DAS BUCH
Die alten Heldenlieder sind gesungen, und eine neue Zeit bricht an. Eine Zeit, in der neue Kriege drohen, neue Bündnisse geschmiedet und alte Feindschaften erneuert werden. Rikke, die Häuptlingstochter aus dem Norden, muss sich in der Hauptstadt Adua behaupten, während im Norden der junge Statthalter Leo dan Brock nach Ruhm und Anerkennung dürstet. Und auch der Reichtum und Einfluss von Lady Savine dan Glokta, Tochter des obersten Inquisitors, können sie vor neuen Schicksalsschlägen nicht beschützen. Der lange Friede der Union beginnt zu bröckeln …
DER AUTOR
Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen »Klingen«-Romanen hat er sich auf Anhieb in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schafft es regelmäßig auf die internationalen Bestsellerlisten. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.
Mehr über Autor und Werk auf: joeabercrombie.com
JOE ABERCROMBIE
Friedensklingen
Roman
Aus dem Englischen
von Kirsten Borchardt
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der Originalausgabe:
TROUBLED PEACE
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Deutsche Erstausgabe 03/2021
Redaktion: Werner Bauer
Copyright © 2020 by Joe Abercrombie
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,
unter Verwendung von Motiven von shutterstock
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-16474-4
V001
@HeyneFantasySF
FÜR LOU,
MIT EINER »GRIMMIG-DUNKLEN« UMARMUNG
ERSTER TEIL
»Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.«
FRIEDRICH NIETZSCHE
Ich hoffe, es stört niemanden, wenn wir einstweilen ohne das hier weitermachen?« Mit diesen Worten warf Orso den Stirnreif auf den Tisch. Gold funkelte in einem staubigen Strahl Frühlingssonnenlicht, als sich das Schmuckstück mehrere Male drehte. »Das verdammte Ding drückt ziemlich.« Er rieb sich die wunden Stellen an den Schläfen. Das Ganze hatte etwas Metaphorisches: die Bürde der Macht, das Gewicht der Krone. Indes: Sein Geschlossener Rat hörte dieses Klagelied sicherlich nicht zum ersten Mal.
Nachdem er Platz genommen hatte, zogen auch die Ratsmitglieder ihre Stühle unter dem Tisch hervor. Schmerzvoll verzogen sich ihre alten Gesichter, als sich die alten Rücken krümmten, die alten Ärsche auf harte Sitzflächen trafen und sich die alten Knie unter die schwankenden Stapel von Papieren schoben, die sich auf dem Tisch auftürmten.
»Wo ist denn der Generalinspektor?«, fragte jemand mit Blick auf einen leeren Platz.
»Hat seiner Blase nachgegeben.« Ein Chor aus Brummen und Stöhnen folgte auf diese Erklärung.
»Man kann in tausend Schlachten siegen.« Lord Marschall Brint fummelte an dem Damenring herum, der auf seinem kleinen Finger saß, und sein Blick verlor sich in mittlerer Entfernung, als ob er eine gegnerische Armee in Augenschein nähme. »Aber den Kampf gegen die eigene Blase gewinnt man nie.«
Für Orso, der etwa dreißig Jahre jünger war als die übrigen hier Versammelten, zählte die Blase zu den am wenigsten interessanten Organen seines Körpers. »Eine Sache, bevor wir loslegen«, sagte er.
Alle Augen richteten sich auf ihn. Nur nicht die von Bayaz, der am Ende des Tisches saß. Der legendäre Zauberer blickte weiter aus dem Fenster über die Palastgärten, in denen das Grün gerade die ersten Blüten ansetzte.
»Ich habe beschlossen, eine Rundreise durch die Union zu machen.« Orso tat sein Bestes, um bestimmt zu klingen. »Jede Provinz zu besuchen. Jede größere Stadt. Wann war das letzte Mal ein Monarch in Starikland? Ist mein Vater je dorthin gereist?«
Erzlektor Glokta zog eine Grimasse, sogar mehr noch als üblich. »Starikland galt nicht als sicher, Euer Majestät.«
»In Starikland herrschten stets äußerst unruhige Verhältnisse.« Lord Schatzmeister Gorodets zwirbelte sich den langen Bart selbstvergessen zu einer Spitze, strubbelte ihn dann durch und glättete ihn aufs Neue. »Heute mehr denn je.«
»Aber ich muss eine Verbindung zum Volk aufbauen.« Orso schlug mit der Faust auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. In dieser Runde fehlten ganz deutlich Gefühl und Leidenschaft. In der Weißen Kammer gab es nichts außer kalter, trockener, blutleerer Berechnung. »Den Leuten zeigen, dass wir alle Teil derselben großen Unternehmung sind. Derselben Familie. Es soll doch eine Union sein, oder nicht? Dann müssen wir verdammt noch mal auch zusammenstehen.«
Orso hatte nie König sein wollen. Es machte ihm sogar noch weniger Spaß als seine Rolle als Kronprinz, falls das möglich war. Aber da er diese Position nun einmal innehatte, wollte er sie zumindest nutzen, um etwas Gutes zu bewirken.
