DANI ATKINS
ROMAN
Aus dem Englischen
von Simone Jakob und Anne-Marie Wachs
Knaur eBooks
Dani Atkins, 1958 in London geboren und aufgewachsen, lebt heute mit ihrem Mann in einem Dorf im ländlichen Hertfordshire. Sie hat zwei erwachsene Kinder. Mit ihren gefühlvollen und dramatischen Liebesgeschichten »Die Achse meiner Welt«, »Die Nacht schreibt uns neu«, »Der Klang deines Lächelns«, »Sieben Tage voller Wunder« und »Das Leuchten unserer Träume« eroberte sie die Herzen der Leserinnen im Sturm. Ihr 2019 erschienener Roman »Sag ihr, ich war bei den Sternen« stieg sofort auf die Spiegel-Bestsellerliste ein.
Die englische Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »A Million Dreams« bei Head of Zeus, London.
© 2019 Dani Atkins
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Gisela Klemt; lüra – Klemt & Mues GbR
Illustration Heißluftballon im Innenteil von Shutterstock.com: Sloth Astronaut
Covergestaltung: Franzi Bucher, München
Coverabbildung: Franzi Bucher unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com
ISBN 978-3-426-45520-3
Je früher wir mit der Behandlung beginnen, desto besser sind die Erfolgsaussichten.«
Diese Worte, die unsere Zukunft veränderten – die alles veränderten –, waren leise gesprochen worden. Ich hatte über die aufgetürmten Akten und Umschläge mit Röntgenaufnahmen hinweg zu dem Arzt hinübergeschaut, der geduldig wartete, bis wir die Neuigkeiten halbwegs verdaut und uns wieder gefangen hatten.
Ich umklammerte Tims Hand so fest, dass es ihm wahrscheinlich wehtat, hielt den Blick jedoch weiter auf den Onkologen gerichtet, dessen Augen mehr verrieten, als er vermutlich ahnte. Hinter der randlosen Brille sah ich einen Funken Wahrheit, die er an jenem ersten schwarzen Tag noch nicht mit uns zu teilen bereit war. Die Heilungschancen standen offenbar nicht gut. Meine Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen, selbst die feinsten Nuancen wahrzunehmen, die andere nicht sahen, war bei meiner Arbeit immer von Vorteil gewesen. An jenem Tag empfand ich sie eher als Last.
»Mr Brandon, Ihrer Akte entnehme ich, dass Sie beide keine Kinder haben.«
Tim schüttelte den Kopf, und ich spürte, wie sich das Zittern, das ihn überkommen hatte, sowohl auf meinen Körper als auch auf meine Stimme übertrug, als ich an Tims Stelle antwortete: »Wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet. Wir hatten vor, mit der Familiengründung noch etwas zu warten.« Das Gesicht des Arztes verschwamm hinter meinen Tränen.
»Ich weiß, es gibt jetzt viel zu verarbeiten, aber ohne Ihnen eine weitere Entscheidung aufnötigen zu wollen, muss ich Ihnen doch dringend empfehlen, Vorkehrungen zu treffen, damit Ihre Fertilität erhalten bleibt.« Vielleicht verstand Tim sofort, was der Onkologe meinte, aber ich konnte nicht recht folgen. »Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird die Behandlung Ihre Zeugungsfähigkeit beeinträchtigen, daher raten wir Ihnen, darüber nachzudenken, ob Sie nicht Ihren Samen einfrieren wollen.«
Einen verrückten Moment lang stellte ich mir vor, dass der Arzt meinte, wir sollten das bei uns zu Hause machen und die Spermien dann neben den Schweinekoteletts und den Tiefkühlerbsen lagern. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis es mir gelang, dieses Bild vor meinem inneren Auge wieder loszuwerden.
»Es gibt verschiedene Kinderwunschkliniken, die wir Ihnen empfehlen können. Dort wird man Ihnen Ihre Möglichkeiten erläutern. Das kann vom Einfrieren von Samenflüssigkeit bis zur Kryokonservierung von Embryonen reichen, sofern Sie sich dafür entscheiden sollten.«
»Embryonen?«, fragte Tim verwirrt.
»Es ist eine mögliche Option. Die Erfolgsaussichten bei Schwangerschaften mit kryokonservierten Embryonen sind hervorragend. Bei Paaren in Ihrem Alter und in Ihrer Situation wäre es auf jeden Fall eine Überlegung wert.«
Schon zwei Tage später waren wir in eine Klinik gefahren. Wir hatten kaum genug Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was wir da taten, vom Warum ganz zu schweigen. Die Vorstellung, dass Tim lebensbedrohlich erkrankt war, hatte eine so niederschmetternde Wirkung auf uns, dass wir alles wie durch einen weißen Nebel wahrnahmen.
Wir hatten das Kinderwunschzentrum schließlich mit Stapeln von Broschüren und vielen Ratschlägen im Ohr verlassen. Am Ende trafen wir unsere Entscheidung jedoch nicht mithilfe der Erfolgsquoten, Diagramme oder Erfahrungsberichte, die wir bis spät in die Nacht studiert hatten, als würden wir für eine Prüfung pauken, sondern mit unseren Herzen.
»Wir machen ein Kind«, sagte ich, schmiegte mich an den Mann, den ich liebte, und versuchte, nicht daran zu denken, wie viel Gewicht er im letzten Monat verloren hatte.
