Daniel Holbe / Ben Tomasson
Kriminalroman
Knaur eBooks
Daniel Holbe, Jahrgang 1976, lebt mit seiner Familie im oberhessischen Vogelsbergkreis. Insbesondere Krimis rund um Frankfurt und Hessen faszinieren den lesebegeisterten Daniel Holbe schon seit geraumer Zeit. So wurde er Andreas-Franz-Fan – und schließlich selbst Autor. Als er einen Krimi bei Droemer Knaur anbot, war Daniel Holbe überrascht von der Reaktion des Verlags: Ob er sich auch vorstellen könne, ein Projekt von Andreas Franz zu übernehmen? Daraus entstand die Todesmelodie, die zu einem Bestseller wurde. Mit Giftspur hat Daniel Holbe seine eigene Reihe begründet; Blutreigen ist der mittlerweile fünfte Fall für das Ermittlerduo Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach.
Ben Kryst Tomasson, Jahrgang 1969, ist Germanist und Pädagoge und promovierter Diplom-Psychologe. Ehe er sich ganz dem Schreiben gewidmet hat, war er einige Jahre in der Bildungsforschung tätig. Tomassons Leidenschaften sind die Geschichten, die das Leben schreibt, die vielschichtigen Innenwelten der Menschen, Motorradfahren und Reisen zu jenen Orten, an denen Sonne und Meer sich treffen. Tomasson ist verheiratet und lebt in Kiel. Im Frühjahr erscheint im Droemer Taschenbuch der erste Band seiner Reihe um den Göteborger Kommissar Forsberg.
© Knaur Taschenbuch Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Regine Weisbrod
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Julie Ginger Conner / Arcangel Images
ISBN 978-3-426-45820-4
Die Handlung dieses Buches ist um den Bad Vilbeler Markt angesiedelt, ein Volksfest mit langer Tradition. Ganz bewusst haben wir dabei Sachverhalte und Zusammenhänge verfälscht, um zu vermeiden, mit realen Personen oder Begebenheiten in Konflikt zu geraten. Vergessen Sie also bitte nicht: Diese Geschichte und sämtliche Beteiligte sind frei erfunden!
Der Vogelsberg ließ ihn nicht los. Nachdem sich der Traum vom eigenen Haus in Fuchsrod zerschlagen hatte, konnte er seiner Mietwohnung in Gießen noch weniger abgewinnen als zuvor. Das einzig Positive war der kurze Weg zum Präsidium. Aber jedes Mal wenn Ralph Angersbach seinen Vater besuchte und durch die herrliche Landschaft mit ihren ansteigenden Hügeln und den bewaldeten Bergrücken, den Flickenteppichen aus Wiesen und Feldern und den schmalen, gewundenen und wenig befahrenen Straßen unterwegs war, blutete ihm das Herz. Hier gehörte er hin, hier wollte er leben.
Das Geld dafür hätte er; nach dem Verkauf des Hauses in Okarben, das ihm seine Mutter vermacht hatte, war zumindest für eine Anzahlung genügend Kapital vorhanden. Für seine Halbschwester Janine, die er zusammen mit jenem Haus in der südlichen Wetterau geerbt hatte, musste er nicht mehr sorgen. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft in Berlin, zusammen mit Morten, einem australischen Jurastudenten. Seit dem letzten Herbst besuchte sie die Abendschule, um ihr Abitur nachzuholen. Sie hatten nur selten Kontakt; er mochte sich nicht aufdrängen, und Janine hatte so viel anderes zu tun, aber er war froh, dass es sie gab. Wenn er daran dachte, dass sie plante, nach dem Abitur und Mortens Abschluss mit ihm nach Australien zu gehen, zog sich ihm der Magen zusammen. Und das nicht nur wegen allerlei giftiger Tiere und der immer heißer werdenden Sommer. Aber noch waren das zum Glück ungelegte Eier.
Weitaus mehr beschäftigte ihn der Wunsch nach einem eigenen Haus. Eines, das so aussah wie das seines Vaters. Sein alter Herr hatte schon einige Male vorgeschlagen, ebenfalls eine Wohngemeinschaft zu gründen, aber das war ihm dann doch zu eng. Zumal die anderen Mitbewohner, an die sein Vater dachte, als ergraute Hippies und Altachtundsechziger im Hinblick auf den Konsum von Rauschmitteln nicht unbedingt gesetzestreu waren; etwas, das Ralph nicht akzeptieren konnte.
Nein, er wollte etwas Eigenes.
Deshalb fuhr er jedes Wochenende kreuz und quer durch den Vogelsberg, in der Hoffnung, irgendwo die Perle zu entdecken, von der er träumte. Schließlich war er schon einmal auf ein Schmuckstück gestoßen, das gerade zum Verkauf stand, damals in Fuchsrod. Dass aus dem Hauskauf nichts geworden war, stand auf einem anderen Blatt.
Angersbach steuerte den alten grünen Lada Niva über eine holprige Nebenstraße, während er den Blick über die Häuser rechts und links seines Wegs schweifen ließ.
