3Nick Bostrom
Die verwundbare Welt
Eine Hypothese
Aus dem Englischen von Jan-Erik Strasser
Suhrkamp
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Der wissenschaftliche und technologische Fortschritt könnte die menschlichen Möglichkeiten oder Motive auf Weisen verändern, die unsere Zivilisation destabilisieren würden.1 Zukünftige »biologische Baukästen« beispielsweise könnten es jeder Person mit rudimentären Biologiekenntnissen erlauben, Millionen von Menschen zu töten; neue Militärtechnologien könnten zu einem Wettrüsten führen, das demjenigen, der zuerst zuschlägt, einen entscheidenden Vorteil sichert; ein neues, wirtschaftlich überlegenes Verfahren könnte katastrophale globale Konsequenzen haben, die sich kaum regulieren lassen. Dieser Aufsatz stellt das Konzept einer verwundbaren Welt vor – grob gesagt einer Welt, in der es ein Niveau der technologischen Entwicklung gibt, auf dem die Zivilisation der Zerstörung anheimfällt, sofern sie nicht den »semi-anarchischen Ausgangszustand« hinter sich gelassen hat. Mehrere kontrafaktische historische und spekulative zukünftige Schwachstellen werden analysiert und typologisiert. Die allgemeine Fähigkeit zur Stabilisierung einer verwundbaren Welt würde viel umfangreichere Präventionsmaßnahmen und Global Governance erfordern. Die Hypothese der verwundbaren Welt eröffnet somit eine neue Perspektive, um das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Entwicklungen zu bewerten, die auf eine allgegenwärtige Überwachung oder eine unipolare Weltordnung zielen.
Man kann sich die menschliche Kreativität als das Entnehmen von Kugeln aus einer riesigen Urne vorstellen,1 wobei die Kugeln mögliche Ideen, Entdeckungen oder technologische Erfindungen repräsentieren. Im Lauf der Geschichte haben wir sehr viele Kugeln aus dieser Urne herausgefischt, die meisten davon weiß (nützlich), manche aber auch in verschiedenen Grautönen (mäßig schädlich oder mit sowohl guten als auch schlechten Folgen). Ihre kumulative Wirkung auf die conditio humana war bislang überwältigend positiv und könnte in Zukunft noch viel besser werden.2 Die Weltbevölkerung ist in den letzten 10 000 Jahren um rund das Tausendfache gewachsen, und in den letzten zwei Jahrhunderten sind auch das Pro-Kopf-Einkommen, der Lebensstandard und die Lebenserwartung angestiegen.3
Bis jetzt erspart geblieben ist uns eine schwarze Kugel – eine Technologie, die immer oder normalerweise diejenige Zivilisation zerstört, die sie erfindet. Der Grund dafür war allerdings nicht unsere besondere Vorsicht oder Umsicht; wir hatten einfach nur Glück.
Menschliche Zivilisationen wurden von ihren eigenen Er10findungen zwar schon transformiert, aber bislang offenbar noch nicht zerstört.4 Gewiss gibt es Beispiele für Zivilisationen, die durch anderswo gemachte Erfindungen vernichtet wurden – die europäischen Erfindungen, die transozeanische Schiffsreisen und Machtprojektion ermöglichten, kann man als schwarze Kugeln für die indigenen Bevölkerungsgruppen in Amerika, Australien, Tasmanien und an einigen anderen Orten ansehen, und das Aussterben von Hominiden wie dem Neandertaler und dem Denisovaner hatte wahrscheinlich mit der technologischen Überlegenheit des Homo sapiens zu tun. Doch bisher haben wir anscheinend keine selbstzerstörerische Erfindung gemacht, die als schwarze Kugel für die Menschheit gelten kann.5
Was aber, wenn sich doch eine solche Kugel in der Urne befindet? Sofern die wissenschaftliche und technologische Forschung weitergeht, werden wir schließlich auf sie stoßen und sie herausziehen. Unsere Zivilisation ist ziemlich gut darin, Kugeln zu Tage zu fördern, aber sie kann sie nicht wieder in die Urne zurücklegen. Wir können erfinden, aber nicht »unerfinden«. Unsere Strategie besteht in der Hoffnung, dass keine schwarzen Kugeln existieren.
Dieser Text entwickelt einige hilfreiche Konzepte für das Nachdenken über die Möglichkeit einer technologischen schwarzen Kugel und die verschiedenen Formen, die ein solches Phänomen annehmen könnte. Außerdem wird es um einige Konsequenzen für die Globalpolitik gehen, insbesondere im Hinblick darauf, wie man Fortschritte bei der Massenüberwachung und Schritte in Richtung einer effektiveren Global Governance oder einer unipolaren Weltordnung 11beurteilen sollte. Diese Implikationen entscheiden keineswegs schon darüber, ob Änderungen bei den genannten makrostrategischen Variablen wünschenswert sind – es gibt schließlich noch andere, äußerst relevante Faktoren, die hier nicht behandelt werden, aber in Betracht gezogen werden müssten. Gleichwohl bilden sie eine wichtige und zu wenig beachtete Menge von Überlegungen, die in zukünftigen Debatten über diese Themen zu berücksichtigen wären.
Bevor wir an die konzeptionelle Arbeit gehen, sollten wir uns jedoch ein konkreteres Bild davon machen, wie eine technologische schwarze Kugel aussehen könnte. Den offensichtlichsten Fall stellt eine Technologie dar, die es einem sehr leicht machen würde, enorme Zerstörungskräfte freizusetzen. Nuklearexplosionen sind das auf der Hand liegende Beispiel für derartige Kräfte – also was, wenn es sehr einfach gewesen wäre, sie zu entfesseln?