Sebastian Fitzek
Psychothriller
Knaur eBooks
Sebastian Fitzek, geboren 1971, ist Deutschlands erfolgreichster Autor von Psychothrillern. Seit seinem Debüt »Die Therapie«(2006) ist er mit allen Romanen ganz oben auf den Bestsellerlisten zu finden. Mittlerweile werden seine Bücher in vierundzwanzig Sprachen übersetzt und sind Vorlage für internationale Kinoverfilmungen und Theateradaptionen. Als erster deutscher Autor wurde Sebastian Fitzek mit dem Europäischen Preis für Kriminalliteratur ausgezeichnet und 2018 mit der 11. Poetik-Dozentur der Universität Koblenz-Landau geehrt.
Er lebt in Berlin.
Sie erreichen den Autor auf www.facebook.de/sebastianfitzek.de, www.sebastianfitzek.de oder per E-Mail unter fitzek@sebastianfitzek.de.
© 2020 Droemer eBook
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Ein Projekt der AVA International GmbH Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Redaktion: Regine Weisbrod
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur und Bettina Halstrick (Artdirector)
Coverabbildung: Pixxwerk unter Verwendung von Motiven von Pixxwerk,
Shutterstock und Arcangel
ISBN 978-3-426-43983-8
Jede vierte Frau hat mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Partnerschaftsgewalt erlebt.
Betroffen sind Frauen aller sozialen Schichten.
Hintergrundmeldung des Bundesministeriums für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend am 02.02.2020
Eine Studie des Bundesfamilienministeriums hat ergeben, dass insbesondere Frauen,
die in ihrer Kindheit häusliche Gewalt bei ihren Eltern erlebt haben,
mehr als doppelt so häufig selbst Opfer von häuslicher Gewalt werden.
Frauen, die sogar selbst Opfer von Gewalt durch ihre Eltern waren,
wurden als Erwachsene sogar dreimal so häufig Opfer von Gewalt durch den Partner.
Astrid-Maria Bock,
BILD-Zeitung vom 27.06.2017
Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsre Augen sie nicht sehn.
Matthias Claudius(1740–1815)
Sämtliche Ereignisse in diesem Thriller entspringen selbstverständlich (und glücklicherweise) nur meiner Fantasie. Den telefonischen Begleitservice für Menschen, die sich nachts auf ihrem Heimweg unwohl fühlen, gibt es aber tatsächlich. Die Idee stammt ursprünglich aus Stockholm, dort ist der Service direkt bei der Polizei angesiedelt, während in Deutschland dafür anscheinend kein Geld vorhanden ist und die Aufgabe von Ehrenamtlichen übernommen werden muss. Auch deswegen hat diese wichtige Einrichtung leider häufig um ihr Überleben zu kämpfen. Mehr Informationen finden Sie unter: www.heimwegtelefon.net
All denen gewidmet,
denen Angst ein ständiger Begleiter ist
Wichtiger Hinweis:
Diese Geschichte handelt von häuslicher Gewalt, einem Massendelikt, über das in unserer Gesellschaft viel zu wenig gesprochen wird. Die Schilderungen können bei Menschen, die von häuslicher Gewalt betroffen waren oder sind, intensive emotionale Reaktionen hervorrufen. Sie können Hilfe erhalten – nutzen Sie bitte das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben: 0800 116 016 oder das ebenfalls bundesweite Hilfetelefon »Gewalt an Männern«: 0800 123 99 00.
Nach all den Verletzungen, die ihr an den empfindlichsten Stellen ihres mit Blutergüssen übersäten Körpers schon beigebracht wurden; nach den Schlägen ins Gesicht, auf den Rücken, in Nieren und Unterleib, worauf ihr Urin für Tage die Farbe Roter Bete annahm; nach all den Schmerzen, die er ihr mit Gartenschlauch und Bügeleisen zugefügt hatte, hätte sie niemals gedacht, so etwas jemals wieder empfinden zu können.
Der Sex war der Wahnsinn, dachte sie im Halbdunkel auf dem Bett liegend, aus dem der Mann, in den sie sich unsterblich verliebt hatte, bereits aufgestanden war, um ins Bad zu gehen.
Nicht, dass sie viele Vergleichsmöglichkeiten gehabt hätte. Sie hatte vor ihrem Ehemann nur zwei Liebhaber, doch das schien unendlich lange her. Die negativen Erfahrungen der Gegenwart hatten die positiven der Vergangenheit längst verdrängt.
Seit Jahren war alles, was sich im Schlafzimmer abspielte, für sie nur mit Schmerzen und Demütigung verbunden gewesen.
Und jetzt liege ich hier. Atme und rieche den Duft eines neuen Mannes in meinem Leben und wünsche mir, die Liebesnacht würde wieder von vorne beginnen.
Sie war über sich selbst erstaunt, wie schnell sie sich ihm anvertraut und ihm von der Gewalt erzählt hatte, unter der sie in ihrer Ehe litt. Doch sie hatte sich vom ersten Moment an zu ihm hingezogen gefühlt, als sie seine tiefe Stimme gehört und ihm in warme, dunkle Augen gesehen hatte, die sie anblickten, wie ihr Ehemann sie noch nie betrachtet hatte. Offen, ehrlich, liebevoll.
Beinahe hätte sie ihm sogar von dem Video erzählt. Von dem Abend, zu dem ihr Ehemann sie gezwungen hatte.
Mit den Männern.
Vielen Männern, die sie misshandelt und gedemütigt hatten.
Kaum zu glauben, dass ich mich noch einmal in meinem Leben freiwillig einem Vertreter des »starken« Geschlechts hingegeben habe, dachte sie und lauschte auf das Rauschen der Dusche, in die ihr Traummann verschwunden war.
Normalerweise war sie es, die nach ihrer »Benutzung« durch ihren »Gatten« stundenlang versuchte, sich den Ekel vom Leib zu schrubben, doch jetzt genoss sie den herben Geruch einer Affäre auf der Haut und wollte ihn am liebsten für immer konservieren.
Das Wasserrauschen stoppte.
»Magst du noch etwas unternehmen?«, hörte sie ihn gut gelaunt aus dem Bad rufen, nachdem er wohl aus der Dusche getreten war.
»Furchtbar gerne«, antwortete sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie ihrem Mann erklären sollte, dass sie noch länger ausblieb.
Immerhin war es …
Sie sah auf ihre Armbanduhr, doch es war zu schummrig, um das Ziffernblatt zu erkennen. Abgesehen von dem Strahl, der durch den kleinen Spalt der angelehnten Badezimmertür ins Schlafzimmer fiel, spendete nur ein sanft illuminiertes Kunstwerk etwas Licht. Ein leicht gebogener Samuraidolch mit grünlich schimmerndem Perlmuttgriff hing an der Schlafzimmerwand, von zwei gedimmten LED-Strahlern angeleuchtet, die allerdings auch nur für eine nachtlichtgleiche Atmosphäre sorgten.