Tatsächlich war die Suche nach der Perle eher eine nach der Nadel im Heuhaufen. Je länger er sich damit beschäftigte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass es das, was er sich erträumte, gar nicht gab. Es mangelte freilich nicht an leer stehenden Immobilien, doch mittlerweile wusste Ralph recht gut zu entschlüsseln, was sich hinter blumigen Begriffen wie »Heimwerker-Paradies« oder »Schmuckstück zum Wiederbeleben« verbarg. An die eine Ausnahme, die seinen Traum noch übertroffen hätte, dachte er lieber nicht. Dieses Haus wäre selbst dann unerschwinglich gewesen, wenn man ihn schon vor Jahren ein paar Gehaltsklassen höher eingestuft hätte.
Er zuckte zusammen, als sein Smartphone auf dem Beifahrersitz zu vibrieren begann. Mit einer Handbewegung, die inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war, schaltete er das Gespräch per Bluetooth auf sein Autoradio; eine Modernisierung, die er sich vor einiger Zeit gegönnt hatte. Aufs Display sah er nicht. Deshalb traf ihn die Stimme, die aus dem Lautsprecher erschallte, wie eine Sturmbö.
»Angersbach?«, schnarrte der Anrufer.
Es war Kriminaloberrat Horst Schulte, Koordinator der Abteilung für Gewaltdelikte bei der Regionalen Kriminalinspektion Friedberg. Derselbe Mann, der auch verantwortlich für das Projekt »Mordkommission in Bad Vilbel« gewesen war. Das Experiment, zwei Außenstellen des K10 in der Polizeistation Bad Vilbel zu schaffen, hatte nicht überall für Begeisterung gesorgt. Schon gar nicht beim dortigen Dienststellenleiter. Ralph Angersbach war einer der beiden Kommissare gewesen, gemeinsam mit Sabine Kaufmann. Seine Gedanken kehrten zu dem Anrufer zurück, der in der Leitung auf eine Antwort wartete.
»Ja! Am Apparat.« Obwohl er dank Bluetooth beim Fahren telefonieren konnte, lenkte Ralph den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Er hatte den Verdacht, dass er für das Gespräch seine gesamte Konzentration brauchen würde.
Schulte kam sofort auf den Punkt, er war kein Mann, der lange um den heißen Brei herumredete. »Ich nehme an, Ihnen ist bekannt, dass der Bad Vilbeler Markt vor der Tür steht?«
»Ja.« Auch wenn Ralph mittlerweile wieder in Gießen und damit einem anderen Bezirk zugeordnet war, bekam er von den umfangreichen Vorbereitungen immer etwas mit. Das Volksfest blickte auf eine fast zweihundertjährige Tradition zurück und wurde Mitte August ausgerichtet. Nach mehreren furchtbaren Anschlägen auf feiernde Menschen in verschiedenen Städten war in den vergangenen Jahren das Sicherheitskonzept für diesen Markt deutlich ausgebaut worden. Immer wieder wurden externe Beamte angefordert, und immer mehr versuchte man dennoch, einen normalen Anschein zu wahren. In seiner Zeit in Bad Vilbel hatte Ralph Angersbach den Markt allerdings gemieden. Er hatte diesen Massenveranstaltungen noch nie etwas abgewinnen können, zu viele Menschen auf viel zu engem Raum: um Aufmerksamkeit heischende Marktschreier, kreischende Jugendliche in den Fahrgeschäften, grölende Betrunkene, plärrende Kinder, schimpfende Eltern … Und dazu die laute Musik, die einen von allen Seiten beschallte und sich, zusammen mit den surrenden Motoren der Karussells, zu einer Kakophonie mischte, die nichts als ohrenbetäubender Lärm war.
»Das betrifft auch Ihre ehemalige Dienststelle. Die Kollegen spielen im Sicherheitsmanagement eine wichtige Rolle. Ich habe die Koordination übernommen. Der Kollege Möbs ist ja mittlerweile im Ruhestand.«
Ralph war für einen Moment überrascht, obwohl es ihm hätte bewusst sein müssen. Konrad Möbs, der damalige Dienststellenleiter, hatte zwar seit vielen Jahren immer wieder seinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert, aber jeder hatte gewusst, wie alt er wirklich war. Ralph rechnete nach. Inzwischen musste Möbs fünfundsechzig sein. Möbs war froh gewesen, als man das K10 zunächst auf eine Stelle reduziert und schließlich ganz eingestampft hatte und erst Ralph Angersbach und ein Jahr später Sabine Kaufmann aus Bad Vilbel weggegangen waren, Angersbach zurück zum K11, der Mordkommission der RKI Gießen, Kaufmann nach Wiesbaden zum LKA.
»Hm«, brummte Ralph. Was sollte er auch dazu sagen? Doch ihm schwante nichts Gutes.
Schulte räusperte sich. »Weshalb ich Sie anrufe: Wir haben ein Problem.«
»Aha?« Was immer es sein mochte, es ging ihn nichts an. Auch wenn die Polizeistation Bad Vilbel genau wie die RKI Gießen zum Polizeipräsidium Mittelhessen gehörte – sein Job waren Kapitalverbrechen, nicht die Erstellung von Sicherheitskonzepten für Großveranstaltungen.
Schulte hörte offenbar die Ablehnung in seiner Stimme. »Ich weiß, dass Sie damals nicht im Frieden auseinandergegangen sind. Aber Konrad ist nicht mehr da. Und mit den anderen Kollegen haben Sie sich doch gut verstanden?«
Das musste Angersbach einräumen.
