Karen Rose
Thriller
Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Brandl
Knaur eBooks
Karen Rose studierte an der Universität von Maryland, Washington, D. C. Ihre hochspannenden Thriller sind preisgekrönte internationale Topseller, die in vierundzwanzig Sprachen übersetzt worden sind und regelmäßig u.a. auf den Bestseller-Listen der »New York Times«, der »USA Today« und der »Sunday Times« stehen. Für »Des Todes liebste Beute« und »Todesbräute« gewann die Autorin den begehrten RITA-Award. Auch in Deutschland feiert sie seit Jahren große Erfolge. »Todesstoß« stand auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste. Wenn Karen Rose nicht gerade Thriller schreibt oder auf Weltreise ist, lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern in Florida.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Death is not enough« bei Berkley, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
© 2018 by Karen Rose Books Inc.
Published by Arrangement with KAREN ROSE BOOKS INC.
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Antje Nissen
Covergestaltung: Sabine Schröder
Coverabbildung: © Artem Avetisyan/shutterstock.com; © istock.com/cat_arch_angel; © istock.com/ulimi; © Alesikka/Shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45516-6
Für Robin Rue, die an mich glaubt, wenn ich an mir zweifle.
Und, wie immer, für Martin.
Ich liebe dich.
Neunzehn Jahre zuvor
»Gib mir endlich den verdammten Schlüssel, Sherri«, sagte Thomas.
Sherri Douglas verdrehte die Augen, schloss die Fahrertür ihres alten Ford Escort ab und warf ihm den Schlüssel über den zerschrammten Lack des Wagendachs hinweg zu. »Hier.«
Plötzlicher Schmerz verzerrte Thomas’ finsteres, von violetten Malen übersätes Gesicht, als er reflexartig den Arm hob und den Schlüssel auffing. Er erstarrte kurz, dann ließ er den Arm mit einem scharfen Atemzug sinken. »Scheiße!«
»Oh, tut mir leid, Tommy. Das war echt blöd von mir.« Sherri bereute ihre Gedankenlosigkeit sofort.
Thomas setzte eine neutrale Miene auf und schürzte die Lippen, entspannte sie jedoch sofort wieder, denn auch sie hatten einiges abbekommen.
Sherri wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Sein wunderschönes Gesicht war … immer noch eine Augenweide. Aber übel zugerichtet. Der Anblick seiner Verletzungen ließ ihr das Herz bluten. Sie wünschte, sie könnte auf irgendetwas einschlagen. Auf jemanden. Genauer gesagt, auf vier Typen. Mit zusammengekniffenen Augen rief sie sich die Gesichter der Jungen ins Gedächtnis, denen er all das hier zu verdanken hatte. Sie hasste sie, alle miteinander. Sie rammte ihre zu Fäusten geballten Hände in die Jackentaschen. Sie zu verprügeln würde Thomas auch nicht weiterhelfen.
Und ihr Vater würde sie umbringen, wenn auch sie noch Ärger bekäme, zumal er ohnehin alles andere als begeistert darüber war, dass sie mit einem weißen Jungen zusammen war. Ha! Ein weißer Junge. Wäre es nicht so traurig und frustrierend, könnte man sich glatt totlachen. Thomas war zu schwarz, um in der Schule akzeptiert zu werden, aber eindeutig nicht schwarz genug für ihren Vater. Wenigstens hatte er ihr nicht verboten, sich mit ihm zu treffen – falls doch, hätte Sherri sich sowieso nicht daran gehalten. Aber was, wenn auch sie jetzt vom Unterricht suspendiert wurde, so wie Thomas? Sollte es dazu kommen, würde ihr Vater dafür sorgen, dass sie sich niemals wiedersahen.
Suspendiert. Sie hatten ihn suspendiert! Sie konnte es immer noch nicht fassen. Wie unfair!
»Hör sofort auf, dich als blöd zu bezeichnen!«, sagte Thomas leise.
Sie blinzelte verwirrt, ehe der Groschen fiel. Dabei war es tatsächlich dämlich gewesen, das abrupte Auffangen von ihm zu erzwingen. »Ich hätte daran denken müssen«, erwiderte sie. Denn nicht nur sein Gesicht war in Mitleidenschaft gezogen worden, sondern sie hatten auch auf seine Arme und Beine eingeprügelt. Mit zusammengebissenen Zähnen kämpfte sie erneut gegen ihre aufsteigenden Tränen an.
