Die Heilkraft der Lebensenergie
Oliver Klatt
ISBN: 978-3-96861-040-5
1. Auflage 2020
© 2015 Aquamarin Verlag GmbH, Voglherd 1, 85567 Grafing, www.aquamarin-verlag.de
Umschlaggestaltung: Annette Wagner
Inhalt
- Vorwort
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.
- 6.
- 7.
- 8.
- 9.
- 10.
- 11.
- 12.
- 13.
- 14.
- 15.
- 16.
- 17.
- 18.
- 19.
- 20.
- 21.
- 22.
- 23.
- 24.
- 25.
- 26.
- 27.
- 28.
- 29.
- 30.
- 31.
- 32.
- 33.
- 34.
- 35.
- 36.
- 37.
- 38.
- 39.
- 40.
- 41.
- 42.
- 43.
- 44.
- 45.
- 46.
- 47.
- 48.
- 49.
- 50.
- 51.
- 52.
- 53.
- 54.
- 55.
- 56.
- 57.
- 58.
- 59.
- 60.
- 61.
- Zitate und Quellenangaben
- Literaturliste
- Der Autor
Vorbemerkung:
Alle im Hauptteil des Buches verwendeten Zitate werden ab S. 225 in vollständigem Wortlaut und mit dazugehörigen Quellenangaben wiedergegeben, auch mit Bezug auf die Literaturliste ab S. 273. Ebenso gibt es dort Hinweise zu den Namen von Personen sowie zu Umständen, die im Hauptteil des Buches lediglich angedeutet sind.
Ein ausführliches Stichwort-Verzeichnis für den Zugang zu den einzelnen, im Text enthaltenen Themen rund um die Lebensenergie finden Sie ab S. 279.
Vorwort
Es zählt zu den geheimnisvollsten Phänomenen, was immer wieder unter dem Wort ›Lebensenergie‹ zusammengefasst wird. Einerseits scheint es sich um uraltes Menschheitswissen zu handeln, andererseits taucht es gerade in der modernen Energiemedizin verstärkt auf. Es steht ganz offensichtlich auch in einem engen Zusammenhang mit Heilung im weitesten Sinne.
Oliver Klatt nähert sich dem ›Phänomen Lebensenergie‹ von drei verschiedenen Seiten – historisch, wissenschaftlich und praktisch. Er zeigt auf, welche historischen Wurzeln der Begriff und das Geschehen besitzt; er belegt mit großer Sachkenntnis, in welchen Bereichen gerade die moderne Naturwissenschaft und Medizin diesem Themenfeld auf die Spur kommt; und er öffnet einen ganz intimen praktischen Zugang zum Verständnis durch seine eigene Arbeit als Heiler. Durch diesen Dreiklang erhält die Behandlung des Themas einen wahrhaft holistischen Rahmen.
Man könnte anhand dieser Worte annehmen, der nachfolgende Text sei eine etwas trockene, sachliche Analyse. Das wäre weit gefehlt. Die Erörterung des Themas erfolgt im Dialog! Eine junge Frau kommt in die Praxis des Autors, um eine Behandlung zu erfahren. Beeindruckt und interessiert durch ihr Erleben, beginnt sie, sich intensiv mit der Frage zu beschäftigen, was bei ihrer Heilbehandlung in der Tiefe abgelaufen ist. Sie fragt nach!
Aus der lebendigen Frage-Antwort-Situation entfaltet das Buch einen besonderen Charme, eine einzigartige Leichtigkeit, die es von allen vergleichbaren Sachbüchern oder Ratgebern zum Thema wohltuend unterscheidet. Es ist ein gemeinsames Suchen, Forschen – und Finden. Ohne belehrend oder besserwisserisch zu wirken.
Dieses Buch schenkt den Leserinnen und Lesern nicht nur ein fundiertes Verstehen dessen, was ›Lebensenergie‹ wirklich ist; sondern es weitet den Blick auf die Entwicklungsgesetze des Lebens insgesamt. So wird es zu einem herausragenden Beitrag zu jenem Neuen Denken, das unsere Menschheit und die Erde insgesamt so dringend benötigen.
Dr. Peter Michel
1.
Sollte sie es wirklich tun? Zu einem Handaufleger gehen?
Sie hatte in den letzten Jahren schon vieles ausprobiert. Kaum etwas hatte wirklich geholfen.
Nun war es schon einige Zeit her, dass sie sich mit ihrer Krankheit, fast könnte man sagen … arrangiert hatte. Sollte das jetzt so bleiben? Ihr Leben lang?
Da war ihre Freundin, die hatte ihr diesen Heiler empfohlen. Er sei freundlich und aufrichtig, eine ehrliche Haut. Es passiere wirklich etwas, wenn er die Hände auflege. Er habe ihr richtig helfen können, auch mit den Gesprächen. Und übermäßig teuer sei das auch nicht.
Sie nahm sich vor, einmal einen Termin auszumachen. Trotz aller Zweifel. So würde sie eine eigene Erfahrung machen können. Von da aus könnte sie dann weitersehen.
Einige Wochen später:
Als sie die Praxis betritt, ist sie voller Erwartung.
Eine Frau sitzt an einem Schreibtisch, grüßt sie freundlich und bittet sie, Platz zu nehmen. Etwas später kommt auch schon der Heiler, gibt ihr die Hand und lädt sie ein, mit ihm zu kommen, in den Raum am Ende des Flurs.
Nach einem längeren Gespräch, in dem es um ihre Probleme geht und um die Gründe, weshalb sie hier ist, beginnt die Behandlung. Sie liegt auf einer Liege. Er legt die Hände auf ihren Körper auf, an verschiedenen Stellen. Sie spürt, dass etwas geschieht.
Nach der Behandlung:
- Was ist es, das ich da gespürt habe?
- Universelle Lebensenergie. Sie ist überall um uns herum, und auch in uns. Wer die Gabe besitzt oder es erlernt hat, kann diese Energie per Handauflegen übertragen.
- Wo kommt sie her?
- Einige sagen aus der Atmosphäre, andere sagen von Gott. Sie ist einfach da, wir können sie nutzen.
- Wozu?
- Sie heilt, vitalisiert, macht lebendiger. Wie geht es Ihnen jetzt?
- Gut, danke.
- Möchten Sie etwas trinken? Ein Glas Wasser?
- Ja, gerne.
Etwas später:
- Was kann die Lebensenergie alles bewirken?
