Die große Biografie des berühmten deutschen Mystikers
Er ist der Ahnherr der Selbsthilfephilosophie, der Guru der New-Age-Bewegung, die Millionen von Anhängern hat: Meister Eckhart, Dominikaner, Mystiker und Philosoph. Doch wer war der Mann hinter den Lehren, die nach sieben Jahrhunderten noch Menschen begeistern? Wie sind seine Ideen entstanden? Der Mönch aus Thüringen zeigte damals, dass nur der persönliche Weg zu Gott zum Seelenheil führt, und predigte, dass diese spirituelle Erfahrung allen möglich war, die die innere Haltung des Loslassens (»Gelâzenheit«) einnahmen. Dieses verblüffend moderne Denken brachte den Mönch Eckhart in Konflikt mit der Kirche, die sich von der Sprengkraft seiner Ideen herausgefordert fühlte. Der Historiker Joel F. Harrington hat sich auf die Spuren des bedeutenden Mystikers begeben und lässt in seiner Biografie eine der faszinierendsten Figuren des Mittelalters auferstehen.
Joel F. Harrington ist Professor für Europäische Geschichte an der Vanderbilt University. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Sozialgeschichte, vor allem zur Zeit der Reformation und der Frühen Neuzeit in Deutschland. Für seine Forschung hat er zahlreiche Förderungen erhalten, darunter von der Fulbright-Hayes Foundation und der John Simon Guggenheim Foundation. Harrington hat in Nordamerika und Europa gelehrt und war u. a. Fellow der American Academy in Berlin sowie Gastprofessor in Cambridge und an der Universität Erlangen-Nürnberg. Harrington ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter The Unwanted Child (2009), ein preisgekröntes Buch über Findelkinder, Waisen und jugendliche Kriminelle in der frühen Neuzeit. 2014 erschien Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert.
»Meisterhaft ausgeführt.« Chicago Tribune
»Eindrucksvoll.« Publishers Weekly
»Unglaublich gut recherchiert und flüssig geschrieben.« Kirkus Review
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Joel F. Harrington
Meister
Eckhart
Der Mönch, der die Kirche
herausforderte und seinen
eigenen Weg zu Gott fand
Aus dem Englischen von
Norbert Juraschitz und Andreas Thomsen
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
Dangerous Mystic: Meister Eckhart’s Path to the God Within bei Penguin Press.
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Copyright © 2018 by Joel Harrington
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Siedler Verlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Manuela Knetsch
Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München
Umschlagabbildungen: © Fine Art Images/Heritage Images/
Getty Images; © nicoolay/Getty Images
Karten: Gene Thorp
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-21103-5
V001
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Für Beth
Inhalt
Prolog
TEIL I
Die Welt loslassen
Der Mönch
1. Das edle Herz
Der junge Eckhart verinnerlicht das ritterliche Ideal einer höheren Liebe
2. Heldenhaftes Christentum
Der junge Eckhart sucht reine Spiritualität in der spätmittelalterlichen Welt der Religion
3. Die dominikanische Art und Weise
Eckhart tritt in den Priesterorden in Erfurt ein
4. Die rechte Geisteshaltung
Prior Eckhart lehrt junge Mönche das innere Wesen wahrer Religion
TEIL II
Gott loslassen
Der Gelehrte
5. Die Lehre von Gott
Eckhart beginnt ein Studium der Theologie an der Universität von Paris
6. Meister der Lehre
Eckhart wird ein geschickter Scholastiker
7. Den unerkennbaren Gott erkennen
Eckhart übernimmt die negative Theologie und intuitives Wissen
TEIL III
Sich selbst loslassen
Der Prediger
8. Verderbte Frauen
Eckhart begegnet den Nonnen und Beginen von Straßburg
9. Meister des Lebens
Eckhart passt seine Lehren an ein breites Publikum an
10. Der weglose Weg
Eckhart predigt über das Erreichen einer Einheit mit Gott
11. Leben ohne Warum
Eckhart predigt über das Leben und die Moral nach der Einheit mit Gott
TEIL IV
An der Religion festhalten
Die geistige Ikone
12. Teufelssaat
Eckhart ringt mit den Inquisitoren in Straßburg und Avignon
13. Der Mann, vor dem Gott nichts verbarg
Eckharts Ruf und Vermächtnis bis heute
Epilog
Dank
Empfohlene Literatur
Wichtige Namen und Begriffe
Abkürzungen
Anmerkungen
Bildnachweis
Manche Menschen suchen Wissen um des Wissens willen; das ist Neugier. Andere suchen nach Wissen, um von anderen geschätzt zu werden; das ist Eitelkeit. Es gibt Menschen, die wissen wollen, um zu erbauen, und das ist [ein Ausdruck von] Liebe.
