Hans Ulrich Gumbrecht
»Prosa der Welt«
Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Suhrkamp
7Karl Heinz Bohrer gewidmet –
für wen sonst hätte ich nochmal ein Buch
mit Fußnoten geschrieben?
Das Jahr 1967 hat nichts Emblematisches, doch sein affektives und intellektuelles Klima war voll von Zukunft. Etwas Großes schien am Horizont heraufzuziehen, von dem wir hofften, es werde eine »Revolution« sein, und meine Generation brauchte dann eine Weile, bis sie sich eingestand, dass der »Mai 1968 in Paris« keine Revolution gewesen war. Natürlich trat ich in den SDS ein (den Sozialistischen Deutschen Studentenbund), und zwar am Morgen jenes Tages Mitte Oktober (das genaue Datum ist mir entfallen), an dem ich mich für mein erstes Semester an der Universität München einschrieb. »Germanistik« und »Romanistik« (in dieser Reihenfolge) lauteten die zwei Fachgebiete oder Themenbereiche, für die ich mich entschied, mit weit weniger Überzeugung und Begeisterung hinsichtlich der »Literatur«, als ich vorgab. Mein Vater, der durch und durch Chirurg war, hatte mich davon überzeugt, dass es in der Medizin keinen Platz für die Psychiatrie gab, von der ich für meine berufliche Laufbahn träumte. Mich mit romanischer Literatur zu beschäftigen (was in diesen deutschen Jahren französische Literatur mit Anhängseln im Italienischen und Spanischen bedeutete) schenkte mir außerdem die unbestimmte Illusion, weiterhin in Paris zu leben, wo ich mein letztes Gymnasialjahr am Lycée Henri IV verbracht hatte, ohne mir der großen Tradition bewusst zu sein, für die dieser Name stand. Was ich über mein Studium in diesem allerersten Augenblick wusste und fühlte, war sehr vage, vor allem im Ver10gleich zu dem Formular, das der SDS mich unterschreiben ließ und in dem ich ganz buchstäblich erklärte, dass ich an den Marxismus als das »einzig wissenschaftliche und wahre Weltbild« glaube. Tatsächlich sollte sich dieser Herbst als äußerst enttäuschend erweisen. In all den Kursen zu »linken« Themen, das kann ich heute sagen, blieben Begeisterung und Inspiration auf der Strecke oder wollten sich erst gar nicht einstellen, während die Veranstaltungen, die sich als politisch neutral gaben (damals eine aussterbende Spezies), nur die abgenutzten Konzepte eines konturenlosen Kanon-Lobs unendlich wiederholten, das ich vom Gymnasium her zur Genüge kannte. Die einzige überraschende Ausnahme war ein von Dr. Ursula Schick gehaltenes Proseminar über »Diderots ästhetische Schriften«, an dem ich gemeinsam mit drei oder vier anderen Studenten teilnahm und für das ich mich wahrscheinlich entschieden hatte, weil ich auf dem täglichen Schulweg in Paris so oft an der Diderot-Statue auf dem Boulevard Saint-Germain vorbeigegangen war. Mir gefiel das Lächeln auf dem grünlich schimmernden Bronzegesicht dieses Autors aus dem 18. Jahrhundert. Im Januar 1968 hielt ich ein Referat über die »Éloge de Richardson«, Diderots enthusiastische Lobrede auf den zeitgenössischen englischen Romancier, und obwohl sein Ton mir »typisch bürgerlich« vorkam, wie ich kritisch anmerkte, hatte Denis Diderot mich zu beeindrucken begonnen. Ich könnte nicht sagen, warum, aber er muss den entscheidenden Anstoß zu meinem Entschluss gegeben haben, nach dem ersten Semester nicht von der Literatur zur Rechtswissenschaft zu wechseln, wie ich es aus praktischen und spirituellen Gründen eigentlich hätte tun sollen, sondern die Romanistik statt der Germanistik sogar zu meinem Hauptfach zu machen. Seit damals – und seit ich die SDS-Ideale zunehmend auf einem selbstironischen Horizont zurückließ – sind Diderot und seine Prosa mir in ei11ner Sympathie verbunden, die zugleich tief und peripher, bedingungslos und willkürlich ist – und das seit nun mehr als fünfzig meistens glücklichen Jahren intellektuellen und beruflichen Lebens. Als mein Freund Karl