Sie griff nach ihrem Handy, dabei fiel ihr Blick auf eine Leiste mit Lichtschaltern, die direkt in den Nachttisch eingelassen waren.
»Einen Cocktail trinken vielleicht?«
Sie drückte den äußersten Knopf der Leiste und musste kichern, denn offensichtlich war seine Funktion eine andere. Da das Laken verrutscht war, konnte sie direkt auf die Matratze sehen, die nun in einem halogenblauen Farbton leuchtete, was die Illusion erzeugte, als liege sie auf einer Luftmatratze in einem Swimmingpool.
Sie setzte sich im Schneidersitz auf die Matratze, deren Wasserfüllung so hell und leuchtend strahlte wie die fluoreszierende Füllung eines Knicklichts. Zudem wechselte sie die Farben. Von Azurblau zu einem Phosphorgelb zu einem blendenden Weiß zu einem …
»Was ist das?«, fragte sie.
Leise. Mehr zu sich selbst, denn im ersten Moment war sie ehrlich erstaunt. Sie beugte sich nach vorne, um nun durch die Raute zu blicken, die sich zwischen Schenkeln und Schritt bildete.
Oh, Herr im Himmel …
Entsetzt schlug sie sich die Hand vor den Mund und starrte auf die Matratze, auf der sie vor wenigen Minuten noch einen Mann geliebt hatte.
Ich halluziniere. Ich sehe nicht wirklich, wie …
»Du hast es also entdeckt«, sagte eine fremde Stimme links von ihr. Und als hielte der Unbekannte, der nun in der Badezimmertür auftauchte, eine Fernbedienung, mit der er das Grauen steuern konnte, leuchtete das Bett unter ihr blutrot auf. Der Anblick, der sich ihr daraufhin bot, war so entsetzlich, dass sie sich am liebsten die Augen ausgerissen hätte.
Ja, sie hatte es entdeckt, wobei es keinen Sinn ergab. Ihr Verstand wollte das Grauen nicht akzeptieren, einfach weil das, was sich ihr zeigte, jegliche menschliche Vorstellungskraft sprengte.
»Wo ist er? Was hast du mit ihm gemacht?«, schrie sie den Fremden an, lauter als je zuvor, während das Monster in Menschengestalt mit einer Spritze an das Bett trat und süffisant grinsend sagte: »Vergiss jetzt mal bitte deinen Liebhaber. Ich finde, es ist an der Zeit, dass du mich kennenlernst.«
Jules saß am Schreibtisch und dachte darüber nach, dass das Rauschen in seinem Ohr perfekt mit dem Blut an der Wand harmonierte.
Auch wenn er auf Nachfrage nicht hätte erklären können, woher diese morbide Assoziation kam. Vielleicht, weil das Geräusch, das er über Kopfhörer hörte, an eine Flüssigkeit erinnerte, die sich durch eine Verengung kämpfte.
Wie Blut, das einem sterbenden Menschen aus den Adern strömt.
Blut, mit dem man Schlafzimmerwände beschmieren konnte, um der Welt eine Nachricht zu hinterlassen.
Jules wandte den Blick vom Fernseher, der in Großaufnahme die rot verschmierten, grotesk großen Ziffern über dem Bett auf der Schlafzimmerwand des Mordopfers zeigte. Die Handschrift des Kalender-Killers. Ein »Ich war hier, und du kannst froh sein, dass wir uns nicht begegnet sind«-Gruß.
Denn sonst würdest auch du auf diesem Bett liegen. Mit einem überraschten Gesichtsausdruck und aufgeschnittenem Hals.
Er drehte sich auf dem Bürostuhl am Schreibtisch um etwa neunzig Grad, und der Fernseher verschwand aus seinem Sichtfeld, was ihm half, sich auf das Telefonat zu konzentrieren.
»Hallo, ist da jemand?«, fragte er nun schon zum dritten Mal, doch wer immer da am anderen Ende in der rauschenden Leitung hing, sagte nach wie vor kein Wort.
Stattdessen hörte Jules in seinem Rücken die Stimme eines Mannes, der ihm vertraut schien, obwohl er ihm noch nie in seinem Leben begegnet war.
»Drei Frauen wurden bislang in ihren Wohnungen ermordet aufgefunden«, sagte der gesichtsbekannte Fremde, der sich in verlässlichen Abständen darum kümmerte, die Menschen in ihren eigenen vier Wänden mit den schrecklichsten Verbrechen Deutschlands zu versorgen.
Aktenzeichen XY … ungelöst. Die älteste True-Crime-Show der Nation.
Jules ärgerte sich, dass er die Fernbedienung nicht fand, um den Fernseher abzustellen, in dem womöglich noch immer der letzte Tatort des Kalender-Killers zu sehen war.
Sie zeigten gerade eine Wiederholung der 20.15-Uhr-Sendung, ergänzt durch die neuesten Hinweise aus der Bevölkerung seit der Primetime-Ausstrahlung.
Das Arbeitszimmer des Charlottenburger Altbaus war ein Durchgangsraum zwischen Wohn- und Essbereich und wie der Rest der Wohnung mit beeindruckend hohen Wänden und stuckverzierten Decken ausgestattet, von denen die ersten Bewohner vor hundert Jahren bestimmt schwere Lüster hatten baumeln lassen. Jules hingegen bevorzugte indirektes Licht, ihm war bereits der Schein des TV-Geräts zu grell.
Das kabellose Headset mit den kleinen, über ein Drahtgestell im Nacken verbundenen Kopfhörern und der Mikrofonspange vor dem Mund ermöglichte es ihm, auf dem mit Zeitschriften und Dokumenten übersäten Schreibtisch nach der Fernbedienung zu suchen.
Er erinnerte sich, sie kürzlich noch in der Hand gehalten zu haben, nun musste sie irgendwo unter den Unterlagen vergraben sein.
»Und an jedem Tatort das gleiche grauenhafte Bild. Das Datum des Todestages an der Wand, geschrieben mit dem Blut der Opfer.«
30.11.
08.03.
01.07.
»Der Modus Operandi, dem der Kalender-Killer seinen Namen verdankt.«
Die erste Tat, die sich in nur wenigen Stunden jährte, hatte schon letztes Jahr im November sämtliche Medien beherrscht.
Jules unterbrach seine Suche nach der Fernbedienung und sah kurz aus dem großen, leicht gewölbten Sprossenfenster, das einer heftigen Schneeverwehung trotzen musste, zur Straße. Wieder einmal wunderte er sich über sein fehlendes Wettergedächtnis. Er konnte sich die merkwürdigsten Dinge merken, die er nur ein Mal gehört hatte, wie die Legende, dass Hitchcock keinen Bauchnabel hatte oder Ketchup in den 1830er-Jahren als Medizin verkauft wurde. Aber er konnte sich nicht an den letzten Winter erinnern.