Sie hatten ihm wehgetan. Diese elenden Dreckschweine. Sie hatten ihn verletzt.
Thomas schüttelte den Kopf. »Ist schon gut, ich werd’s überleben.« Er trat um den Wagen herum und streckte ihr resigniert die Schlüssel hin. »Bitte, Sherri, gib mir den richtigen Schlüssel. Ich bin zu fertig für diese Spielchen. Ich will nur da rein, meinen Bass holen und dann abhauen. Steig ein und lass den Motor laufen, damit du nicht auskühlst.«
Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, und diesmal konnte sie sie nicht zurückhalten. »Ich gehe mit dir rein«, flüsterte sie eindringlich.
Er zog die Brauen hoch und presste seine aufgeplatzten Lippen aufeinander. »Vergiss es!«
»Ich …« Ihre Stimme brach. Hilflos sah sie ihn an. Er war so groß und kräftig und so … anständig. So viel anständiger als diese verdammten Mistkerle. Hätte er nur einem Gegner gegenübergestanden, wäre die Sache anders ausgegangen. Mit seinen über ein Meter neunzig war er der Größte und auch der Stärkste in seiner Klasse. Aber sie waren zu viert auf ihn losgegangen. Zu viert! Sie hatten ihn zusammengeschlagen, aber ihm hatte man die Schuld gegeben. Er hatte die Strafe aufgebrummt bekommen und die Suspendierung kassiert.
Weil Richard Linden – selbst im Geist kam der verhasste Name nur zischend über ihre Lippen – sich einbildete, er könne die Stipendiatinnen befummeln, wann immer es ihm in den Kram passte. Nur weil wir arm sind und er nicht. Und weil Thomas den Anblick der völlig verängstigten Angie nicht ertragen hatte, als Richard sie gegen die Wand gedrückt und betatscht hatte. Er hatte ihn von ihr weggerissen, woraufhin sich Richard und seine Vollidioten von Kumpels auf ihn gestürzt und ihm die Seele aus dem Leib geprügelt hatten.
Und am Ende hatte der Rektor Thomas die Schuld gegeben. Was für ein Schock! Dr. Green tanzte nach der Pfeife der Lindens, weil die vor Geld stanken. Und weiß waren. Und Thomas, Angie und ich eben nicht. Und um alles noch schlimmer zu machen, war es Richard oder einem seiner Jungs gelungen, Angie am Ende auch noch einzuschüchtern, denn sie behauptete plötzlich steif und fest, Richard hätte sie nie angerührt.
Und deshalb war Thomas bestraft worden. Dabei hatte er sich so angestrengt, um sich die besten Voraussetzungen fürs College zu erarbeiten. Er war auf ein Stipendium angewiesen gewesen. Aber jetzt? Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Highschool in seinem Viertel zu besuchen, weil der Schulverweis für immer in seiner Akte verzeichnet bleiben würde. Und damit war keineswegs gewährleistet, dass eines der renommierten Colleges ihn überhaupt noch nehmen würde.
Richard und seine beschissenen Freunde hatten Thomas’ Zukunft zerstört, doch sie, Sherri, würde dafür sorgen, dass sie nicht noch größeren Schaden anrichteten. Sie blinzelte, woraufhin sich eine Träne aus ihrem Augenwinkel löste und ihr über die Wange kullerte. »Ich gehe mit dir rein«, sagte sie. »Wir müssen ja nur in den Übungsraum, alles halb so wild.«
»Wenn sie dich erwischen, suspendieren sie dich auch noch«, sagte er, legte seine Pranke um ihr Kinn und wischte ihr zärtlich die Tränen ab. »Das lasse ich nicht zu.«
»Dir hätte es genauso wenig passieren dürfen. Es ist so unfair, Tommy.« Sie biss sich auf die Lippen, um ihre Tränen zurückzuhalten, weil sie wusste, dass es ihn fertigmachte, sie weinen zu sehen.
