Zum Buch
Logar, Afghanistan, im Jahr 2005: Der 12-jährige Marwand kehrt mit seiner Familie für einen Sommer aus den USA in seine Heimat zurück. In dem Dorf an der Grenze zu Pakistan ist der große amerikanische Krieg zwar noch nicht vorbei, aber er döst vor sich hin. Gleich am ersten Tag wird Marwand die Fingerspitze abgebissen – von Budabasch, dem dreibeinigen Wachhund der Familie, der daraufhin spurlos verschwindet. Marwand und seine Verwandten machen sich auf die Suche, eine abenteuerliche Jagd in 99 Nächten durch ein raues und märchenhaftes Land beginnt …
Warmherzig und mit unbändiger Erzähllust beleuchtet »99 Nächte in Logar« das Leben im heutigen Afghanistan. Es ist ein Roman über die Kluft zwischen den Kulturen und die Geschichten, die sie überbrücken.
Zum Autor
JAMIL JAN KOCHAI wurde in einem afghanischen Flüchtlingscamp in Pakistan geboren und wuchs in den USA auf. Sein Roman »99 Nächte in Logar« stand auf der Shortlist des PEN/Hemingway Award für das beste Debüt und war nominiert für den DSC Prize for South Asian Literature. Seine Essays und Prosa erschienen u.a. im New Yorker, der New York Times, der Los Angeles Times. Kochai lebt in Kalifornien.
Jamil Jan Kochai
99 Nächte in Logar
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Werner Löcher-Lawrence
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »99 Nights in Logar« bei Viking, New York.
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Deutsche Erstausgabe Februar 2021
Copyright © 2019 by Jamil Jan Kochai
All rights reserved
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by btb Verlag,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
Covermotiv: © mauritius images/Utkiner
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-22920-7
V002
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für Moor o Agha
Parler une langue, c’est assumer un monde, une culture.
Frantz Fanon
Darin ist er so unerklärlich wie der graue Wolf, der sein Blutsbruder ist.
Rudyard Kipling
Budabasch lief irgendwann in der Nacht weg.
Wir wussten nicht, wie, nur dass er freikam und wir losgehen und ihn suchen mussten. Ich und Gul und Zia und Dawood zogen auf die Straßen von Logar, gemeinsam, zum ersten Mal, und hofften darauf, Budabasch vor Einbruch der Dunkelheit zurück nach Hause holen zu können.
Das alles geschah nur Wochen nach Antritt meiner Reise, der Heimkehr meiner Familie im Sommer ’05, als es nur einen Tausender kostete, über den Ozean zu fliegen, von Sac oder SF nach Taipeh, weiter nach Karatschi und über Peschawar bis hoch nach Logar, wo der amerikanische Krieg zu der Zeit zwar nicht tot war, allerdings nur noch vor sich hin döste, wie im Koma, als stünde er immer noch unter dem Einfluss vom zuletzt boomenden afghanischen H, was Soldaten, Banditen und Roboter fast harmlos werden ließ. So war denn für den Musafir aus Amerika allein wichtig, wie er die heißen Sommertage herumbrachte.
Gulbuddin sagte, es werde eine Unternehmung zu viert.
Er sagte es auf Paschto, weil mein Farsi scheiße war.
»Wisst ihr«, erklärte er mir, Zia und Dawood, als wir vorher im Obstgarten saßen, »mehr als vier sehen aus wie ein Mob, und wenn wir weniger sind, werden wir angreifbar.«
Gul saß am Kopf unseres Kreises und zwirbelte seinen dicken schwarzen Schnauzbart, den ihm seine älteren Schwestern immer von der Lippe zu reißen versuchten, weil er damit wie die schönen türkischen Gangster aus ihren Seifenopern aussah. Von seinem Platz an der Lehmmauer zwischen Hof und Obstgarten konnte er alle Apfelbäume, den Pferch mit den Kühen, das große blaue Tor und sogar die Ecke sehen, in der Budabasch einst gesessen, geschlafen und meinen gottverdammten Finger gefressen hatte.
Gul war mein kleiner Onkel. Etwa vierzehn. Der Älteste in unserer Truppe.
»Wie wäre es mit viereinhalb?«, sagte ich und dachte an meinen kleinen Bruder.
»Was habe ich gerade gesagt, Marwand?«
»Mehr als vier sind ein Mob«, antwortete Dawood.
»Aber ein zusätzlicher Halber könnte nützlich sein«, sagte ich.
»Nicht der Halbe, den du meinst«, sagte Dawood, der ganz hinten saß und zu viel Platz brauchte.
Dawood war mein anderer kleiner Onkel. Etwa zwölf. So wie ich.