»Und frieren es dann ein. Wir legen unser Kind – oder unsere Kinder – buchstäblich auf Eis.«
»Ich glaube, genau genommen lagert man sie in flüssigem Stickstoff«, berichtigte ich ihn, als neue Expertin auf einem Gebiet, über das ich noch vor ein paar Tagen beinahe nichts gewusst hatte.
»Und dich setzen wir allen möglichen unnötigen invasiven Eingriffen aus. Dabei bist du ja nicht mal krank«, hatte Tim gesagt, und der Schmerz und das Bedauern in seiner Stimme waren nicht zu überhören. Er war wütend. Nein, mehr als das, er war außer sich vor Zorn, weil sein Körper ihn erstmals in seinen dreißig Lebensjahren so komplett im Stich ließ.
»Wir wissen nicht, wie lange du brauchst, um die Krankheit zu besiegen«, meinte ich und hoffte, dass ich optimistisch genug klang, um ihn zu täuschen. »Und es könnte Jahre dauern, bis wir danach bereit sind, Kinder in die Welt zu setzen. So brauchen wir uns wenigstens keine Sorgen wegen meiner Fruchtbarkeit zu machen. Wir haben dann schon ein tiefgefrorenes Kind bereitliegen.«
»Bloß Wasser hinzufügen und auf kleiner Flamme erwärmen«, hatte er gewitzelt und mich noch fester an seine abgemagerte Brust gedrückt.
»Genau«, sagte ich, die Lippen auf seine Haut gepresst, damit er nicht spürte, wie sie zitterten und dass mir in der Dunkelheit Tränen über die Wangen liefen.
»Na schön, dann lass uns loslegen«, flüsterte er in mein Haar. »Machen wir ein paar Kinder.«
Ich habe eine ziemlich feine Nase. Nicht von der Form her, die ist eher durchschnittlich, auch wenn sie sich ganz passabel in mein Gesicht einfügt. (Tim, mein Mann, hat mich sogar mal eine Schönheit genannt, was zwar schmeichelhaft, aber leider nicht ganz zutreffend ist.) Was ich meine, ist: Mein Geruchssinn ist ungewöhnlich scharf. Mit ein paar meiner anderen Sinne habe ich zugegebenermaßen nicht ganz so viel Glück, zum Beispiel habe ich überhaupt kein Ohr für Musik, was irgendwie komisch ist, denn ich habe mich schließlich in einen Musiker verliebt. Aber ein feiner Geruchssinn ist klar von Vorteil, wenn man schon immer mit Blumen arbeiten oder, besser noch, sein eigenes Blumengeschäft führen wollte. Glücklicherweise hat es bei mir mit beidem geklappt.
»Ist noch etwas zu erledigen, bevor ich für heute Schluss mache, Mrs Brandon – äh, Beth?«
Ich schaute von dem Strauß Pfingstrosen auf, den ich gerade band, lächelte meiner Angestellten zu und schüttelte den Kopf. Auch wenn Natalie schon seit einem halben Jahr bei mir arbeitete, rutschte ihr gelegentlich noch ein »Sie« heraus. Meine Finger arbeiteten flink, mit der Geschicklichkeit eines erfahrenen Fischers wickelte ich das rustikale Band um die Stiele und verknotete es.
»Hast du heute Nachmittag noch was vor?«, fragte Natalie, als ich sie zur Ladentür begleitete und das Schild auf »Geschlossen« umdrehte.
»Nichts Besonderes«, antwortete ich weiterhin lächelnd und wartete darauf, dass Natalie auf den Gehweg trat, bevor ich die Tür verriegelte. Sie kannte mich nicht gut genug, um die Lüge zu durchschauen. Es war ein sanfter Rauswurf, aber ich hoffte, es war ihr nicht aufgefallen, dass ich es eilig hatte.
Während ich allein im leeren Laden stand, ließ ich die vertrauten Düfte und Geräusche auf mich einwirken wie einen schützenden Zauber. Das Summen der Deckenbeleuchtung und der großen Kühlschränke, in denen die besonders empfindlichen Blumen lagerten, übertönte den Verkehrslärm der Hauptstraße. Das Geschäft befand sich in umsatzstarker Lage, und in den sechs Jahren, seit wir es eröffnet hatten, war sein guter Ruf stetig gewachsen. Ich fuhr mit der Hand über die polierte Holztheke und wartete darauf, dass mich das wie sonst auch beruhigen würde und ich wieder Boden unter den Füßen bekam. Aber heute verfehlte selbst der Zauber des Ladens seine Wirkung.
Normalerweise machten wir nur früher zu, wenn ich mich mit Kunden treffen oder Papierkram erledigen musste, doch heute Nachmittag stand etwas anderes auf meinem Terminplan. Das Sandwich, das ich morgens gekauft hatte, bekam ich nur halb hinunter. Ich warf den Rest in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Vielleicht hätte ich auch den starken Americano wegschütten sollen, denn das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte, war eine Extradosis Koffein, wo ich doch ohnehin schon so aufgedreht war.