Er holte tief Luft. »Stimmt.«
»Wir müssen uns wehren. Du musst dich wehren. Was du getan hast, war richtig. Du hast Angie beschützt. Du warst ein Held.«
»Aber sich zu wehren, ist doch sinnlos.«
Sie sah ihn eindringlich an. »Wir könnten sie verklagen.«
Er stieß ein ungläubiges Lachen aus. »Was? Vergiss es!«
Sie verschränkte ihre Finger mit seinen und blickte auf ihrer beider Hände, ihre eigene dunkel, seine ein paar Töne heller. »Wir könnten uns einen Anwalt nehmen.«
»Wovon denn?«, spottete er. »Willy zählt jeden verdammten Bissen, den ich mir in den Mund schiebe. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er mir einen Anwalt bezahlen würde.«
Thomas’ Stiefvater war ein brutales Schwein, ein Dreckskerl, der keinen Hehl daraus machte, dass er seinen Stiefsohn für den letzten Loser hielt. Allein beim Gedanken an ihn stellten sich Sherri sämtliche Nackenhaare auf.
Dabei war Thomas besser als alle zusammen – genau deshalb liebte sie ihn von ganzem Herzen.
»Wir könnten uns auch an die Bürgerrechtsunion wenden.«
»Vergiss es«, wiegelte Thomas ab. »Ich verklage niemanden. Vor Gericht lässt sich sowieso nichts lösen.«
»Das stimmt nicht.« Wieder hatte sich ein verräterisches Zittern in ihre Stimme geschlichen. »Tommy, wir reden hier von deinem Leben.«
Erschöpft beugte er sich herunter, bis sich ihre Stirnen und Nasen berührten – eine Maori-Geste, die er von seinem leiblichen, lange verstorbenen Vater gelernt hatte, dessen Andenken er bis heute im Herzen trug.
Mit ihren gerade mal ein Meter zweiundfünfzig musste Sherri sich auf die Zehenspitzen stellen, um zu hören, was Tommy ihr ins Ohr flüsterte. »Mit den Lindens kann ich es nicht aufnehmen, Sher, das weißt du genauso gut wie ich. Keiner würde mir jemals den Rücken stärken. Keiner außer dir.«
»Aber vielleicht einige Lehrer. Coach Marion oder Mr Woods …« Der Fußballtrainer mochte Thomas, ebenso wie ihr Geschichtslehrer.
Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, sodass seine Stirn gegen ihre rieb. »Das kannst du vergessen.«
»Woher willst du das wissen?«
Er sog gequält den Atem ein. »Weil es eben so ist«, stieß er barsch hervor und seufzte dann. »Sie hatten die Gelegenheit ja schon am Donnerstag.«
»Sie haben die Jungs von dir weggezogen«, murmelte sie. »Und dann sind sie mit dir zum Direktor gegangen.«
Wobei Thomas den Weg nicht auf seinen Füßen zurückgelegt hatte – ihm war schwindlig von all den Tritten gewesen, außerdem hatte er gehumpelt, weil einer der Jungs ihm mit dem Stiefel wieder und wieder aufs Knie getreten hatte. Coach Marion und Mr Woods hatten ihn förmlich hinschleifen müssen.
»Sie hatten die Gelegenheit gehabt, Dr. Green zu sagen, was passiert ist, haben es aber nicht getan.« Thomas zuckte die Achseln. »Woods wollte es auch, aber Green hat ihn beiseitegenommen und ihm etwas von wegen Vertragsverlängerung erzählt.«
Sherri riss die Augen auf. »Er hat Mr Woods mit Kündigung gedroht?«
»Ja. Und ich nehme an, dasselbe hat er mit Coach Marion getan, denn er hat genauso wenig Partei für mich ergriffen. Und die beiden waren meine einzigen Verbündeten.« Wieder schüttelte er niedergeschlagen den Kopf. »Miss Franklin hätte erlauben können, dass du meinen Bass schon am Freitag mitnimmst, verdammt noch mal. Jetzt müssen wir auch noch ins Schulgebäude einbrechen, um ihn zu holen. Dr. Green hat sie bestimmt auch unter Druck gesetzt, jede Wette.«
So paranoid es auch klingen mochte, es entsprach leider den Tatsachen.
Miss Franklin hatte es sogar zugegeben, als sie Sherri am Freitagnachmittag drei Schlüssel in die Hand gedrückt hatte – einen für die Eingangstür des Schulgebäudes, die sich am nächsten zum Probenraum befand, einen für den Übungsraum selbst und den dritten für den Schrank mit den Instrumenten.
Ich kann ihm seinen Bass nicht selbst geben. Aber wenn jemand einbricht und ihn mitnimmt … Miss Franklin hatte die Achseln gezuckt. Das wäre wirklich sehr bedauerlich. Vor allem, wenn es an einem Sonntagabend passieren würde, wenn keiner da wäre, um einen Einbrecher am Diebstahl zu hindern.
