Das Handtuch können Sie mitnehmen, aber der Fernseher bleibt hier!

Chris Hartmann

mit Markus Richter

Das Handtuch
können Sie mitnehmen,
aber der Fernseher
bleibt hier!

Die verrücktesten Geschichten
aus dem Leben eines Nachtportiers

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Chris Hartmann

Chris Hartmann arbeitete in früheren Jahren als Nachtportier in einem Luxushotel und lernte: Die allerbesten Geschichten schreibt das Leben nachts. Heute ist Hartmann erfolgreicher Manager und betont gerne, wie sehr ihm seine im Hotel erworbene Menschenkenntnis im späteren Berufsleben geholfen hat. Nun versammelt er die skurrilsten Storys in diesem Buch. Seine wahre Identität darf und will er nicht preisgeben, denn manche Geheimnisse hätte er mit ins Grab nehmen sollen.

Impressum

© 2020 Knaur eBook

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Ulrike Gallwitz, Freiburg

Covergestaltung: buxdesign I Lisa Höfner unter Verwendung von Bildern
von GettyImages/Hill Street Studios und Shutterstock

ISBN 978-3-426-45981-2

Einleitung

Wenn du an der Rezeption eines großen und renommierten Hotels arbeitest, dann benötigst du viele Eigenschaften. Gelassenheit zum Beispiel. Und Vielseitigkeit. Aber die bei Weitem wichtigste ist Diskretion. Nichts anderes bekommst du von deinen Vorgesetzten so oft und mit so viel Nachdruck eingetrichtert. Was sich innerhalb der Mauern des Hotels abspielt, hat gefälligst auch dort zu bleiben. Wie total abgefahren oder vollkommen banal es auch sein mag. Diskretion steht immer über allem. Am besten ist, du siehst erst gar nichts. Wenn sich das nicht vermeiden lässt, dann vergisst du das Geschehene bitte sofort wieder. Leere zur Not eine Flasche Wodka auf ex oder schlage mit deiner Stirn so lange gegen den Tresen, bis die Amnesie dich erlöst. Und wenn auch das nicht hilft, dann halte verdammt noch mal wenigstens deine Klappe. Schweige für immer und ewig, wenn du weißt, was gut für dich ist. Denn so will es der Kodex. Mache die Geheimnisse der Gäste zu deinen eigenen, gieße ihre Füße in Beton und versenke sie an der tiefsten Stelle des Flusses.

Kennen Sie das Buch oder den Film Fight Club? Die erste Regel des Fight Club lautet: »Ihr verliert kein Wort über den Fight Club.« Die zweite Regel des Fight Club lautet: »Ihr verliert KEIN WORT über den Fight Club.« In unserem Job heißen die ersten zehn Regeln: »Du verlierst KEIN WORT darüber, was du erlebt hast. Sonst verfüttert der Boss deine Eier am nächsten Morgen den Gästen zum Frühstück, und du musst auch noch dabei zusehen.«

Und wir erleben so einiges, das können Sie mir glauben. Denn neben dem ganz normalen Wahnsinn, den die Arbeit an einer 24 Stunden am Tag besetzten Rezeption ohnehin schon mit sich bringt, gibt es da noch unsere VSGs – Very Special Guests. Das sind jene Gäste, deren Gehirn im Moment des Check-ins in eine Art Hotelmodus schaltet und die sich dadurch in vollkommen andere Menschen verwandeln. Äußerst beliebt sind dabei die Modelle »Teenager allein zu Haus« und »Rockstar für eine Nacht«. Sie tun oder lassen plötzlich Dinge, die sie in ihrem normalen Leben niemals tun oder lassen würden. Und da sind sie alle gleich:

Priester, Putzfrauen, Pizzabäcker, Proktologen, Lehrer, Kellner, Gärtner, Banker, Broker, Richter, Seelenklempner, Viehbefruchter, Astronauten, Profikicker, Paparazzi, Taxifahrer, Trucker, Butler, Schlachter, Schaffner, Politessen, Fettabsauger, Spargelstecher, Professoren, Kopfgeldjäger, Reiseleiter, Gleisarbeiter, Orthopäden, Boygroupsänger, Zeitsoldaten. Danke, Deichkind.

Wen sie bei ihrem Treiben meist nicht einmal wahrnehmen, das sind wir, die Angestellten. Und ich sage es Ihnen ganz ehrlich: Wir scheren uns nicht im Geringsten um unser mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken abgelegtes Schweigegelübde. In jeder Rauchpause und bei jedem heimlichen Besuch im Getränkelager erzählen wir uns, was wir gesehen und erlebt haben. Je skurriler, desto besser. Je prominenter die Gäste, desto interessanter. Es ist ein regelrechter Wettbewerb. Und wer mit der irrsten Story aufwarten kann, ist König für einen Tag. Meistens gewinnen die Nachtschichtler. Nachts zu arbeiten ist so etwas wie die Königsdisziplin der Hotelrezeptionisten. Was in der Nacht und den frühen Morgenstunden unter unserem Dach abgeht, ist nicht selten filmreif. Einer meiner Kollegen hat ein Tattoo am Oberarm, auf dem steht: The freaks come out at night. Er weiß genau, warum er es sich stechen ließ.