Lordkanzler Hoff klopfte in mattem Applaus auf den Tisch. »Eine wunderbare Idee, Euer Majestät.«
»Wunderbar«, echote Kronrichter Bruckel, der den abgehackten Konversationsstil eines Spechts pflegte und diesem Vogel mit seiner spitzen Nase zudem bemerkenswert ähnlich sah.
»Eine edle Regung, gut formuliert«, stimmte Gorodets zu, dessen Zustimmung allerdings nicht seine Augen erreichte.
Einer der alten Knacker raschelte mit seinen Papieren, ein anderer stierte in sein Weinglas, als ob darin etwas ertrunken wäre. Gorodets strich sich immer noch den Bart, machte aber ein Gesicht, als hätte er dabei Pisse geschmeckt.
»Aber?« Orso hatte schon gelernt, dass es im Geschlossenen Rat immer mindestens ein Aber gab.
»Aber …« Hoff sah zu Bayaz hinüber, der mit einem winzigen Nicken seine Erlaubnis andeutete. »Es wäre vielleicht besser, auf einen günstigeren Augenblick zu warten. Auf eine ruhigere Zeit. Es gibt hier so viele Herausforderungen, die der Aufmerksamkeit Eurer Majestät bedürfen.«
Der Kronrichter atmete schnaufend aus. »Viele. Herausforderungen.«
Orso kommentierte das mit einer Mischung aus Knurren und Seufzen. Sein Vater hatte die Weiße Kammer mit ihren harten, nüchternen Stühlen stets verabscheut. Ebenso wie die harten, nüchternen Männer, die auf ihnen hockten. Er hatte Orso gewarnt, dass im Geschlossenen Rat nie etwas Gutes auf den Weg gebracht wurde. Aber wenn nicht hier, wo dann? In diesem beengten, stickigen, schmucklosen Raum konzentrierte sich die Macht. »Wollen Sie etwa sagen, dass die Regierungsmaschinerie ohne mich knirschend zum Stehen käme?«, fragte er. »Damit gäben Sie aber etwas viel Zucker zum Pudding.«
»Es gibt Themen, denen sich der Monarch für alle sichtbar widmen muss«, sagte Glokta. »Die Maschinenstürmer haben in Valbeck einen schweren Schlag erhalten.«
»Eine harte Aufgabe, die Sie gut bewältigt haben, Euer Majestät«, schleimte Hoff.
»Aber sie sind bei Weitem noch nicht ausgerottet. Und jene, die fliehen konnten … haben sich in ihren Ansichten nur noch mehr radikalisiert.«
»Aufruhr unter den Arbeitern.« Kronrichter Bruckel schüttelte ruckartig den knochigen Kopf. »Streiks. Zusammenschlüsse. Angriffe auf Angestellte und Eigentum.«
»Und die verdammten Pamphlete«, ergänzte Brint, und die anderen stöhnten.
»Verdammte. Pamphlete.«
»War immer schon der Meinung, dass Bildung für den gemeinen Mann die reinste Verschwendung darstellt. Heute würde ich sagen, sie ist geradezu gefährlich.«
»Dieser verdammte Weber ist ein echter Wortverdreher.«
»Und er kann sich verdammt obszön ausdrücken!«
»Diese Blättchen wiegeln die Bevölkerung zum Ungehorsam auf!«
»Schüren Unzufriedenheit!«
»Sie reden von einem großen Umbruch, der da kommen soll.«
Eine rasche Abfolge von Zuckungen lief über die linke Seite von Gloktas zerstörtem Gesicht. »Sie machen den Offenen Rat für alles verantwortlich.« Und druckten Karikaturen, auf denen die Ratsmitglieder als Schweine dargestellt wurden, die um einen Trog kämpften. »Sie machen den Geschlossenen Rat verantwortlich.« Und druckten Karikaturen, auf denen sich die Ratsmitglieder gegenseitig fickten. »Sie machen Seine Majestät verantwortlich.« Und druckten Karikaturen, auf denen er alles fickte, was nicht bei drei auf dem Baum war. »Sie machen die Banken verantwortlich.«
»Sie verbreiten das lächerliche Gerücht, dass die Schulden … die der Staat beim Bankhaus Valint und Balk hat … dazu führten, dass er handlungsunfähig geworden ist …« Gorodets verstummte, und der Raum verfiel in nervöses Schweigen.
Nun endlich löste Bayaz seine harten grünen Augen vom Fenster und richtete den Blick auf die Tischplatte. »Diese Flut von Fehlinformationen muss eingedämmt werden.«
»Wir haben ein paar Dutzend Druckerpressen zerstört«, knirschte Glokta, »aber sie bauen einfach neue, die jedes Mal kleiner ausfallen. Jetzt kann jeder Narr schreiben und drucken und seine Meinung in die Welt hinausposaunen.«
»Fortschritt«, lamentierte Bruckel und verdrehte die Augen in Richtung Decke.
»Die Maschinenstürmer sind wie verdammte Maulwürfe in einem Garten«, knurrte Lord Marschall Rucksted, der leicht seitlich auf seinem Stuhl saß, um sich den Anschein schneidiger Furchtlosigkeit zu geben. »Da schlägt man fünf tot, trinkt ein Glas auf seinen Erfolg, und am nächsten Morgen ist der Rasen schon wieder voller frischer Haufen.«
»Das ist noch ärgerlicher als meine Blase«, erklärte Brint zu allgemeinem Glucksen.