Miss Franklin wollte zwar helfen, konnte sich aber auch nicht durchringen, Thomas in Schutz zu nehmen – eine niederschmetternde Erkenntnis.
»Tommy …«
Er legte ihr den Finger auf die Lippen. »Keiner wird für mich einstehen, Sher, so sieht es nun mal aus. Dann gehe ich eben auf die Highschool bei mir in der Nähe. Ist schon gut. Viel größere Sorgen macht mir, wie du hier ohne mich klarkommst.«
Am liebsten hätte sie gesagt, dass sie diese schicke Schule mit all den reichen verwöhnten Fratzen verlassen und ihm folgen würde, ganz egal, wohin. Aber ihr Vater würde das nie im Leben erlauben. Ihre Eltern bestanden darauf, ihr eine goldene Zukunft bieten zu wollen, und die Ridgewell Academy war ihre Eintrittskarte dafür. Es musste eine Lösung für Thomas gefunden werden, aber die würde ihr bestimmt nicht hier einfallen, in der Kälte und mitten auf diesem Parkplatz.
Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn. »Los, holen wir deinen Bass.« Eigentlich gehörte das Instrument seinem Vater, seinem leiblichen, nicht diesem elenden Mistkerl von Stiefvater. Er war gestorben, als Thomas fünf gewesen war, und das Instrument war das einzige Erinnerungsstück, das er von ihm hatte.
Es war nicht besonders viel wert, für Thomas jedoch bedeutete es die Welt. Normalerweise würde er den Bass niemals über Nacht in der Schule lassen, aber der Rektor hatte ihm am Donnerstag nach dem Vorfall nicht erlaubt, noch einmal zurückzugehen und ihn zu holen. Und Sherri auch nicht. Dieser verdammte Arsch.
Sie verfiel halb in Trab, wohl wissend, dass sie sonst nicht mit ihm mithalten konnte – zumindest normalerweise. Doch nun hatte sie bereits die Hintertür erreicht, während er noch darauf zuhinkte. Sie schloss auf, schlüpfte hinein und hielt ihm die Tür auf.
»Verdammt, Sherri, geh zurück zum Wagen. Wir treffen uns dort.« Er starrte sie finster an.
»Vergiss es«, sagte sie, weil sie nicht sicher war, was sie im Instrumentenschrank vorfinden würde. Zwar hatte sie die Schlüssel, allerdings waren achtundvierzig Stunden vergangen, seit sie den Bass zuletzt gesehen hatte. Deshalb wollte sie an Thomas’ Seite sein, falls jemand – Richard Linden oder einer seiner beschissenen Kumpels – schneller gewesen sein sollte. Falls sie den Bass gestohlen … oder, was noch viel schlimmer wäre, zerstört hätten.
Thomas würde durchdrehen.
Die schwere Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Das Klicken der Verriegelung hallte in der Stille wider. »Los, komm.« Sherri hörte Thomas’ schwere Schritte hinter sich, als sie auf den Übungsraum zulief. Normalerweise bewegte er sich mit der geräuschlosen Geschmeidigkeit eines Panthers, doch Richard und seine Gefolgschaft hatte seinem Knie übel zugesetzt.
Abrupt kam er zum Stehen. »Sherri«, zischte er. »Warte.«
Sie drosselte ihr Schritttempo und drehte sich um. »Ich werde nicht zum …«
Thomas humpelte nun einen der Seitenflure entlang und hielt auf die Treppe am Ende zu, wo Sherri ihn einholte. »Sherri!« Panik schwang in seiner Stimme mit.
»Ich bin hier«, sagte sie ein wenig atemlos. »Was ist denn los?« Eine Sekunde später hatten sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt … und sie sah es. Entsetzt wich sie zurück. »O mein Gott. Wer ist das?«, fragte sie – denn jemand hatte so gewaltsam auf den Jungen am Boden eingeprügelt, dass sein Gesicht nichts als eine breiige, blutige Masse war.
Thomas kroch unter den Treppenabsatz und legte dem Jungen zwei Finger an den Hals. »Er … er lebt noch, aber … o Gott, Sher, ich weiß nicht … es sieht aus, als hätte ihn jemand erstochen.«
»Was machen wir jetzt?«
»Ich versuche, die Blutung zu stoppen. Los, ruf den Notarzt.«
»Ich habe keine Münzen.«
»Für den Notruf brauchst du keine. Los, mach schon!« Er zog seine Jacke aus, wobei er das Gesicht verzog, als ein scharfer Schmerz durch seinen Arm schoss. Sie wandte sich ab, sah ihn jedoch aus dem Augenwinkel erstarren.