»Das ist doch albern«, murmelte ich in mich hinein, während ich den Laden abschloss und die Alarmanlage anstellte, ein vertrautes Ritual. »Ich will doch nur mit meinem Mann reden. Warum bin ich so nervös?«
Weil du weißt, dass er darüber nicht glücklich sein wird, antwortete jene Stimme in mir, die ärgerlicherweise meist richtiglag. Ich übertönte sie, indem ich das Autoradio so laut stellte, wie es normalerweise nur Jungs im Teenageralter tun, und schlängelte mich durch den Nachmittagsverkehr.
Zum Glück war der Parkplatz leer, und während ich wie auf Autopilot die bekannten gewundenen Wege entlanglief, begegnete ich keiner Menschenseele. Selbst die flinken Eichhörnchen, die hier zu Hause waren, blieben auf ihren Bäumen, als würden sie unser Bedürfnis nach Privatsphäre respektieren. Mein Magen grummelte wegen der Mischung aus Ungeduld und Angst, die ich verspürte, und ab und zu meldete sich ein kurzes Sodbrennen.
Meine dicke Strickjacke erwies sich in der Sonne als überflüssig, und ich streifte sie im Gehen ab. Aber selbst danach bildeten sich unter meinen schulterlangen Haaren im Nacken feine Schweißperlen.
Auf dem Weg zu Tim kam mir die Erkenntnis, dass wir uns praktisch bei jedem bedeutsamen Moment, den wir miteinander verbracht hatten, im Freien aufgehalten hatten. Das war zwar so nicht geplant gewesen, aber rückblickend betrachtet hat sich jeder Meilenstein unserer Beziehung – von unserem ersten Kuss an einer Straßenecke im strömenden Regen bis zu dem Tag zwei Jahre später, an dem wir uns an einem Seeufer im Beisein unserer Familien und Freunde ewige Liebe schworen – unter freiem Himmel ereignet. Sei es unter der Sonne oder unter dem Sternenzelt. Selbst mit seinem Antrag hatte Tim mich bei einem Picknick im Grünen überrascht. Ich kann mich noch erinnern, wie der Blick seiner dunkelbraunen Augen sanfter wurde, als er auf der karierten Decke nach meiner Hand griff und dabei die Reste unseres Mittagessens unabsichtlich beiseiteschob. »Werd meine Frau, Beth«, hatte er geflüstert und angesichts seiner Worte fast genauso überrascht geschaut wie ich. Dann hatte er mich geküsst und damit um ein Haar mein »Ja« erstickt.
Daher war es nur folgerichtig, dass auch dieses schicksalhafte Gespräch – das ich den ganzen Vormittag über immer wieder in Gedanken durchgespielt hatte – unter einem blauen, mit zarten Wolken bedeckten Himmel stattfinden sollte, mit zwitschernden Vögeln als einzigen Zeugen.
Er wartete im Schatten einer hohen Eiche auf mich, und ich eilte auf ihn zu. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin, die unmittelbar vor ihrem Einsatz plötzlich den Text vergisst. Meine sorgfältig zurechtgelegte Argumentation, all die Dinge, die ich sagen wollte – und die Einwände, die er mir, wie ich wusste, wie Landminen in den Weg legen würde –, waren für mich von einem Augenblick auf den anderen wie weggeblasen.
Es war immer noch schwer, nicht mehr jeden Tag mit ihm zu sprechen. Vielleicht zitterte meine Stimme deshalb, anders als zuvor im Laden, an dem Zufluchtsort, den wir uns gemeinsam aufgebaut hatten, wo ich diese Unterhaltung hinter Kübeln mit Gerbera und Nelken durchgegangen war. Ich räusperte mich.
»Timothy«, begann ich, was bei ihm wahrscheinlich sämtliche Alarmglocken losschrillen ließ, denn ich nannte ihn kaum je bei seinem vollen Vornamen. Ich schluckte den Kloß im Hals hinunter und versuchte es noch einmal.
»Tim, es gibt etwas, das ich dir sagen will, und ich möchte, dass du mich nicht unterbrichst, sondern wartest, bis ich fertig bin, einverstanden?« Ich ließ ihm keine Gelegenheit, etwas einzuwerfen, und kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich habe die letzten Wochen – eigentlich Monate – viel darüber nachgedacht, und ich meine, wir sollten es noch einmal versuchen. Ich finde, wir sind es uns schuldig, einen letzten Versuch zu wagen.«
Mir fiel plötzlich auf, dass ich beim Reden herumgelaufen war und nicht mehr neben ihm stand. Daher ging ich zu ihm zurück. »Ich weiß, was du sagen willst: dass wir es schon versucht haben. Zwei Mal«, sagte ich mit Bedauern – als hätte er unsere früheren Misserfolge irgendwie vergessen können. »Aber diesmal hab ich so ein Gefühl …« Ich brach ab und korrigierte mich. »Nein, es ist mehr als das. Ich bin mir sicher. Diesmal wird alles so laufen, wie wir es uns gewünscht haben.«
Ich hob den Kopf und strich mir eine kupferbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. »Okay«, berichtigte ich mich und klang plötzlich traurig, »vielleicht nicht ganz genau so, wie wir es uns gewünscht haben. Aber aus all dem kann noch etwas Gutes entstehen. Etwas Wunderbares sogar.«
Ich schaute auf meine Füße und konnte mir vorstellen, wie sein Blick mich durchbohrte. »Der Laden läuft jetzt richtig gut, finanziell geht es uns nicht schlecht. Und Natalie ist bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen.« Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, aber ich wollte nicht aufhören zu reden, nicht jetzt, wo ich endlich in Fahrt war. »Ich will nicht mehr warten. Nächstes Jahr werde ich sechsunddreißig«, erinnerte ich ihn, denn er war schon immer furchtbar vergesslich gewesen, was Geburtstage und Jahrestage anbetraf. »Praktisch eine alte Frau, eine Greisin.«
Ich vergewisserte mich, dass wir weiterhin allein waren und niemand uns hören konnte, bevor ich fortfuhr: »Ich habe mit der Klinik Kontakt aufgenommen.« Sein missbilligendes Seufzen bildete ich mir eher ein, als dass ich es hörte. »Sie haben gesagt, diesmal könnte es anders laufen. Wenn ich es ohne Medikamente versuche, wird mir dieses Mal vielleicht auch nicht ganz so schlecht.« Ich lachte kurz auf, wodurch es mir beinahe gelang, den Schluchzer zu überspielen, der mir entfuhr. »Von der Morgenübelkeit mal abgesehen«, witzelte ich. Er lachte nicht. Allerdings hatte ich das auch nicht erwartet.