Nur um sicherzugehen, dass Sie kein falsches Bild unserer Zunft erhalten: Wir sind zwar Tratschtanten, aber wir sind definitiv keine Idioten. Wir behalten diese Geschichten natürlich für uns. Keine davon verlässt jemals den erlauchten Kreis der Eingeweihten, der zum Schweigen verdammten Argusse. Und natürlich würde niemals einer von uns vor einem Außenstehenden zugeben, seine Geheimnisse ausgeplaudert zu haben. Auf Disziplinarmaßnahmen, Jobverlust oder einen Auftritt vor Gericht hat einfach keiner allzu große Lust. Und niemand, absolut niemand, wäre so unfassbar dämlich, auch noch ein Buch darüber zu schreiben. Na ja, fast niemand. Und ich habe damals ausschließlich Nachtschichten geschoben.

Check-in

Als man mich damals bei meinem Vorstellungsgespräch für den Posten des Nachtportiers gefragt hat, welche Erfahrungen ich denn im Bereich Hotel- und Gastgewerbe hätte, habe ich geantwortet: »Ich habe einmal ein Mineralwasser aus der Minibar meines Hotelzimmers getrunken, die Flasche danach mit Leitungswasser aufgefüllt und wieder zurückgestellt. Ist niemandem aufgefallen.«

Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich diesen speziellen Job nicht unbedingt nötig hatte. Ich war noch jung genug, um mir keine Sorgen über meine Zukunft zu machen, und suchte damals nach irgendeiner Möglichkeit, Geld zu verdienen. Ob als Nachtportier, Tankwart oder Schaukelpferdzureiter, war mir eigentlich egal. Das verlieh mir eine gewisse Lockerheit und Risikofreudigkeit. Und ich vertrat zu dieser Zeit auch den Standpunkt, dass es besser wäre, einen Job nicht zu bekommen, als eine Pointe nicht zu bringen. Besagte Pointe hatte ich mir extra am Vorabend zurechtgelegt, um das Eis zu brechen. Ich war einigermaßen überzeugt gewesen, sie wäre der richtige Einstieg und würde mir Gelächter, Schulterklopfen und schließlich den Job einbringen.

Aber Sie wissen ja, wie das häufig so ist mit Plänen. Ich blickte nach meiner Antwort in zwei versteinerte Gesichter und in ein verhalten schmunzelndes. Nicht ganz der gewünschte Effekt. Sollte jemals ein vom Eis eingeschlossenes Schiff von meinen Brecherqualitäten abhängig sein, es wäre verloren. Also fügte ich noch schnell hinzu: »Ich habe schon als Telefonist und auch eine Zeit lang als Frühstückskellner gearbeitet.«

Das stimmte sogar. Und die beiden Hotels, in denen ich bereits erste Erfahrungen hatte sammeln können, waren durchaus namhaft und spielten in der Oberliga. Genauso wie jenes, in dem ich mich gerade bewarb. Ich konnte meine Aussagen sogar mit Dienstzeugnissen belegen, die im Übrigen sehr gut waren.

Dennoch blieben zwei der Gesichter steinern. Humor zog nicht, Zeugnisse zogen nicht, es sah schlecht aus.

»Sie haben also noch nie am Frontdesk gearbeitet, geschweige denn ganz alleine in der Nacht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Sie werden laufend in direktem Kontakt mit unseren höchst anspruchsvollen Gästen stehen. Sie werden zu jeder Stunde ihre Wünsche erfüllen müssen. Sie müssen diskret und verschwiegen sein. Sie müssen mit allen Gegebenheiten und Abläufen unseres Hauses bestens vertraut sein. Sie benötigen ein stark ausgeprägtes Organisationstalent, exzellente Fremdsprachen- und Computerkenntnisse. Höfliches Auftreten und ein gepflegtes Äußeres sind ohnehin selbstverständlich. Zuverlässigkeit und Loyalität. Und natürlich Diskretion.«

»Die haben Sie bereits erwähnt«, warf ich ein.

»Ganz richtig. Und die kann man auch nicht oft genug erwähnen. Diskretion, Diskretion, Diskretion. Verschwiegenheit, Diskretion und noch einmal Diskretion. What happens in our hotel stays in our hotel. Der Nachtportier ist eine höchst verantwortungsvolle und wichtige Position. Haben Sie eine Vorstellung davon, was Sie da erwartet?«

Es war das Schmunzelgesicht gewesen, das mir den Vortrag gehalten hatte.

Daher wurde ich wieder mutig.

»Viel Kaffee?«, antwortete ich.

Schmunzelgesicht sah zu Steingesicht 1 und 2 hinüber. Schweigen.

Tja, das war’s dann wohl. Ab zur Tanke um die Ecke. Vielleicht brauchen die ja jemanden, dachte ich bei mir.

Aber dann rissen die Wolken auf, und die Sonne kam zum Vorschein. Zuerst nur ganz zaghaft, doch dann immer kräftiger, und schließlich strahlte sie mich mit all ihrer Helligkeit und Wärme an. Schmunzelgesicht wurde zu Lachgesicht, Steingesicht 1 und 2 wurden zu Schmunzelgesicht 1 und 2. Na bitte, ging doch.

Sie planen eine Reise zum Nordpol? Alle Mann an Bord, ihr Eisbrecher steht bereit.

