Treter und sagte: »Da sind Sie nicht die Einzige, Durchlaucht.«
Grace hatte so herzlich gelächelt, wie sie es vermochte, und erwidert: »Danke für Ihr Verständnis.« Vielleicht würde diese jüngere Generation ihr irgendwann das Gefühl geben, hier zu Hause zu sein.
»Tu, was du für richtig hältst«, sagte Grace nun mit einem leichten Seufzer, weil sie wusste, dass es sinnlos war, ihre Einwilligung hinauszuzögern. Auch das hatte sie gelernt: nachzugeben, wenn es ging, und so schnell wie möglich. Dann lief alles glatter, und es gab weniger unbequeme Diskussionen. »Ich bin sicher, Marta und Meredith werden ein sehr schönes Fest ausrichten.« Auf ihre jeweiligen Privatsekretärinnen war stets Verlass.
»Gibt es irgendetwas Besonderes, das du dir wünschst?«, fragte er besänftigt mit neckender Stimme. Sie zuckte innerlich zurück – gut, dass er nach diesem Abendessen bestimmt zu erschöpft für alles andere als Schlaf sein würde.
»Friede auf Erden? Den Menschen ein Wohlgefallen?«, scherzte sie und wich den amourösen Avancen geschickt aus, wie sie es damals bei Hitch und all den anderen getan hatte. Was für eine gute Vorbereitung ihre Jahre in Hollywood für das Dasein als Ehefrau doch gewesen waren – auch wenn sie zu der Zeit das Gegenteil befürchtet hatte.
Rainier schmunzelte, sodass sein schmaler Schnurrbart sich auf der rechten Seite nach oben bog. »Ich dachte eher an etwas, das allen zugutekommt. Vielleicht einen kleinen Park für deine geliebten Blumen? Oder eine Statue an der Promenade?«
»Bitte, Rainier, nichts für mich oder gar mit meinem Bild«, sagte sie erschrocken und peinlich berührt. Hoffentlich geriet dieses Gespräch nicht außer Kontrolle. »Wenn es sein muss, spende etwas in meinem Namen. Ja, ein Park wäre schön. Oder ein Anbau für die Bibliothek, oder ein paar Aufführungen im Theater, die sich alle umsonst anschauen können …«
»Damit du darin auftreten kannst?«, fragte er scherzend, doch die vertraute Herablassung war deutlich zu hören.
Sie lachte, um Leichtigkeit bemüht. »Ganz bestimmt nicht! Wer will denn eine alte Schabracke wie mich auf der Bühne sehen?«
Die eigene boshafte Bemerkung versetzte ihr einen Stich, doch das verging rasch, als sie sah, dass das Gespräch damit beendet war. Rainier nickte, dann wandte er sich ab und blickte aus dem Seitenfenster in die von bunten Neonlichtern erhellte Dunkelheit. Wie sie diese Lichter hasste – jedes einzelne von ihnen verschandelte die dramatische Schönheit ihres neuen Heimatlandes. Gott sei Dank hatte Rainier es schließlich eingesehen und die Errichtung weiterer solcher Scheußlichkeiten verhindert.
»Denk an deine Brille«, sagte er, als der Wagen an seinem Ziel anhielt. Draußen drängten Menschen und Kameras herbei. Sie vergaß oft, dass sie ihre Brille trug, da ihr das Vergnügen, mehr als anderthalb Meter weit sehen zu können, vollkommen normal erschien. Doch Rainier erinnerte sie stets daran, sie in der Öffentlichkeit abzunehmen.
»Danke, Liebling«, erwiderte sie automatisch, nahm die Schildpattbrille ab und verstaute sie in dem diskreten, lederbezogenen Fach zwischen den Sitzen. Sofort wurde die Welt unscharf, und als man ihr die Tür öffnete, war sie froh über das übliche Blitzlichtgewitter, weil es ihr einen Vorwand gab, die Augen zusammenzukneifen, während sie lächelnd darauf wartete, dass Rainier sie an seinem Arm die Stufen hinaufführte.
Kaum etwas fand sie so wohltuend wie den Anblick ihres aufgeräumten Schreibtisches. Briefpapier, Stifte, Tinte, Papiertücher, Büroklammern und all die anderen Utensilien lagen ordentlich in kleinen Fächern innerhalb der Schubladen, und die Oberfläche war aus glänzend lackiertem Holz. Das Ganze war so wunderbar schlicht, dass sie einen Seufzer der Erleichterung ausstieß.