»Scheiße«, stieß er hervor und sah sie an. »Das ist Richard.«
»O nein«, stöhnte sie. »O nein.«
Thomas’ Kiefer spannte sich an. »Los, ruf den Notarzt. Er hat viel Blut verloren. Schnell!«
Sie wandte sich ab, hielt jedoch inne, als sie ihren Namen ein weiteres Mal hörte. Er hatte seine Jacke ausgezogen und zerrte sich den Pulli, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, über den Kopf. »Was ist?« Unter dem Pulli kam ein langärmeliges Poloshirt zum Vorschein, das er ebenfalls auszog, zusammenknüllte und auf Richards Bauch presste. »Wenn du fertig bist, verschwindest du von hier. Ich will nicht, dass du da reingezogen wirst.«
»Aber –«
»Still jetzt!«, schrie er. »Bitte …« Seine Stimme brach, und er blinzelte eine einzelne Träne weg, die ihm über seine violett verfärbte Wange lief. »Geh einfach«, krächzte er.
Erst jetzt begriff sie. Sobald Hilfe eintraf, saß Thomas in der Schule fest. Mit dem sterbenden Richard Linden.
»Sie werden dir die Schuld in die Schuhe schieben«, presste sie erstickt hervor, ließ sich auf die Knie sinken und packte seinen Arm, doch er schüttelte sie ab. »Komm mit mir, Thomas. Wir rufen Hilfe, aber dann verschwinden wir. Zusammen.«
Kopfschüttelnd presste Thomas sein Shirt auf Richards blutende Wunde. »Jemand muss die Blutung stoppen, sonst stirbt er. Er hat schon das Bewusstsein verloren. Ich kann ihn nicht einfach liegen und sterben lassen.«
Sie sah ihn hilflos an. »Tommy …«
Er sah sie gequält an. »Los, mach schon! Bitte! Und komm nicht zurück!«
Sie erhob sich, wandte sich um und rannte zum Telefon. Sie würde diesen verdammten Anruf erledigen und dann zurückkehren, um gemeinsam mit ihm zu warten, bis Hilfe kam. Sie würde nicht zulassen, dass man ihm noch etwas vorwarf, was er gar nicht getan hatte. Unter keinen Umständen.
Der öffentliche Münzfernsprecher befand sich direkt neben dem Büro des Rektors. Mit zitternden Fingern wählte sie die 911.
»Notrufzentrale. Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir …« Sherri holte tief Luft, in der Hoffnung, dass sich ihr rasender Herzschlag verlangsamen würde. »Wir brauchen Hilfe. Da ist ein Junge …«
In diesem Moment wurden die Türen aufgerissen, und mehrere Männer kamen hereingestürmt. Männer in Uniformen.
Bullen.
Bullen? Aber wie …
Ein stämmiger Typ packte sie am Arm und drückte fest zu. »Finger weg vom Telefon!«
»Aber …«
Sie schrie vor Schmerz auf, als er ihr anderes Handgelenk packte. »Ich habe gesagt, weg vom Telefon!«
Er löste ihre Finger vom Hörer, sodass er ihr aus der Hand fiel und an der metallenen Schnur baumelte. Erschüttert starrte sie den Mann an, der sie grob herumriss und mit dem Gesicht an die Wand drückte. Sekunden später schlossen sich klickend Handschellen um ihre Handgelenke.
»Sherri, lauf!«, schrie Thomas vom anderen Ende des Flurs.
Sie verzog das Gesicht, spürte den Schmerz in ihrer Schläfe, als ihr Kopf mit aller Kraft gegen die Wand gepresst wurde. Dafür war es jetzt zu spät.
Thomas schloss die Augen und ließ den Kopf auf den kalten Metalltisch des Befragungsraums sinken. Er war zu erschöpft, um sich zu fragen, wer hinter dem Einwegspiegel stehen mochte und worum es hier überhaupt ging. Er hatte kein Auge mehr zugetan, seit er vor drei Tagen hergebracht worden war.
Ins Gefängnis.