»Also, die Sache ist die: Wir haben ein Drohschreiben erhalten. Von einem unbekannten Absender.«
»So?« Ralph verspürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. »Was steht darin?«
»Der Absender kündigt an, dass es einen Anschlag geben soll. Auf die Polizei Bad Vilbel. Er schreibt, das Attentat solle den krönenden Abschluss des diesjährigen Marktes bilden.«
Angersbach wurde innerlich kalt. Das war nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen durfte.
»Ich komme«, sagte er rau.
»Danke.« Obwohl Schulte vermutlich nichts anderes erwartet hatte, wirkte er erleichtert. »Sie finden mich in meinem Büro in Friedberg.«
Sabine Kaufmann drehte den Hahn über der Wanne zu und goss ein wenig von dem teuren Badezusatz ins Wasser, den sie sich gegönnt hatte. Ein angenehmer Duft nach Lavendel breitete sich aus. Sie legte ihre Kleidung ab, faltete sie auf dem Hocker neben dem Waschbecken und steckte den rechten großen Zeh ins Wasser. Die Temperatur war perfekt. Mit einem Seufzen ließ sie sich in die Wanne gleiten.
Auf diesen Moment hatte sie sich schon die ganze Woche gefreut. Sie fühlte sich überarbeitet und ausgelaugt. Zu viele Fälle, zu viele undurchsichtige Geschäfte, zu viel Zeit am Schreibtisch. Die Jagd nach Tätern, die in die Zuständigkeit des Landeskriminalamts fielen, war eine deutlich trockenere Angelegenheit als die Suche nach gewöhnlichen Mördern. Häufig ging es um Organisierte Kriminalität. Ehe eine Festnahme erfolgen konnte, mussten Verdächtige oft monatelang observiert werden. Es gab Unmengen von Papieren durchzuarbeiten. Alles in allem kam sie zu selten auf die Straße.
Kaufmann lehnte den Hinterkopf an den Wannenrand und schloss die Augen. Die Wärme löste die verkrampfte Muskulatur in Schulter und Nacken, und sie spürte, wie sie sich entspannte. Aus dem eingebauten Radio neben der Tür ihres Badezimmers perlte leise Musik. Es war eine der Annehmlichkeiten der Wohnung im Wiesbadener Stadtteil Dotzheim, die sie direkt nach der Grundsanierung und Renovierung bezogen hatte. Entsprechend hoch war die Miete, fast tausend Euro warm. Aber da sie ansonsten so gut wie keine Ausgaben hatte, konnte sie sich den Luxus leisten.
Ihr Kopf wurde schwer und füllte sich mit einer angenehm dumpfen Leere. Beinahe wäre sie eingedöst, doch da schrillte das Telefon im Wohnzimmer. Sabine öffnete die Augen und stöhnte.
Nein. Nicht jetzt, beschloss sie.
Es klingelte fünf-, sechs-, siebenmal, dann brach der Klingelton ab.
Na also.
Kaufmann lehnte sich lächelnd zurück und schloss die Augen wieder.
Im Wohnzimmer erklang die Melodie ihres Handys.
»Verdammt.« Warum hatte sie das Gerät nicht mit ins Bad genommen und auf den Hocker neben der Wanne gelegt?
Weil sie nicht telefonieren, sondern ihre Ruhe haben wollte, antwortete sie sich selbst. Doch der Anrufer war hartnäckig. Das Klingeln des Smartphones brach ab, als sich die Mailbox einschaltete, setzte aber zehn Sekunden später erneut ein.
Offenbar war es wichtig.
Sabine stieg seufzend aus der Wanne, rieb sich notdürftig mit dem flauschigen Handtuch ab, das sie bereitgelegt hatte, und schlüpfte in den Bademantel. Dann lief sie ins Wohnzimmer, gerade als das Smartphone zum dritten Mal zu klingeln begann. Sie nahm es zur Hand und sah, dass der Anrufer ihr Vorgesetzter war, Kriminaloberrat Julius Haase.
Was vermutlich bedeutete, dass es Arbeit gab.
Eine halbe Stunde später fuhr sie mit ihrem silberfarbenen Renault Zoe auf der A66 von Wiesbaden in Richtung Frankfurt. Am Nordwestkreuz wechselte sie auf die A5 nach Norden. Gut fünfzehn Kilometer, dann kam die Abfahrt zur B455 nach Friedberg. Sabine durchfuhr die erste Stadt, Rosbach, um festzustellen, wie sehr sich alles verändert hatte. Neue Straßen, ein ganz neues Wohnviertel. Der äußerste Speckgürtel des Rhein-Main-Gebiets mit direkter Anbindung an die Autobahn. Sie erreichte Friedberg und passierte einen Kreisel, der so gebaut worden war, dass die US-Panzer der hiesigen Kaserne ihn bei Manövern über eine Schranke direkt überfahren konnten, und nahm die erste Ausfahrt, die sie entlang eines Industriegebiets zur Regionalen Kriminalinspektion führte. Ein Weg, den sie immer noch auswendig beherrschte. Während sie ohne Eile die letzten paar Hundert Meter fuhr, dachte Sabine darüber nach, was ihr Chef Julius Haase ihr mitgeteilt hatte.