Da sie an diesem Tag keine Termine hatte, gönnte sie sich den Luxus, sich barfuß und in ihrer bequemsten Jeans und einem Baumwollpullover in ihren Polstersessel zu setzen. Sie nahm ein paar Bögen Papier und ihren Lieblingsfüllfederhalter heraus, ein Geschenk von ihrem Onkel George, als sie 1947 das Haus in der Henry Avenue verlassen hatte, um an der American Academy of Dramatic Arts zu studieren. Wie alle mit Sorgfalt gemachten Dinge funktionierte er noch immer genauso gut wie vor zweiundzwanzig Jahren. »Ich möchte, dass du mir schreibst und mir von all deinen Abenteuern erzählst«, hatte Onkel George gesagt. »Auch von den ungezogenen«, hatte er unter den Dolchblicken ihrer Mutter leise und verschwörerisch hinzugefügt. Grace hatte mädchenhaft gekichert, obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, was für eine Art Ungezogenheit er meinte.
Tja, und jetzt machte sie sich Sorgen, dass Caroline in Schwierigkeiten geriet. Und im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter, die wirklich kaum Anlass gehabt hatte, sich um Grace Gedanken zu machen, hatte Grace nur allzu gute Gründe, sich um ihre eigensinnige Tochter Caroline zu sorgen. Das Mädchen war noch nicht mal ein Teenager und trotzdem kaum zu bändigen. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, wie Caroline mit siebzehn sein würde, im gleichen Alter wie Grace, als sie von zu Hause fortgegangen war. Und auch die Welt hatte sich so verändert – dagegen war die vergleichsweise unschuldige Ungezogenheit ihrer Jugend vollkommen harmlos. Grace schauderte bei dem Gedanken, welche Ausschweifungen ihre älteste Tochter erwarten mochten, und das obendrein unter den gierigen Blicken der Paparazzi.
Obwohl es Dringenderes gab, um das sie sich kümmern musste, beschloss sie, sich die Zeit zu nehmen, um Onkel George ein paar Zeilen nach Kalifornien zu schicken. Sie würde ihm die neuesten Geschichten von den Kindern erzählen und ihn fragen, wie er seinen vierzigsten Geburtstag begangen hatte. Er war ihr immer eine Inspiration gewesen – vielleicht konnte er ihr ein paar Ideen für ihre ungewollte Feier geben.
Stunden vergingen in zufriedener, produktiver Stille, und als sie Hunger bekam, ging sie in die Küche, die sie im privaten Bereich des Palastes hatte einbauen lassen und in der Bedienstete keinen Zutritt hatten, es sei denn auf ausdrückliche Anweisung. Sie machte sich ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade und aß es im Stehen, den Blick durch das große Fenster nach draußen auf das glitzernde Saphirblau des Mittelmeers gerichtet, das am Horizont auf das hellere Blau des Himmels traf. Am Rand ihres Gesichtsfelds erhoben sich zu beiden Seiten die schroffen Felsen ihres kleinen Stücks der Côte d'Azur, steile, grün bewachsene Hänge, durchsetzt von roten Ziegeldächern und altem Mauerwerk. Das Wasser war gesprenkelt mit weißen Jachten, die von hier oben alle mehr oder weniger gleich aussahen, bis auf die Christina O., das Riesenschiff von Aristoteles Onassis. Um diese Tageszeit war das Sonnenlicht strahlend weiß und funkelte auf dem Wasser wie Tausende kleiner Juwelen.
Grace spülte ihr süßes, klebriges Mittagessen mit einem Glas kalter Milch hinunter, und für einen seltenen, kostbaren Augenblick hatte sie das Gefühl, dass das Leben schön war. Und dieses Leben hatte sie sich in den vergangenen sieben Jahren, seit jener schmerzlichen Zeit 1962, als sie Hitchs Angebot ablehnen musste, in Marnie mitzuspielen, und sich endgültig von der Schauspielerei verabschiedet hatte, selbst aufgebaut. Ihre Vormittage verbrachte sie mit Korrespondenz und Meetings, in denen es meist um die Kinder und ihre Wohltätigkeitsarbeit ging – das Krankenhaus, das Rote Kreuz, die von ihr gegründete Kinderhilfsorganisation AMADE und ihre florierende Stiftung für die Künste. Sie fand Befriedigung darin, junge Tänzer und Kunsthandwerker zu fördern, auch wenn es ihre Seele nicht so berührte, wie es die Schauspielerei getan hatte. Doch das behielt sie für sich, denn sie wollte auf keinen Fall, dass man sie für undankbar hielt.