Wir unterhielten uns ab diesem Moment angenehm ungezwungen. Ich erfuhr, was man von mir erwartete, und man gab mir einen Überblick über meine weiteren Aufgaben neben dem Kaffeetrinken. Man fragte mich, ob ich mit dem angebotenen Gehalt einverstanden sei. Ich fragte, ob das ein Witz sei – ich hatte noch nie so gut verdient bis dahin. Ungefähr eine halbe Stunde später hatte ich den Job, und ich sollte gleich am nächsten Tag anfangen. Meine lockere Art und mein Humor hatten also doch noch Wirkung gezeigt.

Übrigens: Sollten Sie einmal mit einem meiner damaligen Kollegen ins Gespräch kommen – was niemals passieren wird, da ich Ihnen selbstverständlich keine Namen nennen werde, aber nur mal rein theoretisch –, könnte Ihnen das Gerücht zu Ohren kommen, dass ich damals der einzige Bewerber und das Hotel in großer Personalnot gewesen sei. Glauben Sie denen kein Wort.

Herr von und zu

Mein Vorstellungsgespräch war nun eine Woche her, und ich hatte bereits drei Schichten als Night Auditor, oder kurz Night Audit, geschoben. Night Audit ist die branchenintern gerne benutzte Bezeichnung für den Nachtportier. Seitdem ich das erfahren hatte, verwendete ich ausschließlich diese Jobbezeichnung. Sie klang viel wichtiger und geheimnisvoller als Nachtportier, und das gefiel mir natürlich. Waste Removal Engineer klingt ja auch besser als Müllmann, und vor einem Vision Clearance Engineer hat man mehr Respekt als vor einem einfachen Fensterputzer. Ich wusste nicht genau, was sich die Leute als Tätigkeit ausmalten, wenn ich ihnen sagte, ich wäre Night Audit, aber sie bekamen alle so einen ehrfürchtigen Blick, und keiner, nicht ein Einziger, traute sich zu fragen, was ich denn da eigentlich genau machte. Vielleicht dachten sie, ich sei ein Geheimagent oder eine Art nächtlicher Rächer mit Maske und Cape. Was auch immer es war, ich ließ es gerne dabei bewenden.

Alle meine bisherigen Nachtdienste hatte ich zu zweit geschoben, mit meinem künftigen Vorgänger, der mich in die Materie einführte. Wir sollten noch bis Monatsende gemeinsam Dienst machen, dann würde er uns verlassen und das Rohrreinigungs-Business seines Vaters übernehmen. Ein wenig hatte es mir schon zu denken gegeben, dass jemand lieber in Haarpfropfen und Exkrementen herumstocherte, als meinen neuen Job zu machen. Aber hey, immerhin hatte seine Entscheidung dafür gesorgt, dass dieser Posten hier überhaupt erst frei geworden war, also hinterfragte ich seine Karrierewahl nicht länger. Bis er uns aber verließ, würde ich noch alles Notwendige lernen und ausreichend Praxis sammeln können.

Zumindest war das der Plan. Denn was ich erst kurz vor Antritt meiner vierten Nachtschicht erfuhr: In der Personalstelle hatte man am Tag zuvor festgestellt, dass mein Vorgänger noch etliche Urlaubstage und Überstunden übrig hatte. Und man hatte sich entschieden, diese nicht auszuzahlen, sondern sie ihn konsumieren zu lassen. Großartige Idee, Leute! Ich wusste ja bereits, wie man Gäste eincheckt. Das musste reichen. Wer will denn schon auschecken? Kassenführung? Überbewertet! Ich würde einfach eine Spendenbox aufstellen oder mit dem Klingelbeutel herumgehen und auf die Ehrlichkeit der Gäste hoffen. Aber ob es mir gefiel oder nicht, ich hatte an diesem Tag die Ehre, meinen ersten Solo-Nachtdienst zu absolvieren.

»Du machst das schon«, munterte mich Susanne, meine Chefin, auf, als sie sah, dass ich noch etwas nervös war. Wir waren mittlerweile per Du und verstanden uns recht gut. Sie war übrigens das erste Schmunzelgesicht bei meinem Bewerbungsgespräch gewesen. »Heute sollte es ohnehin recht ruhig sein. Wahrscheinlich wird nur 518 den üblichen Triple-Cheeseburger-Mitternachtssnack ordern. Wenn du ihn persönlich servierst, ist ein gutes Trinkgeld drin.«

»Okay, ist notiert«, antwortete ich.

»Ach, und wenn du den Grafen siehst, dann sorg dafür, dass er zahlt.«

»Graf? Welcher Graf?«

»Zimmer 323, hat sich beim Einchecken als Graf vorgestellt. Ist seit über drei Wochen bei uns und hat bisher nur anschreiben lassen. Wir haben von ihm noch keinen einzigen Cent gesehen.«

»Ein echter Graf mit Schloss und so?«

»Das bezweifle ich. Wir haben recherchiert, und dieser Graf scheint nirgendwo auf. Da haben wir uns wohl einen Hochstapler eingefangen. Wenn wir auf seiner Mega-Rechnung sitzen bleiben, dann haben wir ein Problem.«