- Vielen Menschen ist es wichtig, wieder mehr in Harmonie mit dem Leben zu kommen. Die Lebensenergie kann dabei helfen.
- Inwiefern?
- Sie kräftigt den Menschen, macht für das Gute empfänglich, kann Schmerzen verringern, entspannen und heilen.
- Schmerzen gehen zurück?
- Das zeigen Erfahrungen aus der Schmerztherapie, in vielen Krankenhäusern. Auch Menschen, die mit Schmerzen zu tun haben und sich selbst die Hände auflegen, berichten davon.
- Das lässt sich erlernen?
- Ja. Jeder Mensch kann es erlernen. So kann man sich selbst und andere mit Lebensenergie behandeln.
- (stutzt) … ich … könnte das auch lernen?
- Ja, selbstverständlich.
Als sie geht, ist sie etwas durcheinander. Aber ihr geht es gut. Sie fühlt sich beschwingt.
2.
Einige Tage später:
Ihr Fuß ist tatsächlich besser geworden. Der Arzt war ziemlich verblüfft, und selbst die Heilpraktikerin. Der hatte sie dann erzählt, dass sie bei einem Heiler gewesen war.
Wieder zu Hause, macht sie einen weiteren Termin aus.
Drei Tage später:
Die Behandlung war ähnlich wie beim ersten Mal. Nicht ganz so intensiv. Aber es war wieder spürbar, dass etwas passierte.
Hinterher folgte ein längeres Gespräch.
Sie hatte Fragen, die sie loswerden wollte.
- Glaubt man den Professoren, dann gibt es gar keine Lebensenergie.
- Weil sie sie vor zweihundert Jahren aus ihren Theorien gestrichen haben. Als sie anfingen, alles zu kategorisieren, ließ sich die Lebensenergie nicht zuordnen, deshalb verbannten sie sie. Nun steht sie wieder da und klopft an die Tür. Immer mehr Menschen öffnen ihr.
- Wie kam es dazu?
- Viele gehen heute neue Wege, jenseits der bekannten Religionen, jenseits der Schulmedizin. Im Christentum spielt die Lebensenergie keine besonders zentrale Rolle. Sie fristet eher ein Hintergrund-Dasein, als »Heiliger Geist«. Im Islam liegt auch kein großer Fokus auf der Lebensenergie, ebenso wenig im Judentum. Religionen wollen Spiritualität regulieren. Lebensenergie lässt sich nicht regulieren.
- Muss man spirituell sein, um Lebensenergie zu erfahren?
- Alle Menschen können sie erfahren, einfach so, ohne jedes Konzept, ohne jeden Zusammenhang. Viele öffnen sich für die Lebensenergie auf der Suche nach Heilung. In der chinesischen Medizin spielt sie eine große Rolle, als Chi. Ebenso in der indischen Medizin, als Prana.
- Was ist das Chi?
- Im Taoismus und in den Lehren des Konfuzius ist davon die Rede, in beiden großen Weisheitssystemen Chinas. Beide meinen, dass Gott mit Chi existiert: Wenn Chi da ist, existiert Gott. Wenn Chi nicht da ist, existiert Gott nicht.
- Also gibt es doch eine Verbindung von der Lebensenergie zu Gott.
- Ja. Aber unabhängig davon, ob man an Gott glaubt oder nicht. »Wie Wasser zu Eis wird, so kristallisiert sich das Chi, um den menschlichen Körper zu formen«,1 sagt ein altes chinesisches Weisheitsbuch.
- Der Körper wird von der Lebensenergie geformt?
- Man könnte sagen: Die Lebensenergie geht in den Körper über. Auch Himmel und Erde bilden ein solches Doppel: »Regenbogen, Wolken, Nebel, Wind und Regen, die vier Jahreszeiten – dies alles ist aus zusammengeballtem Chi geformt und bildet den Himmel. Berge und Klippen, Flüsse und Seen, Metalle und Felsen, Feuer und Holz – dies besteht aus zusammengeballter Materie und bildet die Erde.« 2
- Stammt das auch aus einem alten chinesischen Weisheitsbuch? (grinst)
- Ja, und es geht noch weiter. Das Chi wird sogar mit Leben und Tod in Verbindung gebracht: »Es ist reines Chi, das die unendlich vielen Dinge verändert. Wenn es sich zusammenballt, erzeugt es Leben; wenn es sich zerstreut, verursacht es Tod. Was niemals zusammengeballt oder zerstreut worden ist, war niemals lebendig oder tot. Die Lebewesen und Erscheinungen kommen und gehen, aber ihre materielle Grundlage bleibt unverändert.« 3
- »Wir kommen und gehen, sitzen … und stehen …« (lacht)
- (lacht) »… lachen … und weinen, und leben unser Leben …«
Beide trinken einen Schluck Wasser.
Er blickt aus dem Fenster.
- »Die Veränderungen der unzählig vielen Dinge der Welt werden alle vom Chi bewirkt. Ob sie aber verborgen sind oder gesehen werden können, das Chi bleibt stets eine Einheit. Der Weise weiß, dass das Chi selbst eine Einheit ist und sich niemals verändert.«4
- »Der Weise weiß, dass es jetzt Zeit ist zu gehen …« (lacht und steht auf)
3.
Eine Woche später:
- Ich habe meiner Mutter von den Behandlungen hier erzählt. Sie ist überzeugte Christin und war etwas erschrocken. Als ich ihr sagte, wie gut mir die Behandlungen tun, wusste sie nichts zu sagen.
- Im Christentum gibt es den Heiligen Geist. Die Lebensenergie steht für die göttliche Kraft im Menschen, der Heilige Geist für die Kraft Gottes im Menschen. Der Unterschied liegt nur in einer feinen Nuance.
- Bitte – wie? Nochmal …!
- Die Lebensenergie … steht für die göttliche Kraft … im Menschen …, der Heilige Geist … für die Kraft Gottes … im Menschen. Der Begriff Heiliger Geist hat seine Wurzeln im Alten Testament, in dem Begriff »ruah«. Der bedeutet: Kraft der Natur, Kraft im Menschen, Kraft Gottes. Das kommt der Lebensenergie recht nahe.
- Sehen das viele Christen so?