Heinz Bohrer mir vor etwa einem Jahrzehnt sagte, er erwarte statt so vieler kurzer Aufsätze mindestens ein weiteres ernsthaftes wissenschaftliches Buch von mir, wusste ich gleich, dass es sich mit Diderot befassen musste oder genauer mit den unbekannten Gründen für diese tiefe und dennoch periphere Sympathie. Das war die erste Diderot-Frage, die ich mir stellte. Schon bald wurde mir klar, dass ich die Ungewissheit hinsichtlich der Gründe für meine Sympathie mit den größten (und auch mit einigen nicht so großen) Diderot-Experten teilte. Denn Diderots Prosa weckt bei vielen Lesern Sympathie – und scheint sich doch jedem Versuch einer umfassenden Beschreibung zu entziehen. Angesichts dieses Problems stand ich mehrfach kurz davor, die Arbeit an einem Buch aufzugeben, das niemand brauchte und zu dem mich (außer Bohrer) auch niemand drängte. In einem dieser Momente von Unschlüssigkeit bemerkte der berühmte Pianist Alfred Brendel während eines gemeinsamen Fellowships in Berlin nebenher und in der Öffentlichkeit, dass ich ihn an Diderot erinnere. Das war natürlich zu viel des Guten, aber ich stellte fest – und zwar nicht nur stillschweigend –, dass Brendel etwas explizit gemacht hatte, was ich über viele Jahre nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Die Mischung aus Verlegenheit und Stolz, die mich in dieser Situation befiel, verwandelte sich in eine zweite Diderot-Frage: ob meine über Jahrzehnte empfundene Affinität inzwischen nicht zu einem Hinweis auf Diderots wachsende Attraktivität für Intellektuelle im 21. Jahrhundert geworden war.
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Denis Diderot mag in mancherlei Hinsicht frühreif gewesen sein, als Schüler etwa oder zuweilen in seiner Art des Denkens und Schreibens – aber wie es scheint, war er nie in Hast. Der Fluss der Zeit und die Versprechen der Zukunft lenkten ihn nicht von den vielen Gegenständen, Problemen und Personen ab, für die er sich interessierte. So erschien er seinen Zeitgenossen als aktiv, produktiv und großzügig und war kaum darauf bedacht, die Ereignisse und Bedingungen seines Lebens in unabänderliche Bahnen zu lenken oder zu klar umrissenen Lebenslagen auszuformen.
Es ist nicht klar, wann genau er seine Geburtsstadt Langres in der Champagne verließ, eine Stadt von ein paar Tausend Einwohnern, in der Diderots Vater als wohlhabender Messerschmied tätig war und sein Onkel der höheren Geistlichkeit angehörte, und wann er die provinzielle Welt seiner Kindheit und Jugend, die ihm auch weiterhin ohne jede Zweideutigkeit am Herzen lag, hinter sich ließ, um sein Studium in Paris fortzusetzen. Es muss 1728 oder 1729 gewesen sein, als Diderot zwischen fünfzehn und sechzehn Jahren alt war, und für die folgenden anderthalb Jahrzehnte wissen wir nur 14von einigen akademischen Institutionen, von häufig wechselnden intellektuellen Interessen und existenziellen Orientierungen, mit denen er die Geduld seines Vaters überstrapazierte, und – als die finanzielle Unterstützung aus Langres deshalb ausblieb – von vielfältigen Aktivitäten zur Bestreitung seines Lebensunterhalts in einem Lebensrhythmus, den seine Biographen recht anachronistisch als den eines »Bohemiens« beschreiben. 1734 heiratete Denis Diderot – ohne die gesetzlich erforderliche Erlaubnis seiner Familie, die er ernsthaft zu erlangen versucht hatte – die drei Jahre ältere Stickerin Anne-Toinette Champion, die ohne Vermögen, von geringem gesellschaftlichem Stand, tief religiös und nach mehreren Quellen sehr schön war. Angélique, die einzige überlebende und überaus geliebte Tochter ihrer Eltern, die schlussendlich mehr als vier Jahrzehnte zusammenlebten, die meiste Zeit unglücklich, aber nie sichtbar getrennt oder in Distanz zueinander, wurde ihrer dreiundvierzigjährigen Mutter und ihrem vierzigjährigen Vater 1753 geboren.