Glokta saugte mit leisem Schmatzen an seinem leeren Zahnfleisch. »Und dann sind da noch die Niederbrenner.«
»Verrückte!«, stieß Hoff hervor. »Diese Frau, diese Richter.«
Die Runde erschauerte vor Abscheu. Ob nun vor Frauen im Allgemeinen oder dieser einen im Besonderen, das war schwer zu sagen.
»Ich hörte, dass ein Fabrikbesitzer auf der Straße nach Keln ermordet aufgefunden wurde.« Gorodets zupfte bei diesen Worten besonders heftig an seinem Bart. »Man hatte ihm ein Pamphlet ins Gesicht genagelt.«
Rucksted platzierte seine großen Fäuste auf dem Tisch. »Und dann war da noch dieser Kerl, der mit tausend Exemplaren des Regelwerks erstickt worden war, das er an seine Angestellten verteilt hatte …«
»Man könnte beinahe meinen, unser Eingreifen hätte die Lage verschlimmert«, bemerkte Orso. Die Erinnerung an Malmer drängte sich ihm auf, wie er in seinem Käfig baumelte, der leicht in der Brise schaukelte. »Vielleicht wäre es Zeit für eine versöhnliche Geste. Einen Mindestlohn vielleicht? Verbesserte Arbeitsbedingungen? Kürzlich hörte ich von einem Feuer in einer Fabrik, bei dem fünfzehn Kinderarbeiter zu Tode …«
»Es wäre Dummheit«, sagte Bayaz, dessen Aufmerksamkeit schon wieder den Gärten galt, »das freie Spiel der Märkte zu behindern.«
»Der Markt dient den Interessen aller«, bekräftigte der Lordkanzler.
»Unerhörter«, skandierte der Kronrichter, »Wohlstand.«
»Die Kinderarbeiter wären zweifelsohne begeistert«, bemerkte Orso.
»Zweifelsohne«, bestätigte Lord Hoff.
»Wären sie nicht verbrannt.«
»Eine Leiter, die nur oben Sprossen hat, ist zu nichts nütze«, erklärte Bayaz.
Orso hatte schon zu einer Entgegnung angesetzt, als ihm Hochkonsul Matstringer zuvorkam. »Und wir müssen uns eines ganzen Füllhorns an Gegenspielern aus Übersee erwehren.« Man konnte sich darauf verlassen, dass der außenpolitische Koordinator der Union Komplexität mit Erkenntnis verwechselte. »Die Gurkhisen mögen ja im Augenblick mit ihren eigenen, schwerwiegenden Problemen beschäftigt sein …«
Bayaz kommentierte das mit einem zufriedenen Grunzen. Ein seltenes Geräusch.
»Aber die Kaiserlichen rasseln an unseren westlichen Grenzen unaufhörlich mit den Säbeln, ermutigen die Bevölkerung Stariklands dazu, in ihrer illoyalen Haltung zu verharren, und die Styrer im Osten werden immer kühner.«
»Sie bauen ihre Marine aus.« Der Lord Admiral raffte sich unter schweren Lidern zu einem Einwurf auf. »Neue Schiffe. Mit Kanonen bestückt. Während unsere in den Häfen verfaulen, weil nicht in sie investiert wird.«
Bayaz kommentierte das mit einem unzufriedenen Grunzen. Ein vertrautes Geräusch.
»Und sie sind im Verborgenen aktiv«, fuhr Matstringer fort, »säen Unfrieden in Westport, stacheln die Ratsherren zur Abspaltung an. Es ist ihnen jetzt sogar gelungen, eine Abstimmung in die Wege zu leiten, die noch in diesem Monat stattfinden soll und dazu führen könnte, dass die Stadt sich tatsächlich von der Union lossagt!«
Die alten Männer übertrafen sich nun in lautstarker, patriotischer Ungehaltenheit. Orso hätte sich am liebsten selbst von der Union abgespalten.
»Illoyalität«, grollte der Kronrichter. »Unfrieden.«
»Verdammte Styrer!«, zischte Rucksted. »Die mauscheln gern im Verborgenen!«
»Das können wir auch«, sagte Glokta auf diese seltsam ruhige Weise, bei der sich Orso unter der mit breiten Tressen geschmückten Uniform sämtliche Härchen aufstellten. »Einige meiner besten Leute arbeiten gerade sehr hart daran, Westports Treue zu gewährleisten.«
»Wenigstens ist die Grenze nach Norden gesichert«, sagte Orso in dem verzweifelten Bemühen, ein wenig Optimismus zu verbreiten.
»Nun ja …«, fuhr ihm der Hochkonsul in seine hoffnungsvolle Parade und erklärte mit geschürzten Lippen: »Politisch war der Norden schon immer ein Pulverfass. Der Hundsmann ist in die Jahre gekommen. Er kränkelt. Niemand kann vorhersagen, wie es mit dem Protektorat weitergehen wird, wenn er stirbt. Lord Gouverneur Brock scheint ein starkes Band mit dem neuen König der Nordmänner geschmiedet zu haben, Stour Dunkelstund …«
»Das kann aber für uns doch nur vorteilhaft sein«, wandte Orso ein.