- Eher nicht. Aber es gibt immer wieder einmal welche, die das ansprechen. Das sind oft Christen mit asiatischem Hintergrund. Wie eine koreanische Theologin, die auf einer großen Versammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen einmal das Chi mit dem Heiligen Geist verglich. 5 Oder ein christlicher Bestsellerautor, der den Heiligen Geist in einem seiner Bücher als asiatische Frau namens Sarayu – das heißt »Wind« – darstellt. 6
- Das passt doch gut zur Pfingstgeschichte, wenn ich mich richtig erinnere …
- »Und als der Tag der Pfingsten erfüllt war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie saßen.«7
- Aus der Bibel?
- Ja. Ein christlicher Heiler sagte mir einmal, das Pfingstgeschehen sei für viele Christen der Ursprung der Kirche. Erst nach Pfingsten seien die ersten Christen eine sichtbare Gemeinde geworden. Der Heilige Geist kann auch als im Inneren der Menschen wirkende Kraft gesehen werden, die sie in Liebe miteinander kommunizieren lässt.
- Das erinnert mich jetzt ein bisschen an Kirchentag … (lacht)
- Warum nicht? (lächelt) Auch Jesus war von dieser Kraft erfüllt, wie es in der Bibel heißt: »… wie Gott Jesus von Nazareth mit heiligem Geist und mit Kraft salbte, ihn, der umherzog, Wohltaten erwies und alle heilte, die vom Widerwirker unterdrückt waren; denn Gott war mit ihm.«8
- Amen … (lächelt)
- Es kann nie schaden, passende Bibelstellen zu kennen. Hier ist noch eine: »Eine Frau hatte einen krankmachenden Geist – achtzehn Jahre schon. Und sie war zusammengebückt und vermochte sich nicht voll hochzubeugen. Als Jesus sie sah, rief er sie her und sprach zu ihr: ›Frau, du bist deine Krankheit los!‹ Dann legte er ihr die Hände auf. Und sofort stellte sie sich aufrecht.«9
- Richtig … Jesus hat auch per Handauflegen geheilt …
- Und … auch wenn Jesus sicherlich jemand ganz Besonderes war … warum sollen wir nicht auch die Fähigkeit besitzen, Hände aufzulegen? In der Bibel heißt es, Jesus habe gesagt: »Wer an mich glaubt, wird die Werke, die ich vollbringe, auch vollbringen, und er wird noch größere vollbringen.«10 Nicht nur Jesus, sondern auch viele Heilige besaßen diese Fähigkeit.11 Und es gibt besondere Orte, wie Lourdes, wo diese Kraft dauerhaft präsent ist.
Einige Tage später:
- Ich habe meiner Mutter davon erzählt, was Sie über die Lebensenergie und den Heiligen Geist gesagt haben. Sie hörte mir interessiert zu, sagte dann aber: »Wenn das eine göttliche Energie ist und man die einfach per Handauflegen übermitteln kann, klingt das für mich so, als wenn Gott damit verfügbar gemacht werden soll. Ich glaube nicht, dass man über Gottes Kraft einfach so verfügen kann.«
- Also was mich betrifft: Ich verstehe mich als Kanal für die göttliche Lebensenergie. Meine Motivation für das Handauflegen ist es, anderen zu helfen, oder wenn ich mir selbst die Hände auflege, mir selbst zu helfen. Selbstverständlich gibt es auch eine Zielrichtung dabei, nämlich Heilung und spirituelle Einsicht zu erwirken. Ich lasse direkt beim Handauflegen aber innerlich los und erwarte keine Ergebnisse oder die Erfüllung von Wünschen. Die Energie soll schlicht und einfach durch mich wirken. Damit ist das Handauflegen dem christlichen Bittgebet sehr ähnlich. Dabei wird Hilfe, Heilung oder Schutz von Gott erbeten. Man geht davon aus, dass Gott dazu bewegt werden kann, zugunsten von Menschen präsent und wirksam zu sein. Wenn das nicht so wäre, welchen Sinn würde eine Fürbitte im Gottesdienst machen?
- Das stimmt … Es kommt also auf die innere Haltung an?
- So sehe ich das. Ich hatte vor einigen Jahren mal eine Gruppe evangelischer Pfarrer zu Gast. 12 Sie hatten gefragt, ob ich für eine dialogische Begegnung offen sei. Das war ich. Also kamen sie eines Abends, wie vereinbart, vorbei – und wir verbrachten einen für alle inspirierenden Abend miteinander. Ich stellte meine Form des Handauflegens vor. Sie stellten Fragen dazu. Ich richtete auch Fragen an sie. Wir teilten spirituelle Erfahrungen und Sichtweisen. Als sie gingen, hatte ich nicht den Eindruck, dass sie dachten, es sei irgendwie »ungöttlich«, was ich hier tue.
- Sie hatten hier Besuch von einer Gruppe evangelischer Pfarrer?
- Es war eine Seminargruppe zum Thema »Neue religiöse Bewegungen und östliche Spiritualität im Westen«. In diesem Rahmen fanden ausgewählte Begegnungen mit Vertretern entsprechender Gruppierungen und Methoden statt.
- Das hätte ich nicht gedacht, dass die Pfarrer so etwas machen …
- Ich vorher auch nicht. Auch in der Kirche gibt es Menschen, die offen sind für neue Wege, die die Begegnung mit anderen suchen, die bemüht sind, die Lebensenergie, die Lebendigkeit wieder mehr zu integrieren. Wie die koreanische Theologin, die ich bei unserem letzten Gespräch erwähnte. Sie spricht von der »Kraft, die das Leben fördert«, die »Kraft, zusammenzuarbeiten, die Kraft, die eigenen Gefühle zu entdecken, die Kraft, andere anzuerkennen und sie zu befähigen, alle ihre Möglichkeiten als Menschen zu entfalten«. 13 Ist das nicht schön gesagt? Das alles kann die Lebensenergie bewirken.
4.
Zwei Wochen später:
Sie kam bereits zur vierten Behandlung. Es tat ihr gut, ihre Beschwerden gingen zurück. Dann hatte sie auch in einer Zeitung gelesen, dass selbst an einem großen Berliner Krankenhaus jetzt mit Handauflegen gearbeitet wird. Sie sprach ihn daraufhin an. 14
- Ich kenne das Krankenhaus. Vor einigen Jahren war ich dort eingeladen, um einen Vortrag für die Ärzte und das Pflegepersonal zu halten, über die Lebensenergie. Es ist ein Unfallkrankenhaus, mit vielen Patienten, die wegen schlimmer Unfälle starke Schmerzen haben. Aus Sicht vieler Patienten dort hilft das Handauflegen am allerbesten gegen die Schmerzen. Zur Zeit werden in diesem Krankenhaus rund 4.000 Behandlungen jährlich gegeben, bei denen die Hände aufgelegt werden. Viele Medien haben schon darüber berichtet.