»Hört mal zu, Jungs«, fuhr ich fort. »Fünf ist eine gute Zahl. Fünf Säulen. Fünf Gebete. Fünf Spieler braucht man für eine Basketballmannschaft.«
»Nur fünf?«, fragte Zia.
»Also was jetzt, viereinhalb oder fünf?«, fragte Dawood.
»Fußball ist besser«, sagte Zia. »Da können alle mitspielen.«
»Was denkst du?« Ich sah Zia an. Er war mein Cousin. Rahmutallah Maamaas Erstgeborener. Wahrscheinlich dreizehn, wobei sich das bei den Kindern in Logar nie sicher sagen ließ. Aber Zia zuckte mit den mageren Schultern und zielte mit den Läufen seiner Finger auf Gulbuddin. »Tschick, tschick«, sagte Zia, »pau, pau«, und drückte zweimal ab.
Gulbuddin nickte Zia zu und senkte besänftigend die Hände. Seine Augen, grün wie Entenscheiße, wanderten von uns zum Tor und zum Hof, wo der Rest der Familie immer noch schlief.
Wir wurden leiser.
»Wir stimmen ab«, sagte er. »Wer will, dass Gwora mitkommt, hebt die Hand.«
Dawood rieb sich den kahlen Schädel, als wollte er für Gwora stimmen, könnte sich aber nicht dazu entschließen.
Zias dürre Finger blieben in seinem Schoß liegen, er zählte die neunundneunzig Namen Allahs.
Gul rührte sich nicht mal.
Nur meine zerbissene Hand ging hoch in die Morgenkühle.
»Well, fuck«, murmelte ich auf Englisch und ergab mich dem Willen der Dschirga.
Nachdem mein kleiner Bruder abgelehnt worden war, sagte ich während des Rests der Besprechung nicht mehr viel, wobei es wie im Schnellfeuer von einem Thema zum nächsten ging: wie anfangen, wo suchen, wo aufhören, wo Dawood Witterung aufnehmen sollte, wann Zia beten und was Gul machen würde, wenn wir auf einen Marine, einen Dschinn, einen Banditen oder einen unserer anderen Onkel treffen sollten, die sich bereits vor uns auf die Suche gemacht hatten.
»Wir ziehen los. Wir suchen Budabasch und bringen ihn nach Hause«, sagte Gul. »Ganz einfach. Dawood schnüffelt ein bisschen herum, ich stelle ein paar Fragen, Zia betet. Und wenn wir Rahmutallah begegnen, sorgt Marwand dafür, dass wir nicht hinten was draufkriegen. Okay, Marwand?«
Rahmutallah Maamaa, mein ältester Onkel, war längst schon unterwegs und suchte nach Budabasch. Hätte er uns an dem Tag erwischt, wäre es mein Job gewesen, ihm zu sagen, dass unsere Aktion meine Idee war.
»Okay«, sagte ich. »Ich werde ihn anlügen.«
»Schwörst du bei Gott, dass du lügen wirst?«, sagte Dawood.
»Sag es nicht, wenn du es nicht meinst«, sagte Gul.
»Dann bist du Allah verpflichtet«, fügte Zia hinzu.
Gul und Dawood machten Pistolen aus ihren Fingern und zielten auf meine Brust. Ich formte auch eine Pistole und hielt sie mir an die Schläfe.
»Wallah«, sagte ich und krümmte den Finger. »Ich verpfeife niemanden.«
Gul lachte, griff nach meinen Händen und legte sie zwischen seine. »In Ordnung«, sagte er und achtete dabei auf den Verband um meinen kaputten Finger. »Wir machen nur Spaß, weißt du, einen Spaß für unterwegs. Verstehst du?«
Ich sagte ja, das verstehe ich.
Nachdem wir unsere Ausrüstung und Vorräte zusammenhatten (Kekse und Äpfel, vier kleine Messer in Metzgerpapier, acht Flaschen Wasser, den ersten Dschuz‘ des Koran, eine Schachtel Streichhölzer, zwei Notizbücher, die Gwora und ich mit unseren Beobachtungen zu Budabasch gefüllt hatten, vier Knäuel Schnur, Klebestreifen und meine Coolpix-Kamera), gingen wir zum großen blauen Tor, und da, an der Schwelle zur Straße und zum Dorf, erwischte mich Gwora, mein kleiner Bruder.
Er stolperte in den Obstgarten, die Arme voller Papiere und Notizbücher, lamentierte über unsere Arbeit, unsere Abmachung und bettelte mich an, ihn mitzunehmen. Ich erklärte ihm auf Englisch, ganz ruhig, dass er nicht mitkönne, ich hätte das nicht zu entscheiden, aber er wollte nicht zuhören, mich nicht verstehen, und die ganze Zeit sahen die Jungs vom Tor herüber, flüsterten etwas auf Farsi, bis ich ihm ein letztes Mal sagte, auf Paschto, warum er zu Hause bleiben musste, und als auch das nicht funktionierte, zeigte ich ihm, warum.