»Wieso hat ihn denn nicht schon längst jemand darauf angesprochen?«

»Dafür müsste man ihn mal sehen. Der Mann ist wie ein Geist. Geht offenbar lange vor dem Frühstück aus dem Haus und kommt erst irgendwann in der Nacht zurück. Anscheinend schafft er es immer irgendwie, sich am Frontdesk vorbeizuschleichen, oder er wird einfach nicht erkannt. Und wenn er auf dem Zimmer ist, beantwortet er weder das Telefon noch das Klopfen an der Tür.«

»Wie sieht er denn aus?«

»Das weiß niemand so genau. Der Einzige, der ihn jemals gesehen hat, ist der Kollege vom Tagdienst, der ihn eingecheckt hat. Und der ist anscheinend nicht gerade gut darin, Menschen zu beschreiben. Nach seinen Schilderungen liegt das Aussehen des Grafen irgendwo zwischen Dieter Bohlen, dem Killer aus Halloween und einem griechischen Schafhirten.«

»Interessante Mischung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich dem wirklich in der Nacht begegnen will. Was soll ich denn tun, wenn ich ihn sehe? Ihn mit einer Schale Oliven zur Kasse locken?«

»Versuche, ihn irgendwie zum Zahlen zu bringen. Schau, dass er wenigstens einen Teilbetrag rausrückt. Mehr wird sich der Gauner ohnehin nicht leisten können. Lass dir etwas einfallen.«

Und dann ging sie zur Tür hinaus, und mein Dienst begann. Meine Chefin behielt recht damit, dass es ziemlich ruhig werden würde. Außer zwei Late Arrivals und dem tatsächlich georderten Triple-Cheeseburger für 518 war kaum etwas zu tun. Ich hing also meinen Gedanken nach, trank eine Menge Kaffee und hatte den Grafen schon bald vergessen.

 

Es war ungefähr 2:30 Uhr, als ein Mann Mitte sechzig durch die Drehtür des Haupteingangs kam. Er kam mir sofort bekannt vor, obwohl ich ihn garantiert noch nie gesehen hatte. Und obwohl er noch viele Meter entfernt von mir war, wusste ich, dass dies der Graf sein musste. Natürlich, ausgerechnet ich, in meinem ersten Solo-Nachtdienst, hatte das Vergnügen, den meistgesuchten Betrüger in der Geschichte unseres Hotels anzutreffen. Er trug einen dunklen, dichten Schnauzbart, der vermutlich mehr Haare beinhaltete, als ein ausgewachsener Gorilla am ganzen Körper hatte. Der griechische Schafhirte war tatsächlich nicht sehr weit hergeholt. Das Gesicht war blass, und mit ein wenig Fantasie konnte man sich schon die weiße Maske von Michael Myers aus Halloween vorstellen. Offenbar war mein Kollege doch nicht so ein schlechter Menschenbeschreiber wie vermutet. Wo er allerdings Dieter Bohlen erkannt haben wollte, war mir schleierhaft. Ich hoffte nur inständig, dass ich mir nicht in Kürze eine Darbietung von Modern Talkings »Geronimo’s Cadillac« anhören müsste.

Ich überlegte, ob ich nicht einfach so tun sollte, als hätte ich ihn nicht gesehen, indem ich beispielsweise einen verstauchten Knöchel vortäuschte und für eine Minute hinter dem Desk verschwand. Das hatte ich schon Hunderte Male in diversen Baumärkten beobachtet, wenn ich mich mit fragendem Blick nach einem Verkäufer umsah. Funktionierte wunderbar. Mein Tauchmanöver würde dem Grafen die Gelegenheit geben, ungesehen auf sein Zimmer zu gelangen. Nachdem er bereits anderen durch die Finger geschlüpft war, würde man es auch mir nicht zum Vorwurf machen. Andererseits war das hier natürlich eine Gelegenheit, sich zu profilieren. Ich war der Neue und musste mir mein Standing erst erarbeiten.

Also fasste ich mir ein Herz, räusperte mich und sprach den Mann an: »Entschuldigen Sie bitte, Herr …« Mitten im Satz fiel mir auf, dass ich ja noch nicht mal seinen Namen kannte. Ich hätte mir nicht nur ein Herz fassen, sondern erst mal mein Hirn einschalten sollen. »Herr Gast von Zimmer …« Wie war noch gleich die Zimmernummer gewesen? O Gott, ich wollte im Boden versinken. Was für ein Einstieg. Der Mann würde bestimmt gleich vor Ehrfurcht erstarren und mir seine gesamten Ersparnisse samt dem Geld, das er für die Geburtstage seiner Enkelkinder zur Seite gelegt hatte, auf den Tresen werfen. »Herr … Herr Graf?«, stammelte ich hervor.

Der Mann kam auf mich zu. »Ja bitte, junger Mann?«

»Ich, ich wollte Sie nicht belästigen. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie der Graf sind, von dem man sich hier im Hotel so viel erzählt.«

»Der bin ich wohl. Ich hoffe, man erzählt sich nur Gutes?«

Es war definitiv noch zu früh, um ihn damit zu konfrontieren, dass wir ihn enttarnt hatten.