Hatte es am ersten Adventswochenende des Vorjahrs auch schon geschneit, so wie jetzt in weiten Teilen Deutschlands? Der Rekordsommer mit tropischen Temperaturen von fast vierzig Grad war gefühlt übergangslos von einer Schmuddelwetterperiode abgelöst worden. Es war zwar nicht sehr kalt, zumindest im Vergleich zu Grönland oder Moskau, aber der Wechsel von Schnee und Regen, aufgewirbelt von einem strengen Ostwind, trieb die Menschen nach Feierabend auf kürzestem Wege in ihre Wohnungen. Oder in die Hals-Nasen-Ohren-Praxen. Wobei der Blick nach draußen geradezu etwas Beruhigendes hatte, und das nicht nur im Kontrast zu den Wandmalereien des Kalender-Killers.
Hinter den hohen Fenstern sah es aus, als hätte eine Filmcrew eine Konfetti-Kanone vor die Charlottenburger Straßenlaternen geräumt, um den Bewohnern der begehrten Gründerzeitwohnungen rund um den Lietzensee ein vorgezogenes Weihnachtsschauspiel zu bieten. Unzählige Flocken tanzten wie ein Schwarm Glühwürmchen in dem warmen Lichtkegel und wurden von dort aus über die vereiste Oberfläche des Sees Richtung Funkturm getrieben.
»Hindert Sie jemand daran, mit mir zu sprechen?«, fragte Jules den vermuteten Teilnehmer am Telefon. »Wenn ja, dann husten Sie bitte einmal.«
Jules war sich nicht sicher, aber er meinte, ein leises Keuchen gehört zu haben, ähnlich dem eines Läufers, der sich an seinem eigenen Atem verschluckt hat.
War das ein Husten?
Er drehte am Laptop, über dessen Software das Gespräch gestreamt wurde, die Lautstärke hoch. Der XY-Moderator drang dennoch zu ihm durch. Wenn Jules die TV-Fernbedienung nicht fand, würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als den Stecker des Fernsehers zu ziehen.
»Wir haben lange mit uns gerungen, ob wir Ihnen die Original-Tatortbilder noch einmal in dieser Deutlichkeit zeigen sollen. Aber diese Aufnahmen sind bislang die einzige Spur der Ermittler zum sogenannten Kalender-Killer.
Wie Sie sehen …«
Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Jules, wie sich die Kameraperspektive änderte und an die blutige Schrift auf der Wand gezoomt wurde. So dicht heran, dass der grobkörnige Putz wie eine Mondlandschaft wirkte, die ein Serienkiller als Leinwand missbraucht hatte.
»… ist die Ziffer 1 am oberen Ende verschnörkelt, wodurch die Zahl, die der Täter bei seinem ersten Mord an die Wand geschrieben hatte, mit etwas Fantasie wie ein Seepferdchen aussieht. Unsere Frage daher an Sie: Erkennen Sie die Handschrift? Ist sie Ihnen schon einmal in irgendeinem Zusammenhang begegnet? Für sachdienliche Hinweise …«
Jules zuckte zusammen. Jetzt war es deutlich. Er hatte etwas in der Leitung gehört.
Ein Räuspern. Atmen. Plötzlich riss das Rauschen ab.
Die von den Kopfhörern übertragene Atmosphäre hatte sich verändert, so als sei der Teilnehmer aus einem Windkanal heraus in einen geschützten Bereich getreten.
»Ich habe Sie nicht verstanden, weshalb ich jetzt einfach mal davon ausgehe, dass Sie bedroht werden«, sagte Jules, und in diesem Moment entdeckte er auf dem Schreibtisch die Fernbedienung unter einem Prospekt für eine Rehaklinik.
Berger Hof – Gesund im Einklang mit der Natur.
»Was auch immer passiert, Sie müssen unbedingt in der Leitung bleiben. Legen Sie nicht auf. Unter gar keinen Umständen!«
Er schaltete den Fernseher aus und sah sich selbst in dem plötzlichen Schwarz des Flachbildschirms, der zu einem düsteren Spiegel geworden war. Jules schüttelte den Kopf, unzufrieden mit seinem Ebenbild, auch wenn er sich eingestehen musste, dass er sehr viel besser aussah, als er sich fühlte. Eher wie fünfundzwanzig als fünfunddreißig. Eher gesund als krank.
Wobei das schon immer sein Fluch gewesen war. Selbst mit einer Magen-Darm-Grippe und Liebeskummer wirkte Jules auf sein Umfeld wie das blühende Leben. Einzig Dajana hatte gelernt, ihn im Laufe ihrer Beziehung zu »lesen«. Sie war lange Zeit freie Journalistin gewesen, und dank ihres ausgeprägten Einfühlungsvermögens hatte sie schon so manchem Interviewpartner ein zuvor gut gehütetes Geheimnis entlocken können. Was ihr bei Fremden gelang, gelang ihr natürlich erst recht bei ihrem engsten Vertrauten.
Sie erkannte bei Jules die Anzeichen eines drohenden Erschöpfungskollapses, wenn nach einer Doppelschicht in der Notrufzentrale seine braunen Augen eine Nuance dunkler schimmerten oder wenn die markanten Lippen einen Hauch trockener waren als sonst, weil er es nicht geschafft hatte, eine Mutter am Telefon erfolgreich anzuleiten, ihr Kind zu reanimieren. Dann hatte Dajana ihn wortlos in die Arme genommen und ihm die verspannte Schulter massiert. Sie hatte die Magenschmerzen, die Übermüdung und seine oftmals tiefe Melancholie an ihm regelrecht riechen können, wenn sie auf dem Sofa lagen und sie das Gesicht in seinen dichten, ungezähmten Haaren vergrub. Vielleicht hatte sie ihn auch im Schlaf studiert, seine nervösen Zuckungen, sein Gemurmel, und ihn womöglich mit einem sanften Griff nach dem Oberarm beruhigt, wenn er geschrien hatte. Womöglich. Er hatte versäumt, sie danach zu fragen, und nun würde er nie wieder die Gelegenheit dazu haben.
Da!
Diesmal war er sich ganz sicher. Der Anrufer hatte aufgestöhnt. Ob Mann oder Frau, war noch nicht zu erkennen, nur dass die Person offenbar unter Schmerzen litt, die sie zu unterdrücken versuchte.
»Wer … wer ist da?«
Endlich. Der erste vollständige Satz. Und er klang nicht so, als würde der Anruferin eine Waffe an den Kopf gehalten, aber man konnte nie wissen.
