Zum Buch
John Smythe ist mit seinen Kindern Cathy und Daniel aufs Land gezogen, nach Yorkshire, in die Wälder von Elmet. Sie wohnen in einem Häuschen, das sie eigenhändig erbaut haben, mitten in der Natur, nicht weit von der Eisenbahnlinie Edinburgh–London entfernt. Nur manchmal muss der Vater fort zu illegalen Faustkämpfen. In diesen Zeiten, in denen es immer weniger Arbeit gibt im Norden Englands, der einzige Weg, um die Familie über Wasser zu halten. Doch dann steht eines Tages ein Mann vor der Tür, der behauptet, dass alles ihm gehört – der Wald, der Grund und Boden, das Häuschen, in dem sie leben. Und er pocht auf sein Recht.
Zur Autorin
FIONA MOZLEY wurde 1988 in Hackney bei London geboren. Sie studierte Mediävistik am King‘s College in Cambridge und lebt heute in York, im Nordosten Englands, wo sie in Teilzeit im Little Apple Bookshop arbeitet. Das erste Kapitel von »Elmet« tippte sie auf einer Zugfahrt nach London in ihr Handy. Der Guardian nannte den Roman »ein Juwel«, der Economist »überwältigend und unvergesslich«. Er wurde u. a. mit dem Sunday Times Writer of the Year Award und dem Somerset Maugham Award ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize.
FIONA MOZLEY
ELMET
Roman
Aus dem Englischen von
Thomas Gunkel
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstausgabe Dezember 2020
Copyright © 2017 Fiona Mozley
Copyright © der deutschen Ausgabe 2020 btb Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: semper smile, München
nach einem Entwurf von Anne C. Winslow für workman.com
Covermotiv: © Stocksy/Melanie Kintz; © Shutterstock/surassawadee
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-22987-0
V002
www.btb-verlag.de
www.facebook.com/btbverlag
Für Megan
»Elmet war das letzte unabhängige keltische Königreich in England und erstreckte sich ursprünglich über das Tal von York … Aber noch bis ins 17. Jahrhundert waren dieser schmale Einschnitt und seine Seitenarme, unter den vereisten Mooren, ›Ödland‹, eine Zuflucht für Gesetzesflüchtige.«
Remains of Elmet
Ted Hughes
Ich werfe keinen Schatten. Hinter mir schwebt Rauch, und das Tageslicht ist gedämpft. Ich zähle die Schwellen, und die Zahlen rasen. Ich zähle die Nieten und Schrauben. Ich gehe nordwärts. Die ersten beiden Schritte langsam, träge. Ich weiß nicht sicher, welche Richtung ich einschlagen soll, doch mit dieser anfänglichen Entscheidung bin ich festgelegt. Ich bin durch das Drehkreuz gegangen, und das Tor ist verschlossen.
Ich rieche noch immer die Glut. Die verkohlten Umrisse einer schiefen Ruine. Ich höre die Stimmen: die Männer und das Mädchen. Die Wut. Die Angst. Die Entschlossenheit. Dann das verheerende Krachen des Holzes. Und das Züngeln der Flammen. Das heiße, trockene Knistern. Die blutverschmierte Haut meiner Schwester und das verwüstete Land.
Ich halte mich an die Bahngleise. Als ich in der Ferne eine Lokomotive höre, verstecke ich mich hinter einem Weißdornbusch. Keine Fahrgäste, ein Güterzug. Stählerne Waggons, gezeichnet vom Verfall. Rost und Staub und Jahrzehnte von Smog.
Es beginnt zu regnen und hört wieder auf. Das Unkraut ist nass. Die Sohlen meiner Schuhe quietschen im Gras. Sollten meine Beine irgendwann wehtun, ist mir das gleich. Ich laufe. Ich gehe. Ich laufe wieder ein Stück. Ich schleppe mich weiter. Ich ruhe mich aus. Ich trinke aus Kuhlen, in denen sich Regenwasser gesammelt hat. Ich stehe auf. Gehe weiter.
Ich bin von Zweifeln geplagt. Wenn sie sich südwärts gewandt hat, als sie an die Gleise kam, ist das Ganze sinnlos. Dann werde ich sie nicht finden. Ich kann gehen oder laufen, kann rennen oder mitten auf den Gleisen stehen bleiben, mich hinlegen und darauf warten, dass mich ein Zug überrollt; es wäre egal. Wenn sie sich südwärts gewandt hat, ist sie verloren.
Aber ich habe mich für den Weg nach Norden entschieden, also ist das die Richtung, in die ich gehe.