Die alten Männer tauschten zweifelnde Blicke.
»Es sei denn, ihr Band würde … zu stark werden«, raunte Glokta.
»Der junge Lord Gouverneur ist beliebt«, stimmte Gorodets zu.
»Verdammt«, stieß der Kronrichter hervor. »Beliebt.«
»Gut aussehender Kerl«, bemerkte Brint. »Hat sich außerdem den Ruf eines großen Kriegers erworben.«
»Hat Angland hinter sich. Stour als Verbündeten. Könnte eine Bedrohung sein.«
Rucksted zog die buschigen Augenbrauen mächtig in die Höhe. »Sein Großvater, das sollten wir nicht vergessen, war ein berüchtigter, verdammter Verräter!«
»Ich werde einen Mann ganz bestimmt nicht wegen Taten verurteilen, die sein Großvater verbrochen hat!«, stieß Orso hervor, dessen eigene Großväter beide einen eher zweifelhaften Ruf genossen hatten, um es milde auszudrücken. »Leo dan Brock hat sein Leben riskiert, indem er zu meinen Gunsten ein Duell ausgefochten hat!«
»Die Aufgabe Ihres Geschlossenen Rats«, erinnerte Glokta, »ist es, Bedrohungen vorauszusehen, die Ihrer Majestät gefährlich werden könnten, bevor sie zu Bedrohungen werden.«
»Denn hinterher könnte es zu spät sein«, ergänzte Bayaz.
»Das Volk ist … vom Tod Ihres Vaters erschüttert«, sagte Gorodets. »So jung. So unerwartet.«
»Jung. Unerwartet.«
»Und Sie, Euer Majestät, sind …«
»Verhasst?«, bot Orso an.
Gorodets lächelte nachsichtig. »Nicht einzuschätzen. Und in Zeiten wie diesen sehnen sich die Menschen nach Stabilität.«
»So ist es. Es wäre tatsächlich eine sehr gute Sache, wenn Euer Majestät …«, Lord Hoff räusperte sich, »… heiraten würden?«
Orso schloss die Augen und massierte sie mit Daumen und Zeigefinger. »Muss das sein?« Eine Heirat war das Letzte, worüber er jetzt reden wollte. Savines Nachricht lag noch immer in seiner Nachttischschublade neben dem Bett. Jeden Abend sah er sich die brutalen, kurzen Zeilen wieder an, so wie man immer wieder an einer Narbe herumpulen mochte. Meine Antwort muss Nein lauten. Ich möchte dich bitten, dich nicht mehr mit mir in Verbindung zu setzen. Nie wieder.
Hoff räusperte sich erneut. »Ein neuer König befindet sich stets in einer unsicheren Position.«
»Und auf einen König ohne Erben trifft das in doppeltem Maße zu«, ergänzte Glokta.
»Das Fehlen einer klaren Nachfolge vermittelt den bedrohlichen Eindruck von Unbeständigkeit«, stellte Matstringer fest.
»Vielleicht könnte ich mithilfe Ihrer Majestät, Ihrer Mutter, eine Liste von infrage kommenden Damen aus dem In- und Ausland zusammenstellen?« Hoff räusperte sich jetzt zum dritten Mal. »Eine neue Liste … sollte ich wohl sagen.«
»Von mir aus.« Orso stieß jedes Wort mit schneidender Präzision hervor.
»Dann wäre da noch Fedor dan Wetterlant«, brummte der Kronrichter.
Gloktas ständige Grimasse verzerrte sich noch stärker. »Ich hätte gehofft, diese Angelegenheit erledigen zu können, ohne Seine Majestät damit zu behelligen.«
»Jetzt haben Sie mich schon behelligt«, knurrte Orso. »Fedor dan Wetterlant … habe ich mit dem nicht mal Karten gespielt?«
»Er lebte in Adua, bevor er den Landsitz seiner Familie erbte. Sein Ruf hier in der Stadt war …«
»Fast so schlecht wie meiner?« Orso erinnerte sich jetzt an den Mann. Weiche Gesichtszüge, aber harte Augen. Lächelte zu viel. Genau wie Lord Hoff, der das gerade wieder besonders schmierig unter Beweis stellte.
»Ich wollte verabscheuungswürdig sagen, Euer Majestät. Er wurde ernster Verbrechen angeklagt.«
»Er hat eine Waschfrau vergewaltigt«, berichtete Glokta, »mit tatkräftiger Unterstützung seines Gärtners. Als ihn dann ihr Ehemann zur Verantwortung ziehen wollte, hat er den Mann ermordet, wieder mit Unterstützung des Gärtners. In einer Taverne. Vor siebzehn Zeugen.« Die Emotionslosigkeit der knirschenden Stimme des Erzlektors verursachte Orso noch mehr Übelkeit. »Dann hat er sich etwas zu trinken genehmigt. Der Gärtner hat ihm offenbar eingeschenkt.«
»Verdammte Scheiße«, flüsterte Orso.
»So lautet jedenfalls die Anklage«, spezifizierte Matstringer.
»Nicht einmal Wetterlant bestreitet sie wirklich ernsthaft«, sagte Glokta.
»Seine Mutter schon«, wandte Gorodets ein.