»Nun, um ehrlich zu sein, wissen die Leute eigentlich nur, dass Sie hier wohnen. Aber seitdem Sie eingecheckt haben, hat Sie niemand mehr gesehen. Das macht Sie ziemlich mysteriös.«

»Man kann einem Mann Schlimmeres nachsagen, als mysteriös zu sein. Tatsache ist, ich habe einfach einen etwas anderen Tagesablauf als die meisten Menschen. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Ich würde dann nämlich gerne auf mein Zimmer gehen.«

Aha! Du willst dich aus dem Staub machen. Würde ich auch wollen, wenn ich mehr Schulden hätte als Berlin. Aber nicht mit mir, Freundchen, dachte ich insgeheim.

Laut sagte ich dagegen: »Ich habe noch nie einen echten Grafen kennengelernt, und ich habe mich gefragt, ob Sie so freundlich wären, mir ein Autogramm zu geben.«

»Pack sie bei der Eitelkeit«, hatte meine Oma immer gesagt. »Und dann pack sie bei den Eiern.«

»Sie wollen ein Autogramm von mir?«

»Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Und wenn ich erst mal deinen richtigen Namen habe, dann wird sich gleich morgen früh die Polizei mit dir befassen, Freundchen. Das dachte ich mir selbstverständlich nur. Ha! Ich war ein Genie und würde bald nicht mehr der Neue, sondern derjenige sein, der den Betrüger überführt und dem Hotel einen fetten Verlust erspart hatte. Vielleicht würde sogar eine Prämie für mich rausspringen.

»Nun gut, wenn Sie möchten.«

Ich reichte dem falschen Grafen einen Kugelschreiber und sah zu, wie er das Blatt Papier, das ich ihm hinhielt, signierte. Mit triumphierendem Blick drehte ich das Blatt zu mir und sah mir den Namen an.

Oorntzahh Hrunaldff? Verdammt, was sollte denn das für ein Name sein? Der Mann musste mindestens fünf Doktortitel haben, um eine dermaßen unleserliche Handschrift hinzukriegen. Wenn irgendjemand mit dem Gekrakel zur Polizei ging, würde er damit höchstens erreichen, dass das halbe Revier vor Lachen gekrümmt unter den Tischen lag. Ich musste es mir eingestehen: Mein spontan ersonnener Plan war gut gewesen, aber leider gescheitert. Also blieb mir nichts anderes übrig, als in die Offensive zu gehen.

»Vielen Dank!«, sagte ich mit gekünsteltem Lächeln.

»Sehr gerne. Jetzt muss ich aber wirklich …«

»Ich … da wäre noch eine Sache.«

Der Graf drehte sich noch einmal zu mir um.

»Sie haben das wahrscheinlich nicht gewusst, und es konnte Ihnen auch niemand sagen, weil Sie ja niemand gesehen hat, aber in unserem Hause ist es üblich, seine Rechnungen zumindest im Wochentakt zu bezahlen.«

Er sah mich schweigend an.

Also fuhr ich fort: »Und nachdem sich gerade die Gelegenheit ergibt, würde ich Sie bitten, einen Teil Ihrer Rechnung zu begleichen.«

Er sah mich weiter an, ohne ein Wort zu sagen, und sein Blick verfinsterte sich.

»Also nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

Jetzt war es heraußen. Was würde er jetzt wohl tun, wo ihm klar sein musste, dass wir ihm auf die Schliche gekommen waren? Zur Tür hinausrennen und abhauen? In den Aufzug hechten und sich in seinem Zimmer verbarrikadieren? Oder sich auf mich stürzen und mich mit seinem monströsen Schnauzer ersticken, während er leise »Geronimo’s Cadillac« summte?

Zu meiner Überraschung und auch Erleichterung tat er nichts dergleichen, sondern zückte tatsächlich sein Portemonnaie. In seinem Gesicht erkannte ich ehrliche Enttäuschung.

»Ihr seid doch wirklich alle gleich«, klagte er. »Euch geht es allen nur ums Geld. Geld, Geld, Geld. Die wahre Geißel der Menschheit. Niemand hat mehr ein Interesse daran, einfach das Richtige zu tun oder nett zu sein, oder hilfsbereit, ohne dass etwas für ihn dabei herausspringt.«

»Ja, da haben Sie recht, keine schöne Entwicklung. Aber ein Hotel wie dieses betreibt man üblicherweise nicht aus karitativen Gründen«, entgegnete ich.

»Wo Sie das gerade ansprechen, junger Mann, wissen Sie, warum ich ausgerechnet hier abgestiegen bin? Ich werde es Ihnen sagen. Weil es von hier nicht weit ist zu einer meiner Immobilien, die ich gerade zu einer Unterkunft für Obdachlose und sozial Benachteiligte umbauen lasse.«

Ja natürlich, wahrscheinlich lebte er normalerweise selber in einem Obdachlosenheim und wollte sich nur mal eine Auszeit in einem Luxushotel gönnen. Er konnte gerne an mein soziales Gewissen appellieren, aber ich würde hart bleiben.

»Das ist wirklich äußerst löblich, aber ich muss Sie dennoch bitten, zumindest einen Teil Ihrer Rechnung zu begleichen«, sagte ich.

Der falsche Graf schnaufte laut und zückte dann eine American-Express-Kreditkarte. »Also gut, wie viel bin ich schuldig?«

»Also für die erste Woche macht das …«

»Gesamt.«

Ich war erstaunt, rechnete dann aber schnell den Gesamtbetrag für seinen bisherigen Aufenthalt aus und tippte die Ziffern in das Kreditkartenlesegerät. Mir wurde schon beim Eingeben schwindelig. Für diesen Betrag könnte ich mir ein Jahr lang eine Auszeit nehmen und durch Südostasien reisen. Ich drehte das Gerät in seine Richtung und wartete gespannt darauf, was er jetzt tun würde.