Ich breche alle Bande. Ich gehe über Felder. Ich steige über Stacheldrahtzäune und verschlossene Tore. Ich durchquere Industriegebiete und Gärten. Ich achte nicht auf die Grenzen von Grafschaften, Gemeinden oder Pfarrbezirken. Ich gehe über Koppeln, Weiden, durch Parks.
Die Gleise führen mich zwischen Hügeln hindurch. Die Züge gleiten sanft bergauf und bergab. Ich liege einen Abend im Moor ausgestreckt, beobachte den Wind, die Krähen, die Fahrzeuge in der Ferne; gefangen in Erinnerungen an ebendieses Land, weiter südlich; früher, in einer anderen Zeit; dann gleichermaßen gefangen in Erinnerungen an mein Zuhause, an meine Familie, an die Launen und Wendungen des Schicksals, an Anfänge und Enden, Ursachen und Auswirkungen.
Am nächsten Morgen gehe ich weiter. Unter meinen Füßen die Überreste von Elmet.
EINS ankamen, war Sommer, die Landschaft stand in voller Blüte, die Tage waren lang und heiß und das Licht weich. Ich streifte ohne Hemd umher, schwitzte ordentlich und genoss die Umarmung der drückenden Hitze. Damals bekam ich Sommersprossen auf den knochigen Schultern, die Sonne ging gemächlich unter, und die Abende waren zinnern, bevor es dunkel wurde und dann der Morgen wieder durchkam. Auf den Feldern tollten Kaninchen, und wenn wir Glück hatten, wenn es windstill war und ein Schleier sich auf die Hügel legte, sahen wir einen Hasen.
Die Bauern erschossen die Schädlinge, und wir fingen in unseren Fallen Kaninchen, um sie zu verzehren. Aber nicht den Hasen. Nicht meinen Hasen. Es war ein Weibchen, das mit seiner Kinderschar in einem Bau im Schatten der Gleise lebte. Es war an die vorbeifahrenden Züge gewöhnt, und wenn ich es sah, war es stets allein, als hätte es sich unbemerkt aus dem Bau geschlichen. Es war selten, dass ein solches Geschöpf im Sommer seine Jungen verließ und über die Felder lief. Es suchte nach etwas. Nach Futter oder einem Männchen. Es suchte, als wäre es ein Jagdtier, als wäre es eine Häsin, die noch mal nachgedacht und beschlossen hatte, keine Beute zu sein, sondern selbst zu laufen und zu jagen, als wäre es eine Häsin, die von einem Fuchs gejagt worden war und eines Tages plötzlich haltgemacht und sich umgedreht hatte und nun ihrerseits den Fuchs jagte.
Was auch immer der Grund war, die Häsin war anders als alle anderen. Wenn sie losflitzte, konnte ich sie kaum sehen, doch blieb sie einen Augenblick stehen, war sie das regloseste Wesen im Umkreis von Meilen. Regloser als die Eichen und Kiefern. Regloser noch als die Felsen und Strommasten. Regloser als die Eisenbahngleise. Es war, als hätte das Tier die Erde gepackt und mit sich selbst in der Mitte festgenagelt und als wirbelten noch die ruhigsten, harmlosesten Orientierungspunkte wild herum, während alles, die ganze Szene, von seinem riesigen, runden, bernsteingelben Auge aufgesogen wurde.
Und wenn die Häsin durch und durch mythisch war, dann auch das Land, an dem sie scharrte. Inzwischen nur noch mit Baumgruppen gesprenkelt, war die gesamte Grafschaft einmal Waldland gewesen, und wenn der Wind blies, waren die Geister des alten Waldes zu hören. In der Erde wimmelte es von den Fetzen vieler Geschichten, die sich sammelten und verwesten und dann wieder Gestalt annahmen, sich aus dem Unterholz erhoben und wieder in unser Leben drangen. Geschichten von grünen Männern mit Beinen aus knorrigem Holz, die mit belaubten Gesichtern aus dem Dickicht spähten. Das Gebell halbverhungerter Spürhunde, die im Rennen hechelnd nach der sich wehrenden Beute schnappten. Robin Hood und seine Bande magerer Vagabunden, die pfiffen und kämpften und schmausten, so frei wie die Vögel, an deren Gefieder sie sich vergriffen. In einem breiten Streifen lief ein uralter Wald von Norden nach Süden. Keiler und Bären und Wölfe. Rehe, Böcke, Hirsche. Unmengen unterirdischer Pilze. Schneeglöckchen, Glockenblumen, Primeln. Die Bäume hatten längst Feldfrüchten Platz gemacht, und außer Weiden und Straßen, Häusern, Bahngleisen und kleinen Wäldchen wie unserem war nichts mehr übrig.