Es dauerte nicht lange.
Nach der Abreibung ließ ich den zerknirschten Gwora, der sich mühte, nicht in Tränen auszubrechen, im Obstgarten zurück, während ich mit den anderen auf die Straßen Logars hinaustrat, um für den Rest des Tages nach dem Wolfshund zu suchen, der mir erst vor ein paar Wochen die Spitze meines Zeigefingers abgebissen hatte.
Wallah, am Morgen meiner Heimkehr im Sommer ’05, als ich in Moors Haus ankam, war mir schlecht vom Autofahren, ich fühlte mich pockennarbig, gejetlagt, war nach acht Stunden Fahrt durch die Weißen Berge (Kabuls Flughafen gehörte damals der NATO, und wir mussten nach Pakistan fliegen und von da mit dem Auto weiter) von der Sonne Pakistans wundgegrillt und hatte in dem zwei Nummern zu kleinen schwarzen Kamiz samt Partug, in den mich Moor vor Überqueren der Grenze gezwungen hatte, Unmengen Flüssigkeit ausgeschwitzt.
Und nachdem mich die Geschehnisse morgens bereits verwirrt hatten (wir hielten als Erstes kurz an Wataks Gedenkstelle, einer zerzausten, zwischen ein paar Steinen steckenden roten Fahne bei einem Wasserlauf und einem Maulbeerbaum, deren Geschichte mir keiner erzählen wollte), geriet ich völlig aus der Fassung, als wir nach sechs Jahren zum ersten Mal wieder das Anwesen von Moors Familie betraten.
Etwa fünfzig von Moors Verwandten hatten sich in den Garten des Hofes gedrängt, standen bis ans große grüne Tor, und ich wurde von einer Flut glitzernder Kleider und Tücher verschluckt. Rahmutallah Maamaa umschlang mich mit seinen Armen, während Baba mir übers Haar strich und mich mit nassen Altmännerküssen bedeckte, bis mich Abo aus den Armen meines Onkels befreite und an die Brust drückte. Mit ihren verschwielten Händen strich auch sie mir über das schmutzige Haar und verfluchte Amerika, weil es ihre Kinder stahl.
Kurz darauf fand ich mich in einem großen Raum mit Lehmwänden wieder, ohne zu wissen, wie ich dort hineingelangt war, fragte mich, wo meine Eltern sein mochten, und versuchte den direkten Blickkontakt mit den etwa vierzig Verwandten um mich herum zu vermeiden. Mir wurde endlos viel Farsi entgegengeworfen, mit dem ich nichts anzufangen wusste, und als ich meinen Khalas, Maamaas und Cousins erklärte, dass ich kein Farsi verstand und nur Englisch und ein bisschen Paschto sprach, da murmelten die meisten etwas, schüttelten die Köpfe und lächelten traurig – fingen aber, um sich nicht ausstechen zu lassen, gleich an, in einer wilden Mischung aus Englisch, Paschto, Farsi und Zeichensprache auf mich einzureden.
Sie fragten mich, ob ich hungrig sei, traurig, müde, ob ich durstig sei, glücklich, ob ich Angst hätte, unter Verstopfung litte, Übelkeit, ob ich einsam sei, verwirrt, angeekelt, dumm, klug, immer so düster, immer so süß, immer so pummelig, haarig, so groß, so ruhig, nervös, scheu, verloren.
Ich beantwortete jede einzelne Frage mit Ja.
Also fragten sie, was ich mehr als alles andere wolle.
»Ich möchte den alten Hund sehen«, sagte ich auf Englisch.
Keiner begriff, wovon ich redete.
»Sag«, sagte ich auf Farsi.
Sie brachen in Lachen aus, verwünschten mich und meine Moor und schleppten mich hinaus in den Hof.
Wallah, als ich den großen Budabasch dreibeinig unter seinem Apfelbaum stehen sah, wie er gegen den Stamm pinkelte, an den er gekettet war, dachte ich immer noch, er wäre derselbe alte Köter, den ich in meinem ersten Sommer ’99 in Logar erlebt und gequält hatte. Und wenn ich auch nicht mehr viel von dieser ersten Reise weiß, hatte mich die Erinnerung an den Hund doch durch die Grundschule verfolgt und nachts wach gehalten, und als Agha im Frühling ’05 verkündete, dass er genug Geld zusammengeknausert habe, um wieder nach Logar zu fliegen, war da nur der eine Gedanke, wie ich den alten Hund dazu bringen könnte, mir zu vergeben.