Und an den Nachmittagen bemühte sie sich, so viel wie nur möglich für ihre Kinder da zu sein. In ein paar Stunden würden sie und die vierjährige Stéphie sich zum Musikunterricht aufmachen, an dem sie wöchentlich mit einigen anderen monegassischen Müttern und Kindern teilnahmen. Danach würden sie zu einem Spielplatz gehen und dann nach Hause, zum Abendessen mit Caroline. Grace genoss die einfachen gemeinsamen Mahlzeiten. Nudeln und Möhren, Fischstäbchen und Pommes frites, Kitzeln und Lachen – wenn sie mit den Mädchen allein war, gönnte sie sich und ihnen ein wenig amerikanischen Alltag und übermütiges Laissez-faire. Leider war Caroline mittlerweile fast zu alt für diese kleinen Albereien, aber Grace war entschlossen, so lange wie nur möglich daran festzuhalten.
Sie schob den Gedanken an Albie, der den ganzen Tag in der Schule und bei diversen Sportveranstaltungen verbrachte, beiseite, weil er zu schmerzlich war. Er kam erst spät nach Hause, vollkommen erschöpft, gab seiner Mutter einen Gutenachtkuss und fiel ins Bett. Wie sehr würde ihr Sohn die Abendessen mit seiner Mutter und seinen Schwestern genießen – schließlich war er noch ein Junge, gerade mal elf Jahre alt! Wie sehr sie sich wünschte, er wäre hier!
Ob sie Rainier am Abend sehen würde? Sie wusste es nicht, und sie versuchte, nicht zu lange über diese Frage und die unausweichliche und enttäuschende Antwort nachzudenken.
Gerade als sie an ihren Schreibtisch zurückkehrte, klingelte ihr privates Telefon.
»Hallo?«, sagte sie, und ihr Herzschlag beschleunigte sich, wie immer in diesem winzigen Moment zwischen ihrem Gruß und dem der Person am anderen Ende. Wer konnte es sein? Welche Ablenkung mochte ihr der Anruf bieten?
»Gracie? Ich bin's, Prudy. Wie geht's dir?« Die Stimme ihrer Freundin klang munter und überschwänglich. Sie schien sich zu freuen, dass Grace direkt beim ersten Klingeln abgenommen hatte. Sie telefonierten schon seit fast zwanzig Jahren miteinander, seit dem Ende ihrer gemeinsamen Zeit im Barbizon, als sie auf demselben Flur gewohnt hatten, und Grace war unendlich dankbar für dieses Stück moderne Technik, das es ihnen ermöglichte, über Kontinente und Ozeane hinweg in Verbindung zu bleiben.
Grace lümmelte sich wieder in ihren Sessel. Auch sie freute sich, mit einer alten Freundin zu sprechen. Eine kleine, aber wunderbare Flucht. »Mir geht's gut, Prudy. Kann mich nicht beklagen, außer darüber, dass ich in ein paar Monaten vierzig werde. Rainier will mir unbedingt etwas schenken und ein Fest feiern.«
»Du weißt schon, dass du wie eine Prinzessin klingst, oder?«, zog Prudy sie auf.
»O ja, und eine von der schlimmsten Sorte. Aber das mit dem Älterwerden ist schon so eine Sache. Was hast du denn zu deinem Vierzigsten gemacht?«
»Ich bin ins Kino gegangen und habe mich im Dunkeln mit Popcorn vollgestopft, anschließend habe ich mir zu Hause eine Flasche sehr guten Rotwein gegönnt.«
»Du meinst, Arthur hatte gar nichts für dich geplant?«
»Ich hatte ihm gesagt, dass ich das nicht will. Und er hat sich leider dran gehalten. Warum wünschst du dir nicht eine Reise nach Indien? Du bist doch immer gern an exotische Orte gereist. Oder nach Ägypten. Schau dir eins von den sieben Weltwundern an.«
Grace hörte im Geist plötzlich das Trompeten eines Elefanten und das Klatschen seiner Ohren. Sie war bis nach Afrika geflogen, um mit Clark Gable einen Film zu drehen, und hatte ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag im Kongo gefeiert. »Weißt du was? Du hast recht«, sagte sie, und bei der Vorstellung, dass sie noch einmal dieses Mädchen sein könnte, löste sich etwas in ihr.