Er schob seine Amex in den Schlitz. Määääp! Lesefehler. Noch mal. Määääp! Lesefehler. Was für eine Überraschung! Wer hätte das gedacht? Die Kreditkarte des Hochstaplers funktionierte nicht. Wahrscheinlich hatte er sie aus einem Scherzartikelgeschäft oder im Müll gefunden.

Der angebliche Graf kratzte sich nachdenklich an seinem Schnauzer. »Hmmm, das muss die sein, die mir letztens in den Champagner gefallen ist. Ist ihr wohl nicht so gut bekommen.«

Ja, na klar! Was kommt als Nächstes? Mein englischer Jagdhund mit direkter Erblinie zu König Artus’ Rex-Calibur hat meine Kreditkarte gefressen?

»Probieren wir mal diese hier«, sagte er und zog eine Diners Club hervor. Sie sah aus, als hätte sie die letzten paar Millionen Jahre in einer Gesteinsschicht aus dem Mesozoikum geschlafen und wäre erst vor Kurzem bei Ausgrabungen ans Tageslicht befördert worden. Unnötig zu erwähnen, dass auch diese Karte nicht funktionierte. Sie war so verbogen und verschmutzt, dass sie nicht einmal in den Leseschlitz passte.

»Ach die, die ist mir unlängst zu Boden gefallen, und mein Chauffeur ist mit dem Benz drübergefahren. Ich sollte sie wohl mal austauschen lassen.«

Einfallsreich war er ja, das musste man ihm lassen. Und unverfroren. Ich begann schon zu schwitzen, wenn meine 6,80-Euro-Kartenzahlung bei McDonald’s nicht beim ersten Mal funktionierte. Aber dieser Mann hier verzog keine Miene.

»Ja, austauschen wäre eine gute Idee«, erwiderte ich.

»Dann probieren wir mal die nächste«, sagte er ungerührt.

Ich machte eine abwehrende Handbewegung und sagte: »Herr Graf, das bringt doch nichts. Wenn Sie Ihre Rechnung momentan nicht bezahlen können, dann wenden Sie sich doch bitte gleich morgen an die Hotelleitung. Wir werden sicher eine Lösung finden.«

Mit einem Mal tat mir der Mann leid, und ich wollte ihm weitere Demütigungen durch Fake-Kreditkarten ersparen. Aber er bestand darauf, auch noch seine Visa Card auszuprobieren. Platinum natürlich. Also schob ich ihm das Lesegerät noch einmal hin. Diese Karte ließ sich immerhin in den Schlitz stecken. Ich wartete auf das Määääp!, das den Lesefehler signalisierte, aber es kam nicht. Stattdessen erhielt ich die Bestätigung, dass die Zahlung autorisiert war. Der gesamte Betrag. Der Mann musste eine Deckung wie ein Ölscheich haben.

Der Graf sah mir meine Verwunderung offenbar an und grinste. »Sie haben gedacht, ich könne nicht bezahlen, nicht wahr?«

Mir fiel auf die Schnelle keine Ausrede ein, also blieb mir nur mehr Offenheit. »Um ehrlich zu sein, hatte ich da so meine Zweifel, ja.«

»Na, dann freue ich mich, dass ich Ihre Zweifel hiermit ausräumen konnte.«

»Und Sie sind ein echter Graf?«

Er streckte mir die Hand entgegen und sagte: »Verzeihen Sie bitte, ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen. Otto Freiherr von Hagenblut.«

Wir schüttelten uns die Hände. Dann kramte er einen völlig zerknüllten 100-Euro-Schein aus der Brusttasche seines Hemdes und legte ihn mit den Worten vor mich: »Das ist für Sie.«

»Auf wie viel darf ich herausgeben?«

»Stimmt so.«

Ich steckte den Schein ein und bedankte mich für jeden einzelnen Euro mindestens ein Mal.

»Ach übrigens, das Schloss an Ihrem Hintereingang ist defekt. Den habe ich in den letzten drei Wochen täglich benutzt. Vielleicht möchten Sie das ja in Ordnung bringen lassen«, sagte der Graf schelmisch grinsend. »Ich wünsche Ihnen jedenfalls noch einen ruhigen Dienst.« Er tippte sich zum Gruß an die Schläfe und stieg in einen der Aufzüge.

 

Als ich meiner Chefin am nächsten Tag von meiner nächtlichen Begegnung mit dem Grafen erzählte, bekam sie eine fahle Gesichtsfarbe. »Der Graf war echt? Und du hast ihn so unter Druck gesetzt? Ach du Scheiße, das wird eine fette Beschwerde geben.«

Einige Wochen später kam tatsächlich Post vom Grafen an die Hotelleitung. Handschriftlich verfasst auf Büttenpapier und mit einem echten Wachssiegel versehen. So klischeehaft, wie man es sich nur vorstellen konnte. Doch darin befand sich keine Beschwerde, sondern ein fettes Lob für das Hotel und für mich.