Erst um 1750, weit jenseits der Mitte der durchschnittlichen Lebenserwartung im 17. Jahrhundert, begann Diderot, sich in der intellektuellen Welt von Paris zu etablieren, nicht als geistige Autorität, sondern eher als eine Kraftquelle und eine anziehende Figur innerhalb einer neuen, gerade erst entstehenden Form von Geselligkeit. Schon früh hatte die staatliche Zensur ihn als »un garçon très dangereux«, als einen »sehr gefährlichen Kerl«, identifiziert, und 1749 inhaftierte man ihn dreieinhalb Monate lang im Donjon von Vincennes. Der erste Band der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des arts, des sciences et des métiers, des allumfassenden Buchprojekts, dessen Herausgabe Diderot 1747 zusammen mit dem Mathematiker Jean le Rond d'Alembert übernommen hatte, erschien drei Jahre später und fand sogleich großen Anklang in Europa und sogar in Nordamerika, wäh15rend unter seinen eigenen Schriften eine 1749 erschienene Abhandlung über erkenntnistheoretische Fragen mit dem Titel Lettre sur les aveugles (Brief über die Blinden) nicht nur den Grund für seine Inhaftierung bildete, sondern auch besonders intensive Diskussionen auslöste.
In diesen Jahren lernte Diderot einige der namhaftesten und einflussreichsten Figuren der Pariser Aufklärungskreise persönlich kennen, etwa Voltaire und Rousseau, aber auch Friedrich Melchior Baron von Grimm und Paul-Henri Thiry Baron d'Holbach, zwei wohlhabende Immigranten aus Deutschland, die beide zehn Jahre jünger waren als er und in vielfältiger Weise den materiellen Rahmen für Gespräche und Begegnungen bereitstellten, in deren Klima er zu brillieren vermochte. In diesem Kontext dürfte Diderot auch irgendwann nach 1755 Louise-Henriette Volland begegnet sein, die er »Sophie« nennen sollte und der er bis 1784, dem Jahr, in dem beide starben, mit einer Heiterkeit und Zärtlichkeit zugetan blieb, die er weder bei seiner Frau noch bei Madeleine de Puisieux gefunden hatte, einer kampfeslustigen Schriftstellerin und Philosophin, deren leidenschaftlicher Geliebter er 1745 wurde.