Kriminaloberrat Horst Schulte aus Friedberg hatte sich ans Landeskriminalamt gewandt, weil bei der Polizeistation Bad Vilbel ein Drohbrief eingegangen war. Man kündigte einen Anschlag auf die Polizei im Zusammenhang mit dem Vilbeler Markt an. Für solche Dinge war das LKA zuständig.
Es rührte sie, dass ihr ehemaliger oberster Vorgesetzter aus ihrer Zeit in der Mordkommission in Bad Vilbel explizit darum gebeten hatte, sie für diesen Fall abzustellen. Trotzdem widerstrebte ihr dieser Ausflug in die Vergangenheit. Nicht nur, weil sie und Konrad Möbs, der Bad Vilbeler Dienststellenleiter, alles andere als freundschaftlich auseinandergegangen waren. Bad Vilbel beschwor noch eine Reihe anderer unangenehmer Erinnerungen herauf.
An die letzten Jahre, die sie dort zusammen mit ihrer Mutter gelebt hatte, weil diese nicht allein zurechtkam – paranoide Schizophrenie, die sich auch mit Medikamenten nicht hundertprozentig kontrollieren ließ. Ihre Mutter hatte Betreuung und Hilfe gebraucht. Das war oft schwer gewesen, und Sabine hatte sich manches Mal gewünscht, die Dinge wären anders. Bis zu dem Tag, an dem man Hedwig Kaufmann ermordet hatte.
Seit ihre Mutter tot war, vermisste sie sie schmerzlich. Statt sich der Trauer zu stellen, war sie geflohen. Es war einer der Gründe für ihre Entscheidung gewesen, zum LKA nach Wiesbaden zu gehen. Nach Bad Vilbel kam sie nur noch, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und das tat sie nicht oft. Es wühlte zu vieles auf, und sie konnte nicht gut damit umgehen.
Als sie die ersten Häuser von Friedberg erblickte, kamen ihr die Tränen. Vielleicht hätte sie doch auf Haase hören sollen, der ihr bei ihrem Dienstantritt beim Landeskriminalamt geraten hatte, sich Hilfe bei einem Psychotherapeuten zu holen. Den Mord an der eigenen Mutter zu verkraften war nichts, was man allein gut bewältigen konnte. Sie hatte seine Empfehlung in den Wind geschlagen, weil sie nicht noch mehr aufwühlen wollte. Ohnehin hatte sie sich schon wie ein leckgeschlagenes Schiff gefühlt. Ein Therapeut hätte sich nicht damit zufriedengegeben, ihre Gefühle in Bezug auf den Tod ihrer Mutter zu besprechen. Er hätte auch in ihrer Vergangenheit gewühlt und über den Vater reden wollen, der die Familie verlassen hatte, als Sabine ein kleines Mädchen gewesen war, um irgendwo in der spanischen Sonne ein neues Leben anzufangen. Doch mit diesem Thema wollte sie sich nicht auseinandersetzen, wie mit so vielen anderen auch nicht. In der letzten Zeit hatte sie allerdings der Verdacht beschlichen, das wachsende Gefühl der Leere, das sie von innen heraus aufzufressen schien, könnte womöglich etwas damit zu tun haben, dass sie alle Probleme in die dunklen Kellerräume ihrer Seele verbannte, statt sich ihnen zu stellen.
Doch jetzt gab es zunächst anderes zu tun. Bad Vilbel stand der Marktbeginn bevor, und nun drohte ein Verrückter mit einem Anschlag auf die Polizei. Sie musste herausfinden, wer derjenige war, und ihn unschädlich machen, im besten Fall, ehe das Volksfest begann. Das Letzte, was die Stadt brauchte, war eine blutige Katastrophe, die sich ausgerechnet hier abspielte. Sie lenkte den Zoe auf den Parkplatz der Regionalen Kriminalinspektion und blinzelte. Neben dem silbernen E-Klasse-Mercedes, der, wie sie wusste, Horst Schulte gehörte, parkte ein dunkelgrüner Lada Niva.
Kaufmann kannte nur einen Menschen, der eine derart in die Jahre gekommene, schlecht gefederte und hässliche Schrottkiste fuhr.
Die Zeit verrann unerbittlich. Kostbare Sekunden, Minuten. Wenn sie sich nicht bald auf den Weg machten, würden sie zu spät kommen. Aber die Männer in den grauen Uniformen hatten keinen Grund, sich zu beeilen. Sie genossen ganz offensichtlich, was sie taten.
Schubladen und Schranktüren wurden aufgerissen, der Inhalt herausgezerrt und auf dem Boden verteilt. Papiere wurden durchwühlt, Dokumente gründlich geprüft. Es klirrte, als einer der Volkspolizisten die Besteckschublade umdrehte und Messer, Gabeln und Löffel zu Boden fielen.
Rico ballte die Fäuste, öffnete und schloss die Hände immer wieder. Er hörte den eigenen Herzschlag, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Sein ganzer Körper kribbelte. Warum waren sie ausgerechnet heute gekommen?
Sein Vater stand an der Wand, schmal und stocksteif, die Arme verschränkt, das Gesicht wachsweiß. Die Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, aber Rico kannte seinen Vater. Er wusste, dass er Angst hatte.