Ich bin im Gefängnis. Worte, von denen er niemals gedacht hätte, dass er sie je aussprechen würde. Richard! Dieser elende Scheißkerl war gestorben. Ich habe mir mein ganzes Leben versaut, und er ist trotzdem tot. Verblutet. Als Resultat einer Stichwunde in den Bauch. Thomas’ Hilfe war zu spät gekommen, hatte nicht ausgereicht.
Mord. So lautete der Vorwurf.
Er war beinahe zu müde, um Angst zu haben. Beinahe.
Seit er hier war, hatte er Sherri nicht mehr gesehen. Und auch sonst niemanden. Nicht mal seine Mutter. Dafür hatte sie ihm geschrieben. Er lachte bitter. Genau. Einen Brief, in dem sie ihn wissen ließ, wie enttäuscht sie von ihm war. Wie hatte er bloß den netten Richard Linden töten können? Und, ach ja, glaub bloß nicht, dass wir die Kaution für dich hinterlegen oder einen Anwalt bezahlen.
Thomas war also völlig auf sich gestellt.
Die Tür ging auf, doch er war zu erschöpft, um den Kopf zu heben.
»Danke«, sagte eine Männerstimme. »Den Rest schaffe ich dann schon.«
»Gut.«
Die zweite Stimme kannte Thomas. Sie gehörte dem Wärter, der ihn vorhin in den Befragungsraum gebracht und allein zurückgelassen hatte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen. »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie einfach Bescheid«, sagte der Wärter.
»Moment noch«, sagte der Unbekannte. »Nehmen Sie ihm bitte die Handschellen ab.«
Thomas hob den Kopf, gerade weit genug, um den dunklen Anzug und die Krawatte des Mannes zu erkennen. Und einen Rollstuhl. Er fuhr abrupt hoch.
Der Mann war nicht alt, sondern ziemlich jung, dreißig Jahre vielleicht, schwer zu sagen. Er trug sein Haar kurz geschnitten, sein Anzug sah teuer aus. Er musterte Thomas forschend.
»Thomas White?«
Nicht mehr lange. Er würde den Nachnamen seines Stiefvaters so schnell ablegen, wie es nur ging. Bestimmt hatte er es ihm zu verdanken, dass seine Mutter sich von ihm abwandte. Womöglich hatte er sie sogar gezwungen, diesen Brief zu schreiben. Ein Anflug von Besorgnis stieg in ihm auf. Aber er war zu erschöpft, um sich jetzt darüber Gedanken zu machen.
»Wer sind Sie?«, fragte er.
»Ihr Anwalt«, antwortete der Unbekannte ohne Umschweife und wandte sich ein weiteres Mal an den Wärter. »Nehmen Sie ihm die Handschellen ab. Bitte.«
Das »Bitte« klang keineswegs höflich, sondern … autoritär. Ohne die Möglichkeit einer Widerrede.
»Wenn Sie sicher sind«, gab der Wärter achselzuckend zurück.
»Bin ich«, entgegnete der Anwalt.
Thomas biss die Zähne zusammen, als der Wärter seine Arme hochriss, um die Handschellen zu lösen. »Ein Mucks, Bürschchen, dann …«, knurrte er.
Thomas rieb sich nur wortlos die wunden Handgelenke.
»Das wäre dann alles«, sagte der Anwalt und wartete, bis sie allein im Raum waren, ehe er die Augen verdrehte. »Also gut, Mr White, dann wollen wir mal …«
»Thomas«, unterbrach Thomas ihn. »Nicht White. Nur Thomas.«
»In Ordnung. Zumindest für den Moment.« Der Anwalt rollte zum Tisch und musterte Thomas von oben bis unten. »Haben Sie etwas gegessen?«
»Nein.«
»Das habe ich mir fast gedacht. Ob Sie schlafen, brauche ich gar nicht erst zu fragen. Dass Sie es nicht tun, sagen mir die Ringe unter Ihren Augen.«
Als würde es dich in deinem teuren Anzug und deinem Gutsherren-Getue interessieren. »Wer sind Sie?«, wiederholte er, diesmal eine Spur barscher.
Der Mann zog ein silbernes Etui aus der Innentasche seines Jacketts und reichte Thomas eine Visitenkarte. »Ich heiße James Maslow.«
Die Karte bestand aus solidem, hochwertigem Karton, keines dieser Billigdinger. Maslow and Woods, Anwälte.