Als ich zu ihm schaute, spürte ich, wie mir die erste Träne die Wange hinunterlief. In meiner Handtasche suchte ich nach Taschentüchern, fand jedoch keine und wurde wütend auf mich selbst, weil ich nicht daran gedacht hatte, welche einzustecken, obwohl ich die Gespräche hier noch nie ohne Tränen hinter mich gebracht hatte.
»Uns bleibt noch eine letzte Chance, Liebling. Es ist nur ein einziger Embryo übrig, und ich will es unbedingt versuchen«, brachte ich schluchzend heraus. »Ich will ein Kind von dir.«
Meine Worte hingen in der Luft wie der Nachhall eines Instruments, nachdem die Musik längst verklungen ist. Erneut kramte ich erfolglos in meiner Handtasche. Wer kam ohne Taschentuch hierher? Ich schniefte wenig damenhaft und wandte mich ihm wieder zu. »Bist du nach all der Zeit nicht bereit, Vater zu werden?« Ich streckte die Hand nach ihm aus. Der Stein fühlte sich kalt an, als ich die Umrisse seines Namens auf dem weiß gemaserten Marmor nachfuhr. Timothy Brandon. Unter seinem Namen stand das Datum, das noch tiefer in mein Herz eingraviert war als in den Stein. 10. September 2014. Der Tag, an dem ich meinen Mann verloren hatte.
Wahrscheinlich lief mir die Wimperntusche über die Wangen, und ich schniefte wie ein Kind mit laufender Nase. »Wo kriegt man hier ein verdammtes Taschentuch her, wenn man eins braucht?«
»Von mir«, sagte jemand hinter mir.
Ich denke, weder ich noch der Fremde, der mir das ungeöffnete Päckchen Taschentücher hinhielt, hatten damit gerechnet, dass ich derart laut aufschreien würde.
»Verzeihen Sie«, sagte der Mann und trat sofort einen Schritt zurück, sodass die dringend benötigten Tücher außer Reichweite waren. »Ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Das haben Sie aber«, gab ich zurück. Die Situation war mir so peinlich, dass ich aufgebrachter klang, als angemessen war. »Ich dachte, außer mir wäre niemand hier.«
Ich blickte über die vielen Reihen von Grabsteinen um mich herum. Es war meine bevorzugte Zeit für einen Besuch an Tims Grab. Unter der Woche war man dort nachmittags praktisch immer allein.
»Ich auch«, sagte der Mann mit ruhiger Stimme. Sein Blick hielt meinem stand, und ich griff rasch nach den Taschentüchern, bevor er es sich anders überlegen konnte. Höflich gab er vor, nicht zu hören, wie ich mir lautstark und ausgiebig die Nase schnäuzte. Ein Geräusch, mit dem Tims unmittelbare Nachbarn bestens vertraut waren. Ich zog noch ein zweites Taschentuch heraus – nur für den Fall – und gab ihm dann die Packung zurück.
»Behalten Sie sie, bitte«, sagte er mit freundlichem und wissendem Blick. »Klingt so, als bräuchten Sie sie dringender als ich.«
Seine Bemerkung war mir unangenehm, was aber noch lange keine Entschuldigung für meine reflexhafte Reaktion war. »Haben Sie etwa mein privates Gespräch belauscht?«
Die Augen des Mannes, die von einem ungewöhnlichen Grauton waren, wie regennasser Schiefer, wurden bei meinem angriffslustigen Ton etwas größer. »Völlig unbeabsichtigt, das kann ich Ihnen versichern.« Er sprach ruhig, aber mir fiel auf, dass sich seine Nasenlöcher ein (kleines) bisschen weiteten, wie die Nüstern eines Drachen kurz vor dem Feuerspeien. »Obwohl ich nicht sicher bin, ob man eine so laut geführte Unterhaltung wirklich ›privat‹ nennen kann.«
Damit hatte er recht, aber die Scham machte es mir unmöglich, auf meinen Verstand zu hören, der mir riet, ich solle ihm höflich danken und weggehen. »Es war niemand in der Nähe. Ich habe mich vorher umgeschaut. Und es war eine sehr persönliche Unterhaltung.«
Der Mann seufzte, und ich fragte mich, wie oft er seine gute Tat heute noch bereuen würde. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, bestimmt mehr als einmal. »Ich bin schon eine Dreiviertelstunde hier.«
Ich stopfte mir seine Taschentücher in die Hosentasche und hörte mich in einem teenagerhaft gereizten Ton, für den ich inzwischen längst zu alt war, sagen: »Tja, dann haben Sie sich wohl verdammt gut versteckt.«
An seinem Blick erkannte ich, dass ich eine Grenze überschritten hatte, und plötzlich wurde mir wieder bewusst, wo wir uns befanden.