Wenn sie etwas fanden, das ihr Misstrauen erregte, wenn sie sie mitnahmen, war alles verloren.
Rico schloss die Augen. Er musste an etwas anderes denken. An die Zukunft. Wie er mit seinen neuen Fußballschuhen über den Platz stürmte, den Ball eng führte, die gegnerische Abwehr spielerisch umdribbelte und abzog. Tor! Er riss die Arme hoch, hörte das begeisterte Johlen der Zuschauer. Dann waren seine Mitspieler bei ihm, klatschten ihn ab, schlugen ihm auf die Schulter, rannten ihn fast über den Haufen. Er schaute zur Ehrentribüne, wo Franz Beckenbauer saß. Der Bundestrainer hob den Daumen für ihn!
Ein harter Knall.
Rico riss die Augen auf.
Einer der Volkspolizisten schlug mit seinem Gewehrkolben auf das Schloss der Schreibtischschublade. Es sprang auf, und der Mann riss die Unterlagen heraus. Der Anführer blätterte sie durch. Er hatte ein hässliches Mopsgesicht, tief liegende Augen und dicke Tränensäcke darunter, dazu einen breiten Mund mit wulstigen Lippen, die sich jetzt wütend verzerrten. Er warf die Papiere auf den Boden und gab seinen Männern einen Wink.
»Wir ziehen ab.«
Schwere Stiefel auf den Holzbohlen, das Scheppern der Ausrüstung, finstere Mienen. Dann war nur noch der Anführer im Raum. Er hob drohend den Zeigefinger. »Dieses Mal hast du Glück gehabt. Aber verlass dich nicht darauf. Wir haben ein Auge auf dich.«
Damit wandte er sich ab und folgte seinen Männern. Ricos Vater stöhnte auf. »Verdammt.« Sein Blick wanderte zur Uhr über der Anrichte. »Schon so spät.«
Er öffnete die Wohnungstür einen Spalt, lauschte ins Treppenhaus. Rico hielt die Luft an. Es war nichts mehr zu hören.
Sie sahen aus dem Fenster.
Vor dem Haus stiegen die Volkspolizisten in ihre Wagen und fuhren davon.
»Los jetzt. Schnell!«
Sein Vater riss die Tür weit auf. Rico beeilte sich, ihm zu folgen.
Hastig liefen sie die Stufen hinunter bis in den Keller. Der Hinterausgang war nicht verschlossen, dafür hatten sie schon am frühen Abend gesorgt. Sie huschten hinaus, kletterten über die Mauer aufs Nachbargrundstück und rannten zu dem kleinen Verschlag, in dem der Nachbar seine Gartengeräte verwahrte. Sein Vater öffnete die Tür und holte die beiden Rucksäcke heraus, die sie am Nachmittag dort deponiert hatten. Darin befand sich alles, was sie mitnehmen wollten. Geld, ein paar Klamotten, einige Erinnerungsstücke. Es war nicht viel, aber Rico war das gleichgültig. Im Austausch für das, was sie zurückließen, würden sie eine Zukunft bekommen.
Kriminaloberrat Horst Schulte war alt geworden. Das früher volle braunschwarze Haar und die buschigen Augenbrauen, die an einen Habicht erinnerten, waren grau, die Tränensäcke schwerer, die Haut um den Mund herum faltiger. Kein Wunder, dachte Ralph Angersbach. An ihm selbst gingen die Jahre ja ebenfalls nicht spurlos vorbei. Mittlerweile war auch sein Haar von etlichen grauen Strähnen durchzogen, und seit einiger Zeit beobachtete er vermehrten Haarausfall.
Angersbach überlegte, wann er Schulte zuletzt gesehen hatte, und stellte fest, dass die Begegnung bereits einige Jahre zurücklag. Schade eigentlich. Er hatte den energischen und geradlinigen Kollegen immer geschätzt.
Schulte und er hatten in der Sitzgruppe in Schultes Büro Platz genommen. Die Sekretärin hatte Kaffee und Kekse gebracht. Ralph trank einen Schluck. Der Kaffee war zu stark, doch hieß es in der Werbung nicht immer, dass Koffein das Haarwachstum stärke? Mit einem flüchtigen Schmunzeln nahm er sich das Schreiben vor, das die Bad Vilbeler Kollegen an Schulte gefaxt hatten.
In diesem Jahr wird der Vilbeler Markt mit einem Feuerwerk der besonderen Art enden. Der Tod wird den krönenden Abschluss bilden. Denkt daran: Ich habe euch im Visier. Eure Tage sind gezählt. Auf den Sünder wartet das Höllenfeuer. Macht euch bereit und sprecht euer letztes Gebet. Ihr entkommt mir nicht.
Natürlich ohne Unterschrift. Auf dem Umschlag, von dem Schulte ebenfalls eine Kopie erhalten hatte, stand in fetter Arial Black die Anschrift der Polizeistation, der Riedweg in Bad Vilbel, dem Schriftbild nach zu urteilen mit einem Laserdrucker ausgedruckt. Ein Absender fehlte.