Kaum dass ich Budabasch im Obstgarten sah, löste ich mich von meiner Familie und rannte mit nichts als Sabr im Herzen und aus den Fingerspitzen triefender Liebe (Wallah!) zu seinem Baum, und erst als er sich duckte, vorschnellte und die Spitze meines Zeigefingers für immer verschluckte, sah ich in seinen einzigartig blauen Augen, im Herzen des Augapfels, was niemand bis zu diesem Zeitpunkt hatte sehen wollen: dass Budabasch ganz sicher kein Hund war, sondern eher ein Mutant oder Dämon. Wallah.
Und nachdem ich das gesehen und ja kaum etwas zu tun hatte, während meine Cousins in die Schule gingen, rief ich für die nächsten paar Wochen einen Dschihad gegen Budabasch aus. Bis er sich, klar, etwa einunddreißig Tage später befreite und davonlief.
Draußen vor dem großen blauen Tor von Moors Anwesen rieb ich mir den Rotz meines Bruders von den Knöcheln und folgte den Jungs. Der Weg wand sich hoch zu einer Biegung, die uns in eine Art Labyrinth aus miteinander verbundenen, von Lehmmauern umgebenen Anwesen und anschließend auf die Straße durch Naw’e Kaleh führte, gelegen im Distrikt Mohammad Agha, in der Provinz Logar. Wenn wir ihr nur lange genug folgten (ein paar Kilometer oder so), würden wir zu Aghas Anwesen kommen.
Als wir die erste Gasse des Labyrinths betraten, begann ich die links und rechts von mir auftauchenden eisernen Tore zu zählen, aber weil die Mauern alle ineinander übergingen, wurde mir bald schon von den ganzen Windungen und Kurven schwindelig, und ich verlor den Überblick, wo ein Anwesen endete und das nächste begann. Zum Glück hatten wir Gul als Führer. Wir folgten ihm und hüpften über die Rinne, den kleinen Kanal in der Mitte des Pfades, in dem sich die Abwässer der angrenzenden Anwesen sammeln sollten.
Wer sich nicht auskenne, erklärte Gul, oder keinen Führer habe, könne sich leicht in den Gassen verlaufen. Das war einer der Gründe dafür, warum die Russen Anfang der Achtziger solche Probleme hatten, Naw’e Kaleh einzunehmen. Kein Platz für Panzer oder schwerere Artillerie, aber reichlich Möglichkeiten für die Mudschaheddin, sich in den Hinterhalt zu legen. Rund zwanzig Jahre später hatten die amerikanischen Truppen das gleiche Problem.
An jenem Tag schien sich jedoch niemand große Sorgen zu machen, in afghanisch-amerikanisches Kreuzfeuer zu geraten. Während Orte wie Kandahar oder Helmand, wie ich hörte, mit Drohnenangriffen und nächtlichen Razzien überzogen wurden, führte die US Army in Logar ihre geheimen Operationen meist in den umliegenden Schwarzen Bergen durch und zerbombte die Höhlen, in denen sich die T und andere Rebellen (pakistanische Doppelagenten?, arabische Söldner?, analphabetische Ziegenhirten?) zusammen mit Baba Bin Laden, Mullah Omar und Carmen Sandiego versteckt halten sollten, sodass wir unten in den Flusstälern das Gewehrfeuer und den Geschützdonner nur als leises Wummern und das sanfteste Beben der Erde wahrnahmen.
Ernsthaft, wenn wir uns an dem Tag da draußen in den Gassen Sorgen wegen etwas machen mussten, dann nur, Rahmutallah Maamaa in die Arme zu laufen.
Frühmorgens hatte er uns vier in sein Zimmer gerufen und uns verboten, ihm zu folgen. »Ich brauche Männer, die zu Hause bleiben, falls Budabasch zurückkommt«, sagte er. »Versteht ihr?«
Er stand in der Tür, seine Kufi auf dem Kopf, und hatte sich Budabaschs Kette über die Schulter gehängt. Aus seinem schwarzen Bart tropfte Schweiß oder Morgentau. Ob Rahmutallah Maamaa die Ernte pries oder jemanden mit dem Tod bedrohte, er sprach stets mit ruhiger, sanfter Stimme, ganz so, als läse er jemandem seine Gedanken vor.
Wir alle nickten eifrig mit den Köpfen, obwohl wir wussten, dass er eigentlich nur mit Gul redete.
Gul widersprach nicht, aber als Rahmutallah gegangen war, machte er sich über ihn lustig und fing an, Schwachsinn zu reden. »Männer?«, sagte er und spuckte auf den Teppich. »Wie Kinder behandelt er uns.«
»Wir sind Kinder«, sagte Zia.