»Sophie« war die unverheiratete Tochter einer angesehenen bürgerlichen Familie und schon um die vierzig Jahre alt, als ihr Verhältnis mit Diderot begann. Sie lebte bei ihrer verwitweten Mutter und über lange Zeiten auch bei ihrer verheirateten Schwester, auf die Diderot oft eifersüchtig war. Die sehr belesene Sophie teilte die intellektuellen Neigungen ihres Freundes. Sie muss gesundheitlich labil gewesen sein, trug eine Brille und hatte, wie Diderot einmal in einem Brief berichtete, »trockene Hände«. Wir besitzen kein Porträt von Sophie und auch nicht die Briefe, die sie an ihren Freund schrieb. Dennoch ist sie für uns sehr lebendig präsent in den hundertsiebenundachtzig (von wahrscheinlich 16mehr als fünfhundert) Briefen, die Diderot an sie schrieb und die erhalten geblieben sind. Wir können diese Briefe als Tagebuch in Briefform begreifen, aber eher noch als Ausdruck seines dauerhaften Wunsches, die unmittelbaren Erlebnisse seines alltäglichen Lebens in all ihren sozialen, intellektuellen und sogar sinnlichen Verwicklungen mit Sophie zu teilen. Wir wissen nicht sicher, ob auch eine erotische Beziehung Teil ihrer Liebe war, wahrscheinlich fand jedoch Sophie Vollands und Denis Diderots Begehren schon bald seine angemessenste und reizvollste Form im Schreiben und Lesen dieser Briefe und vielleicht sogar im ungeduldigen Warten darauf – denn obwohl sie ihre Beziehung nicht streng geheim hielten und die Pariser Wohnung der Vollands nicht weit von d'Holbachs Wohnsitz entfernt lag, wo Diderot viel Zeit verbrachte, fanden sie doch recht selten Gelegenheit zu physischem Zusammensein. Als Sophie Volland 1784 – fünf Monate vor Denis Diderot – starb, hinterließ sie ihm einen Ring und eine in rotes Maroquin gebundene Ausgabe von Montaignes Briefen.
Den Sommer 1760 verbrachte Diderot – wie so oft fern von Sophie Volland – in La Chevrette, einem bei Paris gelegenen Schloss, das sich im Besitz von Louise d'Épinay befand, der reichen und gebildeten Geliebten des Barons Grimm. Der seit 1753 als Ausländer in Paris lebende Grimm hatte sich einen Namen und ein Vermögen gemacht mit der Herausgabe der Correspondance littéraire, philosophique et critique, einer regelmäßig und in Briefform verbreiteten Sammlung von Berichten über neue Publikationen, Debatten, Theateraufführungen und Ausstellungen in der französischen Hauptstadt, deren handgeschriebene Exemplare von einer kleinen Zahl europäischer Aristokraten abonniert worden war, darunter die russische Zarin Katharina die Große, Leopold II., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, und Gustav 17III. von Schweden. Wenn Grimm – meist aus geschäftlichen Gründen – auf Reisen war, sorgte Madame d'Épinay für die Kontinuität der Correspondance, während Diderot regelmäßig Beiträge beisteuerte, da er auf dieses Einkommen angewiesen war, wenngleich er sich ansonsten offenbar nicht sonderlich um seine finanziellen Interessen scherte.
So waren Aufenthalte in La Chevrette und gelegentlich auch auf d'Holbachs Landgut in Grandval zu einem festen Bestandteil in Diderots Leben geworden. Ansonsten wechselte er in Paris zwischen der Wohnung, in der er gemeinsam mit Frau und Tochter lebte, und einem Arbeitsraum, den er für seine Arbeit an der Encyclopédie gemietet hatte. So war es ihm möglich, in mehreren Salons zu verkehren, vor allem in denen der Barone von Grimm und d'Holbach. Die Briefe, die er an Sophie Volland und viele seiner Philosophenkollegen[2] schrieb, oft besorgt hinsichtlich des Status ihrer Zustellung, deckten beide Dimensionen seiner intellektuellen Geselligkeit ab. Die enge räumliche Begrenztheit des Lebens eines Mannes, dessen Interessen buchstäblich keinerlei Grenzen kannten, wurde, von seltenen Besuchen in Langres abgesehen, nur ein einziges Mal gesprengt, als Diderot auf Einladung der Zarin und nach jahrelangem Zögern im Juni 1773 nach Sankt Petersburg reiste – und im Herbst des folgenden Jahres nach Paris zurückkehrte.