The Walking Dead

Ich machte den Job als Nachtportier nun schon einige Zeit. Dabei musste ich feststellen, dass die größte Herausforderung nicht etwa das Erlernen der nötigen Skills war oder die Aufgabe, mir eine dicke Haut als Schutzschild gegen die Launen der besseren Gesellschaft wachsen zu lassen. Es war die Umstellung meines Tagesrhythmus. Hätten Sie mich vor dem Start meiner Karriere als Night Audit gefragt, ich hätte felsenfest behauptet, ohnehin schon ein Nachtmensch zu sein und dass der Job daher wie gemacht für mich wäre. Doch ich musste feststellen, dass es zwei Paar Schuhe waren, ob man gelegentlich im Morgengrauen Laternen umarmend heimkam oder mehrmals die Woche die ganze Nacht arbeitete.

In den ersten paar Wochen, in denen ich bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet hatte, kam ich zwar hundemüde nach Hause, an Schlaf war aber trotzdem nicht zu denken. Es war taghell, was man dem Tag nicht wirklich zum Vorwurf machen konnte, mich aber doch stark am Einschlafen hinderte. Ich war »drüber«, hatte also den Zeitpunkt, um schlafen zu gehen, schon um so viele Stunden überschritten, dass mein Körper sich damit abgefunden hatte, keine Erholung mehr zu bekommen, und wieder Schub gab – wie ein Pilot, der seinen Landeanflug kurz vor dem Aufsetzen abbrechen musste, weil Bruce Willis gerade auf der Landebahn gegen Terroristen kämpfte. Ja, und dann war da natürlich noch die Tatsache, dass ich die ganze Nacht über Kaffee trank und der sich nun mal nicht genau dann aus meinem Blutkreislauf verabschiedete, wenn ich das wollte.

Ich verbrachte die Zeit bis Mittag hauptsächlich halb wach und halb tot, zitternd und schwitzend auf dem Sofa liegend und an die Decke oder in den Fernseher starrend. Wenn Sie das Vormittagsprogramm der meisten TV-Sender kennen, können Sie sich vermutlich denken, dass es eher die Decke war, an die ich schaute. Auch für andere Tätigkeiten wie Lesen, Essen oder einfach nur An-der-Nase-Kratzen war ich einfach zu kaputt. Am frühen Nachmittag, wenn sich der Großteil des Koffeins endlich in Leber, Niere und Blase verdünnisiert hatte, schlief ich dann meistens doch noch für zwei bis drei Stunden ein. Wobei ich zwischendrin immer wieder aus dem Schlaf aufschreckte, weil mein Herz raste wie nach einem Marathonlauf. Nicht, dass ich jemals einen Marathon gelaufen wäre, aber ich hatte einmal ein Interview mit einem Läufer im Zielraum gesehen. Und der hatte so ausgesehen, wie ich mich fühlte. Nach dem Erwachen war ich ein Zombie. Ausgeruht genug, um ein paar einfache Tätigkeiten wie Einkaufen und Kochen zu erledigen, aber geistig zu keinen höheren Leistungen imstande. Ich war an diesen Tagen meinem Hirnstamm äußerst dankbar, dass er das Atmen und den Herzschlag für mich übernahm.

 

Wissen Sie, was ein Busfahrer sagt, wenn er Sie an der Endstation, an die Sie niemals fahren wollten, in Ihrem Sitz wach rüttelt? Gar nichts! Er sieht Sie einfach nur mitleidig und vorwurfsvoll an und bleibt auf Distanz, damit die Läuse und der Schmutz, die er auf einem obdachlosen Säufer wie Ihnen vermutet, nicht auf ihn übergehen können. Dann deutet er mit dem Stock, mit dem er Sie geweckt hat, in Richtung geöffneter Tür. Es war dieser Tag, an dem ich mich entschloss, einen Arzt aufzusuchen und ihn um Rat zu bitten, wie ich die Umstellung meines Tag-Nacht-Rhythmus besser bewältigen könnte. Ich erzählte ihm von meinem Job, dem Zittern und dem Schwitzen, meinen Ein- und Durchschlafproblemen und den damit einhergehenden Folgen für den Rest des Tages. Als ich fertig war, blickte er mich ruhig an und sagte: »Lassen Sie den Kaffee weg. Sie haben offenbar eine Koffeinunverträglichkeit.«

Ein Nachtschichtler mit Koffeinunverträglichkeit. Nachdem wir fertig gelacht und ich die Praxis verlassen hatte, zog ich mein Handy aus der Tasche und öffnete meine App für Stellenanzeigen.

Die Boygroupgirls

Es war ein wunderschöner Tag im März. Viele Leute hatten ihre Winterjacken gegen Westen und Pullis getauscht, und manche ganz besonders Verwegene trugen sogar T-Shirts. Man konnte den Frühling in der Luft riechen, und alle waren guter Laune. Nur ich nicht. Heute war der Tag, an den ich bereits seit einer Woche mit Abscheu dachte. Eine weltberühmte Boyband samt Gefolge würde die Nacht bei uns verbringen. Ich stand mehr auf Musiker, die ihre Songs selbst schrieben und sich dann mit Gitarre, Schlagzeug und Mikrofon auf die Bühne stellten, um ihr eigenes Zeug zum Besten zu geben. Von gecasteten Teenieschwärmen, die ihre Lippen stumm zur Musik vom Band bewegten, die jemand anderer für sie geschrieben hatte, einstudierte Choreografien vorhampelten und Küsschen ins hysterisch kreischende Publikum warfen, hielt ich dagegen nicht besonders viel. Ich würde mich eher mit Schalke-Shirt in den Dortmund-Sektor setzen und, während man mir Prügel verabreicht, »Oh Happy Day« singen, als ein Konzert von solchen Marionetten zu besuchen.