Die alten Männer stöhnten im Chor. »Lady Wetterlant, bei den Schicksalsgöttinnen, was für ein Drachen.«
»Eine. Absolute. Schreckschraube.«
»Nun, ich bin kein Freund von Hinrichtungen«, sagte Orso, »aber ich habe Leute schon für weniger baumeln sehen.«
»Der Gärtner wurde bereits gehenkt«, erklärte Glokta.
»Was für eine Schande«, brummte Brint vor Ironie triefend, »er klang nach einem so charmanten Kerl.«
»Allerdings hat Wetterlant jetzt um den Richtspruch des Königs nachgesucht«, sagte Bruckel.
»Seine Mutter hat es verlangt!«
»Und da er einen Sitz im Offenen Rat hält …«
»… nicht, dass er sich dort auch nur einmal hätte blicken lassen …«
»… hat er das Recht auf einen Prozess vor Vertretern seines Standes. Mit Eurer Majestät als Richter. Das können wir ihm nicht verweigern.«
»Aber wir können es verzögern«, sagte Glokta. »Der Offene Rat versteht sich ja auf wenig Dinge, aber im Verzögern ist er Weltmeister.«
»Verschieben. Vertagen. Zurückstellen. Ich kann ihn einwickeln, in Formalien und Verfahren. Bis er im Gefängnis stirbt.« Der Kronrichter lächelte, als sei das die ideale Lösung.
»Wir verweigern ihm die Anhörung?« Orso fand diese Vorstellung ebenso abstoßend wie das Verbrechen an sich.
»Natürlich nicht«, sagte Bruckel.
»Nein, nein«, sagte Gorodets. »Wir würden ihm nichts verweigern.«
»Wir würden ihm nur niemals etwas geben«, sagte Glokta.
Rucksted nickte. »Meiner Meinung nach sollten weder der verdammte Fedor dan Wetterlant noch seine verdammte Mutter die Möglichkeit bekommen, dem Staat ein Messer an die Kehle zu setzen, nur weil er sich nicht beherrschen konnte.«
»Es wäre schön gewesen, wenn er seine Beherrschung wenigstens nicht vor siebzehn Zeugen verloren hätte«, erklärte Gorodets, und es wurde vereinzelt gelacht.
»Also stoßen wir uns nicht an der Vergewaltigung oder dem Mord«, hakte Orso nach, »sondern nur daran, dass er sich dabei erwischen ließ?«
Hoff warf den anderen Ratsmitgliedern einen verstohlenen Blick zu, als fragte er sich, ob seine Mitstreiter vielleicht anderer Meinung waren. »Nun ja …«
»Wieso höre ich mir seinen Fall nicht einfach an, fälle dann ein Urteil und lege die Angelegenheit irgendwie bei?«
Gloktas Grimasse vertiefte sich noch mehr. »Euer Majestät kann in diesem Fall kein Urteil sprechen, ohne sich höchst ungeschickt auf eine Seite zu schlagen.« Die alten Männer nickten, brummten, rutschten unbehaglich auf den ungemütlichen Stühlen herum. »Wenn Sie Wetterlant für unschuldig befinden, würde das als Vetternwirtschaft und Begünstigung ausgelegt, und das wäre Wasser auf die Mühlen von Verrätern wie den Maschinenstürmern, die dann das gemeine Volk gegen Sie aufhetzen würden.«
»Aber wenn Sie Wetterlant für schuldig befänden …« Gorodets zupfte unbehaglich an seinem Bart, und die alten Männer brummten noch unbehaglicher vor sich hin. »Dann würde der Adel das als Affront werten, als Angriff, als Verrat. Es würde jene stärken, die im Offenen Rat Vorbehalte gegen Sie haben, und das zu einer Zeit, da wir bestrebt sind, die Nachfolge Ihres Vaters möglichst glatt über die Bühne zu bringen.«
Orso rieb sich die wunden Stellen an den Schläfen. »Manchmal hat es den Anschein, dass, egal welche Entscheidung ich in dieser Kammer tätige, zwei gleich schlechte Ergebnisse die Folge wären, sodass man meinen könnte, es sei das Beste, sich gar nicht zu entscheiden!«
Hoff blickte wieder auf die Tischplatte. »Tja …«
»Es ist immer eine schlechte Idee«, erklärte der Erste der Magi, »wenn ein König Partei für eine Seite ergreift.«
Jeder der Anwesenden nickte, als seien sie gerade der größten Weisheit aller Zeiten teilhaftig geworden. Es war ein Wunder, dass sie sich nicht zu stehenden Ovationen erhoben. Orso blieb keinerlei Zweifel daran, an welchem Ende des Tisches in der Weißen Kammer die Macht tatsächlich ruhte. Er erinnerte sich an den Gesichtsausdruck seines Vaters, wenn Bayaz das Wort ergriffen hatte. An die Angst. Dennoch unternahm er einen weiteren Versuch, sich zu einer Entscheidung durchzuringen, die sich zumindest ein bisschen vertretbar anfühlte.