»Mein Name ist Jules Tannberg«, antwortete er, konzentrierte sich und begann kurz darauf die intensivste und folgenschwerste Unterhaltung seines Lebens mit den Worten: »Sie sind mit dem Begleittelefon verbunden. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Die Antwort zerriss ihm beinahe das Trommelfell.
Sie bestand aus einem einzigen, entsetzlich verzweifelten Schrei.
Hallo? Wer ist da? Sagen Sie mir bitte, wie ich Ihnen helfen kann!«
Der Schrei erstarb.
Unbewusst griff Jules zu einem Kugelschreiber und einem Papierblock, um sich die Uhrzeit des Anrufs zu notieren.
22.09 Uhr.
»Sind Sie noch dran?«
»Was, wie …, äähh, nein, ich …«
Schwere Atemgeräusche, gehetzt. Verzweifelt.
»Es tut mir so leid, ich …«
Eindeutig die Stimme einer Frau.
Männliche Gesprächsteilnehmer waren die Ausnahme. Das Begleittelefon war ein Service, der meist von Frauen genutzt wurde, die nachts auf ihrem Heimweg durch Parkhäuser, menschenleere Straßen oder gar durch den Wald gehen mussten. Sei es, weil sie noch spät gearbeitet hatten, von einem ätzenden Date irgendwo geflüchtet waren oder einfach nur keine Lust mehr auf die Party hatten, auf der ihre Freundinnen noch geblieben waren.
Plötzlich auf sich allein gestellt, zu einer Uhrzeit, um die man ungern seine Verwandtschaft aus dem Bett klingelte, bekamen sie zuweilen in der Dunkelheit große Angst: beim Überqueren leerer Parkplätze, in schlecht ausgeleuchteten Unterführungen oder auf unbedacht gewählten Abkürzungen durch einsame Gegenden. Dann wünschten sie sich einen Weggefährten, der sie sicher durch die Nacht führte. Eine Begleitung, die im Falle des Falles ihre exakte Aufenthaltsposition kannte und rasch Hilfe anfordern konnte, was allerdings in der Geschichte des Begleittelefons nur selten vorgekommen war.
»Ich muss … auflegen …«, sagte sie, und Jules hatte die Befürchtung, dass sie bereits von seiner tiefen Stimme eingeschüchtert war, weswegen er schnell handeln musste, wollte er sie nicht verlieren.
»Würden Sie gerne mit einer weiblichen Begleiterin verbunden werden?«, fragte er, wohl wissend, dass weiblich und Begleiterin eine sinnlose Doppelung war, doch er ahnte, dass die Anruferin (er notierte sich: ca. Anfang 30) große Konzentrationsschwierigkeiten hatte, und daher bemühte er sich, so einfach und eindeutig wie möglich zu formulieren.
»Ich kann verstehen, wenn es Ihnen in Ihrer Situation unangenehm ist, mit einem Mann zu sprechen.«
Die Furcht der Hilfesuchenden beim Begleittelefon war, wie die meisten Ängste es in der Regel eben sind, oft unbegründet. Aber sie bezog sich, ob einem nachvollziehbaren Anlass geschuldet (wie der dummen Anmache eines Betrunkenen auf dem U-Bahnsteig) oder aus purer Einbildung heraus entstanden, meist auf einen Mann. Und daher war es für Jules völlig einleuchtend, wenn eine Frau nicht ausgerechnet mit einem Vertreter jenes Geschlechts sprechen wollte, das ihre Angst im Grunde erst ausgelöst hatte, so irrational sie womöglich auch war.
»Soll ich Sie verbinden?«, fragte er noch einmal, und endlich bekam er eine Antwort, wenn auch eine, die verwirrend war.
»Nein, nein, das ist es nicht. Ich … ich hab es nur gar nicht bemerkt.«
Sie klang ängstlich, aber nicht panisch. Eher wie eine Frau, die schon sehr viel stärkere Furcht empfunden hatte.
»Was haben Sie nicht bemerkt?«
»Dass ich Sie angerufen habe. Es muss beim Klettern passiert sein.«
Klettern?
Das Rauschen in der Leitung, das eindeutig vom Wind herrührte, war wieder aufgefrischt, zum Glück aber nicht so intensiv wie zu Beginn. Die Anruferin war definitiv im Freien.
Jules’ Block füllte sich mit Fragen:
Welche verängstigte Frau klettert nachts? Im Schneetreiben?
»Wie heißen Sie?«, wollte er wissen.
»Klara«, antwortete sie.
Sie klang über sich selbst erschrocken, als wäre ihr der Name ungewollt herausgerutscht.
»Okay, Klara. Wollten Sie mir gerade erklären, dass Sie uns aus Versehen angerufen haben?«
Er sagte uns, weil die Vorstellung von einem Team im Hintergrund bei den Anrufenden Vertrauen schuf, und tatsächlich arbeiteten mehrere Freiwillige für das Begleittelefon. Allein heute, an einem Samstag in der Hotline-Hochzeit, saßen in Berlin vier Ehrenamtliche in der Nähe ihrer Laptops und warteten zwischen zweiundzwanzig und vier Uhr morgens auf eingehende Anrufe über die bundesweite Rufnummer. Allerdings waren sie nicht in einem Großraumbüro wie bei der Notrufzentrale der Feuerwehr, Jules’ ehemaligem Arbeitsplatz.
Dank der Begleittelefon-Software, die jeden einkommenden Anrufer zu einem freien Helfer routete, konnten sie die ängstlichen, einsamen und zum Teil auch verwirrten Anruferinnen bequem von zu Hause aus betreuen. Seitdem sich die Information über dieses neuartige, spendenfinanzierte Hilfsangebot wie ein Virus in den sozialen Netzwerken verbreitet hatte, stieg das Anrufaufkommen stetig; aber es war nicht so, dass das Begleittelefon unentwegt klingelte.
Die Freiwilligen konnten zwischendurch gut anderen, privaten Dingen nachgehen, wie Netflix-Schauen, Musikhören oder Lesen. Und dank kabellosem Headset konnte man sich im Falle eines Anrufs bequem zu Hause bewegen. Viele lagen im Bett, manche sogar in der Badewanne, vermutlich saßen die wenigsten wie Jules am Schreibtisch, aber das war eine Angewohnheit, die er noch aus seinem alten Beruf mitbrachte. Auch wenn er bei Telefongesprächen am liebsten umherlief, brauchte er zu Beginn der Kontaktaufnahme eine Struktur.