Bernhard von Clairvaux (1090–1153)1
Prolog
Der Gegensatz zwischen dem gegebenen Rahmen und der Botschaft hätte kaum größer sein können. Man schrieb das Jahr 1318; der Ort war das Liebfrauenmünster in der deutschen Stadt Straßburg, der Anlass eine gewöhnliche Sonntagmorgenmesse.2 Der Mann, der in Kürze sprechen sollte, war Eckhart von Hochheim, der Nachwelt besser bekannt als Meister Eckhart. Rund 300 Männer und Frauen saßen schweigend auf den Holzbänken. Einige murmelten lateinische Gebete, während sie die erst kürzlich erfundenen Gebetsperlen, den sogenannten Rosenkranz, durch die Finger gleiten ließen. Die meisten warteten still, ihr Blick ruhte auf dem Priester mittleren Alters, der mit ernster Miene links vom Altar saß. Sein Haupt war nach der üblichen Tonsur der Mönchsorden rasiert, der Mann selbst auffällig gekleidet – er trug die bestickten, grünen Gewänder der liturgischen Jahreszeit.
Während der langen Pause, die nach der Schriftlesung folgte und der Besinnung dienen sollte, ließen wohl etliche Mitglieder der Gemeinde ihren Blick über die Wunder der prächtigen Kathedrale schweifen, von denen sie umgeben waren. Fast ein Jahrhundert lang war die erste Kirche, die man in einem Stil errichtet hatte, den man später romanisch nennen sollte, nach und nach in eine Kirche des »französischen Stils« umgebaut worden, der heutigen Gotik. Außen liegende Streben und andere bautechnische Wunderdinge hatten es den Erbauern der Kathedrale ermöglicht, zu hohen Bögen und dünnen, weitgehend als Schmuck dienenden Säulen überzugehen, sodass der Innenraum der Kirche gleichsam steil und dramatisch aufwärts, zu Gott hin, zu streben schien. Hell gefärbte Buntglasfenster erzählten Geschichten von Heiligen und Märtyrern und warfen regenbogenfarbene Strahlen des Morgenlichtes auf die Gemeinde. Weihrauchschwaden von der Eröffnungsprozession der Messe schwebten im Sonnenschein und erfüllten die Luft mit ihrem mild-süßlichen, jenseitigen Duft.
Manche Mitglieder der Gemeinde mochten, während sie noch darauf warteten, dass der Zelebrant das Wort an sie richtete, die Wandverkleidungen und Plastiken an den Seiten des Kirchenschiffs begutachtet haben, die ebenfalls an heilige Vorgänger erinnerten. Die bekannteste darunter war die »Liebe Frau«, die heilige Jungfrau Maria und Schutzherrin der Kathedrale, doch keineswegs alle Bilder spendeten Trost. Viele stellten schreckliche Todesqualen dar, die im Dienst des Herrn erduldet worden waren, allen voran das riesige Kruzifix, das über dem Hauptaltar hing. Eine Säule – der sogenannte Engelspfeiler – ermahnte die Versammelten an ihr eigenes bevorstehendes Ableben und an ihr Schicksal im Jenseits. Übergroße Figuren der vier Evangelisten schmückten die Säule, gekrönt von vier Engeln, welche die Posaunen des Jüngsten Gerichts bliesen. Darüber wiederum sah man drei Engel und einen leidenden Jesus, der bereit war, über die verstorbenen Seelen zu urteilen. Im Gegensatz zu diesem beunruhigenden Bild glänzte der Altar vor verzierten Reliquienschreinen, die jeweils einen Knochensplitter oder einen auf wundersame Weise erhaltenen Körperteil eines verehrten Heiligen zur Schau stellten – ein Anblick, der, so grausig er nach heutigen Standards auch sein mag, für Christen des Mittelalters eine unfehlbare Aura der Geborgenheit und Heiligkeit ausstrahlte.
Detail des Engelspfeilers im Südquerhaus des Straßburger Liebfrauenmünsters. Die Engel blasen die Posaunen, die das Jüngste Gericht der Lebenden und der Toten ankündigen – und damit das endgültige Schicksal der ewigen Belohnung oder Strafe für jede Seele.
Schließlich erhob sich Meister Eckhart. Alle Augen wandten sich dem Priester zu, während er gemessenen Schrittes die Stufen zur Kanzel hochstieg. Für die meisten Menschen in der Gemeinde war er ein Fremder, ein eigens eingeladener Gast, aber nahezu alle Anwesenden kannten seinen bemerkenswerten Ruf. Der strikt im geistlichen Orden der Prediger – oder Dominikaner – geschulte Priester studierte bereits seit Jahrzehnten die Bibel und die Theologie und hatte sogar schon zwei Mal an der Universität von Paris gelehrt, der angesehensten theologischen Fakultät der christlichen Welt. Er war unbestreitbar ein überaus gebildeter Mann. Aber Eckhart war auch für seine verzaubernde Redekunst bekannt. Er galt als jemand, der die jahrhundertealte Weisheit selbst dem einfachsten Zuhörer vermitteln konnte. Mit seinem überaus einnehmenden Wesen war der leicht untersetzte Mönch laut seinen Bewunderern imstande, die wahren Frommen unter ihnen zu einer unmittelbaren, persönlichen Erfahrung Gottes selbst zu leiten.