»Ich hatte mich auf den Boden gekniet, um das Grab meiner Frau zu pflegen«, erwiderte er leise.
Ich senkte den Blick und sah zwei kreisrunde feuchte Flecken auf seiner Jeans, die seine Worte bestätigten. »Ich … Es tut mir leid«, druckste ich verlegen herum.
Der Mann schüttelte den Kopf, und ich bemerkte dabei die feinen Silberfäden an seinen Schläfen. Er war älter, als ich zunächst gedacht hatte, vielleicht Anfang vierzig. Seine schlanke Statur und die lockere Freizeitkleidung ließen ihn jünger wirken.
»Schon gut«, sagte er, ich hatte aber immer noch das Gefühl, dass er sich über mich ärgerte. Allerdings war er damit nicht allein, denn ich ärgerte mich auch über mich. »Ich wollte gerade sowieso gehen, dann können Sie Ihre … Unterhaltung ungestört fortführen.«
»Nein, bitte, gehen Sie nicht meinetwegen. Das gibt mir das Gefühl, ich hätte Sie vertrieben.«
»Nicht doch.« An seinen Lippen konnte ich sehen, dass es eine Höflichkeitslüge war. »Ich kann auch später noch mal wiederkommen.«
Er wandte sich ab, und ich schämte mich schrecklich. In meinem Beruf war ich daran gewöhnt, mit Leuten umzugehen, die einen Menschen verloren hatten. Und während meiner gesamten Zeit als Floristin hatte ich noch nie derart unbedacht mit einem trauernden Angehörigen gesprochen.
»Es tut mir wirklich leid!«, rief ich ihm hinterher. Einen Augenblick lang dachte ich, er würde einfach weitergehen, doch er wurde langsamer und drehte sich um.
»Schwamm drüber«, erwiderte er, und sein Gesichtsausdruck wurde jetzt sanfter. »Es klang so, als ob Sie und Ihr … Partner …«
»Mein Mann«, berichtigte ich ihn leise.
Seine Augen blickten mich mitfühlend an. Er nickte leicht. »Es klang, als hätten Sie eine Menge zu besprechen.«
Mit diesen Worten ging er, überraschend leise für einen so großen Mann. Kein Wunder, dass ich ihn nicht hatte kommen hören. Ich vergrub die Hände in den Hosentaschen und umklammerte das Geschenk des Fremden. Dann trat ich wieder an Tims Grabstein. Das Gras war ein wenig feucht, aber ich setzte mich im Schneidersitz auf die Erde und lehnte meine Stirn an den kalten Marmor. »Sag jetzt nichts«, warnte ich meinen für immer verstummten Mann. »Kein einziges Wort.«
In den nächsten Tagen ging mir die zufällige Begegnung auf dem Friedhof immer wieder durch den Kopf, und jedes Mal, wenn ich daran dachte, wie ich mich verhalten hatte, schauderte es mich. Natürlich würde ich mich bei unserer nächsten Begegnung bei ihm entschuldigen, hoffte aber, dass es gar nicht zu einem erneuten Zusammentreffen kommen würde. Es war merkwürdig zu wissen, dass ein wildfremder Mann als Einziger ein Geheimnis kannte, das ich bisher weder meiner Familie noch meinen Freunden anvertraut hatte.
Ich hielt beim Sortieren der frühmorgendlichen Blumenlieferung von der Gärtnerei inne. Das Kind, das Tim und ich uns gewünscht hatten, schien zum Greifen nahe, ich musste nur noch die Hand danach ausstrecken. Wir hatten noch eine letzte Chance, unseren Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Die Entscheidung, mit der In-vitro-Fertilisation allein weiterzumachen, war Furcht einflößend, aber auch berauschend. Ein Kind. Ein winziger Mensch, entstanden aus Tim und mir. Es war ein Weg, wie Tim weiterhin Teil meines Lebens sein konnte, in greifbarer Form, nicht nur in meinem Herzen und in meinen Erinnerungen. Ich zog den hohen Hocker unter meinem Arbeitstisch vor und setzte mich etwas ungeschickt darauf. Es war eine große, eine lebensverändernde Entscheidung, und ich hatte nie vorgehabt, sie allein zu treffen.
Ich schloss die Augen in dem Wissen, dass ich statt des gekühlten Lagerraums gleich wieder das Sprechzimmer des Onkologen vor meinem inneren Auge sehen und mir erneut die Diagnose anhören würde, die unser Leben und die Zukunft, die wir uns erträumt hatten, zerstörte. Das Läuten der Ladenglocke bedeutete eine willkommene Ablenkung, denn sie riss mich aus der Erinnerung, der ich viel zu häufig nachhing.