»Bleib du ein verdammtes Kind«, sagte Gul, ging hinaus und ließ mich, Zia und Dawood zurück. Zu dritt standen wir da und sagten nichts, sondern kommunizierten nur mit Gesten, besorgten Blicken und Ächzen. Zia schien am zögerlichsten. Für ihn war es ein größeres Risiko als für uns, da Rahmutallah Maamaa sein Vater war. Einem Onkel nicht zu gehorchen, wie ich es tun würde, oder einem älteren Bruder, wie Gul und Dawood, das war nichts verglichen damit, den eigenen Pops zu hintergehen. Und wenn uns jemand anderes herausgefordert hätte, wären wir wahrscheinlich unseren natürlichen Instinkten gefolgt, um auf jeden Fall eine mögliche Tracht Prügel zu vermeiden. Aber es war nicht irgendjemand. Es war Gul.
Also folgten wir ihm.
Gul ging voran, aus dem Labyrinth und auf die Straße hinaus. Sie war aus hartem, dunklem Lehm und führte hinunter zwischen ein paar Felder und eine weitere Ansammlung von Anwesen. Platanen und ein schmaler Bach säumten sie. Auf den Feldern bei der Straße kümmerten sich einige Bauern und ihre Arbeiter um ihre Saat. Die Sonne zeigte kaum ihr Gesicht. Ich betrachtete das alles, als eine Windböe aus den Schwarzen Bergen herunterwehte und mich voll erwischte. Sie stank nach Rauch, und ich fing an zu husten.
Dawood atmete tief durch die Nase ein, seufzte und nickte Gulbuddin zu.
»Da ist Budabasch lang«, sagte Gul und deutete, wie es schien, auf das ganze Land. Und schon lief er die Straße hinunter.
Wir eilten ihm nach.
Dawood versuchte Budabaschs Apfel- und Benzingeruch aufzufangen. Gul blieb von Zeit zu Zeit stehen, um einen Bauern oder Tagelöhner zu fragen, ob sie einen großen schwarzen Hund mit einer weißen Narbe auf dem Rücken gesehen hätten.
Zia fiel zusammen mit mir hinter den beiden zurück. Er hielt meine unverletzte Hand und erläuterte mir, was es zu sehen gab.
»Der da gehört Hāddschī Ahmad«, sagte er und zeigte auf einen Obstgarten, »und die Felder dahinter sind von Mullah Imran. Und in dem Graben dort drüben ist der kleine Zabi auf eine alte Mine getreten. Hat seinen Fuß verloren.«
»Gott noch mal, Zia«, rief Gul von vorn, wobei er langsamer wurde und seine Finger um mein rechtes Handgelenk legte, direkt über dem Verband. »Du bringst alles durcheinander: Der Obstgarten gehört dem Vater von Mullah Imran, der noch lebt, weshalb er also noch nicht Imran gehört, und die Felder sind die von Hāddschī Ahmad, und dem kleinen Nabi ist ein Lastwagen der Army über den Fuß gefahren, nicht dem kleinen Zabi. Zabi geht es gut. Wir haben vor einem Monat noch Stickball mit ihm gespielt.«
»Echt?«, sagte Zia.
»Ja, du Kind, frag Dawood.«
Dawood war weiter vorn, hielt die Nase schnüffelnd in den Wind und trug eine große schwarze Tasche über der Schulter. Er war dick für sein Alter, aber auch ziemlich stark, das musste ich zugeben. Keiner mochte seine Hand halten, wegen der vielen Warzen, und so sorgte er dafür, dass er ständig etwas zu tun hatte. Er hob auf, warf und zerbrach alles, was ihm in die Quere kam. Ich versuchte generell die Jungs davon abzuhalten, meine Hand zu halten, doch sie waren hartnäckig. »So machen Freunde das hier«, versuchte Gul immer wieder zu erklären.
»Zabi hat noch beide Füße«, rief Dawood von vorn.
»Siehst du«, sagte Gul und deutete auf Zia. »Alles, was dieser Junge kennt, sind Hadithe.«
»Und Suren«, fügte Dawood hinzu.
»Was braucht man auch sonst?«, fragte Zia und drückte meine Hand.
Gul schüttelte den Kopf. »Hör zu, Marwand. Ich werde dir sagen, was du wissen musst.«
Und das tat er.
Er erklärte mir, wo wir waren und wohin wir gingen. Er nannte mir die Namen der Straßen und sagte, wohin sie führten. Er erklärte mir, wer wo gestorben war, welches Grab und welche Fahne, welcher Stock und welcher Stein wem gehörten, wusste die Namen der Bäume, der Felder und der Anwesen. Er hielt meine Hand, zeigte in die eine Richtung und konnte mir sagen, wohin es da ging, konnte aber auch in die andere Richtung zeigen und wusste es ebenfalls.
Trotzdem konnte er mir nicht sagen, wenigstens nicht sicher, wohin Budabasch verschwunden oder warum er überhaupt weggelaufen war, obwohl ich natürlich eine Ahnung hatte.