Und jetzt hatte ich gleich fünf von denen eine ganze Nacht lang am Hals. Durften solche Bürschchen überhaupt schon ohne ihre Mamas in einem Hotel einchecken? Und wer wechselte denen eigentlich die Windeln, wenn sie auf Tournee waren? Ich sah es bereits deutlich vor mir: Ich würde im Viertelstundentakt in die Suiten der Jungs laufen und ihren Kuscheltieren Hummer servieren müssen, während mich ihre Manager zwangen, das Hemd auszuziehen, damit ihre Schützlinge auf meiner nackten Brust mit dem Permanent Marker Autogramme üben konnten. Im Hintergrund würde ihre eigene Musik in Endlosschleife laufen, und sie würden verlangen, dass ich für jedes Bandmitglied zwanzig Spiegel besorgte und aufhängte, damit sie bei jedem Schritt und aus jedem Winkel ihre makellos gegelten Frisuren betrachten konnten. Aber was hätte ich tun sollen? Job war nun mal Job, und ich konnte mir leider nicht aussuchen, wer bei uns abstieg. Immerhin trug ich als kleinen privaten Protest unter meinem Hemd ein »Rage Against the Machine«-Shirt. Das konnte zwar keiner sehen, weshalb das ein ziemlich erbärmlicher Protest war, aber ich fühlte mich auf eine kindische Art besser dadurch.

 

Das Konzert begann schon gegen 19 Uhr. Klar, wenn die Lieblingssongs deiner Zielgruppe vor gar nicht allzu langer Zeit noch »Hänschen klein« und »Auf der Mauer, auf der Lauer« waren und deine Fans von Papi im Minivan zum Veranstaltungsort gebracht werden, legst du besser früh los. Wir erwarteten den Tross aus Band, Managern, Personal Assistants, Personal Hairstyling Assistants, Personal Skin Care Assistants und Personal Mirror Holders kurz nach 23 Uhr im Hotel. Wen wir nicht erwartet hatten, waren die circa 50 Kids, die irgendwie herausbekommen hatten, wo ihre Idole nächtigten. Und die waren bereits da, als ich um 22:30 Uhr zum Dienst erschien, und belagerten den Gehweg vor dem Hotel. Ich erfuhr später, dass die Ersten bereits mittags gekommen waren. Sie hatten offenbar keine Tickets für die Show bekommen und versuchten nun, auf die Art einen Blick auf die Band zu erhaschen, ein bisschen Dreck von deren Schuhsohlen zu ergattern oder vielleicht sogar von einem der Stars angespuckt zu werden und so ewige Glückseligkeit zu erlangen. Meine Kollegen hatten in der Zwischenzeit eine notdürftige Absperrung errichtet, damit wenigstens ein schmaler Weg für unsere Gäste und später die Band frei blieb. Ich ging extra durch den Haupteingang und kam mir, so von Fans umringt, selbst wie ein Rockstar vor – Rockstar, nicht Teenie-Boygroup-Poser, darauf lege ich Wert.

Die Band dürfte einige Zugaben gegeben und danach im Backstagebereich noch das eine oder andere Girlie begrapscht haben, denn die Fahrzeuge mit Bandmitgliedern und Geleit fuhren erst kurz vor Mitternacht vor. Die Ankunft hätte man auch dann nicht verpassen können, wenn man vor Jahrzehnten beim Erbauen unseres Hotels von der Mafia im Fundament einbetoniert worden wäre, so laut war das Gekreische der immer noch wartenden Teenies. Es gibt ja Stars, die lieber den Hintereingang nehmen, um nach der Show nicht auch noch bei der Ankunft im Hotel mit den Fans in Kontakt zu kommen. Aber diese Burschen gingen, ohne sich zu vermummen oder hinter Bodyguards zu verstecken, durch den Haupteingang. Sie lächelten, schüttelten Hände und nahmen sich viel Zeit für Autogramme auf die mitgebrachten CDs und die entgegengestreckte nackte Haut. Das gefiel mir, und meine Abneigung gegen sie klang ein wenig ab.

Als sie schließlich die Lobby betraten, waren gut 15 Minuten vergangen. Ich merkte, wie ich mich versteifte. Jetzt würde unweigerlich jemand auf mich zukommen, und ich musste freundlich lächeln, begrüßen, Hände schütteln, Anweisungen entgegennehmen und darauf achten, dass mein Protestshirt nirgendwo unter dem Hemd hervorschaute. Da legte sich eine Hand auf meine Schulter, und eine Stimme sagte: »Ich übernehme das schon.«

Es war meine Chefin. Was machte die um diese Zeit denn noch hier?

»Was machst denn du um diese Uhrzeit noch hier?«, fragte ich.

»Ich muss unsere prominenten Gäste persönlich begrüßen. Das ist mein Job«, sagte sie.