- Das ist ja unglaublich!
- Ja. Aber eigentlich auch ganz normal, dass die Schulmedizin merkt, wie vorteilhaft die Zusammenarbeit mit Heilern ist. Es gibt noch mehr Krankenhäuser in Deutschland, wo mit Handauflegen gearbeitet wird – und weltweit sowieso. In den USA ist das schon richtig weit verbreitet. Dort informiert sogar das Nationale Gesundheitsinstitut auf seiner Webseite ausführlich über verschiedene Formen des Handauflegens.15 Auch in Europa ist das Handauflegen in Krankenhäusern verbreitet, am meisten in Großbritannien. Dort ist es allgemein üblich, wenn man im Krankenhaus liegt, dass man auf Wunsch eine Behandlung durch einen Heiler erhalten kann. In Russland hat die wissenschaftliche Forschung rund um die Lebensenergie eine lange Tradition. In China wird, ergänzend zur Schulmedizin, die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) wiederentdeckt. Dieser alten Medizin liegt ein Konzept von Energiebahnen im menschlichen Körper zugrunde, durch die Lebensenergie fließt – das Chi.
- Aber was soll denn das sein, das Chi? Wir hatten ja schon einmal darüber gesprochen. Alles, was ich dazu gelesen habe, war immer so unscharf, so wenig auf den Punkt …
- Vielen Wissenschaftlern ist die Vieldeutigkeit des Begriffes Chi ein Dorn im Auge. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass die unscharfe Bedeutung des Konzeptes von Chi ein Teil dieses Konzeptes selbst ist.
- Mh … also kann man es nie richtig auf den Punkt bringen?
- Was denn?
- Was das Chi ist.
- Wozu denn? Es reicht doch zu sehen, was es bewirkt.
- Aber … es gibt doch vielleicht wichtige Fragen dazu. Zum Beispiel: Kann es ein Zuviel oder ein Zuwenig an Chi geben?
- In einem alten chinesischen Buch heißt es dazu: »Wenn ein Chi zu stark wird, bringt es Unheil: Geht es als Negatives zu weit, wird es zu Fieberfrost; geht es als Positives zu weit, wird es zu Asthma und Durst; geht es als Wind zu weit, wird es zu Krankheit an den vier Gliedern; geht es als Regen zu weit, wird es zu Bauchschmerzen; geht es als Dunkel zu weit, wird es zu Geistesverwirrung; geht es als Hell zu weit, wird es seelische Müdigkeit.«16
- Dann sollte man also aufpassen, dass man nicht zu viel Chi überträgt, beim Handauflegen?
- In der Weise, wie ich die Hände auflege, kann das nicht passieren. Durch den direkten Bezug auf das Göttliche, wie ich ihn vornehme, wirkt, so kann man vereinfacht sagen, Gott im Zweifelsfalle regulierend ein.
- Ist das nicht etwas weit hergeholt?
- Nein, gar nicht. Was ich eben gesagt habe, basiert auf meiner 20-jährigen Erfahrung damit. Auch nach chinesischer Auffassung ist das Chi immer in einem größeren Zusammenhang zu sehen. So heißt es in einem anderen alten chinesischen Buch, die Lebenskraft Chi gehöre, wenn man sie anwende, stets »mit der Pflicht und mit dem Sinn des Lebens« zusammen. »Ohne diese beiden muss sie verkümmern. Sie ist etwas, das durch dauernde Pflichtübung erzeugt wird, nicht etwas, das man durch eine einzelne Pflichthandlung an sich reißen könnte.«17
- Man muss also immer bemüht bleiben? Sollte sich auf seinen Lorbeeren nicht ausruhen?
- So kann man das auch sagen.
Beim Gehen:
- Was bedeutet eigentlich dieser Drache? (Zeigt auf eine kleine Statue.)
- In China gilt der Drache als Urtier, das alle anderen Tiere umfasst. Er »lauert in der Tiefe, erscheint auf dem Feld, schwingt sich über den Abgrund und steigt zum Himmel auf«, wie es heißt.18 Er enthält also alle Wasser-, Land- und Luftwesen in sich.
- Wie die Sphinx …
- Ja, genau. Es gibt eigentlich immer für alles eine westliche und eine östliche Symbolik, die in vielen Punkt oft erstaunlich ähnlich ist. Im Fernen Osten steht der Drache für die universelle Ur-Energie, aus der heraus sich unterschiedliche energetische Aspekte entwickeln.
5.
Nach der fünften Behandlung:
Erst hatten sie über Persönliches gesprochen, über ihren Heilungsprozess. Dann setzte sich ihre Neugier durch, und sie sprach ihn auf etwas an, das sie schon seit längerem mit sich herumtrug:
- Ich habe weiter über die Lebensenergie nachgelesen und über die überwiegend guten Erfahrungen, die so viele Menschen damit machen. Nun verstehe ich eines überhaupt nicht: Wenn so viele Patienten daran interessiert sind und sagen, dass es ihnen hilft: Warum wird dann seitens der Ärzte kaum etwas dafür getan, dass Methoden, mit denen Lebensenergie übertragen werden kann, erforscht werden? Und, wenn sie wirksam sind, integriert werden …?
- Tja, das ist eine Frage, die ich mir auch seit zwanzig Jahren stelle.
- Was haben so viele Mediziner und Wissenschaftler eigentlich gegen die Lebensenergie?
- Nun, viele Wissenschaftler und – weil die heutige Medizin sehr wissenschaftlich orientiert ist – auch viele Mediziner sind der Meinung, dass die Lebensenergie gar nicht existiert. Sie halten also alles, worüber wir hier sprechen, und die vielen Erfahrungen von Menschen mit Lebensenergie für Humbug. Es fängt schon damit an, dass sie den Begriff »Energie« nicht akzeptieren, da der in der Physik ganz anders definiert ist. Der Begriff Lebensenergie geht zurück auf ein altes fernöstliches Konzept, wie es in dem chinesischen Schriftzeichen für Chi zum Ausdruck kommt – das ins Deutsche übersetzt »Lebensenergie« heißt. Die Ablehnung des Begriffes »Energie« seitens der Wissenschaftler für das, was beim Handauflegen übermittelt wird, wie die Heiler sagen, hat sogar schon so weit geführt, dass viele Heiler, die mit Wissenschaftlern zusammenarbeiten wollen, gar nicht mehr von Energie sprechen, sondern von Information, die übertragen wird. Dem gegenüber steht die Wahrnehmung der meisten Menschen, dass es am ehesten als »Energie« zu bezeichnen ist, was sie beim Handauflegen spüren.