Bevor ich es vergesse, hier sind noch ein paar Dinge, die ich an diesem Tag sah:
Drei Tage nachdem Budabasch mir die Spitze meines Zeigefingers abgebissen hatte, kam Ruhollah Maamaa (Moors kleiner Bruder) von der Arbeit, wo immer die auch war, hieß meine Eltern zu Hause willkommen, setzte mich, kaum dass er meine verbundene Hand sah, in seinen Corolla und fuhr mit mir und meinen Brüdern zu den Schwarzmärkten Kabuls, wo er mir sagte, ich solle mir aussuchen, was ich wolle. Kein Witz. Egal, was es kostete.
»Aber keine Frauen!« Er lachte zu laut.
Ich sah nicht viele.
Ich und meine Brüder blieben nahe bei Ruhollah, während er uns durch das Gedränge auf den Basaren führte, an Checkpoints, Schlaglöchern und offenen Abwasserkanälen vorbei, weg von den gepanzerten Stellungen, wo sich die Amerikaner versteckten, und hin zu den inneren Adern der Stadt. Er wies Bettler ab und schmeichelte den Polizisten, lief in seinen Bluejeans und mit seiner Shah-Rukh-Khan-Frisur durch die Straßen, zeigte auf die zerbombten Gebäude (das waren die T, das da Massoud, das Sayyaf, das Hekmatyar), redete die ganze Zeit viel zu schnell, ging zu langsam, übte sein Englisch und fragte uns Sachen über Amerika.
Ruhollah Maamaa hatte große Pläne. Er studierte an einer Technikerschule in Kabul (wenn er nicht in der Basis arbeitete) und träumte von einem Visum für Amerika. Das Problem war, dass er einen Gönner brauchte, um zugelassen zu werden. Einen aufrechten amerikanischen Bürger, der bereit war, für ihn einzutreten. Er fragte mich nach Agha und wollte herausfinden, ob mein Pops ihm womöglich helfen würde. Um ehrlich zu sein, war ich ziemlich sicher, dass Agha ihn nicht sehr mochte, besonders, nachdem Ruhollah angefangen hatte, für die US Army zu dolmetschen, aber ich stellte fest, je mehr ich ihn in dem Gefühl bestärkte, dass Agha ihm helfen könnte, desto bereitwilliger zückte er sein Portemonnaie. Und ich war nicht gegen Bestechung immun. Meine Brüder ebenfalls nicht.
Mirwais, mein jüngerer Bruder, wollte einfach nur einen Big Mac. Von uns dreien machte ihm das Essen in Logar (Shorwa und Tomaten fast jeden Abend) am meisten zu schaffen. Tage und Nächte mit Durchfall. Er hätte sich ein paarmal fast in die Hose geschissen, der arme Kerl. Mich und Gwora, uns erwischte es natürlich auch, aber nicht so schlimm wie Mirwais. Er sehnte sich sehr nach einer Portion Industrie-Hack, und wir nahmen an, wenn es in Afghanistan einen Ort gab, wo es einen vernünftigen Hamburger gab, dann in Kabul. Traurigerweise mussten wir allerdings feststellen, dass die Marines Kabul infiltriert hatten, ohne einen McDonald’s zurückzulassen, und so mussten wir uns mit Ruhollah Maamaas Lieblings-Kebab-Bude zufriedengeben, wo sie das Lamm draußen auf der Straße grillten und den Duft mit Ventilatoren in die Menge bliesen. Ruhollah erklärte uns, dass es den Laden seit siebzig Jahren gebe und dort schon Sklaven und Bedienstete, Hippies und Kommies, Spetsnaze und Dschihadisten versorgt worden seien. Und jetzt drei kleine Logarer aus Amerika.
Gwora verschwand immer wieder in eine der Buchhandlungen, kaufte nichts, sondern sah sich nur um und schnüffelte an den Seiten. Am Ende suchte er sich an irgendeinem Stand am Kabul, dem Fluss, etwas aus, das er für eine goldene Uhr hielt, was sich jedoch als Messingkompass entpuppte, den Ruhollah zurückgeben wollte, aber Gwora gefiel er noch besser als die ursprünglich anvisierte Uhr.
Ich hatte eine umfangreiche Liste vorbereitet. Zuerst gingen ich und Ruhollah und meine Brüder ins Bekleidungsviertel, und er stattete uns mit afghanischen Sachen aus: Kamiz, Partug und Waskat. Dann ging es weiter von Laden zu Laden, auf der Suche nach den von mir gewünschten Dingen: einem silbernen Allah, einem Taschenmesser und einem Basketball, und die ganze Zeit fügte ich mich so super in die Leute ein, dass mich keiner, solange ich nichts sagte, für einen Fremden hielt.