Am liebsten hätte er alle Informationen, die ihm die Anruferin gab, in eine Computermaske getippt, aber das ergab wenig Sinn. Anders als früher bei der 112 musste er keinen Einsatzwagen mit der für den Notfall benötigten Ausrüstung bestücken. Und er sah auch nicht auf einem digitalen Stadtplan den ungefähren Aufenthaltsort des Hilfebedürftigen auf dem Monitor. Dennoch fühlte Jules sich hinter einem Arbeitstisch besser organisiert. Er gab ihm Halt, wenn er mit den Anruferinnen sprach.
»Ja. Ich muss versehentlich die Tastensperre deaktiviert haben«, sagte Klara. »Mein Handy hat sich selbstständig gemacht. Verzeihen Sie die Störung, ich wollte Sie gar nicht anrufen.«
Nummernspeicher, notierte sich Jules. Es war nicht das erste Mal, dass Klara Angst hatte. Auch nicht das zweite oder dritte Mal. Sie musste sich schon so oft gefürchtet haben, dass sie das Begleittelefon sogar unter ihren Favoriten abgelegt hatte.
»Entschuldigen Sie bitte vielmals, ich hab mich verwählt, ich werde jetzt …«
Klara wollte das Gespräch offenbar beenden. Und das durfte Jules nicht zulassen.
Er stand vom Schreibtisch auf. Das alte Parkett, gegerbt von zahlreichen Schuhen, herumgerückten Möbeln und heruntergefallenen Gegenständen, knarzte müde unter seinen Sneakern.
»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie hören sich so an, als ob Sie Hilfe bräuchten.«
»Nein«, antwortete Klara einen Hauch zu schnell. »Dafür ist es zu spät.«
»Wie meinen Sie das?«
Er hörte ein Wimmern, das so klar durch die Leitung drang, dass er für einen Moment dachte, es käme bei ihm vom Flur her.
»Wofür ist es zu spät?«
»Ich habe schon einen Begleiter. Ich brauche keinen zweiten.«
»Sie sind nicht alleine unterwegs?«
Der Wind am anderen Ende war wieder etwas aufgefrischt, aber Klaras Stimme kam gegen ihn an.
»Ich war in den letzten Wochen keine Sekunde alleine.«
»Wer war bei Ihnen?«
Klara atmete schwer, dann sagte sie: »Sie kennen ihn nicht. Höchstens das Gefühl, das er auslöst.« Ihre Stimme brach. »Todesangst.«
Weint sie?
»Oh Gott, es tut mir so leid«, sagte sie, um Fassung ringend, und ergänzte rasch, bevor Jules nachfragen konnte, was sie damit meinte: »Wir müssen auflegen. Er wird nicht glauben, dass es nur ein Versehen ist. Dass ich mich verwählt habe. Verdammt, wenn er herausfindet, dass ich Sie angerufen habe, wird er auch zu Ihnen kommen.«
»Um was zu tun?«
»Um Sie ebenfalls zu töten«, sagte Klara und löste mit dieser morbiden Prophezeiung ein Déjà-vu bei Jules aus.
Wenn du es verkackst, bist du tot«, scherzte Caesar. Sein Kichern erstarb, als er an Jules’ betretener Miene merkte, dass er mit seiner flapsigen Bemerkung zu weit gegangen war.
»Tut mir leid, sorry, das war geschmacklos.«
Magnus Kaiser, von seinen Freunden liebevoll Caesar genannt, blickte schuldbewusst zu seinem langjährigen besten Freund auf. Jules, der neben ihm an seinem Schreibtisch stand, schüttelte den Kopf und machte eine wegwischende Handbewegung.
»Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln? Mir geht’s nicht dadurch besser, dass du jedes Wort auf die Goldwaage legst.«
»Trotzdem sollte ich in deiner Gegenwart Wörter wie Tod, Sterben und Mord vielleicht nicht ganz so lapidar in den Mund nehmen.« Caesar seufzte und zeigte auf den Laptop mit der Begleittelefon-Software, den er Jules mitgebracht hatte. »Hör mal, vielleicht ist das hier doch eine beschissene Idee. Du solltest dir das Wochenende besser nicht mit psychisch labilen Menschen um die Ohren schlagen.«
»Du hast ja nur ein schlechtes Gewissen, weil du das mit niemandem abgesprochen hast. Aber keine Sorge, das kriegt keiner raus. Ich rock das Begleittelefon für dich, mach dir mal keinen Kopf.«
Caesar wirkte nicht überzeugt. Tatsächlich war es etwas heikel, dass Jules einfach so für ihn einsprang, denn der Laptop mit der Begleittelefon-Software war Eigentum des Vereins und durfte nur an einen festgelegten Personenkreis ausgegeben werden. Wenn Caesar ohne Absprache einen Freund einspannte, war das nicht ganz koscher.
»Ich finde eine andere Lösung, wer meine Schicht übernimmt …«, setzte er an, aber Jules erstickte seinen Protest im Keim, indem er seinem Freund durch die langen blonden Haare wuschelte, die er noch immer im Surfer-Style trug. Dabei war es eine Ewigkeit her, dass Caesar das Meer gesehen hatte. Und auf seinen geliebten Brettern würde er in diesem Leben nicht mehr durch die Wellen reiten.
»Wie oft wollen wir das noch durchgehen? Du hast heute Abend dein wievieltes Date seit Monaten?«
Caesar zeigte ihm den Mittelfinger, auf den er sich im ersten Jura-Semester ein Paragrafenzeichen hatte tätowieren lassen. Heute bereute er es, weil ihn deshalb die großen Kanzleien als Anwalt abgelehnt hatten und er in einer Feld-Wald-und-Wiesen-Klitsche auf Laufkundschaft angewiesen war.
»Genau, dein erstes Date«, stellte Jules klar. »Und auf einer Skala von eins bis zehn, wie heiß ist diese Xanthippe?«
»Sie heißt Ksenia. Und sie ist definitiv eine Zwölf. Ich bin nicht der Einzige in unserer Selbsthilfegruppe, der scharf auf sie ist.«
Caesar blickte nervös auf seine Armbanduhr, eine Rolex Submariner, mit der er noch niemals tauchen gewesen war und es vermutlich auch nie tun würde. Die Zeiten, in denen Caesar seinem Spitznamen gerecht geworden war und in jeder Sportart als Kämpfer hervorstach, waren seit einem guten Jahr endgültig vorbei. Heute schien sogar seine Rasur ihn vor eine Herausforderung zu stellen. Caesars Bart hatte seit bestimmt einer Woche keine Klingen mehr gesehen und ließ ihn deutlich älter als sechsunddreißig wirken.
»Also, worauf wartest du dann noch?«, forderte Jules ihn auf. »Schieb dich aus meiner Wohnung und mach deine Traumfrau klar!«
Jules stand auf und zog an den Haltegriffen von Caesars Rollstuhl, doch der betätigte die Speichenbremse und verhinderte damit, dass sein Freund ihn einfach vom Schreibtisch wegschieben konnte.