»Gerechtigkeit sollte aber doch geübt werden. Oder nicht? Ganz ohne Zweifel muss doch der Gerechtigkeit Genüge getan werden! Bestimmt! Denn sonst … sonst ist es doch gar keine Gerechtigkeit. Oder?«
Kronrichter Bruckel bleckte die Zähne, als ob er Schmerzen hätte. »Auf dieser Ebene. Euer Majestät. Werden solche Begriffe … dehnbar. Gerechtigkeit darf nicht. Starr wie Eisen sein, sondern … mehr wie Gelee. Sie muss formbar bleiben. Zugunsten wichtigerer Beweggründe.«
»Aber … gerade auf dieser Ebene, auf höchster Ebene, muss die Justiz doch besonders unnachgiebig sein. Es muss doch eine moralische Basis geben! Man kann doch nicht alles … der Zweckmäßigkeit unterordnen?«
Entnervt blickte Hoff zum Ende des Tisches. »Lord Bayaz, vielleicht könnten Sie …«
Der Erste der Magi stieß einen müden Seufzer aus, als er sich vorbeugte, die Hände ineinanderschlang und Orso dann unter schweren Lidern betrachtete. Es war der Seufzer eines altgedienten Schulmeisters, der wieder einmal gerufen wird, um den größten Idioten des Jahrgangs die einfachsten Dinge zu vermitteln.
»Euer Majestät, wir sind nicht hier, um alle Ungerechtigkeiten dieser Welt aus dem Weg zu räumen.«
Orso starrte ihn an. »Wozu denn dann?«
Bayaz machte weder ein lächelndes noch ein grimmiges Gesicht. »Um sicherzustellen, dass wir von ihnen profitieren.«
Superior Lorsen ließ den Brief sinken und warf Vick über den Rand seiner Augengläser einen grimmigen Blick zu. Er sah aus wie jemand, der seit langer Zeit nicht mehr gelächelt hatte. Vielleicht noch nie.
»Seine Eminenz, der Erzlektor, stellt Ihnen ein überwältigendes Zeugnis aus. Er schreibt mir, Sie seien entscheidend daran beteiligt gewesen, den Aufstand in Valbeck niederzuschlagen. Und er denkt offenbar, ich bräuchte Ihre Hilfe.« Lorsen richtete seinen grimmigen Blick nun auf Unselt, der verlegen in der Ecke stand, als ob die Vorstellung, dass er eine Hilfe sein konnte, jeder Vernunft widersprach. Vick war sich noch immer nicht ganz sicher, weshalb sie den Jungen überhaupt mitgebracht hatte. Vielleicht, weil sonst niemand da gewesen wäre.
»Nun, es ist vielleicht nicht so, dass Sie Hilfe bräuchten, Superior«, sagte sie. Selbst Bären, Dachse oder Wespen verteidigten ihr Revier mit weniger Entschlossenheit als ein Superior der Inquisition. »Aber ich muss Ihnen sicher nicht erklären, wie groß der finanzielle, politische und diplomatische Schaden wäre, wenn … wenn Westport sich bei dieser Abstimmung dafür entscheiden würde, die Union zu verlassen.«
»Nein«, erwiderte Lorsen knapp. »Das müssen Sie nicht.« Als Superior von Westport würde er dann arbeitslos.
»Und deshalb dachte Seine Eminenz möglicherweise, meine Hilfe könnte für Sie nützlich sein.«
Lorsen legte den Brief hin, richtete ihn parallel zur Schreibtischkante aus und stand schließlich auf. »Verzeihen Sie, wenn ich meine Zweifel hege, Inquisitorin, aber eine Operation am politischen offenen Herzen einer der größten Städte der Welt ist doch etwas anderes, als einen Streik niederzuschlagen.« Damit öffnete er die Tür zu einer Galerie mit hoher Decke.
»Die Drohungen sind schlimmer und die Bestechungsgelder höher«, sagte Vick und folgte ihm. Unselt schlurfte hinter ihnen her. »Aber davon abgesehen gibt es doch sicherlich viele Übereinstimmungen.«
»Darf ich Ihnen dann Ihre ungebärdige Arbeiterschaft vorstellen: die Ratsherren von Westport.« Damit trat Lorsen an die Balustrade und deutete nach unten.
Unter ihnen, in Westports riesenhaftem Versammlungssaal, der in geometrischen Mustern mit Halbedelsteinen gefliest war, debattierte die Führungsriege der Stadt über die große Frage des Austritts aus der Union. Einige Ratsherren waren aufgestanden, schwenkten die Fäuste oder wedelten mit Papieren. Andere saßen nur da, beobachteten die Geschehnisse mit düsteren Blicken oder hatten den Kopf in die Hände gestützt. Wieder andere überbrüllten sich gegenseitig in mindestens fünf Sprachen, und das hallende Echo ließ unmöglich erkennen, wer gerade sprach – davon, was er sagte, ganz zu schweigen. Manche raunten Kollegen etwas zu oder gähnten, kratzten sich, reckten sich, starrten ins Leere. Eine Gruppe von fünf oder sechs Herren hatte sich zur Teepause in eine Ecke zurückgezogen. Es waren Männer von verschiedenster Gestalt, Größe, Hautfarbe und Kultur. Ein Querschnitt der wild gemischten Bevölkerung der Stadt, die man den Kreuzweg der Welt nannte und die auf einem schmalen Fetzen durstigen Landes zwischen Styrien und dem Süden, zwischen der Union und den Tausendinseln gelegen war.