Das ging so weiter, bis wir zur Zeit des Asr einem kleinen Rudel streunender Hunde begegneten, fast ohne Haare und halb verhungert, und plötzlich fing ich an komisch zu atmen, wurde ganz wirr im Kopf, und mein Fingerstummel fing an zu kribbeln. Je näher die Hunde kamen, desto schlimmer wurde das Kribbeln. Bis zu dem Punkt, dass mich ein Schmerz erfasste, als würde mir der Finger ein weiteres Mal abgebissen, und ich stieß einen Schrei aus wie im Obstgarten, der den Hunden, meinen Brüdern, Ruhollah und den Kabulern um uns herum einen Schreck einjagte.
Eine Weile lang beruhigte sich mein Atem nicht wieder, und Ruhollah geriet in Panik und bot mir an, was immer es in der Nähe gab (Säfte, Sprudel, Zigaretten, Gebetsperlen), bis wir in den Teil des Schwarzmarkts mit den DVDs kamen. Er hielt mir ein paar Filme hin, und mit einem Mal beruhigte sich mein Atem wieder.
Auf dem Weg zurück nach Logar hielt ich meine DVDs an mich gedrückt und sah die kaputten Gebäude und Häuser in den Bergen, auf den Feldern, zwischen den Bäumen und hier und da auch hinter der Mauer eines Anwesens, bis wir an den Checkpoint einer örtlichen Miliz bei Wagh Jan kamen. In Kabul wurde Ruhollah überall durchgewunken, sobald er seinen Militärausweis zeigte, die Milizionäre hier behaupteten jedoch, die T verkleideten sich als Soldaten und fälschten Regierungspapiere. Mich und meine Brüder beachteten sie nicht weiter, befahlen Ruhollah aber auszusteigen, damit sie ihn durchsuchen konnten. Danach fuhr Ruhollah uns durch Wagh Jan, an den kleinen Läden und Ständen vorbei, überquerte den Logar, den Fluss, mied die Straßenarbeiter und bog in die Gassen von Naw’e Kaleh.
Als wir an dem Abend durch das große blaue Tor fuhren, kamen all meine Cousins zu unserem Corolla gelaufen. Es waren vielleicht zwanzig, Knirpse und Teenager, dunkle und helle Gesichter, weit aus Dschalalabad oder ganz nah aus Tangi. Sie umringten unser Auto, hauchten Feuchtigkeit auf die Scheiben und schrieben unsere Namen hinein.
Ich kannte kaum einen von ihren.
Ruhollah Maamaa sprang als Erster aus dem Auto und hätte beinahe ein paar von ihnen geohrfeigt, aber da kam Mirwais, fasste ihn bei den Händen und fragte, ob er auf ihm reiten könnte. Ruhollah stimmte zu, denn niemand schlug Mirwais je etwas ab. Währenddessen schlichen wir, ich und Gwora, meine Cousins und kleinen Onkel, hinüber in den Raum mit den Lehmmauern, ganz am Ende des Wohnbereichs und gleich beim Obstgarten.
Drinnen umringten meine direkten und ferneren Cousins und kleinen Onkel mich und meine Brüder und redeten auf Farsi, Paschto und in bruchstückhaftem Englisch auf uns ein: Sie waren auf eine Weise freundlich, wie sie es in den ersten Tagen nach meiner Ankunft nicht gedurft hatten, war ich doch gleich, nachdem Budabasch mir die Spitze des Zeigefingers abgebissen hatte, von Abo, Baba und Rahmutallah Maamaa ins Gästezimmer gebracht worden, wo ich fast zwei Tage hatte bleiben müssen.
Wieder und wieder verbanden sie meinen Finger neu, verpassten mir eine Infusion und fütterten mich mit Hausmitteln (Sarsar, Kappa und Osh), bis sie mich für fit genug erachteten, Besucher zu empfangen. Gul war der Erste, der sich mir näherte und mit einer Bitte in mein Zimmer schlich.
»Hör zu«, sagte er, »mein großer Bruder kommt heute, und er wird dir Budabaschs Kopf anbieten. Aber hör zu, Marwand: Du musst Erbarmen mit ihm haben, weil Gott das so wollen würde und wir Budabasch brauchen. Verstehst du? Ich meine, er ist der beste Wachhund im Dorf. Vielleicht im ganzen Land. Er ist ohne Furcht und Skrupel. Seine Zähne sind wie Rasierklingen. Ich meine, das weißt du aus eigener Erfahrung, aber hör zu, Marwand: Er hat dich nur gebissen, weil er dich nicht kannte, weil … Er wollte uns schützen, Wallah, Marwand, Budabasch ist ein guter Hund, etwas grob, aber gut, und wir brauchen ihn. Verstehst du, Marwand?«
Ich sagte ihm, ja, das tue ich, aber meine Wunde tat so weh und sah so faulig und eitrig aus, und ich hatte so eine Angst, der Verlust der Fingerspitze könnte meinen Sprungwurf für immer ruinieren, dass ich tief im Herzen auf Rache sann. Gleichzeitig wollte ich es mir mit den Jungs, speziell mit Gul, der Budabasch mehr als alles zu lieben schien, auf keinen Fall verscherzen.