Ralph hielt den Zettel hoch. Sein Schmunzeln war verschwunden. »Sicher, dass das nicht nur ein Dummejungenstreich ist?«
Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wir haben selbstverständlich sofort das LKA kontaktiert. Es gibt dort Kollegen, die auf linguistische Analysen spezialisiert sind.«
Schulte stand auf und nahm ein Blatt von seinem Schreibtisch. »Der Verfasser zeichnet sich durch eine sichere und differenzierte Verwendung der deutschen Sprache aus«, las er vor. »Der Text lässt auf einen umfangreichen Wortschatz schließen, der gut beherrscht wird. Er ist grammatikalisch korrekt und fehlerfrei. Die hohe Stilsicherheit und Eloquenz deuten auf einen Schreiber mit höherem Bildungsniveau hin, der wenigstens die allgemeine Hochschulreife, eventuell auch einen Hochschulabschluss erworben hat.«
Schulte ließ die Hand mit dem Papier sinken. »Das klingt nicht nach dummen Jungen, oder was meinen Sie?«
»Nein.« Angersbach kniff die Augen zusammen. Wenn man das Schreiben ernst nahm, stand ein gewalttätiger Anschlag auf die Polizeistation zu befürchten. Wäre es dann nicht angebracht, nicht nur die Analyse des Schriftstücks, sondern den ganzen Fall dem Landeskriminalamt zu überlassen, statt einen einzelnen Beamten der Gießener Mordkommission zurate zu ziehen? Er wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als es an der Tür klopfte.
Horst Schulte lächelte. »Herein«, rief er.
Ralphs Herz machte einen Satz, als sie eintrat. Obwohl er sich nach den gemeinsamen Ermittlungen in Fuchsrod geschworen hatte, den Kontakt aufrechtzuerhalten, war er wieder abgerissen. Er war einfach unglaublich schlecht in diesen Dingen. Vielleicht hatte er auch Angst davor gehabt, zu hören, wie es Sabine mit den Verletzungen erging, die sie erlitten hatte. Seine gebrochene Rippe war längst verheilt, aber die Erinnerung an den Fall verfolgte ihn oft nachts in seinen Träumen. Wer wusste schon, wie es bei ihr war?
Erst jetzt ging ihm auf, dass er sie vermisst hatte. Das Lächeln entfaltete sich wie von selbst auf seinen Lippen, wurde aber nicht erwidert.
»Ralph.« Kaufmann nickte ihm ernst zu. Sie hatte Berufliches und Privates schon immer besser zu trennen gewusst als er.
Angersbach wusste nicht genau, was er tun sollte. Aufzustehen und sie zu umarmen war zu viel, ein einfaches Händeschütteln im Sitzen zu wenig. Am Ende tat er gar nichts. Es fiel nicht weiter auf, weil Horst Schulte mit großen Schritten auf Sabine zuging. Er fasste sie an den Schultern und schaute sie mit väterlicher Neugier an.
»Frau Kaufmann. Gut sehen Sie aus.« Er ließ sie wieder los. »Ich bin froh, dass Julius meinem Wunsch entsprochen hat.« Schulte wandte sich zu Angersbach um. »Kriminaloberrat Julius Haase, Frau Kaufmanns Vorgesetzter im LKA. Ich habe ihn gebeten, Frau Kaufmann für diese Ermittlung abzustellen. Bei Bedarf werden weitere Kollegen dazukommen. An die Herren Schmittke und Rahn erinnern Sie sich vielleicht noch?«
Ralphs Laune verschlechterte sich zusehends. Natürlich erinnerte er sich. Die beiden LKA-Beamten hatten sie bei einem Fall in ihrer Zeit bei der Bad Vilbeler Mordkommission unterstützt. Zwei aufgeblasene Wichtigtuer, die alles besser wussten und wenig hilfreich waren. Einer rothaarig, einer blond, fiel ihm wieder ein, aber beide gleichermaßen blasse und verwaschene Charaktere. Ralph hatte sie nie auseinanderhalten können. Wozu auch? Nun gut, korrigierte er sich im Stillen, am Ende hatte sich ihre Mitarbeit doch noch als nützlich erwiesen. Trotzdem verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, die beiden wiederzusehen.
Er stellte die Kaffeetasse beiseite und stand auf. »Schön. Wenn das LKA die Sache übernimmt, werde ich ja nicht gebraucht. Es fällt ohnehin nicht in meine Zuständigkeit.«
Schulte hob die Hand, Kaufmann die Augenbrauen.
»Das ist alles mit Ihrem Vorgesetzten besprochen«, stoppte ihn der Kriminaloberrat. »Die Regionalkriminalinspektion Gießen stellt Sie für die Zeit der Ermittlungen in Bad Vilbel frei, also bis zum Ende des Vilbeler Marktes.« Er wedelte mit den Armen, als wollte er eine Hühnerschar in den Stall treiben. Ralph und Sabine verstanden es als Aufforderung, sich zu setzen, und nahmen in den grauen Schwingsesseln Platz. Schulte nickte zufrieden und gesellte sich dazu.