Verglichen mit Freunden wie Voltaire, Rousseau oder Grimm, war der Horizont seines Lebens in der Tat ausgesprochen begrenzt, aber wie das noch extremere Beispiel Immanuel Kants nahelegt, erschien das damals wohl nicht als ungewöhnlich oder gar als unvereinbar mit der Rolle eines Intellektuellen. Was Diderot von Kant unterschied, war in18dessen das Fehlen eines strengen Arbeitsplans, und das ist tatsächlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Texte er schrieb, und erst recht angesichts der wahrhaft heroischen Leistung, die Arbeit an der Herausgabe der Encyclopédie, nach D'Alemberts Ausscheiden 1758 sogar allein, bis 1772 abzuschließen – ein Werk, das insgesamt siebzehn Textbände und zusätzlich elf Bände mit Bildtafeln umfasste. Diderots besondere Stärke – eine durchaus paradoxe Stärke, da sie auf einer Veranlagung beruhte, die eigentlich als verheerend für jeglichen Erfolg gilt – bestand möglicherweise in einer derart radikalen Offenheit für die Welt, dass sie ständig das Risiko heraufbeschwor, sich in den für ihn so faszinierenden Details zu verlieren, wie auch in einer wahrhaft ungewöhnlichen Intensität der Reaktionen auf Erlebnisse und Wahrnehmungen jeglicher Art (in der Sprache des 18. Jahrhunderts lautete der Ausdruck für solche Intensität »Enthusiasmus«). Statt sich in eine einzigartige Stärke zu verwandeln, hätte diese Verbindung aus Offenheit und Intensität für ein räumlich weniger begrenztes Leben durchaus zu einem Problem werden können.
Auch wenn Diderots Freunde und Bewunderer ihn als eine belebende Gestalt in ihren Zirkeln stets gerne willkommen hießen, hielt er selbst sich nicht für einen Salonlöwen, sondern für einen von Natur aus scheuen Menschen. So schrieb er unter dem Datum »Montag, den 15. September 1760« aus Madame d'Épinays Schloss La Chevrette an Sophie Volland, er habe das Wochenende eigentlich in Paris verbringen wollen, da am Sonntag im Dorf Jahrmarkt gewesen sei.[3] Er habe die dort übliche Menschenmenge gefürchtet, mit all den jungen Bauernfrauen und den herausgeputz19ten Damen aus Paris, die sich von der vorgeblichen Unschuld hätten anziehen lassen: »Ich fürchte die lärmende Menge. Also hatte ich beschlossen, nach Paris zu fahren und den Tag dort zu verbringen […]; es war eine buntgemischte Menge von sauber herausgeputzten jungen Bäuerinnen und vornehmen Damen aus der Stadt, mit Wangenrouge und Schminkpflästerchen, mit Schilfrohrstöckchen in der Hand, einem Strohhut auf dem Kopf und einem Kavalier am Arm.« Es kam indessen anders: »Aber Grimm und Madame d'Epinay hielten mich zurück. Sehe ich, daß sich der Blick meiner Freunde umwölkt und ihre Gesichter immer länger werden, so weicht jeder Widerstand in mir, und man kann mit mir machen, was man will.«[4]
In gewisser Weise hätte dieser Sonntag Mitte September 1760 für den selbsterklärten Umfaller Denis Diderot also kaum schlechter beginnen können. Doch statt mit Ärger oder schlechter Laune zu reagieren, vergaß er seine ursprüngliche Absicht und die Enttäuschung über sich selbst, als er den Blick auf die im Schloss versammelten Leute richtete: »Wir hielten uns gerade, auf unterschiedliche Weise beschäftigt, in dem traurig-prachtvollen Salon auf und gaben ein sehr angenehmes Bild ab.