- Das ist ja unglaublich. Davon habe ich noch nie etwas gehört.
- Ich habe das auch alles erst herausgefunden, als ich eine Antwort auf die Frage suchte, warum es eigentlich im Gesundheitswesen so wenig Offenheit für das Handauflegen gibt – obwohl so viele Menschen damit so gute Erfahrungen machen. Woher stammt diese starke Ablehnung einer für die meisten Menschen intuitiv stimmigen Vorstellung, dass es eine universelle Lebensenergie gibt, die alle Lebewesen erfüllt? Was haben viele Wissenschaftler gegen die Vorstellung, dass der menschliche Geist, der beim Handauflegen als eine Art Empfänger wirkt, mehr ist als der Körper und über diesen hinausreicht?
- Und? Gibt es eine Antwort darauf?
- Nun, die Antwort ist recht einfach: Wenn der Geist des Menschen mehr ist als das Gehirn, dann sind einige der beliebtesten Konzepte in der modernen Wissenschaft falsch. Da jedoch viele Wissenschaftler in diese Konzepte regelrecht verliebt sind und schon ihr ganzes Leben mit dem Versuch verbringen, zu beweisen, dass sie stimmen, liegt es auf der Hand, dass sie gleichzeitig alles Mögliche unternehmen, um den Vitalismus zu widerlegen. Damit ist die Vorstellung gemeint, dass Lebewesen wirklich lebendig sind – und niemals ausreichend mit den Mitteln der Physik und Chemie zu erklären sind.
- Das verstehe ich nicht.
- Warum sind wir am Leben? Rein wissenschaftlich gesehen, gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Zwar erweckt die Wissenschaft gerne den Eindruck, sie wisse Bescheid darüber; doch wenn man das einmal näher hinterfragt, merkt man schnell, dass es gar nicht so ist. In der naturwissenschaftlichen Sicht wird alles auf mechanische Abläufe reduziert. Demnach wären wir Menschen eine Art Maschine und unser Bewusstsein eine Täuschung, das von Vorgängen im Gehirn vorgegaukelt wird. Die meisten Menschen schrecken instinktiv davor zurück, wenn sie so etwas hören, und spüren, dass dies nicht die letzte Wahrheit sein kann. Natürlich ist da etwas Wahres dran – auf rein materieller Ebene. Aber die Frage ist doch: Was steht hinter dieser Ebene? Dass gar nichts dahinter steht, ist für die meisten Menschen nicht überzeugend. Sie glauben an etwas Höheres, Größeres, oder zumindest an etwas Eigenes, individuell Stimmiges, das sie durchs Leben führt, ihnen Halt gibt – und das nicht einfach beliebig oder zufällig ist.
- Und eine Möglichkeit, mit diesem Höheren, individuell Stimmigen in Verbindung zu treten, ist das Handauflegen, die Übertragung von Lebensenergie?
- Genau. Das ist kein Placebo-Effekt, ist also nicht vorgegaukelt, sondern existiert wirklich, ganz real. Viele Mediziner und Wissenschaftler halten nämlich die Übertragung von Lebensenergie per Handauflegen für einen Placebo-Effekt – und manche sind aufgrund dieser Sichtweise bereit, es zu integrieren. Das ermöglicht ihnen, weiterhin ihren Theorien anzuhängen, dass letztlich doch alles mechanisch erklärbar sei. Schlimm dabei ist, dass sie dann immer noch kaum etwas verstanden haben von dem, was für Heilung wesentlich ist. Manche von ihnen betrachten Mitgefühl und Einfühlungsvermögen als einen überflüssigen Luxus, als etwas, das einem »rationalen Zugang zur Patientenversorgung« im Wege steht. Was für eine Fehleinschätzung!
- Das kann man wohl sagen.
- Schließlich sollte ein Arzt nicht nur wissenschaftliche Kompetenz haben, sondern auch ein gewisses Maß an Mitgefühl, Weisheit und Einfühlungsvermögen. Sicher, das ist ein hohes Ideal – aber ist es denn wirklich zu viel verlangt, dass Menschen, die anderen Menschen helfen wollen, zu gesunden, zu heilen, zu überleben, auch hohe menschliche Ansprüche an sich selbst stellen und nicht allein aufgrund wissenschaftlicher Anschauungen behandeln?
- Ich finde nicht.
- Dann sind wir uns da einig. Zum Glück gibt es bereits einzelne Ärzte, die angefangen haben umzudenken. Dazu gehört ein in den USA recht bekannter Herzchirurg. Der sagt: »Obwohl es für die medizinische Gemeinschaft im Großen und Ganzen schwer zu akzeptieren ist, können ein Energiearbeiter und ein Chirurg einander darin unterstützen, die ›völlige Wiederherstellung‹ des Patienten zu gewährleisten. Die organisierte Medizin muss dabei helfen, die Verantwortung auf sich zu nehmen, dass diese herausfordernden neuen Theorien des Heilens studiert werden.«19
- Das lässt hoffen.
- Dieser Arzt hat auch schon mit einer Heilerin zusammengearbeitet, bei einer schwierigen Herzoperation. Die Operation verlief erfolgreich.
- Dass es so etwas heutzutage schon gibt, davon erfährt man auch nichts, wenn man nicht lange danach sucht – oder es irgendwie zufällig erfährt.
6.
Als sie nach einer weiteren Behandlung im Gespräch zusammensitzen, erwähnt sie ihre Freundin.
- Sie geht zu einer schamanischen Gruppe. Dort wird auch mit der Lebensenergie gearbeitet.
- Ja, die Schamanen kennen diese Energie auch. Da wird sie oft Mana genannt. Eine »außerordentliche, mysteriöse und aktive Wirkungskraft, die gewissen Menschen, Tieren, Orten, Zeiten, Ereignissen und Gegenständen in unterschiedlichem Maß eigen ist, die aber auch die Seelen der Toten sowie alle Geister besitzen.«20
- Das klingt ein bisschen gruselig.