»Uns allen ist daran gelegen, dass diese Sache möglichst wenig Staub aufwirbelt. Dieses Volksfest ist das bedeutendste der südlichen Wetterau, ein Aushängeschild und von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Und die Kollegen in Bad Vilbel sollen nicht mehr als nötig beunruhigt werden. Deshalb möchten wir, dass jemand die Angelegenheit bearbeitet, der sich dort auskennt und mit dem sie vertraut sind.«
Angersbach dachte, dass er außerordentlich beunruhigt wäre, wenn er einen solchen Brief bekäme, sagte aber nichts. Kaufmann kräuselte die Nase. »Ich weiß nicht, ob Möbs sich besonders freut, uns wiederzusehen.«
Schulte schaute sie nachsichtig an. »Konrad ist seit einigen Jahren im Ruhestand. Wo ich im Übrigen in drei Monaten auch sein werde. Die Landesregierung hat zwar meinem Antrag zugestimmt, meine Dienstzeit über das vorgesehene Rentenalter hinaus zu verlängern, weil ich nicht im exekutiven, sondern im administrativen Bereich tätig bin, aber mit zweiundsechzig ist endgültig Schluss.«
»Ach so.« Angersbach sah, dass Kaufmann sich entspannte. Mit Konrad Möbs war es zu einigen unschönen Zusammenstößen gekommen. »Dann sind also nur noch Mirco Weitzel und Levin Queckbörner in Bad Vilbel?«
»Gemeinsam mit einigen neuen Kollegen. Die Polizeistation ist wieder gut besetzt. Aber das werden Sie ja sehen.« Schulte schien keinen Zweifel zu haben, dass sie die Aufgabe übernahmen. Es war ja auch gar nicht ihre Entscheidung. Man hatte sie längst abgeordnet.
Ralph tauschte einen Blick mit Sabine.
»Okay«, sagte sie. »Dann fahren wir jetzt nach Bad Vilbel.«
»Mit deinem oder meinem Wagen?«, frotzelte Angersbach. Das war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen. Kaufmann verurteilte seine veraltete Benzinschleuder, er belächelte ihr elektrisches Spielzeugauto. Ein Wagen, der nicht aufheulte und röhrte, wenn man Gas gab – das war doch kein Auto.
»Jeder mit seinem«, gab Kaufmann zurück. »Ich will anschließend nach Hause. Du nicht?«
Schulte ging dazwischen. »Es wäre mir lieber, wenn Sie vor Ort wären. Ich habe Ihnen bereits Zimmer in Bad Vilbel reserviert.«
Sabine wehrte ab. »So weit ist es nicht von Wiesbaden aus.«
»Von Gießen aus auch nicht«, stimmte Angersbach ein. Knapp vierzig Kilometer vielleicht, eine halbe Stunde Fahrzeit, solange man nicht im Stau stand.
Schulte ging zu seinem Schreibtisch und nahm einen Prospekt zur Hand, den er zwischen Ralph und Sabine auf den Tisch legte.
»Es wäre das Golfhotel Lindenhof in Dortelweil, drei Kilometer bis zur Polizeistation Bad Vilbel. Moderne und bestens ausgestattete Zimmer mit Balkon, weitläufige Anlage mit gepflegten Grünflächen, Terrassenrestaurant mit Blick auf den See.«
Angersbach schaute auf das Titelbild des Prospekts. Es weckte ohne Zweifel Begehrlichkeiten. Und warum eigentlich nicht? Auf diese Weise konnte man die Arbeit mit ein wenig Entspannung verbinden. In Gießen wartete niemand auf ihn. Sabine und er könnten im Hotelrestaurant zu Abend essen, ein, zwei Gläser Wein zusammen trinken und ein wenig von dem nachholen, was sie im vergangenen Jahr versäumt hatten.
Kaufmann blätterte den Prospekt durch. Ihr gingen wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf, jedenfalls lächelte sie.
»Wenn das so ist … Dann fahre ich nur nach Hause, um zu packen.« Sie schaute zu Ralph. »Es ist vermutlich trotzdem besser, wenn jeder mit dem eigenen Auto fährt. Wir können uns anschließend gleich auf den Rückweg machen und schon heute Abend im Hotel sein.«
Horst Schulte lächelte zufrieden. »Machen Sie sich ein Bild. Erstatten Sie mir regelmäßig Bericht. Und versuchen Sie, so behutsam wie möglich zu agieren.«
»Klar.« Angersbach stand auf. Kaufmann tat es ihm gleich, allerdings warf sie ihm einen skeptischen Seitenblick zu.
Ralph ahnte, weshalb. Seine Kollegin glaubte, dass es ihm an Sensibilität mangelte. Dass er nicht in der Lage wäre, subtil vorzugehen. Ganz falsch lag sie damit nicht. Aber er würde ihr beweisen, dass er auch anders konnte.
Schulte hielt sie auf, ehe sie den Raum verließen. »Eine Sache noch: Bisher wissen nur die Kollegen Weitzel und Queckbörner von dem Drohbrief. Queckbörner hat ihn in Empfang genommen und geöffnet. Die beiden waren zu diesem Zeitpunkt allein in der Polizeistation. Ich habe sie angewiesen, mir das Dokument zuzuschicken und ansonsten Stillschweigen über das Schreiben zu bewahren. Es wäre mir sehr lieb, wenn das so bliebe.«
Angersbach schaute rasch zu Kaufmann und sah, dass sie die Stirn runzelte.
»Wäre es nicht besser …«, setzte er an, doch Schulte unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.