«[5] Selbst in der zwanglosen Situation des 20Schreibens eines Briefs an Sophie ist Diderots Sprache präzise und scheut in ihrer Präzision nicht vor scheinbar unbedeutenden Details und den dadurch entstehenden Widersprüchen zurück. Er empfand den Raum, in dem Madame d'Épinay, Melchior Grimm und ihre Gäste sich »auf unterschiedliche Weise« beschäftigten, als zugleich »traurig« und »prachtvoll«, und obwohl die verschiedenen Gruppen »ein sehr angenehmes Bild« abgaben, beschrieb er deren Aktivitäten jeweils einzeln, wie eine Folge von einfachen, mit starken Konturen gezeichneten Skizzen. Die erste dieser Zeichnungen in Diderots Prosa zeigt die beiden Gastgeber, die sich von zwei Künstlern porträtieren lassen:
Am Fenster, das auf die Gärten geht, ließ sich Grimm malen, und Madame d'Epinay stützte sich auf die Stuhllehne des Mannes, der ihn malte. Ein Zeichner, der etwas tiefer saß, zeichnete ihr Profil mit einem Bleistift. Es ist entzückend, dieses Profil. Eine jede Frau wäre versucht nachzuprüfen, ob es ihr wirklich ähnlich sei.[6]
Während Madame d'Épinay beobachtet, wie ein Maler Grimm porträtiert, wird sie selbst zum Gegenstand einer Zeichnung, die der dort anwesende Diderot betrachtet. Ihn 21faszinieren dabei nicht (wie Leser des 21. Jahrhunderts vielleicht denken mögen) Kaskaden der Selbstreflexion, sondern die komplexe Form einer Gruppe von Figuren, die ähnlich einer Skulptur betrachtet werden (das »sehr angenehme Bild«). Und dann reagiert Diderot, zugleich als Protagonist der Szene und als deren Beobachter, auf die Zeichnung der Madame d'Épinay mit großer Intensität (»es ist entzückend, dieses Profil«) und lässt sich zu einer Assoziation bezüglich der potenziellen Eifersucht anderer Frauen hinreißen, die das Porträt der Gastgeberin als allzu schmeichelhaft empfinden könnten.
Das nächste der jeweils durch Absätze voneinander getrennten Prosabilder zeigt Monsieur de Saint-Lambert, einen in den Zirkeln der damaligen Oberschicht allgegenwärtigen Offizier und Dichter, der »in einem Winkel die letzte Broschüre« liest – »die ich Ihnen schickte«, wie Diderot, nun an Sophie Volland gerichtet, hinzufügt. (Könnte es sich dabei um die jüngste Lieferung der Correspondance littéraire handeln?) Diderot selbst spielt Schach mit Madame d'Houdetot, Saint-Lamberts Mätresse, berühmt-berüchtigt wegen der starken Anziehung, die sie und Jean-Jacques Rousseau drei Jahre zuvor füreinander empfunden hatten.[7] Es folgen sechs weitere Szenen: Madame d'Épinays Mutter mit ihren Enkelkindern und deren Erziehern; zwei Schwestern des Mannes, der Grimm malt, beim Sticken; eine dritte Schwester des Malers spielt auf dem Cembalo ein Stück des italienischen Komponisten Scarlatti; Monsieur de Villeneuve, ein Freund von Madame d'Épinay, erweist der Hausherrin die Ehre und beginnt ein Gespräch mit Diderot; Monsieur de Villeneuve und Madame d'Houdetot kennen sich bereits, und Diderot entnimmt einigen beiläufigen Bemerkungen, 22dass sie einander nicht grün sind. Der spezifische Ton und die Anmut seiner Prosa verdanken sich einer Überlagerung dreier verschiedener Diskursebenen: der kompakten, zuweilen sogar aphoristischen Präzision der Beschreibungen; der Intensität in den Reaktionen, Assoziationen und Eingebungen Diderots, der zugleich Teil der beschriebenen Szene ist und sie von außen beobachtet; und der Übergänge von der konzentrierten Offenheit gegenüber der ihn umgebenden Welt zu Augenblicken, in denen Diderot sich an Sophie Volland wendet, um sie daran teilhaben zu lassen. Wie diese Offenheit gegenüber der Welt sich in eine Öffnung gegenüber Sophie verwandelt, zeigt sich besonders deutlich, als Diderot später über das Sonntagsdiner spricht:
Die Zeit des Diners kam. An der Tafelmitte saßen Madame d'Epinay auf der einen und Monsieur de Villeneuve auf der anderen Seite. Sie gaben sich viel Mühe, und dies mit dem feinsten Anstand. Wir speisten üppig, fröhlich und lange. Eis, oh, meine Freundin, was für Eis! Sie hätten dasein müssen, um das gute Eis zu genießen. Sie, die Sie es so sehr mögen.[8]
Ursprünglich aus Italien kommend, hatten Rezepte für die Herstellung von Speiseeis seit der frühen Neuzeit die Küche der Könige und des Hochadels erobert und entwickelten sich nun im 18. Jahrhundert zu einer auch in anderen Kreisen verbreiteten gastronomischen Vorliebe. Diderot, der of23fenbar wusste, dass Sophie diesen Geschmack mit ihrer Mutter und ihrer Schwester teilte, geht auch hier wieder von der Beschreibung einer geselligen Szene über zu seiner eigenen sinnlichen Reaktion, die dann den Wunsch auslöst, die drei Frauen an dieser Wahrnehmung teilhaben zu lassen. Aus seiner Konzentration auf einen sinnlichen Augenblick wird auf diese Weise eine Geste der Großzügigkeit und der Nähe.
Der nächste Schritt in Diderots Beschreibung dieses mit so schlechten Erwartungen begonnenen, inzwischen jedoch immer angenehmeren Sonntags hat gleichfalls mit Wahrnehmung zu tun, richtet den Blick dann jedoch auf »Anmut« als Modalität ästhetischer Erfahrung und als Begriff, der schon mehrfach in seinen Briefen aufgetaucht war. Nach dem Essen setzt sich Emilie, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das Diderot gegenüber Sophie schon erwähnt hatte, ans Cembalo und beeindruckt mit ihrem Spiel die ganze Gesellschaft: »Die Dame, von der ich Ihnen bereits erzählte, jene, die so anmutig und kunstreich Klavier spielte, setzte uns alle in Erstaunen, die einen durch ihr einmaliges Talent, mich durch den Zauber ihrer Jugend, durch ihre Sanftheit, Bescheidenheit, Grazie und Unschuld.« Die Beschreibung lässt an den berühmten Aufsatz über das »Marionettentheater« denken, in dem Heinrich von Kleist einige Jahrzehnte später die Anmut als spezifische ästhetische Qualität menschlichen Verhaltens analysieren sollte, die vom Fehlen jeglicher Absicht zu gefallen abhängt. Diderot sieht sich allerdings allein mit seinem Enthusiasmus für Emilies Anmut. Seine Freunde bewundern eher ihr technisches »Talent«, statt sich von ihrer Unschuld entzücken zu lassen. So beginnt denn Diderot mit Monsieur de Villeneuve ein Gespräch über ihre unterschiedlichen Ansichten. Monsieur de Villeneuve meint, ungewöhnliches Talent müsse stets durch weitere praktische und theoretische Unterweisung entwickelt werden:
24Ich sagte zu Monsieur de Villeneuve: »Wer wollte es wagen, an diesem Werk etwas zu verändern? Es ist so gut.« Doch wir haben, Monsieur de Villeneuve und ich, unterschiedliche Prinzipien. Wenn er Unschuldige träfe, täte er nichts lieber, als sie zu unterweisen. Er sagt, dies sei eine andere Art Schönheit.[9]