Doch dann wurde es wieder steinhart. Rainier reiste nicht gern weiter als bis in die Staaten, und wenn sie allein nach Indien flog, würde das vermutlich für viele hochgezogene Augenbrauen sorgen. Trotzdem sagte sie zu Prudy: »Ich denke darüber nach«, und fragte sich, ob ihre alte Freundin wusste, dass sie log.
Eine Weile plauderten sie darüber, was sie beide so gemacht hatten, und Grace war sehr interessiert, als Prudy erzählte, dass sie sich seit neuestem an Blumenarrangements versuchte. Ihr war sogar die Ehre zuteilgeworden, für die kommenden Feiertage eine große Vase mit winterlichen Zweigen und Beeren für die Town Hall zusammenzustellen. Grace hatte Blumen schon immer geliebt und lernte mehr darüber, seit sie eng mit dem Chefgärtner zusammenarbeitete, um die Bepflanzung rund um den Palast zu erneuern.
»Und ist das mit Josephine nicht schrecklich?«, sagte Prudy schließlich.
Einen Moment lang war Grace verwirrt. »Josephine?«
»Baker. Erinnerst du dich nicht mehr an den Vorfall damals im Copa?«
»Wie könnte ich das vergessen? Sie haben sie unmöglich behandelt.« Grace spürte die Ungerechtigkeit noch genauso in ihrem Herzen wie in jenem Augenblick, als sie einer der weltberühmtesten Sängerinnen wegen ihrer Hautfarbe den Zutritt zu dem versnobten Club verwehrt hatten. »Was ist denn mit ihr?«
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass man sie aus ihrem Haus in Frankreich geworfen hat. Irgend so ein Château.«
»Was?«, rief Grace empört, und ihre Hand umklammerte den Telefonhörer fester.
»Sie und alle ihre Kinder«, bestätigte Prudy.
Grace zog die unterste Schreibtischschublade auf und holte ein riesiges, abgegriffenes Adressbuch heraus, das mit lauter losen Umschlägen und Visitenkarten vollgestopft war. Sie war sicher, dass sie dort irgendwo Josephines Telefonnummer notiert hatte. Sie leckte den Zeigefinger an und begann zu blättern.
»Gracie? Bist du noch da?«, fragte Prudy durch den Hörer.
»Ja, ja, bin ich«, erwiderte sie zerstreut. »Ich versuche, Josephines Nummer zu finden. Ich habe hier eine alte unter ›Baker‹, aber die ist bestimmt nicht mehr gültig … Ah! Da ist ihre Weihnachtskarte vom letzten Jahr.« Und eine Nummer stand drauf. Hoffentlich hatten sie das Telefon nicht schon abgeschaltet.
Sie hörte Prudy am anderen Ende lachen. »Das ist die Gracie, die ich kenne und liebe«, sagte sie. »Nicht die, die sich von einem Geburtstag in die Knie zwingen lässt. Dann mal los, Tiger!«
Grace musste ein paar Tage herumtelefonieren, mit Maklern, die ein so stark regional gefärbtes Französisch sprachen, dass sie kaum ein Wort verstand, mit der Polizei in der Dordogne, wo Josephines Château lag, und mit früheren Nachbarn, die zwar Mitgefühl zeigten, aber voller Vorurteile waren und sie nur als la négresse bezeichneten. Grace ärgerte sich darüber und auch über sich selbst, weil sie es zugelassen hatte, dass aus Josephine und ihr Weihnachtskartenfreundinnen geworden waren. Dass sie den Grund dafür genau kannte, machte es nur noch unverzeihlicher – und sie umso entschlossener, ihre alte Freundin zu finden und ihr zu helfen. Furchtlos und eigensinnig, mit einer jahrzehntelangen Karriere als Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin, ausgezeichnet mit zwei hohen französischen Verdienstorden für ihren Einsatz im Zweiten Weltkrieg, ganz zu schweigen von den ganzen gebrochenen Herzen, die auf ihre Karte gingen, hatte Josephine Baker Grace zu sehr daran erinnert, was sie alles nicht war. Außerdem wusste sie, dass Rainier nicht viel von Josephine hielt, nicht so sehr wegen ihrer freizügigen Auftritte, sondern wegen ihrer vielen Adoptivkinder, die aus so fernen Ländern wie Japan und Kolumbien stammten.
Ihr Rückzug war ein Fehler gewesen, erkannte Grace, und mit energischer Entschlossenheit machte sie sich daran, ihn zu korrigieren.