- Wie beim Chi geht es auch hier um die Verbindung zwischen beiden Welten – der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Das ist aber nicht der Hauptpunkt. Wichtig ist zu verstehen, dass die Lebensenergie von Menschen, Tieren und Pflanzen verkörpert werden kann und an bestimmten Orten oder in bestimmten Ereignissen präsent ist. Sie kann auch Gegenständen anhaften.
- Wenn ich den Ring in die Hand nehme, den meine Oma ihr Leben lang getragen und den sie mir vererbt hat, dann fühlt es sich an, als sei sie irgendwie da.
- Das ist keine Einbildung. Ein kleiner Teil ihrer Energie ist noch präsent in diesem Ring. Damit wirkt der Ring wie eine Verbindungsstelle zu ihr, zu ihrer Seele.
- Dann ist es wirklich so, wie ich es schon oft gespürt habe.
- Dasselbe gilt auch für viel getragene Kleidung. Die Energie des Menschen, der sie getragen hat, wirkt in ihr nach. Das sollte man im Kopf haben, wenn man in Second-Hand-Läden einkauft.
- Oh … da muss ich meine Sachen mal überprüfen!
- Auf derselben Basis »funktionieren« auch Reliquien. Das sind Gegenstände religiöser Verehrung. Oft handelt es sich dabei um Dinge aus dem Besitz eines heiligen Menschen, denen seine Energie auch nach seinem Tod noch anhaftet. Manchmal sind dies sogar Körperteile von ihm – die natürlich erst nach seinem Tod zu Reliquien werden. So etwas gibt es in Ost und West, bei den Katholiken genau so wie bei den tibetischen Buddhisten.
- Uuh …
Sie nimmt einen Schluck Wasser.
- Ein anderer Begriff für die Lebensenergie stammt aus der Yoruba-Religion. Dort wird sie Ashé genannt. Manche sagen dazu auch: spirituelle Elektrizität.
- Das passt!
- Ein Autor schreibt: Ashé wohnt »dem gesprochenen Wort, geheimen Namen, Gedanken, Blut, Halsbändern, rituell vorbereiteten Gewändern, Erde, Blättern, Kräutern, Blumen, Bäumen, Regen, Flüssen, Gebirgen, Tornados, Donner, Blitz und anderen Naturphänomenen inne. Und sie manifestiert sich in Trommelrhythmen und Tanz, Dichtung und Liedern.«21
- Ganz ähnlich wie beim Mana.
- Ja. Weiter heißt es: »In jeder Form ist das Ziel der Ashé selbst die Veränderung. Weil die Yoruba-Religion so praktisch orientiert ist, geht es bei Ashé um ihre tatsächlichen Auswirkungen in der Realität, um ›Glück, Macht, Reichtum, Schönheit, Ausstrahlung, Kinder und Liebe‹.«22
- Das klingt ja wie Voodoo …
- Man könnte sagen: Positives Voodoo! Die göttliche Lebensenergie wird gleichsam auf ein triviales Niveau heruntergebrochen. Dabei ist die Bedeutung des Begriffs Ashé jedoch hochspirituell. Die Übersetzung ist »So sei es« oder »Mag es geschehen«. Das ist dem »Amen« der Christen sehr ähnlich. Jemand nannte sie auch die »Energie-Dinge-geschehen-zu-lassen«.23
- Das gefällt mir!
›Ja, das ist sie …‹, denkt sie beim Verlassen der Praxis: ›Die Energie, die Dinge geschehen lässt in meinem Leben!‹
7.
Heute geht es ihr gar nicht gut. Trotzdem rappelt sie sich auf – und geht zu dem vereinbarten Termin.
Die Behandlung ist sehr intensiv. Sie spürt sogar Schmerzen an einigen Stellen.
Hinterher spricht sie das an:
- Heute hat es an manchen Stellen richtig weh getan. Das kannte ich bisher noch nicht.
- Wie geht es Ihnen jetzt?
- (überlegt kurz) … Gut! Auf jeden Fall besser als vorher.
- Man nennt das Heilreaktion. Manche sagen auch Erstverschlimmerung. Ein Widerstand bäumt sich noch einmal kurz auf – bevor er verschwindet. Ganz oder ein Stück weit. Auf jeden Fall muss er sich noch einmal richtig zeigen, bevor er gehen kann. Das ist bei jeder Art von natürlicher Heilung so, nicht nur beim Handauflegen. Wenn man sich dafür entscheidet, mit Naturheilmitteln, Homöopathie, Handauflegen oder anderen Verfahren dieser Art zu kurieren, hat man früher oder später damit zu tun. Der eine mehr, der andere weniger.
- Das ist aber nicht erfreulich.
- Aber immer noch besser, als wenn man eine Sache durch Medikamente nur unterdrückt – und es eigentlich gar nicht weggeht, sondern nur so aussieht als ob.
Beide nehmen einen Schluck Wasser.
- Wir hatten bei einem der letzten Male über die Ärzte gesprochen, warum sie so wenig tun, um die Lebensenergie zu erforschen.
- Ja. Das hat auch damit zu tun, dass die Lebensenergie immer irgendwie mit Spiritualität zu tun hat – und viele Ärzte und Wissenschaftler mögen das nicht.
- Warum eigentlich? Ein Freund aus den USA hat mir erzählt, dass dort manche Ärzte mit ihren Patienten zusammen beten. Warum ist das hier für die meisten undenkbar?
- Das Selbstverständnis der modernen Wissenschaft ist zu einem Großteil aus dem Kampf gegen Religion und gegen die Vorstellung einer allumfassenden Lebensenergie entstanden. Vor allem in Europa hat dies große Bedeutung.
- Aha …?!
- Fangen wir von vorne an: In den Anfängen der Menschheit war das Erlangen von Gesundheit »nicht Kämpfen gegen die einzelne Krankheit, sondern ein Ringen mit Gott …«: »Alle Medizin der Erde beginnt als Theologie, als Kult, Ritual und Magie. Dem körperlichen Leiden wird nicht eine technische Handreichung, sondern ein religiöser Akt dawidergesetzt. Man untersucht die Krankheit nicht, man sucht Gott. Später stellt sich der Arzt zunächst neben den Priester, und bald gegen ihn, und führt das Leiden aus dem Übersinnlichen in das allgemeine Naturgeschehen zurück. Von da an beschränkt sich der Priester auf den Gottesdienst und lässt von der Krankenheilung, der Arzt verzichtet auf jede seelische Einwirkung, auf Kult und Magie: gesondert fließen fortab diese beiden Ströme jeder seinen eigenen Weg.«24
- Das führte schließlich dazu, dass wir heute diese Zweiteilung haben?