Der Bibeltext, der als Ausgangsbasis für die Predigt diente, stammte aus dem Buch der Weisheit (18,14–15): »Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom Königsthron herab.«3 Nach der Übersetzung des Verses aus dem Lateinischen ins Deutsche, der Sprache seiner Zuhörer, referierte der Prediger in der Umgangssprache über die Geburt des Wortes – eine beliebte Metapher für das Erscheinen Jesu auf Erden. Aber Eckhart sprach nicht von Eseln, Ställen, Hirten oder Engeln. Die Geburt, die dieser Prediger beschrieb, war die »ewige Geburt«, die Gegenwart Gottes auf Erden, nicht nur in der Person des Jesus von Nazareth oder im geweihten Brot und Wein der Eucharistie, sondern als greifbare Präsenz, die in die Seele eines jeden Gläubigen einzog, der ausreichend vorbereitet war. Man brauche gar nicht den Priester, um Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu zu verwandeln, erklärte er. Man müsse weder ein Mönch noch eine Nonne oder auch nur ein gebildeter Mensch sein. Nein, betonte Eckhart, jeder, der geistig bereit sei, könne die Geburt Gottes direkt in seiner eigenen Seele erleben.
Wie kann das sein?, dürften sich die meisten Zuhörer gefragt haben. Soweit sie wussten, waren seit den Tagen des Heilands nur sehr wenige heilige Menschen mit echten Visionen oder anderen direkten Begegnungen mit Gott gesegnet worden. Aber Eckhart betonte nachdrücklich: Die authentische Erfahrung des Göttlichen, die er beschrieb, hänge nicht von Erscheinungen, besonderen Kräften oder außergewöhnlichen Taten der Frömmigkeit ab. Sie sei nicht an bestimmte heilige Orte oder Rituale gebunden. Vielmehr erfordere die »ewige Geburt« eine entsprechende Geisteshaltung, eine Seele, die gelernt habe, von allen weltlichen Dingen, allen Wünschen und vorgefassten Meinungen, sogar vom Bild Gottes selbst loszulassen. »Je mehr du alle deine Kräfte zusammenziehen und alle Dinge und ihre Bilder vergessen kannst, die du je in dich gezogen hast, und je mehr du dich von den Geschöpfen und ihren Bildern entfernst, um so näher bist du diesem und um so empfänglicher [dafür].« Dann werde, so Eckhart, »mitten im Schweigen« Gott in ihre Seelen einziehen.4
Nach mehr als 20 Minuten kam der Prediger allmählich zum Schluss. »Der Sohn des himmlischen Vaters«, wiederholte er, »wird nicht allein in dieser Finsternis geboren, die ›sein Eigen‹ ist. Vielmehr: du wirst auch dort als Kind desselben himmlischen Vaters geboren und nicht als eines anderen [Vaters], und Er gibt [auch] dir diese Macht.« Der Schlüssel liege darin, »dass du dich deiner selbst beraubst und all dessen, was äußerlich ist, das gibt es dir in der Wahrheit. Und in der Wahrheit«, fuhr er fort, »glaube ich das und bin dessen sicher, dass dieser Mensch, der darin recht stünde, niemals mehr von Gott geschieden werden könnte, niemals, in keiner Weise. Ich spreche, er kann in keiner Weise in Todsünde fallen […] [solche Menschen] können keine lässliche Sünde begehen oder willentlich an sich selber noch auch an anderen Leuten zulassen, wo sie es verhindern können.« Der Prediger ließ den Blick über das Publikum schweifen. »In diese Geburt helfe uns Gott, der jetzt als Mensch geboren ist, dass wir schwache Menschen in ihm auf göttliche Weise geboren werden. Amen.«5 Er wandte sich um, schritt die Kanzelstufen hinab und begab sich an seinen Platz neben dem Altar. Die Kirche blieb von tiefer Stille erfüllt.
Diese Predigt war ganz anders als all das, was die Leute bisher innerhalb der Mauern des Münsters gehört hatten. Nach 40 Jahren der Kontemplation und des Studiums nutzte der geschätzte Mönch und Theologe seine Berufung in diese wichtige Stadt, um dem einfachen Volk seine spirituelle Weltanschauung zu predigen. Schon allein der Umstand, auf diese Weise zu gewöhnlichen Frauen und Männern über »höhere Dinge« zu sprechen, war bemerkenswert – ein Unterfangen, das von den meisten Priestern und Gelehrten jener Zeit höhnisch belächelt wurde. Noch provokativer war jedoch die radikale Botschaft, die Eckhart übermittelte. Auch wenn er die äußeren Formen der Frömmigkeit im unmittelbaren Umfeld nicht schlecht machte – immerhin war er gerade dabei, eine Messe zu feiern –, war Eckharts Fokus auf das Innere, auf das Denken gerichtet, höchst ungewöhnlich und für viele Zuhörer womöglich sogar beunruhigend. Die Kirche, die sie kannten, predigte, dass das Heil eines jeden Menschen vom Vollbringen guter Taten und von reuevollen Handlungen der Buße abhänge – doch in Eckharts Lehre fehlten diese Dogmen völlig. In der Kirche, die sie kannten, drehte sich alles um die Verehrung der Heiligen und die Verabreichung der Sakramente – aber diese spielten in der von Eckhart beschriebenen inneren Selbst-Transzendenz keine nach außen ersichtliche Rolle. Die Kirche, die sie kannten, ging davon aus, dass Mönche, Nonnen und andere kontemplative Menschen Gott näher seien – aber Eckhart predigte, dass die direkte Erfahrung Gottes für jeden wahren Suchenden, unabhängig von seinem sozialen oder religiösen Status möglich sei. Und, was noch erstaunlicher war, er schien zu behaupten, dass der Effekt dieser göttlichen Einheit von Dauer sei, ja, dass er dem Gläubigen, der sie erlebte, einen ewigen Zustand der Schuldlosigkeit und der Glückseligkeit garantiere.