Als sie Josephine endlich am Telefon hatte, sprudelte sie in der Hoffnung auf Vergebung drauflos, fast als säße sie im Beichtstuhl: »O Josephine, es tut mir so leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Als ich hörte, was dir und deinen Kindern passiert ist, habe ich sofort versucht, dich zu erreichen. Wie kann ich dir helfen?«
»Grace! Was für eine Überraschung! Mach dir keine Gedanken. Meine Güte, musst du nicht ein Land regieren?« Sie lachte mit ihrer samtigen, melodischen Stimme, die trotz der langen Jahre im Ausland immer noch ungekünstelt und amerikanisch klang. »Erzähl mir von dir und deinen wunderbaren Kindern.«
Grace schilderte kurz ihre üblichen Highlights – Albies Begeisterung für die Leichtathletik, Carolines wachsendes Interesse an der Politik und die Abenteuerlust der kleinen Stéphie –, dann sagte sie: »Und ich würde gern mehr über deine Kinder erfahren, deshalb sollten wir unsere Kalender herausholen und ein Treffen vereinbaren. Aber zuerst möchte ich wissen, wo du wohnst und ob du … irgendwas brauchst.« Es war nicht einfach. Sie wollte nicht zu weit vorpreschen und diese Legende, die ihre Freundin war, nicht in Verlegenheit bringen. Aber sie konnte auch nicht tatenlos zusehen, wie diese Legende womöglich obdachlos wurde.
»Du bist immer sehr nett gewesen, Grace.«
»Ich wünschte, ich wäre mehr als nur nett gewesen. Ich wünschte, ich wäre eine bessere Freundin gewesen«, sagte Grace.
»Ach, Unsinn«, sagte Josephine. »Aber hör mal, ich kann doch nicht von dir verlangen, meine ganze Brut bei dir aufzunehmen, auch wenn du in einem Palast lebst.«
»Aber vielleicht kann ich ja eine andere Unterkunft für dich finden. Irgendwas, das groß genug ist und hier in der Nähe und –«
»Bezahlbar.«
»Darum kümmern wir uns später. Ich würde dir gern helfen, so gut ich kann.« Grace hielt inne; ihr Herz pochte so laut, dass es ihr in der Brust und in den Ohren dröhnte. »Natürlich nur, wenn du das möchtest«, fügte sie hinzu. »Ich verstehe, wenn du nicht kannst oder nicht willst.«
Eine Weile herrschte Stille am anderen Ende der Leitung, und Grace hielt die Luft an, während sie auf die Antwort wartete.
Josephines Stimme klang leiser, rauer, als sie sagte: »Ich möchte keine Almosen von dir, Grace. Ich bestehe darauf, es dir zurückzuzahlen.«
»Du kannst es mir zurückzahlen, indem du wieder singst«, erwiderte Grace, da sie spürte, dass die ganze Wahrheit – wenn hier jemand etwas wiedergutmachen muss, Josephine, dann bin ich es – das Unbehagen zwischen ihnen nur vergrößern würde. »Hast du in letzter Zeit gesungen?«
»Nun ja … ich habe es schon seit einer Weile vor.«
»Das ist ja großartig«, sagte Grace, und eine warme, vibrierende Dankbarkeit durchströmte ihren Körper.
Sobald sie genug Informationen gesammelt hatte, bereitete sie sich auf das Gespräch mit Rainier vor. Als die Kinder im Bett waren, servierte sie ihm sein Lieblingsessen – gebratenes Hähnchen mit Estragonsauce –, und während sie aßen, bemerkte er: »Du wirkst in den letzten Tagen zufriedener. Hast du noch mal über deinen Geburtstag nachgedacht?«
Sorgfältig tupfte sie sich ein wenig Sauce von der Unterlippe, dann legte sie die gestärkte weiße Serviette wieder auf ihren Schoß. Sie hatte absichtlich das Bouclé-Kostüm anbehalten, das sie zuvor beim Besuch des Roten Kreuzes getragen hatte, um ihren Mann daran zu erinnern, wie viel Gutes sie jeden Tag in seinem Namen für Monaco tat. »Ich hoffe, dass ich zufriedener wirke, wenn ich etwas für andere tue.« Sie lächelte, dann holte sie tief Luft.