»Nein. Es gibt keinen Grund, das gesamte Revier in Angst und Schrecken zu versetzen, solange wir nicht wissen, was an der Sache dran ist.« Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Nur für den Fall, dass wir uns nicht richtig verstanden haben: Das ist keine Empfehlung, sondern eine Dienstanweisung.«
Ralph lag einiges auf der Zunge, das er Schulte entgegenzusetzen gehabt hätte, doch er schluckte es hinunter. Besser, er stiftete nicht gleich in den ersten Stunden der Ermittlungen Unfrieden. Vielleicht hatte der Kriminaloberrat ja recht, und es gab tatsächlich keinen Grund, Panik zu verbreiten. Sie würden sich zunächst einen Überblick verschaffen, und dann konnte man Schultes Entscheidung immer noch diskutieren.
»Zu Befehl.« Angersbach tippte sich nachlässig mit zwei Fingern an die Stirn. Schultes Blick wurde noch ein wenig grimmiger.
»Nun gehen Sie schon«, forderte er.
Ralph hielt Sabine die Tür auf und folgte ihr durch den Flur nach draußen. An ihrem steifen Rücken konnte er ablesen, dass ihr die Sache ebenso wenig gefiel wie ihm.
Sabine Kaufmann startete ihren Renault Zoe und fuhr mit einem leisen Surren vom Hof der Regionalen Kriminalinspektion. Hinter ihr dröhnte der Motor von Ralphs Lada auf. Kaufmann rollte mit den Augen. Es war ihr ein Rätsel, was Ralph an dieser stinkenden Dreckschleuder fand. Vom ökologischen Aspekt einmal ganz abgesehen.
Sie lenkte den Wagen in Richtung Bad Vilbel. Mit jedem Meter, den sie der Stadt näher kam, verstärkte sich das mulmige Gefühl. Es gefiel ihr nicht, dass Horst Schulte die ganze Angelegenheit unter dem Deckel halten wollte. Wenn es nach ihr ginge, würden alle Vilbeler Kollegen sofort informiert werden. Schließlich mussten sie wissen, dass es eine Bedrohung gab.
Aber die Entscheidung lag nicht bei ihr. Schulte war zwar nicht mehr ihr direkter Vorgesetzter, aber er war der höherrangige Beamte. Sie war ihm gegenüber weisungsgebunden. Sich über seine Anordnung hinwegzusetzen würde ihr ein Disziplinarverfahren einbringen. Im schlimmsten Fall könnte es eine Degradierung und die Versetzung in eine unbedeutende Dienststelle zur Folge haben.
Dass sie in den nächsten Tagen und Wochen in der Stadt arbeiten würde, in der sie zuletzt mit ihrer Mutter gelebt hatte, bereitete ihr zusätzlich Bauchschmerzen. Sie würde an jeder Ecke mit Erinnerungen konfrontiert werden. Ein paar schönen vielleicht, vor allem aber schmerzlichen.
Ein Stück voraus tauchte am Straßenrand ein verwittertes Steinkreuz mit weißem Flechtenbewuchs auf. Das Sühnekreuz, jener Ort, an dem Hedwig Kaufmann ermordet worden war. Sabine spürte den Druck hinter den Augen, und heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Ungeduldig wischte sie sie weg.
Sie durfte jetzt nicht daran denken, sonst war sie nicht arbeitsfähig. Sie wollte auch nicht, dass einer der Kollegen merkte, wie aufgewühlt sie immer noch war. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sich in der Männerwelt der Polizei Respekt zu verschaffen. Gerade für eine kleine und zart gebaute Frau wie sie. Sie weckte bei Männern den Beschützerinstinkt, nicht das Gefühl, eine verlässliche Partnerin an ihrer Seite zu haben. Die Kollegen vom Gegenteil zu überzeugen hatte sie einiges gekostet. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich daran etwas änderte. Trotzdem schaute sie immer wieder in den Rückspiegel, bis das Sühnekreuz nach einer lang gezogenen Kurve endlich ihren Blicken entschwand.
Sie passierte die Ortseinfahrt von Bad Vilbel, durchquerte den Kreisel, an dem die Friedberger Straße zur Kasseler Straße wurde, bog am nächsten in die Homburger Straße ab und fuhr am dritten Kreisel in die Straße Am Sportfeld. Von dort zweigte nach knapp hundertfünfzig Metern der Riedweg ab, in dem sich die Polizeistation befand.
Sabine parkte den Zoe auf dem Hof hinter dem L-förmigen, zweistöckigen Gebäude. Das weiße Haus mit den türkisen Fensterrahmen, in dem man auf den ersten Blick ein Ärztehaus aus den Neunzigerjahren vermuten konnte, hatte sie schon damals angesprochen. Mit dem hohen, über zwei Etagen reichenden Fenster über dem Eingang und den zahlreichen Gauben im mit hellroten Ziegeln gedeckten Dach sah es freundlich, solide und vertrauenerweckend aus.
Hinter ihr röhrte Angersbachs dunkelgrüner Lada Niva auf den Hof. Ralph stellte den Motor ab, kletterte aus dem Wagen und wartete neben seinem Fahrzeug.
Kaufmann atmete noch einmal tief durch und wischte sich mit einem Taschentuch die letzten Tränenspuren vom Gesicht. Dann griff sie nach ihrer Handtasche, hängte sie sich über die Schulter und stieg ebenfalls aus.
Eine neue Herausforderung wartete auf sie, und Sabine war bereit, sie anzunehmen.