Wie Gul vorausgesagt hatte, kam Rahmutallah Maamaa später in mein Zimmer, allein, und bot mir einen Saft, ein Stück Wassermelone und Budabaschs Leben an.
Ich lehnte alles ab.
Danach stellte mir Gul Dawood, Zia und die übrigen Jungs vor. Zia küsste mich auf beide Wangen und spuckte ein Duā’ direkt in meinen Mund. Dawood umarmte mich wie eine Krabbe, zwickte mir in die Seiten, und ich schob ihn weg. Meine übrigen Cousins hielten nacheinander meine Hand oder meinen kleinen Finger. Ein paar Minuten lang brachte ich es nicht übers Herz, es ihnen zu verweigern.
Wenn die Jungs nicht in der Schule waren, im Garten oder auf dem Feld halfen, spielten wir Fußball oder Stickball, schmissen mit Steinen, wateten durch den Kanal vor dem Haus (ich konnte nicht schwimmen) oder redeten nur. Meist fragten sie mich nach Amerika, wie die Schulen dort waren und besonders die Kinder.
Ich erklärte ihnen, dass die Kinder in Amerika im Prinzip okay waren, nur nicht, wenn sie deinen Namen nicht aussprechen konnten und ihn deswegen änderten, dich Moe statt Marwand nannten, Joe statt Jawed, Bell statt Belqisa, wenn sie deine Herkunft mit der anderer Leute verwechselten und nicht hinhörten, wenn du sie verbessertest, oder wenn sie dachten, Bin Laden wäre dein Opa.
Letzteres haute die Jungs völlig um.
»Wallah«, sagte ich, »sie fragen mich, wo sich mein Opa versteckt, damit sie hin und ihn umbringen können. Dabei denken sie, dass es mich wütend macht, wenn sie Bin Laden umbringen wollen, und manchmal tun sie so, als würden sie nur Spaß machen, aber dann wieder, wenn sie fertig gelacht haben, stehen sie so da und sehen mich an und sagen nichts mehr, als warteten sie jetzt echt darauf, dass ich ihnen sage, wo er ist. Damit sie hin und ihn umbringen können.«
Meine Cousins und kleinen Onkel brachen in Lachen aus.
Sie liebten solche Geschichten. Sie drängten sich um mich, einige riefen etwas, andere sagten nichts, aber alle, alle, das wusste ich, hörten zu und warteten. Und als ich an dem Abend aus Kabul zurückkam, standen auch da alle um mich herum und wollten sehen, was ich aus der Stadt mitgebracht hatte.
Erst zeigte ich ihnen den silbernen Allah, den Basketball (mit dem sie wie mit einem Fußball dribbelten) und das Taschenmesser, das ich auf dem Basar gekauft hatte, aber kaum dass der Generator ansprang, holte ich die wahren Schätze hervor.
»Raubkopien!«, rief ich.
Fünf Filme auf einer DVD. Manchmal sechs. Manche der Filme waren noch gar nicht offiziell rausgekommen.
»Raubkopien!«, rief ich noch einmal, weil sie es nicht zu verstehen schienen.
»Ja«, sagte Dawood, »wir verstehen schon, aber zum Teufel, was für Filme sind das?«
»Aah«, sagte ich, »Werwolf-Filme.«
Erst sahen wir uns Van Helsing an. Am Abend drauf: American Werewolf. Und am dritten Abend, nach Dog Soldiers, hatte ich meine Cousins so weit, dass sie, wohin sie gingen, Werwölfe sahen: in den Bäumen, im Gebüsch, nachts im Kamoot und in den Schatten der Platanen, auf den Feldern, wo sie Weizen schnitten, und natürlich in Budabaschs kalten, toten Augen.
Außer Gulbuddin natürlich. Während es allen anderen irgendwie ein komisches Gefühl gab, dass ihr treuer Wachhund, der in seinem Leben noch nie jemanden gebissen hatte, so bösartig auf meinen Finger losgegangen war, liebte Gul Budabasch so sehr, dass er sich nicht viel dabei dachte.
»Er ist nun mal ein Hund«, sagte er, »und Hunde haben Zähne.«
Nun, dachte ich für mich, ich habe auch Zähne. Und das stimmte.
Ich hatte welche.