Das mag den Gemeindemitgliedern an jenem Tag wie eine inspirierende Neuigkeit vorgekommen sein, doch hatte sie nichts mit all jenen Beschreibungen des Heils zu tun, die sie in ihrem Leben bisher gehört hatten. Obwohl Eckhart selbst der Meinung war, dass seine Lehre mit denen der Kirche übereinstimme, teilten andere in dieser Einrichtung seine Auffassung nicht. In den folgenden Jahren sollte dieser studierte Mönch und begnadete Prediger schließlich erleben, dass ein großer Teil seiner Theologie von einer päpstlichen Inquisition verurteilt wurde, dass seine Lehren offiziell unterdrückt und seine Anhänger zerstreut wurden.
Überspringen wir sieben Jahrhunderte, so präsentiert sich uns Meister Eckhart – nach vielen Jahrhunderten in relativer Vergessenheit – als eine Art spirituelle Berühmtheit. Millionen römisch-katholischer und anderer Christen reklamieren den rehabilitierten Prediger für sich, ganz zu schweigen von vielen Zen-Buddhisten, Sufi-Muslimen, Advaita-Vedanta-Hindus, jüdischen Kabbalisten und einer bunten Palette anderer Sucher, die sich selbst als spirituell, aber nicht als religiös bezeichnen. Sogar viele eingeschworene Atheisten wie Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre haben die spekulative Philosophie des Meisters bewundert und dazu beigetragen, seine Erkenntnisse unter ihren eigenen Schülergenerationen zu verbreiten. Die Komponisten John Cage und John Adams haben musikalische Werke verfasst, die von den Lehren Meister Eckharts inspiriert sind. Das Internet wimmelt geradezu von Zitaten, die Eckhart zugeschrieben werden (darunter etliche zweifelhafte), und von Websites, die sich mit seinen Lehren befassen. Jährlich erscheinen mehr als hundert Publikationen über sein Leben und seine Lehre (Blogs nicht mitgezählt). Außerdem gibt es inzwischen drei internationale Meister-Eckhart-Gesellschaften sowie zwei wissenschaftliche Zeitschriften, die sich dem einst verfemten Mönch widmen.
In den Vereinigten Staaten verdanken Meister Eckharts Werke ihre derzeitige Popularität zum großen Teil dessen Namensvetter Eckhart (geboren Ulrich) Tolle, einem spirituellen Lehrer und Autor, dessen Anschauungen die Lehren des mittelalterlichen Mönchs mit einer eklektizistischen Mischung zeitgenössischer östlicher und New-Age-Konzepte verweben. Er wolle seine Leser darauf hinweisen, schreibt Tolle, »dass es in Essenz immer nur eine [spirituelle] Lehre gibt und gegeben hat, obwohl sie in mehreren Formen erscheint.«6 Diese eine Lehre, behauptet Tolle, sei nirgendwo besser zusammengefasst als in den Erkenntnissen des Meister Eckhart, dessen Kernbegriffe Tolles eigenes Glaubenssystem prägen. Insbesondere durch die massiv einflussreiche Werbung im Rahmen von Oprah Winfreys Oprah’s Book Club hielten sich die Bücher The Power of Now (1997; deutsch: Jetzt! Die Kraft der Gegenwart, 2000) und A New Earth (2005; deutsch: Eine neue Erde, 2005) des modernen Eckharts monatelang auf der Bestsellerliste der New York Times und sind zusammen in 33 Sprachen übersetzt worden. Weltweit wurden von den beiden Titeln über zehn Millionen Exemplare verkauft. Und Tolle ist keineswegs der Einzige. Andere zeitgenössische spirituelle Autoren – aus einer breiten Palette an Traditionen – bedienen sich vergleichbar umfassend der unzähligen Predigten und philosophischen Schriften des Meisters.