- Genau. Über die Jahrhunderte wurde der Heilprozess immer mehr versachlicht und verfachlicht; und im 19. Jahrhundert kamen noch die Apparate hinzu. Die Laboratorien nahmen dem Arzt in der Diagnostik immer mehr ab, »was an seinem Berufe noch Persönlichkeitserkenntnis war, und für die Behandlung wieder stellt ihm die chemische Fabrik schon fertig, dosiert und verschachtelt die Arznei bereit, die der Medikus des Mittelalters von Fall zu Fall sich eigenhändig mischen, bemessen und errechnen musste«.25
- Heute sind es die Pharma-Unternehmen!
- Richtig. Noch im 16. Jahrhundert war allgemein bekannt, dass »der Medicus nicht alles, das er können und wissen soll, auf der Hohen Schulen lernt und erfährt, sondern er muss auch zuzeiten zu alten Weihern, Zigeunern, Schwarzkünstlern, Landfahrern, alten Bauersleuten und dergleichen mehr unachtsamen (das heißt wenig geachteten) Leuten in die Schul gehen und von ihnen lernen, denn diese haben mehr Wissen von solchen Dingen denn alle Hohen Schulen.«26 Später setzte sich dann die Naturwissenschaft in der Medizin immer mehr durch, weil sie viele wichtige Einsichten und Erfolge mit sich brachte.
- Es ist ja auch nicht alles schlecht an der Schulmedizin …
- Bei aller nötigen Kritik an der Schulmedizin: Vieles davon ist wichtig und richtig! Aber vieles davon ist heutzutage auch ziemlich ausgeartet; und vieles wird völlig falsch angegangen. Die Schulmedizin hat große Stärken, zum Beispiel in der Akutbehandlung von Krankheiten, in der Chirurgie, in der Bilddiagnostik oder in der Labormedizin. Sie hat aber auch ihre Grenzen, die immer deutlicher werden. »Die Zahl der Entdeckungen nimmt ab, obwohl immer mehr Geld in die Forschung gesteckt wird. Neue Medikamente werden seltener, und insgesamt wird die Medizin zunehmend unbezahlbar.«27 Gleichzeitig wird deutlich, dass je chronischer, je komplexer eine Krankheit ist, je stärker sie mit Stress zu tun hat und mit dem Lebensstil eines Menschen, die Schulmedizin umso weniger greift – und lebensenergetische, natürliche Methoden umso mehr helfen können.
- Das gefällt vielen Ärzten nicht.
- Sie sehen es vielleicht nicht so; oder sie gehören tatsächlich zu den wenigen, die sich heute dafür öffnen, die alte Trennung zwischen Medizin und Spiritualität wieder ein Stück weit zurückzufahren. Wie der Chirurg aus den USA, von dem ich bereits erzählt habe. Es gibt auch in Deutschland Ärzte, die mit Heilern zusammenarbeiten. Zwar wenige bislang, aber es gibt sie.
8.
Was sie beim letzten Treffen erfahren hatte, war neu für sie gewesen. Darüber hatte sie vorher noch nie nachgedacht.
Beim nächsten Treffen hakt sie nach:
- Ich fand es letztes Mal spannend zu hören, wie sich das alles im Laufe der Jahrhunderte entwickelt hat, mit den Ärzten und der Heilkunde. Können Sie dazu noch mehr sagen?
- Die Vorstellung einer Lebensenergie hat nicht nur im Osten, sondern auch bei uns im Westen eine lange Tradition. In der griechischen Antike, einer der drei Säulen unserer Zivilisation, war die Lebensenergie bekannt als Pneuma. Das Wort ist abgeleitet von pneo, was heißt »Ich atme«. Es wird übersetzt als »der Geist«, aber auch als »Hauch«, »die Luft« oder als »Druck«.28
- Das klingt ja wie der Heilige Geist.
- Da scheint es eine Verbindung zu geben. Die Lebensenergie der alten Griechen, das Pneuma, kann »Wasser, Wind, Wolken, Erde und Gestein bewegen«. 29 Es ist Träger der menschlichen Lebenskraft und Erhalter der Gesundheit. Es wird als »den ganzen Kosmos durchdringend und ihn belebend« beschrieben.30
- Wie das Chi.
- Ja. Man unterscheidet zwei Arten von Pneuma, »das physische der eingeatmeten Luft und ein psychisches mit Sitz im Herzen«, das als »Substrat der Lebenswärme und erstes Werkzeug der Seele« bezeichnet wird.31 In der pneumatischen Schule der antiken Medizin, im ersten Jahrhundert nach Christus, wurden »alle Lebenstätigkeiten durch vom Herzen ausgehende pneumatische Strömungen« erklärt, »deren Substanz durch die eingeatmete Luft ständig aufrechterhalten« wird.32
- Dann spielt das Pneuma ja eine ganz zentrale Rolle …
- Genau … (nimmt ein Buch und liest): »Alle physikalischen Zustände und Eigenschaften werden als Wirkungen des Pneuma aufgefasst, aber auch die Lebensäußerungen des Menschen, wie Wahrnehmung, Bewegung, Zusammenhalt und Koordination des Organismus, wurden auf der Basis des psychischen Pneuma erklärt.«33
- Mit Sitz im Herzen … (legt eine Hand auf ihr Herz).
- Genau … (legt sich ebenfalls eine Hand auf sein Herz).
Ein Moment Stille.
- Das Pneuma wurde auch bezeichnet als »Medium des direkten Eingreifens Gottes ins Weltgeschehen«.34
- Da ist wieder die Verbindung zu Gott.
- »Bei den alten Griechen waren die intuitiv begabten und hellsichtigen Ärzte die wahren Vertreter der Heilkunst, während die bloß technisch und verstandesmäßig arbeitenden als Scharlatane galten. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war man sich der intuitiven Kräfte des Menschen und seiner Verbindung mit den geistigen Welten durchaus auch in Ärzte-Kreisen noch bewusst und machte davon Gebrauch. Erst spätere Generationen haben den intuitiven, lebendigen und spirituellen Kräften abgeschworen.«35
9.
Beim nächsten Mal:
- Ich habe in der Zwischenzeit ein bisschen darüber nachgelesen. Das Thema ist ganz schön komplex.
- Das kann man wohl sagen. (lächelt)
- Die Trennung der Wissenschaft von der Religion, von der Vorstellung einer allumfassenden Lebensenergie … das passierte ja nicht nur in der Medizin, sondern auf allen Gebieten.