»Ich hab echt ein ungutes Gefühl«, sagte er leise und hob den Kopf. Dabei blickte er mit seinen blauen Augen durch Jules hindurch, so als wäre dieser gar nicht im Raum. Dieser Tagtraum-Blick wirkte auf Menschen, die Caesar nicht kannten, etwas verstörend, setzte er ihn doch mehrmals am Tag und oft scheinbar ohne Anlass auf. Er wirkte zwar komplett abwesend, aber Jules wusste, dass sein Freund in solchen Sekunden die lichtesten Momente überhaupt hatte. Dann war Caesar nämlich wieder schlagartig klar geworden, dass er nie mehr würde laufen können, weil sich der Alkoholiker, der ihn auf dem McDonald’s-Parkplatz vor dem Drive-in erwischt hatte, nicht in eine Zeitmaschine setzen und seine Trunkenheitsfahrt wieder rückgängig machen würde.
»Ganz ruhig, Kumpel. Ich hab jahrelang bei der 112 die abartigsten Anrufe gehandelt, da werde ich ja wohl ein paar Angsthasen beruhigen können.«
»Das meine ich nicht.«
»Sondern?«
»Ausgerechnet du, Jules. Nach allem, was dir passiert ist. Gerade du solltest dich von Menschen in Ausnahmesituationen fernhalten.«
»Du meinst von Menschen wie dir?« Jules ging vor dem Rollstuhl in die Knie, um seinem besten Freund direkt in die Augen zu sehen.
»Wie meinst du das?«
»Hast du wirklich ein Date?«
Überrumpelt von der Wendung des Gesprächs schossen Caesar Tränen in die Augen. »Bist du mein bester Freund?«, fragte er Jules und griff nach seiner Hand.
»Seit der Grundschule.«
Es hatte nur eine Phase gegeben, in der sie sich aus dem Weg gegangen waren, und das war in der elften Klasse, als sie sich beide in dasselbe Mädchen verliebt hatten. Und selbst diese Krise hatten sie überwunden. Es war am Ende sogar zu einer innigen Freundschaft zwischen Caesar und Dajana gekommen, obwohl die Schulschönheit Jules den Vorzug gegeben hatte.
»Wär ich schwul, würde ich dich heiraten«, scherzte Jules.
»Dann frag mich bitte nicht weiter aus, okay?«
Jules stand auf und hob die Hände, als wollte er signalisieren, dass er unbewaffnet war. »Du machst doch keine Dummheiten?«, fragte er Caesar, der seinen Rolli eindrehte und Richtung Flur rollte.
»Irgendwann wird er es nicht mehr aushalten«, hatte Dajana Jules prophezeit. »Caesar hatte nicht mal die Willensstärke, um als Basketballspieler mit dem Rauchen aufzuhören, wie soll er erst seine Querschnittslähmung verkraften?«
»Sagst du mir, was du heute Abend wirklich vorhast?«, rief er Caesar hinterher.
Als Antwort gab sein bester Freund ihm das aus Top Gun entlehnte Tom-Cruise-Zitat, das sie sich schon seit ihrer Schulzeit witzelnd um die Ohren hauten:
»Ich könnte es dir verraten, Jules. Aber dann müsste ich dich leider anschließend töten.«
Mich töten?, dachte Jules nun vier Stunden später und wiederholte in Gedanken Klaras letzte Sätze am Begleittelefon: »Wir müssen auflegen. Er wird nicht glauben, dass es nur ein Versehen ist. Dass ich mich verwählt habe. Verdammt, wenn er herausfindet, dass ich Sie angerufen habe, wird er auch zu Ihnen kommen.«
Um mich zu töten?
Auch wenn er nicht ernsthaft glaubte, in Gefahr zu sein, verspürte Jules eine unangenehme, bedrohliche Nervosität. Ein bisschen so wie in seinem Prüfungs-Albtraum, in dem er wieder und wieder vor einer Examenskommission stand und eine mündliche Prüfung ablegen sollte, auf die er sich nicht vorbereitet hatte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte er Klara und rückte das Headset gerade. »Wieso sollte jemand zu mir kommen und mich umbringen wollen?«
Und von wem sprechen wir hier?
»Es tut mir leid, dass ich das gesagt habe, aber es ist die Wahrheit. Sobald er herausfindet, dass wir Kontakt hatten, wird er Sie suchen und ebenfalls eliminieren wollen.«
Er?
Jules musste sich bewegen. Er wanderte durch Arbeits- und Wohnzimmer Richtung Flur, ohne dass es ihm bewusst wurde.
»Sie haben genau das Richtige getan, indem Sie beim Begleittelefon angerufen haben«, lobte er sie, um Vertrauen aufzubauen und sie zu beruhigen. Wie für Gründerzeitwohnungen am Lietzensee üblich, verband der Flur als schmaler Schlauch die Küche an einem Ende mit dem Wohnzimmer am anderen. Für die Strecke dazwischen, die an den Türen von Kinder-, Eltern- und Gästeschlafzimmer sowie der Speise- und Hauswirtschaftskammer vorbeiführte, wünschte man sich ein Fahrrad oder wenigstens ein Skateboard, so lang gezogen war der schmale Gang.
Jules wusste, er sollte jetzt seine Worte abwägen und jeden negativen Ausdruck vermeiden, wenn er die Verbindung zu der Unbekannten aufrechterhalten wollte. Auf der anderen Seite war er sich nicht mehr sicher, ob das eine so kluge Strategie war. Immerhin hatte Klara ihm gerade eröffnet, dass er selbst in Lebensgefahr schwebte. Was natürlich absurd klang, wenn auch – und das machte ihm Sorgen – nicht vollkommen verrückt.
Weniger erfahrene Helfer würden vermutlich denken, Klara wäre nicht ganz dicht; eine Patientin, die an Wahnvorstellungen litt und der es womöglich gelungen war, vom Telefon einer geschlossenen Einrichtung aus anzurufen, was nicht gerade selten vorkam.
Doch ihre Stimme zeigte keinerlei Anzeichen von medikamentöser Beeinträchtigung, und ihre Formulierungen und auch die Satzmelodie wirkten nicht so, als wären sie durch Dutzende von Therapiesitzungen geformt.
Jules spürte, dass Klaras Furcht ein rationales Fundament hatte. Und dieses wollte er ergründen.
»Wo sind Sie im Augenblick?«, fragte er nach kurzer Überlegung.