Was genau sehen all diese Leute in den Worten des mittelalterlichen Weisen? Der häufigste gemeinsame Nenner ist allem Anschein nach der Reiz von Eckharts revolutionärer Methode des direkten Zugangs zu einer ultimativen Realität (alias Gott) – ein zutiefst subjektiver Ansatz, der zugleich intuitiv und pragmatisch, philosophisch und doch nicht rational, vor allem aber allgemein zugänglich ist. Viele moderne christliche Autoren wie der amerikanische Katholik Richard Rohr – der Eckhart einen »Mystiker par excellence« nennt – betrachten seine Lehren als Teil einer langen und alten christlichen Tradition der Kontemplation.7 Aber auch wenn Eckharts Weg religiösen Riten oder den kirchlichen Behörden niemals widerspricht oder sie gar verunglimpft, so stützt er sich doch nicht auf sie. Deshalb übt er auf Individuen und Gruppen, die christliche Vorstellungen von Gott und von der Seele ablehnen, eine ebenso große Anziehungskraft aus. Zum Beispiel achten Buddhisten und Existenzialisten die Unterscheidung des Meisters zwischen dem künstlichen »Ich« oder »falschen Selbst« – der konstruierten individuellen Identität eines jeden Menschen – und dem authentischen Selbst, dem gemeinsamen Wesen, das uns allen eigen ist. Gleichzeitig ist Eckhart mit seinem Plädoyer für Meditation und Achtsamkeit der Beliebtheit dieser beiden Praktiken bei Gläubigen und einer stetig wachsenden Zahl von New-Age-Suchenden, Agnostikern und erklärten Atheisten, die unter Religionszugehörigkeit »keine« eintragen, um sieben Jahrhunderte voraus. Der zu Lebzeiten marginalisierte Meister Eckhart scheint in Wirklichkeit für unsere Zeit geschaffen, ein Zeitalter mit einem Hang zu Spiritualität, die maßgeschneidert, erfahrbar und nicht von Dogmen überladen ist.
Doch bei unserem Eifer, diesen »vergessenen Ketzer« zu begrüßen, in seiner Lehre die Erfüllung der eigenen Bedürfnisse zu finden und ihn für unsere eigenen Zwecke zu vereinnahmen, besteht die Gefahr, den historischen Menschen und sein Denken erheblich zu verzerren. Das Etikett »Mystiker« etwa – ein im 17. Jahrhundert erfundener Begriff – ruft die Vorstellung eines zurückgezogen lebenden, dem Jenseits zugewandten Weisen hervor, der in den Fängen des göttlichen Rausches gefangen ist. Meister Eckhart dagegen war kein Einsiedler und schrieb nie von besonderen Visionen, wundersamen Ereignissen oder ekstatischen physischen Erlebnissen. In Wahrheit lebte er als ein in die Betriebsamkeit der äußeren Welt eingebundener Mensch, als weitgereister Prediger, Universitätsprofessor, Beichtvater, Verwalter und Diplomat. Er betrachtete sich an erster Stelle als dominikanischer Mönch, der sich der Verbreitung des Evangeliums verschrieben hatte, und erst an zweiter Stelle als religiöser Philosoph, als Gelehrter, der entschlossen war, sämtliche Formen des Wissens – christliche und heidnische, intuitive und wissenschaftliche, allgemeine und persönliche – zusammenzuführen und sie zu einem kohärenten, umfassenden Ganzen zu versammeln, das zurück zu Gott führt.8
Die Einheit mit Gott, die er predigte, erforderte in Wirklichkeit nicht das Aussetzen des rationalen Denkens, geschweige denn, dass sie irgendwelche individuellen Kräfte mit sich brächte. Im Gegenteil. Eben jene allgemeine Zugänglichkeit der von ihm beschriebenen Erfahrung machte ihn populär unter seinen Zuhörern und zugleich gefährlich für seine Widersacher im Klerus. Die innere Wandlung selbst, räumte er ein, sei mit Worten schwer zu beschreiben und erscheine deshalb dem menschlichen Denken »mysteriös«. Doch das Erreichen dieses Punktes war eine klare Angelegenheit der Intention und der Haltung, ein von Eckhart praktisch beschriebener Prozess. Und die »Gottesgeburt« in der Seele brachte, sobald sie einmal erlangt war, unweigerlich ein Leben hervor, das anderen gewidmet war, und keinen Rückzug von der Welt. Wenn Meister Eckhart ein Mystiker im heutigen Sinn des Wortes war, so war er ein zutiefst egalitärer und bodenständiger und hatte mit Obskurantismus überhaupt nichts am Hut.