- Ja. Viele Jahrhunderte lang war es für die Menschen völlig normal, die Erde als eine Art Organismus zu sehen und sich selbst als Teil dieses Organismus, als Teil einer größeren Ganzheit. Das änderte sich in der westlichen Welt erst im 14. Jahrhundert, mit der großen Pest-Epidemie, mit ihren fünfundzwanzig Millionen Toten.
- Ich verstehe. Die Menschen machten die Natur, machten Gott für die vielen Toten verantwortlich?
- Ja. Das Ganze wurde so gedeutet, dass Gott und die Natur den Menschen offenbar nicht so freundlich gesinnt sind, wie man zuvor gedacht hatte. Einige Jahrhunderte später, im 18. Jahrhundert, setzte in den Wissenschaften dann das ein, was man als »Entseelung der Erde« bezeichnen kann – die strikte Unterscheidung von Geist und Materie.
- Von da an durfte man die Erde nicht mehr als Großes Ganzes sehen?
- Zumindest wurde man als Wissenschaftler dann immer weniger ernst genommen, wenn man es tat. Weil die Naturwissenschaften nun immer dominanter wurden, kam es insgesamt zu einer zunehmenden spirituellen Entfremdung von der Welt, die »sich zu dem Gefühl steigerte, dass die natürliche Welt eine Unterdrückung sowohl des physischen als auch des geistigen Wohlergehens des Menschen bedeute«.36 Die Folgen davon erleben wir bis heute, unter anderem in der enormen Technisierung und Wissenschaftsorientiertheit der Medizin. »Die Naturwissenschaft beherrscht und verwandelt die Welt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Als Technik und Medizin ist sie in jedem Leben gegenwärtig. Sie ist von größerem Einfluss als jeder andere Denkansatz in der Geschichte der Menschheit.«37
- Ich glaube, ich brauche eine Pause …
Etwas später:
- Bis vor etwa zweihundert Jahren war die Lehre von der Lebensenergie durchaus noch in der Medizin vertreten. Ein deutscher Philosoph sah damals in der Lebensenergie »einen urwüchsigen Überlebenswillen am Werk, der den ganzen Kosmos als Urkraft durchdringt«.38 Für den Begründer der Homöopathie, einen deutschen Arzt und Apotheker, steht »eine immaterielle Veränderung der Lebensenergie am Anfang jeder Krankheit und bildet zugleich den wichtigsten Schlüssel zu ihrer Heilung«.39 Krankheiten entstehen demnach durch eine Verstimmung der Lebensenergie.
- Also gab es doch einige Gelehrte, die für die Lebensenergie waren?
- Ja. Aber ab Mitte des 19. Jahrhunderts empfanden es immer mehr Wissenschaftler als störend, dass es sich bei der Lebensenergie um einen naturwissenschaftlich nicht objektivierbaren Begriff handelt. Die Anhänger der Lebensenergie, die Vitalisten, lieferten sich damals an den Universitäten regelrechte Schlachten mit den Materialisten.
- Was ist nochmal der Vitalismus?
- Damit ist die Vorstellung gemeint, dass Lebewesen wirklich lebendig sind – und niemals ausreichend mit den Mitteln der Physik und Chemie zu erklären sind. Vitalisten sind der Auffassung, dass der gesamten Natur und dem Leben selbst eine Art gemeinsame Intelligenz zugrunde liegt. Mit steigender Dominanz der Naturwissenschaften wurde diese Sichtweise jedoch zunehmend hinweggewischt. Es galt bald nur noch das als real, was wäg- und messbar ist. Alles andere wurde einfach als subjektiv eingestuft, sogar als irrational – und somit letztlich als nicht existent.
- Das ist ja ganz schön krass.
- Ja.
- Und diese Sichtweise bildet die Grundlage, auf der heute viele gesellschaftliche Entscheidungen getroffen werden?
- Ja.
- Ziemlich unglaublich, wenn man das einmal genauer bedenkt.
- Heute findet die Lebensenergie, nach ihrer vor zweihundert Jahren begonnenen Verbannung durch die Naturwissenschaft, wieder schrittweise in die Medizin zurück. Das ist weltweit zu beobachten. Dabei ist wichtig zu verstehen, dass es nicht um ein »Entweder/oder« geht, sondern um ein »Sowohl als auch«. Man kann auch von Integrativer Medizin sprechen. Dieser Ansatz umfasst das gesamte Spektrum medizinischer Methoden, wobei immer die Methoden eingesetzt werden, die im Einzelfall als wirkungsvoll erscheinen, frei von Ideologie. Das Wort Integration stammt aus dem Lateinischen und bedeutet »Wiederherstellung eines Ganzen«.
- Das fehlende Puzzleteil wird wieder eingesetzt.
- So ist es. Um noch einmal auf die Entfremdung der Menschen von der Natur zurückzukommen: Auch diese gilt es natürlich umzukehren: »Die Natur ist ebenso brutal und gefährlich wie milde und voller Güte. Unsere Verbindung mit der natürlichen Welt darf die Tatsache nicht vernachlässigen, dass wir in einem stetigen Kampf mit natürlichen Kräften stehen. Auf jeder Stufe hat das Leben seine bitteren und schwer zu ertragenden Seiten.40 – In der unermesslichen Geschichte des Universums, das so viele gefahrvolle Übergangsmomente erfolgreich überwunden hat, lassen sich jedoch Anzeichen erkennen, dass das Universum eher für als gegen uns arbeitet.«41
10.
Als sie die Straße entlang geht, denkt sie darüber nach, dass sie jetzt schon seit drei Monaten zu dem Heiler geht. Trotz gelegentlicher Tiefs geht es ihr zunehmend besser. Wie wäre es eigentlich, wenn sie das Handauflegen selber erlernen würde? Der Heiler hatte ja gesagt, dass jeder das könne.
Beim nächsten Termin spricht sie ihn daraufhin an.
- Ja, das ist möglich. Entweder Sie nehmen an einem meiner Wochenendkurse teil oder wir können auch einen Einzelkurs machen. Wie Sie möchten.
- Und das geht einfach so?
- Wenn Sie bereit dafür sind und es wirklich wollen: Ja!
Als sie nach Hause geht, weiß sie: Ja, sie möchte es.
Am nächsten Tag ruft sie an, um sich für einen Wochenendkurs anzumelden.
Die Tage davor ist sie voller Erwartung.