Crazy Daisy war immer so viel mehr für mich gewesen als nur ein Geschäft. Der Blumenladen war etwas, wovon Tim und ich geträumt und das wir uns gemeinsam aufgebaut hatten, zum Teil sogar von seinem Krankenbett aus oder während der langen Tage zwischen den Behandlungen, wenn es ihm nicht gut gegangen war und er nicht die nötige Kraft besessen hatte, seiner Arbeit als Lehrer nachzugehen. Das Geschäft war gewissermaßen unser Kind, unser Erstgeborenes, und ich verteidigte es leidenschaftlich.
Als Tim seinen Kampf verloren hatte und mich allein zurückließ, als ich nur noch zusammengekrümmt daliegen und ihm nachfolgen wollte, war am Ende der Laden der Grund gewesen, weshalb ich jeden Morgen aufstand. Ihn aufzugeben war so, als würde ich Tim aufgeben. Und das hätte ich niemals getan. Ohne Crazy Daisy hätte ich die ersten hoffnungslosen Monate der Trauer und Verzweiflung wohl nicht durchgestanden. Und jetzt, fünf Jahre später, war ich bereit, mit dem Mann, den ich liebte, einen letzten Zaubertrick zu vollführen. Es würde nicht leicht werden. Das war mir bewusst. Ich würde ständig Angst haben, alles falsch zu machen. Ohne Tims ausgleichendes Wesen würde ich wahrscheinlich eine schreckliche Mutter abgeben. Und doch konnte ich es kaum erwarten herauszufinden, ob sich diese Vermutung bestätigte.
Nach Tims Tod war ich anfangs täglich zum Friedhof gegangen. Das hatte mir nicht gutgetan, wie mir inzwischen klar geworden war. Damals hatte ich weder auf meine besorgten Eltern hören wollen noch auf meine Schwester, die mir ihre Bedenken von Australien aus mitgeteilt hatte, wo sie jetzt lebte. Doch dann reduzierte ich meine Besuche auf ein bis zwei pro Woche. Weniger wäre mir falsch vorgekommen.
Abends waren immer mehr Leute auf dem Friedhof als zu anderen Tageszeiten, und im Vorbeigehen erkannte ich bald einige der regelmäßigen Besucher wieder. Manche waren bei der Grabpflege, schauten kurz von den Ruhestätten ihrer Lieben auf und nickten mir zu, als wären wir Pendler, die seit Jahren dieselbe Strecke fuhren, ohne je ein Wort miteinander zu wechseln.
Auf Friedhöfen herrschen ganz eigene Regeln. Ein Nicken ist in Ordnung. Wenn man sich kennt, ist sogar ein schwaches Lächeln erlaubt. Auf keinen Fall aber mischt man sich in die Gespräche zwischen den Angehörigen und ihren Toten ein. Der Mann, der mir kürzlich Taschentücher gereicht hatte, wusste das offenbar nicht. Ich fragte mich, ob er seine Frau erst vor Kurzem verloren hatte.
»Hey. Da bin ich wieder«, sagte ich zu der weißen Grabeinfassung, auf die ich in den ersten Tagen so viele Tränen vergossen hatte. Es wundert mich, dass der Stein davon noch nicht aufgelöst war. Ich war ein Wrack gewesen, nicht im Geringsten darauf vorbereitet, mein Leben ohne den Mann zu führen, den ich liebte. Man hätte meinen können, nach meiner Vorahnung beim Onkologen hätte ich mich besser darauf eingestellt, aber als Tim nach seinem tapferen und harten Kampf starb, warf es mich völlig aus der Bahn.
Ich hob die Hand mit dem Blumenstrauß. »Freu dich nicht zu früh«, sagte ich an den Grabstein gerichtet, »die sind nicht für dich gedacht, sondern als Wiedergutmachung für den Mann, dessen Frau irgendwo dort drüben liegt.« Dabei nickte ich in die Richtung, aus der der Fremde neulich gekommen war. »Gib mir einen Moment Zeit, um sie zu suchen, dann können wir uns weiter unterhalten. Wir haben ja noch viel zu bereden.«
An jedem anderen Ort hätte man mich für verrückt erklärt, wenn ich so mit dem abwesenden Tim gesprochen hätte. Hier war das allerdings normal, ja praktisch Pflicht. Zu unseren Füßen ruhten Menschen, die wir liebten, mit denen wir unser Leben geteilt hatten und mit denen unsere Herzen und unsere Seelen verbunden waren. Nicht so mit ihnen zu sprechen, wie wir es gewohnt waren, das wäre verrückt gewesen.
Meine Intuition führte mich auf geradezu unheimliche Weise zur richtigen Stelle. In einer Reihe flechtenbedeckter und von Unkraut überwucherter Steine war der blank geputzte Gedenkstein gut zu sehen. Das Grab war gepflegt und mit niedrigen blühenden Stauden bepflanzt. Die Inschrift auf dem hellgrauen Marmor war eher schlicht und doch rührend. Ich entnahm ihr, dass die Frau zu meinen Füßen Anna Thomas hieß, die Ehefrau eines gewissen Liam und jung – genauer gesagt, in meinem Alter – gewesen war, als ihr Leben vor acht Jahren ein vorzeitiges Ende gefunden hatte. Wie schrecklich.