Erstaunlich an dieser Passage ist nicht nur Diderots Verständnis von Anmut als Dimension ästhetischer Erfahrung, das Mitte des 18. Jahrhunderts noch recht exzentrisch gewirkt haben muss. Er ist außerdem ganz selbstverständlich bereit, mit Monsieur de Villeneuve darin einig zu sein, dass sie in dieser Frage uneins sind, ohne deshalb den Drang zu verspüren, einen Konsens herzustellen – und ohne ihm deshalb gram zu sein. Monsieur de Villeneuve und er, so schreibt Diderot, hätten hier einfach »unterschiedliche Prinzipien«. Deshalb können sie im weiteren Verlauf ihres Gesprächs auch zwanglos zu einem anderen Thema wechseln, in ihrem Fall zu den intellektuellen und sozialen Vorzügen Sophie Vollands, ihrer Mutter und ihrer Schwester, die Monsieur de Villeneuve bei einem früheren Aufenthalt »auf dem Lande« kennengelernt hatte. Und wieder öffnet sich Diderots beschreibende Prosa gegenüber der Geliebten, diesmal in Gestalt eines Dialogs, der mit einer Bemerkung Monsieur de Villeneuves beginnt (hier kursiviert):
»Madame Volland … ist eine Frau mit seltenen Vorzügen.« – »Und ihre ältere Tochter …« – »Sie hat Geist wie ein Dämon.« – 25»Sie hat viel Geist; doch es ist vor allem ihre Offenheit, die mir gefällt. Ich möchte fast wetten, daß sie wissentlich noch nie gelogen hat, seit sie die Kinderschuhe ausgezogen hat.«[10]
Wo genau Diderots Diskurs aus einem Selbstzitat in ein an Sophie Volland gerichtetes Kompliment übergeht, ist nicht ganz klar. Wir können jedoch sagen, das fortlaufende Wechselspiel zwischen der Beschreibung des Tages in seinen verschiedenen Phasen und den wiederholten Momenten der Öffnung gegenüber seiner Geliebten wird letztlich zu einer Diskursform eigenen Rechts.
Der Abend endet mit Musik und Tanz.
Man ließ die Geigenspieler kommen und tanzte bis zehn. Mitternacht stand man vom Tisch auf. Um zwei spätestens hatten wir uns alle zurückgezogen; und der Tag war ohne die Langeweile vergangen, die ich gefürchtet hatte.[11]
Im Rückblick auf diesen langen Tag räumt Diderot erfreut ein, dass seine früheren Befürchtungen und Erwartungen sich als falsch erwiesen hatten. Die Schwäche, die es ihm nicht erlaubte, an seinen Plänen festzuhalten, wenn sie mit 26den Erwartungen seiner Freunde in Konflikt gerieten, hatte sich als Stärke erwiesen, als Stärke, die Welt einfach geschehen zu lassen. Für ihn selbst unerwartet und doch typisch für ihn, hatte diese Stärke den Sonntag des 14. September 1760 zu einem glücklichen Tag gemacht – da er es verstanden hatte, sich auf die Gegenwart von Personen, Objekten, Wahrnehmungen und Gefühlen in ihrer Konkretheit und Besonderheit zu konzentrieren, ohne sonderlich über Ziel und Zweck nachzudenken. »Die Langeweile, die er gefürchtet hatte«, stellte sich nicht ein.
Wir können diese bedingungslose Offenheit, die sich jeder idiosynkratischen Projektion enthält, als »Diderots Großzügigkeit« bezeichnen – und die kompakte Präzision seiner Prosa war das Medium dieser Großzügigkeit. Die Offenheit, Großzügigkeit und Präzision im Verhältnis zur Welt verwandelten sich jedoch ständig in eine andere Art von Großzügigkeit, den Wunsch nämlich, mit seiner Geliebten zu teilen, was ihm in und an der Welt Vergnügen bereitete. Die Bereitschaft, die Welt geschehen zu lassen, erklärt letztlich auch, warum Diderot niemals zum Sklaven der verstreichenden Zeit wurde. Frei von Obsession oder Nervosität arbeitete er voller Zuversicht daran, der Nachwelt in Erinnerung zu bleiben. Und doch wollte er ohne Spektakel und Rituale sterben, ganz plötzlich, inmitten seiner glücklichen Teilhabe am Geschehen der Welt.[12]