»Du erinnerst dich doch an Josephine Baker?«
»Natürlich«, erwiderte er. »Ihre Songs haben mir immer gefallen, und im Krieg hat sie eine wichtige Rolle gespielt. Ihr beide wart doch früher befreundet, nicht?« Er lächelte ihr zu, und in diesem Lächeln sah sie all seine besten Eigenschaften – die Großzügigkeit seines Herzens, seinen Wunsch, Monaco zum Besseren zu verändern, und den Vater, der für seine Kinder nur das Beste wollte.
»Ja, das waren wir, und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich diese Freundschaft bis vor kurzem so vernachlässigt habe«, sagte Grace. Er schien guter Dinge zu sein, und eine bessere Gelegenheit für ihre Bitte würde sich so bald sicher nicht finden. »Ich habe neulich erfahren, dass sie Hilfe braucht. Es ist nämlich so, dass sie und ihre Kinder ihr Zuhause in der Dordogne verloren haben.«
Rainier runzelte die Stirn. »Ihr Rainbow Tribe?«
»Sag das doch nicht so abfällig.« Na bitte, es geht schon los. Bleib ruhig.
»Sie hat zwölf Kinder aus allen Ecken der Welt. Sie hat Eintrittskarten zu ihrem Château verkauft und ihren bunten Haufen wie im Zoo vorgeführt, um über die Runden zu kommen.«
»Sie behandelt ihre Kinder aber nicht wie Tiere, Rainier. Und wie kannst du so etwas sagen, wenn dir deine eigenen Zootiere doch so am Herzen liegen?« Vorsicht, Grace, ermahnte sie sich. Er weiß, dass du den Palastzoo nicht so liebst wie er, und du darfst ihn nicht in die Defensive bringen. »Wie auch immer«, fuhr sie fort und schob alle Gedanken an Zoos beiseite. »Josephine wollte etwas beweisen, und zwar etwas sehr Wichtiges, wie ich finde, nämlich dass Menschen aller Hautfarben und unterschiedlichster Herkunft glücklich zusammenleben können. Und die Eintrittskarten, die sie verkauft hat, waren für den Park.«
»Das kannst du von mir aus gerne glauben, Liebling, aber wahr ist es deshalb noch lange nicht.«
Herrje, er kann so arrogant und herablassend sein! Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. »Du sagst doch immer, du möchtest, dass alle Menschen hier in Monaco in Glück und Frieden leben, nicht nur diejenigen, die viel Geld haben. Diesen Wunsch teile ich.«
»Und du möchtest Josephine Baker helfen.« Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Da war Verachtung für Josephines Familiengestaltung, aber auch Nachdenklichkeit und ein Abwägen ihrer Argumente.
»Ja«, sagte sie und zog ihre Trumpfkarte. »Es wäre das wunderbarste Geburtstagsgeschenk, das du mir machen könntest. Ein Zuhause für meine Freundin in der Nähe von Monaco, um ein französisches und amerikanisches Nationalheiligtum zu bewahren.«
Sie hatte den richtigen Ton getroffen – das sah sie daran, wie er sich mit nachdenklichem Blick in seinem Stuhl zurücklehnte, den Zeigefinger auf den Lippen.
»Ich habe mir bereits ein paar Häuser angesehen«, fuhr sie fort. Er schätzte es, wenn sie ihre Hausaufgaben machte. Sie erzählte ihm von der hübschen Villa in Roquebrun, ein Stückchen oberhalb von Larvotto. Dann wartete sie still ab.
»Also gut«, sagte er schließlich. »Wenn es dich glücklich macht. Aber wir müssen uns trotzdem ein etwas greifbareres Geschenk ausdenken, etwas, das ich dir vor unseren Untertanen überreichen kann.«
Grace sprang auf, lief um den Tisch und küsste Rainier auf die Wange, dann kniete sie sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine. Sie war so glücklich, dass es in ihrem Herzen prickelte wie in einem Champagnerglas.
»Du kannst mir schenken, was immer du möchtest.«
Er lächelte und strich mit dem Finger über ihr Kinn. Zum ersten Mal seit langem verspürte sie einen Anflug von Begehren. Sie küsste ihn auf den Mund und umfasste seine Hand fester. »Danke«, flüsterte sie.
Er drehte sich zu ihr, dann glitt er vom Stuhl, sodass er ebenfalls kniete, direkt vor ihr. Er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich, während sie sich küssten. Grace schloss die Augen und suchte tief in ihren Erinnerungen einen ähnlichen Moment, ein ähnliches Gefühl, und als sie es gefunden hatte, küsste sie Rainier fordernder und ließ sich von ihm zu Boden ziehen.