Den Typen kann ich mir nie im Leben leisten. »Ich habe schon einen Anwalt.«
»Weiß ich. Den Pflichtverteidiger. Falls Sie sich lieber von ihm vertreten lassen wollen, respektiere ich das natürlich, aber vorher sollte ich Ihnen erklären, wieso ich hier bin. Mein Kanzleipartner ist der Bruder Ihres Geschichtslehrers. Er hat mich gebeten, ihm den Gefallen zu tun und mit Ihnen zu reden, weil er Sie für unschuldig hält. Ich habe mir Ihre Akte angesehen und denke, er könnte recht haben.«
Mr Woods hat mit diesem Anwalt geredet? Wegen mir? Wieso? Er stieß den Atem aus. »Sie glauben mir?«, fragte er leise. Bisher hatte das keiner getan.
Maslow nickte knapp. »Ja.«
»Wieso?«, krächzte Thomas.
Maslow lächelte. »Erstens hat Ihr Lehrer mir erzählt, was wirklich an dem Tag passiert ist, als Sie versucht haben, das Mädchen vor Richard Linden zu beschützen.«
»Aber Mr Woods wird seine Stellung verlieren«, flüsterte Thomas, als ihm die kaum verhohlene Drohung des Rektors wieder in den Sinn kam. Waren seitdem tatsächlich erst sechs Tage vergangen?
»Er hat beschlossen, das Risiko einzugehen.« Ein Fünkchen Stolz glomm in Maslows Augen auf. »Mr Woods hat einen Brief an das Schulamt geschrieben, in dem er sich für Sie einsetzt.«
»Wow.« Thomas räusperte sich. »Das ist … sehr nett von ihm.«
»Na ja, er ist auch ein netter Kerl. Und Sie auch, wenn ich es richtig sehe.«
Thomas sah Maslow in die Augen. »Ich habe Richard Linden nicht getötet.«
»Ich glaube Ihnen, aber der Staatsanwalt denkt, er könnte eine Verurteilung erwirken. Ich soll Ihnen von ihm ausrichten, dass er Totschlag anbietet. Acht bis zehn Jahre.«
Thomas schob abrupt seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Was? Acht bis zehn Jahre?«
Maslow klopfte auf den Tisch. »Setzen Sie sich wieder hin, bevor der Wärter zurückkommt.«
Thomas zitterte am ganzen Leib, gehorchte jedoch. Tränen brannten in seinen Augen. »Aber ich war’s nicht.«
»Ich weiß«, sagte Maslow beruhigend. »Trotzdem bin ich verpflichtet, Ihnen das Angebot der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. Wir besprechen jetzt Ihren Fall, und dann können Sie eine Entscheidung treffen, wer Sie weiter vertreten soll.«
Unwirsch wischte Thomas sich die Tränen ab. »Ich kann Sie nicht bezahlen. Ich kriege ja noch nicht mal das Geld für die Kaution zusammen.«
»Machen Sie sich wegen meines Honorars keine Gedanken. Wenn Sie mich haben wollen, übernehme ich den Fall pro bono. Das bedeutet, ohne Kosten für Sie.«
Thomas runzelte die Stirn. »Ich weiß, was das heißt. Im Sprachteil habe ich fast die volle Punktzahl für den Abschluss.« Nicht dass seine Noten jetzt noch irgendeine Rolle spielen würden, weil er ohnehin an keinem anständigen College mehr einen Stipendienplatz kriegen würde, aber trotzdem. Andererseits konnte der Anwalt nichts dafür. Er holte tief Luft. »Bitte entschuldigen Sie, Sir. Ich bin einfach nur … müde.«
»Das sehe ich«, erwiderte Maslow mitfühlend. »Die Kaution ist ebenfalls hinterlegt.«
Thomas blieb der Mund offen stehen. »Was? Woher hat meine Mutter das Geld bekommen?«
»Es kam nicht von Ihrer Mutter. Tut mir leid.«
Sein Magen verkrampfte sich. Also nicht von Mom. »Dann hat sie mich also doch abgeschrieben.«
Maslow zog die Brauen zusammen. »Sieht ganz so aus, fürchte ich.«
»Deshalb will ich auch den Namen loswerden. White. So heißt der Mann, mit dem sie verheiratet ist. Aber ich will den Namen nicht mehr, sondern den meines richtigen Vaters.«
»Und wie lautet der?«
»Thorne. Ich will Thomas Thorne heißen.«