»Zweihundertdreizehn sind es, nach aktueller Zählung, und jeder hat eine Stimme.« Lorsen stieß das Wort mit erkennbarem Abscheu aus. »Wenn es ums Streiten geht, sind die Bürger von Westport in der ganzen Welt berühmt, und hier fechten ihre unerschrockensten Debattierer ihre hartnäckigsten Debatten aus.« Der Superior blickte zu einer großen Uhr, die auf der gegenüberliegenden Galerie angebracht war. »Heute sind sie schon seit sieben Stunden dabei.«
Vick überraschte das nicht. Die Luft war bereits stickig von dem vielen Atem, der bei den Diskussionen verschwendet worden war. Bei den Schicksalsgöttinnen, sie fand Westport mehr als heiß genug, und das schon im Frühling, aber man hatte ihr erzählt, dass es im Sommer, vor allem nach intensiven Sitzungen, sogar im Innern der Kuppel regnen konnte und die aufgeblasene Sprache der wild debattierenden Ratsherren sozusagen in Gestalt eines nieselnden Tröpfchenschauers wieder auf sie herabfiel.
»Offenbar haben sich die Meinungen da unten ein wenig festgefahren.«
»Ich wünschte, sie wären noch deutlich festgefahrener«, brummte Lorsen. »Vor dreißig Jahren, nach unserem Sieg über die Gurkhisen, hätte man keine fünf Stimmen für den Austritt aus der Union zusammenbekommen. Aber die styrische Fraktion hat in der letzten Zeit viel Boden gutgemacht. Durch die Kriege. Die Schulden. Den Aufstand in Valbeck. Den Tod von König Jezal. Und sein Sohn wird, sagen wir mal, auf dem internationalen Parkett noch nicht so recht ernst genommen. Ohne um den heißen Brei herumzureden …«
»Unser Prestige ist komplett im Eimer«, beendete Vick seinen Satz.
»Wir sind der Union wegen ihrer Militärmacht beigetreten!« Eine wahrhaft mächtige Stimme dröhnte von unten hinauf und setzte sich tatsächlich gegen den allgemeinen Lärm durch. Der Sprecher war kräftig gebaut, mit dunkler Haut und rasiertem Kopf, und er begleitete seine Worte mit seltsam sanften Gesten. »Weil uns das Imperium von Gurkhul aus dem Süden bedrohte und wir starke Verbündete brauchten, um uns ihrer zu erwehren. Aber diese Verbindung ist uns teuer zu stehen gekommen! Steuergelder in Höhe vieler Millionen Waag, und der Preis steigt beständig!«
Zustimmung schwebte als hallendes Gemurmel zur Galerie hinauf.
»Wer ist der Mann mit der lauten Stimme?«, fragte Vick.
»Solumeo Schudra«, gab Lorsen bitter zurück. »Der Anführer der prostyrischen Fraktion und ein kapitaler Splitter in meinem Hintern. Halb Sipaneser, halb Kadirer. Ein passender Vertreter für diesen kulturellen Schmelztiegel.«
Vick wusste das natürlich alles bereits. Sie legte stets viel Wert darauf, jeden Auftrag gut informiert anzutreten. Aber sie zog es vor, ihr Wissen, wenn möglich, für sich zu behalten und lieber dafür zu sorgen, dass sich andere große Experten profilieren konnten.
»In den vierzig Jahren seit unserem Beitritt zur Union hat sich die Welt völlig verändert und ist heute nicht mehr wiederzuerkennen!«, bellte Schudra. »Das Imperium von Gurkhul ist zerfallen, während Styrien sich von einem Flickenteppich aus einander bekriegenden Stadtstaaten zu einer starken Nation unter einem starken König gemausert hat. Styrien hat die Union besiegt, und zwar in nicht nur einem, nicht nur zweien, sondern in drei Kriegen! Kriege, die geführt wurden, um Königin Terez’ Eitelkeit und Ehrgeiz zu befriedigen. Kriege, in die man uns hineingezogen hat und für die wir einen hohen Preis in Blut und Silber bezahlt haben.«
»Er spricht gut«, bemerkte Unselt leise.
»Sehr gut«, stimmte Vick ihm zu. »Er hat mich schon fast so weit, dass ich Styrien beitreten will.«
»Die Union ist eine schwindende Macht!«, dröhnte Schudra jetzt. »Styrien hingegen ist unser natürlicher Verbündeter. Großherzogin Monzcarro Murcatto streckt uns ihre Hand in Freundschaft entgegen. Wir sollten sie ergreifen, solange wir noch können. Meine Freunde, ich dränge Sie alle, mit mir für den Austritt aus der Union zu stimmen!«
Laute Buhrufe, die aber von Beifall übertönt wurden. Lorsen schüttelte angeekelt den Kopf. »Wenn das hier Adua wäre, könnten wir dort unten hineinmarschieren, den Kerl von seinem Sitz schleifen, ein Geständnis aus ihm herauspressen und ihn mit der nächsten Flut nach Angland verschiffen.«
»Aber wir sind weit weg von Adua«, brummte Vick.