Die wichtigste aller Fragen, die er den Tausenden von Anrufern immer als Erstes gestellt hatte, früher, als er noch im Spandauer War-Room der Berliner Feuerwehr gearbeitet hatte. Vierundzwanzig Arbeitsplätze, jeweils mit fünf Monitoren ausgerüstet, viertausend Anrufe am Tag, von denen die Hälfte einen Einsatz auslöste. Ein Großfeuer in Marzahn, ein Schlaganfall in Mitte, vorzeitige Wehen in Lichtenrade. Niemandem konnte geholfen werden, wenn er nicht verriet, wohin der Einsatzwagen kommen sollte. Bei einem Anruf vom Handy aus gelang es zwar, das Gebiet im Umkreis des nächstgelegenen Sendemasts abzustecken, aber das konnte in den Randbezirken mehrere Kilometer umfassen.
»Wieso wollen Sie wissen, wo ich bin?«
»Um Ihnen zu helfen.«
»Haben Sie mir nicht zugehört? Ich bin verloren. Legen Sie auf, um wenigstens sich selbst zu retten.«
Er kniff die Augen zusammen, eine unbewusste Angewohnheit, wenn er sich konzentrierte. »Sie werden also bedroht. Ein Mann, nehme ich an. Ist er gerade in Ihrer Nähe?«
Klara lachte traurig auf. »Er ist immer bei mir. Selbst wenn ich ihn nicht sehen kann.«
Bei Jules in der Wohnung herrschte Stille. Das einzige Geräusch war das Summen des alten Kühlschranks, das aber auf seinem weiten Weg den Flur hinab stark an Intensität verloren hatte, weswegen Jules sich ein klares akustisches Bild von Klaras Umgebung machen konnte. Ihre Schuhe knirschten auf einem Kiesweg, er hörte Blätter rauschen, also war der Pfad bewaldet. Ein einzelnes Auto beschleunigte im Hintergrund. Die Gegend war einsam, aber nicht verlassen.
»Ich muss Schluss machen.«
»Bitte. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.«
»Sie haben mir nicht zugehört. Mir ist nicht mehr zu helfen. Sie müssen jetzt an sich selbst denken.«
Klara sprach mittlerweile etwas energischer, fast schon belehrend.
»Ist das ein Scherz?«, fragte Jules. »Wollen Sie mir Angst machen?«
»Um Gottes willen, nein. Nichts liegt mir ferner.«
»Dann sagen Sie mir, was los ist.«
Stille.
So intensiv, dass Jules den leichten Tinnitus im rechten Ohr hören konnte. Ein Summen, das ihn ständig begleitete und das er manchmal über Wochen vergaß, bis ihn etwas in Auf- oder Erregung versetzte. Es schien, als ob das glockenhelle, mückenähnliche Fiepen durch negative Emotionen getriggert wurde und an Intensität gewann.
»Hatten Sie schon einmal solche Angst, dass jede Zelle Ihres Körpers mit Schmerz gefüllt war?«, fragte sie ihn.
Das Mückenfiepen in seinem Gehörgang rückte wieder in den Hintergrund, während Jules versuchte, eine Antwort auf die Frage zu finden.
Er schloss die Augen, sperrte nun auch das schwache Licht der Nachtlampe im Flur aus, doch die vollständige Dunkelheit unter den Lidern wich beinahe augenblicklich einem viel zu fröhlichen, farbenfrohen Erinnerungsbild.
Es war wieder Sommer, und es herrschten zweiunddreißig Grad. Der Geruch des nahenden Großstadtgewitters lag in der Luft. Jules schluckte, wollte nicht schon wieder daran denken, aber es war ja bereits über eine Stunde her, als er es zum letzten Mal getan hatte, was ungewöhnlich für ihn war. Im Schnitt dachte er in jeder freien Minute an den Moment zurück, in dem er alles verlor.
»Sie meinen, ob ich schon einmal solche Angst hatte, dass ich mir die Haut vom Leib reißen wollte, weil ich befürchtete, innerlich zu verbrennen?«
»Ja«, sagte Klara.
Und da wusste Jules, dass sie nicht auflegen würde. Nicht, solange er ihr von seiner schrecklichsten Erfahrung erzählte. Von der einen, die ihn noch heute wünschen ließ, er wäre nicht mehr am Leben.
Es hieß, man brauche nur eine Stunde an diesem Ort zu verbringen, und man könne nie wieder unbefangen durch die Straßen Berlins fahren. Das Gesicht der Stadt habe sich dann für immer verändert, wahlweise zu einer kranken, hässlichen oder einer mitleiderregenden Fratze. Dabei sah es im Zentrum des Geschehens eher beruhigend aus: ein lagerhallengroßer Raum, der an das Kontrollzentrum einer Raketenabschussbasis erinnerte, bestückt mit zwei Dutzend Computertischen, dahinter uniformierte Feuerwehrbeamte, die so wie Jules in der Regel auf den Monitor mit dem Berliner Stadtplan starrten, während sie parallel den Fragebogen abarbeiteten, der zu der jeweiligen Notlage passte.
Jules allerdings hatte aktuell keine Zeit, mit dem panischen Anrufer irgendeine Checkliste durchzugehen. Er arbeitete instinktiv alle Punkte ab, die er in der Ausbildung für diese Situation gelernt hatte.
Eine der grauenhaftesten, mit der man während einer Schicht in der Leitstelle überhaupt konfrontiert werden konnte.
Patient: männlich
Alter: 4 bis 7
Zustand: kritisch
»Haben Sie noch Sprechkontakt zu dem Jungen?«
»Nein, er sagt keinen Mucks mehr. Wie lange dauert es noch?« Der Anrufer, der sich als Michael Damelow identifiziert hatte, klang, als würde er gerade eine steile Treppe hinaufrennen. Dabei stand er seiner Beschreibung nach im Flur einer Neubauwohnung in der Brandenburgischen Straße und starrte auf eine verschlossene Zimmertür.
»Nummer 17, viertes OG, links. Hier brennt es. Ihr müsst euch beeilen!«
»Die Rettungskräfte sind unterwegs«, informierte Jules den zu Tode verängstigten Mann.
Sein Blick wanderte zu der großen Monitorfläche, die fast das gesamte Kopfende der Halle einnahm. Auf der digitalen Landkarte waren die aktuellen Brennpunkte Berlins verzeichnet. Im Moment gab es bis auf den üblichen Rushhour-Wahnsinn eines Freitagnachmittags keine besonderen Vorkommnisse.
Abgesehen von einem Unfall auf dem Stadtring.
Jules sah kurz auf den linken Monitor. Laut GPS-Signal konnte es noch über drei Minuten dauern, bis die Feuerwehr vor Ort war.
»Okay, ich hau hier ab.«
»Nein, warten Sie«, forderte Jules den Postboten auf. Der arme Kerl hatte eigentlich nur ein Paket abliefern wollen (Familie Haubach, Brandenburgische Straße 17, 4. OG) und sich zunächst über den Gestank nach Rauch gewundert. Dann über den nackten Frauenfuß, den er gesehen hatte, als er durch die seltsamerweise offen stehende Haustür in den Flur spähte. Und zuletzt über das Blut.