Ganz ähnlich ignoriert das Eckhart-Bild eines missverstandenen Visionärs, eines Mannes, der sich in unserer fortschrittlichen Ära eher zu Hause gefühlt hätte als in seiner eigenen engstirnigen Zeit, die Vielfalt und spirituelle Dynamik der mittelalterlichen europäischen Gesellschaft. Tatsächlich scharte Meister Eckhart zu Lebzeiten eine beträchtliche Anhängerschar um sich – ein eindeutiger Beweis dafür, dass er nicht der einsame, missachtete und seiner Zeit vorausdenkende Mensch war, für den man ihn vielleicht halten könnte. In Wirklichkeit teilten im 14. Jahrhundert viele Menschen seinen Wunsch nach einer direkten Erfahrung des Göttlichen in ihrem Leben – über die Erfahrung hinaus, welche die herkömmlichen religiösen Praktiken anboten. Gewiss liefen einfache Christen zu Tausenden zusammen, um seine Predigten zu hören. Aber viele seiner gelehrten Kollegen teilten sein radikal neues Bild von »Gott« und »Himmel« und auch seinen Fokus auf die Göttlichkeit in jedem Menschen, etwas, das Eckhart den »göttlichen Funken« nannte. Was ihn am stärksten von anderen Theologen seiner Zeit unterschied, war seine Bereitschaft, die Lehre der Universitäten auf die Kanzel zu bringen und eine praktische Form des Mystizismus zu lehren, die allen mit reinen Absichten und Haltung offen stand. Die Tatsache, dass später eine päpstliche Kommission seine Lehren zum Teil verdammte, sollte nicht als Beweis dafür herhalten, dass alle oder auch nur die meisten seiner Zeitgenossen Eckharts Herangehensweise an Gott ablehnten.
Tatsächlich entdecken wir, wenn wir unsere modernen falschen Vorstellungen über das mittelalterliche Christentum ablegen, eine überraschend dynamische Phase in der westlichen Geschichte. Eine Phase, in der eine Vielzahl an neuen Ideen und Praktiken unter der Bevölkerung kursierte, die nach bedeutsamen spirituellen Erfahrungen dürstete. Wäre die Geschichte womöglich anders verlaufen, wenn Eckharts Lehren nicht von einer kirchlichen, die spirituelle Anarchie fürchtenden Hierarchie unterdrückt worden wären? Wenn die wenigen betroffenen Kirchenbehörden Eckharts Lehren übernommen (oder zumindest nicht verdammt) hätten, hätte dann ein großer Teil des späteren Missbrauchswesens vermieden werden können, das zur protestantischen Reformation führten? Mit dieser Frage erörtern wir einen verborgenen Wendepunkt und eine mögliche alternative Weltgeschichte. Die meisten Aspekte der Lehren Eckharts sind genau genommen sowohl mit der katholischen als auch mit der späteren protestantischen Glaubenslehre absolut vereinbar. Wie sähe die christliche Welt heute aus, wenn die Reformation selbst einer vorüberziehenden Brise statt eines Wirbelwindes entsprochen hätte?
Es ist ganz offensichtlich ebenso heikel, den Mann aus seiner Zeit herauszulösen, wie seine Lehren von dem Menschen selbst zu trennen. Ein anachronistischer Eckhart ist ein verzerrter und in die Irre führender Eckhart, so persönlich befriedigend manche Erfahrungen auch sein mögen. Ehe wir versuchen, seine Ideen an unsere Bedürfnisse anzupassen, müssen wir eine ehrliche Anstrengung unternehmen, den Autor im Kontext seines eigenen Lebens und seiner Welt zu verstehen.9 Die meisten gebildeten Leute – einschließlich jener, die sich zu seinen Bewunderern zählen – wissen sehr wenig über den Menschen Eckhart selbst. Bis heute wird der Mann, der häufig als »einflussreichster Mystiker der christlichen Geschichte« bezeichnet wird, hauptsächlich von Theologen, Philosophen und deutschen Literaturwissenschaftlern kritisch erforscht. Diese Gelehrten haben eine reichhaltige, aber oftmals abschreckende Forschungsliteratur hervorgebracht, die sich überwiegend – und häufig in einer überaus anspruchsvollen Sprache – auf Eckharts Lehren konzentriert. Unter populärwissenschaftlichen Autoren werden das gesellschaftliche Umfeld und die biografischen Aspekte des verehrten Lehrers sogar noch kürzer abgehandelt, sodass Eckhart selbst zu einer schattenhaften und ätherischen Figur degradiert wird, die zu rätselhaften Erklärungen wie der folgenden neigt: »Das Auge, in dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, darin mich Gott sieht.«10 Ohne historischen Kontext klingt der Meister nicht wie ein gelehrter Theologe und Philosoph, sondern eher wie die Karikatur eines Gurus auf einer Bergspitze.
Meister Eckhart war jedoch, wie wir alle, das Produkt eines bestimmten Ortes und einer bestimmten Zeit. Es ist sinnlos, über die »zeitlose« Natur seiner Lehren zu sprechen, wenn wir nicht zuerst verstehen, welche Aspekte davon tatsächlich zeitlich – also von seinen eigenen Lebenserfahrungen und dem Umfeld geprägt – waren und auf welche Weise. Wir müssen den dynamischen Charakter seiner sozialen und geistigen Welt kennenlernen, seine eigenständige Stimme als Prediger und Denker und die verschiedenen Arten, auf denen er zu seinen Lebzeiten verstanden wurde. Wenn wir so weit sind, werden wir zwangsläufig auch seine Bedeutung für unsere eigene Zeit besser verstehen.