Ich hockte mich neben den Grabstein und legte den kleinen Strauß gelber Rosen behutsam nieder. Nur wenige Menschen beherrschen noch die Sprache der Blumen, aber als Floristin sprach ich sie fließend. Diese hier sagten: »Es tut mir leid«, und zogen einen Schlussstrich unter das unglückliche Zusammentreffen mit dem Ehemann von Anna Thomas. Zwischen den eng gebundenen Blumen steckten eine kleine Karte, auf die ich Danke geschrieben hatte, und eine ungeöffnete Packung Taschentücher. Er konnte sich sicher denken, von wem sie kamen.
»Also, was gibt’s Neues? Was war bei dir in letzter Zeit so los?«
»Nicht viel«, erwiderte ich. Abgesehen davon, dass ich mich darauf vorbereite, schwanger zu werden. Einen Schreckensmoment lang dachte ich, ich hätte das laut gesagt. Aber das Gesicht meiner Schwester auf dem Bildschirm wirkte weder verblüfft noch erschüttert, also hatte ich es wohl doch nicht getan.
In Australien war jetzt früher Vormittag, und Karen saß an ihrem Lieblingsplatz für unsere Skype-Telefonate, auf der Terrasse ihres Hauses in Sydney, vor einer tropischen Blütenpracht. Ihren nicht gerade subtilen Versuch, mich mithilfe von exotischen Pflanzen auf die andere Seite des Erdballs zu locken, hatte ich längst durchschaut.
Unsere Telefonate waren der Höhepunkt meiner Woche. Karen lebte so weit entfernt, aber sie war nach wie vor meine beste Freundin, und ich vermisste sie schmerzlich, selbst nach all den Jahren. Ich sehnte mich immer noch nach dem Duft ihres Shampoos, das ich immer roch, wenn sie mich umarmte, nach der Art, wie ihre Lippen meine Wange streiften, wenn sie mich begrüßte, oder wie sie in Momenten, in denen Worte einfach nicht genügten, meine Hand drückte. Wir hatten uns schon als Kinder sehr nahegestanden. Auch wenn wir uns sicherlich gestritten haben, wie es unter Geschwistern eben vorkommt, hatte meine Sehnsucht nach ihr die Erinnerung daran getilgt.
Jede von uns kannte die Geheimnisse der anderen: der erste Schwarm, der erste Kuss, die erste heimliche Zigarette, das erste Mal mit einem Jungen. »Ganz ehrlich, Bethie, ich weiß echt nicht, was das ganze Aufheben soll; nach ein paar Sekunden war’s schon wieder vorbei.« Beim Gedanken daran musste ich selbst jetzt noch schmunzeln, auch wenn ich bezweifelte, dass sie das mit ihrem Mann, der sie über alles liebte, und zwei Kindern noch immer so sah. Aber nun versuchte ich, ihr das größte Geheimnis meines Lebens zu verschweigen, und jedes Mal, wenn ich den Mund öffnete, hatte ich Angst, mich zu verplappern.
»Was machen Mum und Dad?«, fragte Karen und verschwand für einen Moment vom Bildschirm, um nach einem Glas Orangensaft zu greifen.
»Das Übliche«, erwiderte ich in schwesterlichem Kurz-Code, den sie, wie ich wusste, mühelos entschlüsseln konnte: Mum war beschäftigt mit ihrem Buchklub, dem Ehrenamt und dem Laientheater, während Dad so tat, als würde er sich im Ruhestand nicht zu Tode langweilen und als wäre seine Arthritis lediglich ein kleines Ärgernis und kein ernsthaftes, kräftezehrendes Leiden.
Karen setzte ein Gesicht auf, das ich nur zu gut kannte. Das schlechte Gewissen traf mich unvermittelt und mit voller Wucht. Es war kein Geheimnis, dass meine Eltern ihren Ruhestand immer in Australien hatten verbringen wollen, was völlig nachvollziehbar war: Das Wetter auf dem fünften Kontinent war viel besser für jemanden mit Dads Beschwerden; außerdem lebten dort fünfzig Prozent ihrer Kinder und einhundert Prozent ihrer Enkel. Rein mathematisch betrachtet sprach alles dafür.
Ich hatte immer vermutet, dass Karen schon seit Langem einen Masterplan ausheckte, demzufolge die gesamte Familie nach Down Under übersiedeln sollte. Sie versorgte unsere Eltern mit Informationen über Seniorendomizile, die an Stränden und direkt neben Golfplätzen lagen, und sie hatte Tim sogar Links zu Stellenanzeigen geschickt, mit kleinen lustigen Anmerkungen wie Keine Didgeridoo-Kenntnisse erforderlich!
Auch wenn wir dem nie nachgegangen waren, hatte ich bemerkt, dass Tim nicht abgeneigt war. Karen wusste, wie gern ich wieder am Meer leben wollte – und Küste gab es in Australien genug. Daher hatte sie damals ihr Ziel schon halb erreicht. Wären nicht die andauernden Magenkrämpfe und die ständige Übelkeit gewesen, die beinahe über Nacht zu Tims Gewichtsverlust geführt hatten … Plötzlich sprach keiner mehr davon, woanders zu leben. Uns ging es mehr darum, zu überleben.