»Alter, ich hab Angst, hier explodiert gleich alles.«
»Dringt immer noch Qualm unter der Tür hervor?«
»Ja doch.«
Jules trommelte mit den Fingern auf die Kante seiner Tastatur. Laut Lehrbuch hätte er Damelow zustimmen und ihm sogar befehlen müssen, den Einsatzort zu verlassen. Kein Unbeteiligter sollte die Tür eines brennenden Kinderzimmers öffnen und sich dadurch selbst in Gefahr bringen.
Aber Jules konnte auch nicht den eingesperrten Jungen ignorieren.
»Himmel, er kratzt an der Tür!«, stöhnte der Paketbote. Er klang nasal und dumpf, weil er sich einen nassen Waschlappen vor Mund und Nase hielt. Den hatte er sich aus dem Badezimmer geholt, wie Jules ihm geraten hatte. Es war ein Fehler gewesen, ihn dort hinzulotsen. Offenbar hatten die Bodenfliesen ausgesehen, als wäre ein abgestochenes Tier aus einer mit Blut gefüllten Badewanne gestiegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte die Frau versucht, sich das Leben zu nehmen, und sich mit aufgeschnittenen Pulsadern noch in den Flur geschleppt.
»Was haben Sie gerade gesagt?«, hakte Jules nach.
»Der Junge kratzt. Von innen. An der Tür.«
Jules schloss die Augen und sah einen sterbenden Jungen, der in dem sinnlosen Versuch, sich zu befreien, die Fingernägel in das Holz der verschlossenen Tür grub.
»Sind Sie sicher, dass sie sich nicht öffnen lässt?«
»Nee, klar, ich bin ja leicht bekloppt.« Damelows Stimme kippte. »Vielleicht ist die Tür ja sperrangelweit offen. Vielleicht ist die Tote, über die ich hier im Flur gestiegen bin, auch keine Leiche, sondern nur ’ne Puppe. Und vielleicht …«
»Ist gut. Beruhigen Sie sich!«
Der Paketbote hustete und schrie gleichzeitig: »Sie haben gut reden! Sie müssen hier auch nicht in einer Blutlache vor einem qualmenden Kinderzimmer stehen.«
»Schauen Sie an den anderen Türen. Stecken da Schlüssel?«
»Wie, was?«
»Türschlüssel. Oft passen die universal in einer Wohnung für alle Zimmertüren.«
»Moment. Nein, hier ist … doch.«
Jules hörte Schritte. Quietschende Schuhe auf Linoleum oder Laminat. »Was doch?«
»Ich hab einen.«
»Versuchen Sie’s.«
»Okay, Moment.«
Weiteres, stärkeres Husten.
Wenn der Postbote schon im Flur solche Atemprobleme hatte, musste es sich im Inneren des Kinderzimmers wie in einem Schornstein anfühlen.
»Das Kratzen hat aufgehört«, sagte Damelow.
»Egal, passt der Schlüssel?«
»Wie? Ja. Aber ich trau mich nicht. Kriegt das Feuer nicht Sauerstoff, wenn ich jetzt öffne?«
»Nein«, log Jules.
»Ich, ich weiß nicht. Ich traue mich nicht. Ich gehe lieber …«
Jules’ Blick wanderte nach links, zurück zu dem Monitor, der ihm den Standort des bestellten Einsatzwagens verriet.
»Bleiben Sie dran«, befahl er dem Postboten und rief den Leiter des Rettungsteams an.
Der nahm sofort ab. »Hallo?«
»Wo bleibt ihr denn?«
»Wir sind da«, sagte der Einsatzleiter genervt. »Aber hier ist nichts.«
Die Mücke in Jules’ tinnitusgeplagtem Ohr meldete sich mit voller Lautstärke. »Wie, da ist nichts?«
»Jedenfalls kein Notfall. Familie Haubach geht es gut, abgesehen von dem Schrecken, den wir ihnen eingejagt haben.«
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sich sein Teamleiter unter der Monitorwand mit dem Stellvertreter besprach. Unter Garantie hatten sie sich längst in das Gespräch eingeschaltet und hörten mit.
»Du hast mit der Familie gesprochen?«, fragte Jules den Einsatzleiter vor Ort.
»Vater, Mutter, Tochter. Alle wohlauf.«
Tochter?
»Moment …«
Hat der Dreckskerl mich veralbert?
Ärgerlich schaltete Jules sich wieder in das Gespräch zu dem angeblichen Postboten. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn der mittlerweile aufgelegt hätte, aber Michael Damelow war noch dran.
»Wo sind Sie?«, fragte Jules.
»Sagte ich doch. In der Brandenburgischen.«
»Nein, sind Sie nicht.« Jules klärte ihn darüber auf, was sein Kollege ihm gerade berichtet hatte.
»Das kann nicht …, ach Gott … tut mir leid.« Damelow begann zu stammeln.
»Was?«
»In der Aufregung, also, ich hab …«
»Ganz ruhig. Atmen Sie tief durch. Was ist da los bei Ihnen?«
Jules verdrehte die Augen.
Eine tote Frau. Ein brennendes Zimmer. Ein um Hilfe rufendes, kratzendes Kind. Und jetzt auch noch ein panischer Zeuge …
»… ich hab Ihnen die vorherige gesagt.«
»Die Adresse Ihrer vorherigen Lieferung?«
»Genau. Ich bin ja schon weiter.«
»Wo. Genau. Sind. Sie?«
Es kostete Jules große Selbstbeherrschung, nicht zu brüllen. Der Mann brauchte eine Weile, um ihm endlich die korrekte Antwort zu geben.
»Prinzregentenstraße 24. Dritter Stock, 10715 Berlin.«
Jules ließ sich die Adresse dreimal wiederholen.
Beim ersten Mal hatte seine Atmung, beim zweiten Mal sein Herz ausgesetzt. Beim dritten Mal war er tot.
Innerlich abgestorben, ein Zombie, der sich noch bewegte, redete und von seinem Platz aufsprang, sich das Headset vom Kopf riss und wie irre in die Gesichter seiner ihn anstarrenden Kollegen glotzte.
Aber er lebte nicht mehr.
Nicht mehr so wie die Menschen um ihn herum.
»Jules«, hörte er den Teamleiter rufen, während er auf ihn zueilte, doch er war nicht mehr zu halten. Er schüttelte seine Kollegen ab, drückte seinen Vorgesetzten zur Seite, rannte hinaus, die Treppe nach unten. Blind vor Panik, taub vor Furcht, sprang er in seinen Wagen auf dem Parkplatz vor der Einsatzzentrale und raste los.
In die Prinzregentenstraße 24.
Dritter Stock.
10715 Berlin.
Zu sich nach Hause.