Warum ist so wenig über den Menschen Eckhart geschrieben worden? Möglicherweise liegt es daran, dass die spärlichen Ressourcen, die einem angehenden Eckhart-Biografen zur Verfügung stehen, diesen vor ein hohes, wenn auch nicht unüberwindliches Hindernis stellen. Weder Eckharts Korrespondenz noch seine persönlichen Schriften haben die sieben Jahrhunderte seit seinem Tod überdauert. Im Zusammenhang mit seinem Ketzerprozess sind einige lateinische Quellen erhalten, die Einblicke in die am heftigsten umstrittenen Punkte bieten, aber auch wenn er in anderen zeitgenössischen Dokumenten mindestens zwei Dutzend Mal genannt wird, so handelt es sich doch in all diesen Fällen lediglich um eine beiläufige Erwähnung. Damit bleiben uns Meister Eckharts eigene theologische Lehren. Was deren Veröffentlichung angeht, so kennen wir mindestens 128 authentifizierte deutsche Predigten (plus zwei Dutzend weitere, die in Betracht kommen), 56 lateinische Predigten, drei deutsche Diskurse, sieben lateinische Kommentare und eine Handvoll kurzer akademischer Beiträge, von denen der Meister keinen einzigen wirklich mit eigener Hand geschrieben hat – stattdessen wurden sie von Anhängern transkribiert, die ihn sprechen hörten. In manchen Fällen billigte Eckhart ausdrücklich die Veröffentlichung der Transkripte. Das vorliegende Buch stützt sich stark auf die hervorragend editierten Sammlungen der lateinischen und deutschen Schriften Eckharts, die zwischen 1936 und 2007 erschienen sind (siehe »Empfohlene Literatur«), sowie auf die gewissenhafte Forschung mehrerer Generationen von Eckhart-Experten, insbesondere in den letzten vier Jahrzehnten.
Ich habe einen sowohl chronologischen als auch thematischen Ansatz gewählt, der die wesentlichen Schritte in Meister Eckharts lebenslangem Streben zu Gott mit den verschiedenen Identitäten kombiniert, die er im Laufe der Jahre erwarb: Mönch, Gelehrter, Prediger und geistliche Ikone. Alle vier Abschnitte des Buches wurden um den in meinen Augen wichtigsten Begriff Eckharts herum gestaltet: gelâzenheit (Gelassenheit im heutigen Deutsch) – ein von ihm selbst geprägter Begriff, der kaum übersetzbar ist. Zur Unterscheidung von den herkömmlichen – aber irreführenden – englischen Übertragungen wie »detachment«, »releasement« oder »abandonment« habe ich im englischen Original ganz bewusst das etwas merkwürdig klingende »letting-go-ness« gewählt. Das implizite Vertrauen, das mit diesem »Gehenlassen« oder Loslassen des Wunsches selbst verbunden war, war für Eckhart die unabdingbare Voraussetzung für das Erlangen einer Einheit mit Gott, einer Verwirklichung, die er erst nach vielen Jahren der praktischen Hingabe und Reflexion predigte. Erst nachdem er gelernt hatte, die äußere Welt (Teil I) sowie all seine vorgefassten Vorstellungen von »Gott« (Teil II) loszulassen, fühlte Eckhart sich bereit, sein eigenes Selbst, einschließlich der Suche nach Gott, loszulassen und es Gott damit zu gestatten, zu ihm zu kommen (Teil III). Die Implikationen dieser Erkenntnis für die organisierte Religion, die er keineswegs »lassen« wollte, werden in Teil IV beschrieben.
Dieses Narrativ von Eckharts eigener innerer, spiritueller Entwicklung ist eng mit der Geschichte seiner Erfahrungen in der weiten Welt verflochten. Im Gegensatz zu den meisten Beschreibungen Meister Eckharts – die seine Lehren als vollständig ausgebildet, kohärent und statisch präsentieren –, gestattet diese chronologische Sichtweise es, die Entwicklung von Eckharts Denken im Laufe seines Lebens nachzuverfolgen. Wie und warum wurde ein scheinbar gewöhnlicher junger deutscher Adliger zu dem legendären radikalen und spirituellen Denker, der nicht nur einen großen Teil der rechtgläubigen Annäherung an Gott, sondern gar die vorherrschende Vorstellung von Gott selbst infrage stellte? Als Erstes tauchen wir in die dynamische Welt des 13. Jahrhunderts auf deutschem Boden ein, indem wir die Ursprünge von Eckharts lebenslanger Suche und seiner prägenden Annahme der dominikanischen Lebensweise entdecken (Teil I). Hier erleben wir, wie sich seine traditionelle Spiritualität, die auf äußeren Handlungen basierte, allmählich zu einer Form hin veränderte, die auf Kontemplation und Achtsamkeit basierte. Seine Identität als geschulter Prediger wiederum gibt den Rahmen für seine spätere Entwicklung als bekannter Gelehrter vor (Teil II). Da sich Eckhart in dieser Funktion verstärkt mit philosophischen Denkweisen auseinandersetzte, tendierte er schließlich zu einer noch radikaleren intuitiven Herangehensweise an Gott und an die Spiritualität. Den größten Teil dieser frühen Jahre – bis er Mitte fünfzig war – hielt er sich in seiner Heimat Thüringen auf, mit Sitz in dem dominikanischen Priorat in Erfurt. Er unternahm jedoch weite Reisen und verbrachte dabei viele Jahre des höheren Studiums in Köln und Paris – mehrere Jahre als Administrator seines Ordens und drei Jahre als Dozent an der Pariser Universität. Teil III schildert die anschließenden Bemühungen des gefeierten Theologen, seine komplexen und unorthodoxen Anschauungen in Predigten einfließen zu lassen, die auch einfache Frauen und Männer verstanden. Die meisten populären Predigten wurden im letzten Lebensviertel in den deutschen Städten Straßburg und Köln gehalten. Die daraus hervorgehende Kontroverse um seine provokativen Lehren wiederum machte aus Eckhart schließlich eine spirituelle Ikone, wobei sich seine Bewunderer und Kritiker gleich schwertun, sein Vermächtnis für die kommenden Jahrhunderte zu definieren (Teil IV).