Ich hatte nicht erwartet, dass meine Eltern wegen Tims Krankheit ihre Pläne ändern würden. Doch dann … Sie sprachen es nie aus – tatsächlich stritten sie es sogar mehrmals ab –, aber alle kannten den wahren Grund, weshalb sie nicht ausgewandert waren. Und dieser Grund war ich. Die Schuldgefühle, die ich deswegen empfand, lasteten schwer auf mir. Karen hatte zwei reizende Kinder. Nichts konnte meinen Schmerz darüber lindern, dass ich meine Eltern um die Freude brachte, ihre Enkelkinder aufwachsen zu sehen. Außer vielleicht ein drittes Enkelkind – mit dem allerdings niemand rechnete.
In einem Baum hinter Karen zwitscherte gerade lautstark ein Chor Kookaburras, als der sieben Jahre alte Aaron sein Gesicht vor die Kamera schob.
»Kommst du uns bald besuchen, Tante Beth?«, fragte mein Neffe. Er lispelte wie eine Schlange, da er gerade keine Schneidezähne hatte.
»Netter Versuch«, sagte ich über seine zerzausten blonden Locken hinweg an seine Mutter gerichtet. »Ein cleverer Taktikwechsel.« Sie wusste wohl besser als jeder andere, wie sehr ich ihre beiden Söhne liebte.
Karen antwortete mit einem Grinsen, von dem selbst ich zugeben musste, dass es ein Ebenbild meines eigenen war. »Ich dachte mir, ihn zu enttäuschen würde dir schwerer fallen«, meinte sie und küsste ihren Sohn zur Belohnung auf den Kopf.
»Das hatten wir schon x-mal. Du weißt, dass ich nicht einfach meinen Laden schließen und verschwinden kann.«
»Und ich dachte, dass du genau dafür diese Superfrau von einer Mitarbeiterin eingestellt hast.«
Nur mit Mühe konnte ich weiterlächeln. Einen Augenblick lang war ich kurz davor, Karen in mein Geheimnis einzuweihen. Meine Schwester war nicht leicht aus der Fassung zu bringen, aber wenn ich ihr so etwas gesagt hätte wie: In Wirklichkeit habe ich Natalie eingestellt, damit sie sich um den Laden kümmert, wenn ich mein Kind bekomme, wäre ihr der besserwisserische Gesichtsausdruck im Nu vergangen. Aber ich war nicht so weit, es auszusprechen. Noch nicht. Man mag es abergläubisch nennen, aber es schien mir voreilig, denn einem verbreiteten Sprichwort zufolge soll man sich ja nicht um ungelegte Eier kümmern – oder, auf die Welt der künstlichen Befruchtung übertragen: Man soll nicht an ein Baby denken, solange der Embryo noch auf Eis liegt.
Glücklicherweise wurde Karen durch ein Geräusch außerhalb des Bildausschnitts abgelenkt, und sie schaute stirnrunzelnd in Richtung des Verursachers. »Oh, oh. Hört sich ganz danach an, als wäre Josh gerade aufgewacht. Ich dachte, wir hätten noch locker zwanzig Minuten. Tut mir leid, Liebes. Sieht aus, als müsste ich jetzt schon Schluss machen.«
»Gib ihm einen dicken Kuss von mir«, sagte ich und winkte ihr zu. »Bis nächste Woche.«
Karens Augenbrauen zogen sich zu einem einzigen blonden Strich zusammen. Sie war viel hübscher als ich, und die sieben Jahre in der Sonne von New South Wales hatten ihr das Aussehen einer waschechten Australierin verliehen.
»Sicher, dass alles in Ordnung ist, Bethie? Du klingst irgendwie … geistesabwesend.«
Wie hatte sie das vom anderen Ende der Welt aus wahrgenommen? Wie hatte sie durch das verzerrte, pixelige Bild direkt in mein Herz schauen können? Außer Sichtweite der Kamera kreuzte ich die Finger, wie ein Kind, um die Lüge nicht auf dem Gewissen zu haben.
»Alles bestens. Mach dir keine Sorgen.«
In dieser Nacht brauchte ich sehr lange zum Einschlafen. Meine Familie anzulügen war unerträglich, aber die beiden ersten fehlgeschlagenen Versuche in der Klinik für künstliche Befruchtung in Tims letztem Jahr waren für mich so niederschmetternd gewesen – ich wollte nicht, dass irgendjemand von meinem Vorhaben erfuhr, bevor ich sicher sein konnte, dass es geklappt hatte. Oder willst du es nicht sagen, damit sie es dir nicht ausreden können?, fragte eine Stimme in der Dunkelheit, die ich als meine eigene erkannte. Ich warf mich herum und schlug mit der Faust in mein Kissen, als könnte die Memory-Schaum-Füllung etwas dafür. »Nein«, antwortete ich, griff nach dem Kissen auf der anderen Bettseite, die für mich immer noch Tims Seite war, und schloss es in die Arme, auch wenn es nur ein unzureichender Ersatz für den Mann war, der dort eigentlich hätte liegen sollen. »Ich will einfach nicht, dass sich jemand Hoffnungen macht, das ist alles.«