»Beide Seiten befürchten, dass der offene Einsatz von Gewalt die Mehrheit gegen sie aufbringen würde, aber die Dinge werden sich ändern, wenn die Abstimmung näher rückt. Die Positionen verhärten sich. Die Mitte schrumpft. Murcattos Wisperministerin Schylo Vitari hat mit einer umfangreichen Kampagne aus Bestechungen und Bedrohungen, Erpressungen und Nötigung begonnen – die Flugblätter segeln säckeweise von den Dächern, und die gemalten Parolen tauchen schneller an den Wänden auf, als wir sie abschrubben können.«
»Ich habe gehört, Kasamir dan Schenkt sei in Westport«, sagte Vick. »Und Murcatto hätte ihm hunderttausend Waag bezahlt, um das Ergebnis zu beeinflussen. Mit allen Mitteln.«
»Mir waren … Gerüchte zu Ohren gekommen.«
Sie bekam den Eindruck, dass Lorsen dieselben Gerüchte gehört hatte wie sie, atemlos geflüsterte Geschichten mit jeder Menge blutrünstiger Einzelheiten. Dass Schenkt Fähigkeiten besaß, die weit über die Kräfte normaler Sterblicher hinausgingen und ins Magische hineinspielten. Dass er ein Hexenmeister war, der sich der Verdammnis ergeben hatte, indem er Menschenfleisch verzehrte. Hier in Westport, wo stündlich zum Gebet gerufen wurde und selbsternannte Propheten an jeder Ecke ihre Weisheiten kundtaten, waren solche Vorstellungen irgendwie weniger leicht beiseitezuschieben als im vernunftorientierten Adua.
»Dürfte ich Ihnen einige Praktikale mitgeben?« Lorsen warf Unselt einen bezeichnenden Blick zu. Zugegeben, der Junge sah aus, als würde ihn schon eine steife Brise umpusten, von einem menschenfressenden Magier ganz zu schweigen. »Falls Styriens berüchtigtster Assassine tatsächlich hier herumschleicht, dann sollten Sie besser gut geschützt sein.«
»Eine bewaffnete Eskorte würde das falsche Zeichen setzen.« Und ohnehin nichts nützen, falls die Gerüchte stimmten. »Ich habe den Auftrag, zu überreden, nicht einzuschüchtern.«
Lorsen wirkte nicht gerade überzeugt. »Tatsächlich?«
»So soll es jedenfalls aussehen.«
»Es würde wohl kaum etwas schlimmer aussehen als der vorzeitige Tod der Repräsentantin Seiner Eminenz.«
»Ich habe nicht die Absicht, demnächst in die Grube zu fahren, das können Sie mir glauben.«
»Das tun die wenigsten. Und dennoch verschlingt uns das Grab eines Tages alle.«
»Wie sehen Ihre Pläne aus, Superior?«
Lorsen holte seufzend Luft. »Ich habe alle Hände damit zu tun, die uns ergebenen Ratsherren zu schützen. Die Wahl findet in neunzehn Tagen statt, und wir können es uns nicht leisten, auch nur eine Stimme zu verlieren.«
»Es würde die Sache leichter machen, wenn ein paar Stimmen der Gegenseite verschwinden würden.«
»Immer vorausgesetzt, dass es geschickt angefangen wird. Wenn ihre Leute tot aufgefunden werden, wird das die Ressentiments gegen uns mit Sicherheit verstärken. Das aktuelle Gleichgewicht ist sehr empfindlich.« Lorsen stützte die geballten Fäuste auf das Geländer, während unter ihnen Solumeo Schudra weiter davon schwadronierte, welche Vorteile es bringen würde, sich in Styriens offen ausgebreitete Arme zu stürzen. »Und Schudra hat sich als höchst überzeugend erwiesen. Er ist hier äußerst beliebt. Ich warne Sie, Inquisitorin – legen Sie nicht auf ihn an.«
»Bei allem Respekt, der Erzlektor hat mich ausgesandt, damit ich die Dinge erledige, die Sie nicht tun können. Ich erhalte meine Befehle allein von ihm.«
Lorsen warf ihr einen langen, eisigen Blick zu. In der Regel mochte er genügen, um Menschen, die an Westports warmes Klima gewöhnt waren, das Blut gefrieren zu lassen, aber Vick hatte in Anglands Winter in einer halb gefluteten Mine gearbeitet. Es brauchte eine Menge, um ihr einen Schauer über den Rücken zu jagen. »Dann bitte ich Sie.« Er betonte sorgfältig jedes Wort. »Legen Sie nicht auf ihn an.«
Unter ihnen hatte Schudra seinen letzten, donnernden Redebeitrag beendet und erntete seitens der Männer, die ihn umstanden, lärmenden Applaus; noch lautere Buhrufe kamen von der anderen Seite. Man sah geballte, hochgereckte Fäuste, Papiere flogen in die Luft, grollende Beleidigungen wurden ausgestoßen. Neunzehn Tage würde diese Schmierenkomödie noch so weitergehen, während Schylo Vitari zweifelsohne alles daransetzte, das Ergebnis zu beeinflussen. Wer konnte sagen, wie es ausfallen würde?
»Seine Eminenz hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen, dass Westport in der Union bleibt.« Sie wandte sich zur Tür, und Unselt folgte ihr. »Um jeden Preis.«