Der spektakuläre Aufstieg und der Fall dieses vorausschauenden spirituellen Lehrers hatten entscheidende Auswirkungen auf die endlose Debatte um religiöse Autorität, und das haben sie noch heute. Die Bedenken der Kirchenführer zu Eckharts Lebzeiten, dass einfache Menschen die Worte des Meisters missverstehen und die gesamte Religion ablehnen könnten, mögen auf den ersten Blick wie eine reine Selbstrechtfertigung ihrer eigenen autoritären Agenda erscheinen. Aber wie die spätere protestantische Reformation und darauffolgende Schismen gezeigt haben, führt der Appell an das individuelle Gewissen als ultimativer Richter über die spirituelle Wahrheit unweigerlich zu immer mehr Interpretationen, zu immer mehr Konfessionen und zu immer mehr religiösen Konflikten. Was könnte eine umfassendere Übernahme der Lehren Eckharts für die Glaubenslehre, Struktur und Riten der heutigen katholischen und protestantischen Kirchen bedeuten? Für die organisierte Religion überhaupt? Eckhart selbst hielt sich nicht für einen radikalen Gegner der traditionellen Religion, aber seine Wirkung auf dieselbe ist noch heute umstritten. Unterdessen begrüßen viele heutige Leser, die eine individualistischere Herangehensweise an die Spiritualität vorziehen, jenen Skeptizismus gegenüber jeder institutionellen, religiösen Autorität, den sie aus den Lehren Eckharts ableiten. Aber ist das überhaupt die Art von individueller Erleuchtung, die Eckhart selbst sich vorstellte? Ist der Relativismus der heutigen, auf jeden Einzelnen zugeschnittenen Spiritualität das unweigerliche Ergebnis des subjektiven Ansatzes, den Eckhart und seine modernen Nachfolger predigten?
Es liegt auf der Hand, weshalb die Verteidiger der religiösen Rechtgläubigkeit und Ordnung des 14. Jahrhunderts Meister Eckhart für einen gefährlichen Mystiker hielten. Aber auch viele christliche Führer des 21. Jahrhunderts fürchten den moralischen Relativismus und das spirituelle Chaos, das von der »religionslosen Spiritualität« ausgelöst wird. Stellt ein wiederbelebter Eckhart immer noch eine Gefahr für die etablierten Kirchen dar oder bietet er ihnen eine Brücke, die neue spirituelle Bewegungen mit alten Traditionen verbindet? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst bereit dafür sein, Meister Eckhart mit unvoreingenommenem Blick zu betrachten, ihm zum ersten Mal wiederbegegnen.11
Hinweis für den Leser:
Wörtliche Zitate aus den deutschen Predigten Meister Eckharts sind, soweit möglich, der Standardausgabe Meister Eckhart, Die deutschen Werke (siehe »Empfohlene Literatur«) entnommen. Für Zitate aus den lateinischen Schriften wurde die entsprechende Ausgabe Meister Eckhart, Die lateinischen Werke herangezogen. Alle anderen Übersetzungen aus dem Französischen oder Lateinischen orientieren sich an der Vorlage des Autors, sofern nicht anders angegeben. Um größere Klarheit zu schaffen (Eckhart liebte zweideutige Pronomen), werden Er, Ihm, Ihn und Sein, wenn von Gott dem Schöpfer die Rede ist, großgeschrieben (obwohl der reife Eckhart es außerhalb eines zweckmäßigen Sprachgebrauchs ablehnte, dem Göttlichen ein menschliches Geschlecht zuzuweisen).
Zu Eckharts Lebzeiten hielten die meisten Menschen Ostern oder eine enge Annäherung (etwa den 25. März) für den Beginn des neuen Jahres. Ich habe mich an die heutige Datierung gehalten, nach der das neue Jahr mit dem 1. Januar beginnt.
Am Ende des Buches finden Sie außerdem eine Erklärung der wichtigsten Namen und Begriffe.
Teil I
Die Welt loslassen
Der Mönch