Daddy und Cathy und ich wohnten in einem kleinen Haus, das Daddy aus Materialien aus der Umgebung baute. Er suchte uns einen kleinen Eschenhain, zwei Felder von der Ostküsten-Hauptstrecke entfernt, weit genug, um nicht gesehen zu werden, nahe genug, um die Züge zu erkennen. Wir hörten sie zur Genüge: das Brummen und Sirren der Personenzüge, das Rackern und Knorzen der Güterzüge, die mit ihrer in gestrichenen Metalltanks verstauten Fracht vorbeiratterten. Sie hatten ihre eigenen Fahrpläne und Zeitabstände, zogen mit jeder Fahrt Wachstumsringe um unser Haus und hörten sich an wie Gebetsglocken. Die langen indigoblauen Adelantes und Pendolinos, die von London nach Edinburgh brausten. Die kleineren Züge, die mehr Jahre auf dem Buckel hatten und Rost an den ratternden Strombügeln. Alte Züge voller Arbeitspferde, die zum Abdecker tuckerten, sie fuhren für die neueren Gleise zu langsam und rutschten auf dem warmgewalzten Stahl wie alte Männer auf Glatteis.
Am Tag unserer Ankunft kam ein alter Soldat in einem Sattelschlepper den Hügel herauf, beladen mit Trümmersteinen von einem verlassenen Bauplatz. Der Soldat überließ das Abladen weitgehend Daddy, während er selbst auf einem frisch gefällten Baumstamm saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Cathy drehte sie mit ihrem eigenen Tabak und Papier. Er beobachtete genau, wie sie sie zwischen den Fingern rollte und mit der Zunge über den Klebestreifen fuhr. Und er sah auf ihren rechten Schenkel, wenn sie den Tabaksbeutel darauf ablegte, und beugte sich mehrfach vor, um den Beutel zu nehmen, streifte Cathy mit der Hand und gab vor zu lesen, was auf der Packung stand. Jedes Mal bot er an, ihr die Zigarette anzuzünden. Streckte ihr die Flamme bereitwillig entgegen und war beleidigt wie ein Kind, wenn sie die Zigaretten selbst anzündete. Er sah nicht, dass sie die ganze Zeit, während sie seine Arbeit verrichtete, mürrisch dreinschaute und mit gerunzelter Stirn auf ihre Hände starrte. Er war außerstande, so in Gesichtern zu lesen, dass er es erkannt hätte. Er gehörte nicht zu den Leuten, die wissen, was Augen und Lippen ausdrücken, die sich vorstellen können, dass ein schönes Gesicht vielleicht keine schönen Gedanken umschließt.
Den ganzen Nachmittag redete der Soldat übers Militär und die Gefechte, an denen er im Irak und in Bosnien beteiligt gewesen war, davon, dass er gesehen habe, wie Jungen, nicht älter als ich, mit Messern aufgeschlitzt wurden, ihre Eingeweide von blassem Blau. Beim Erzählen dieser Geschichten hatte er nichts Düsteres. Den Tag über arbeitete Daddy am Haus, und abends gingen die beiden Männer den Hügel hinab, um den Apfelwein zu trinken, den der Soldat in einer Plastikflasche mitgebracht hatte. Daddy blieb nicht lange weg. Er trank nicht besonders gern, und außer meiner Schwester und mir hatte er nur ungern jemanden um sich.
Als er zurückkam, erzählte er uns, er habe sich mit dem Soldaten gestritten. Er hatte ihm eins auf die Rübe gegeben und eine blutende Risswunde am Daumen davongetragen.
Ich fragte, was den Streit ausgelöst habe.
»Er ist ein Mistkerl, Daniel«, sagte Daddy. »Er ist ein Mistkerl.«
Cathy und ich fanden das nur recht und billig.
Unser Haus war angelegt wie alle ebenerdigen Behausungen oder Wohnwagen an den Rändern einer Kleinstadt, wo alte Leute und arme Familien leben. Daddy war kein Architekt, doch er konnte einem grau-weißen Bauplan folgen, den er von der örtlichen Verwaltung beschafft hatte.
Aber unser Haus war stabiler als andere seiner Art. Es war aus besseren Ziegeln, besserem Mörtel, besseren Steinen und besserem Holz gebaut. Ich wusste, es würde viel länger stehen bleiben als die anderen Häuser an den in die Stadt führenden Straßen. Und es war schöner. Das grüne Moos und der Efeu aus dem Wald waren begieriger, nach seinen Wänden zu greifen, bereitwilliger, es in die Landschaft zurückzuholen. Mit jeder neuen Jahreszeit sah es älter aus, als es war, und je länger es da zu sein schien, desto länger würde es bleiben. Wie alle richtigen Häuser und jene, die sie ihr Zuhause nennen.
Sobald die Außenmauern errichtet waren, brachte ich Samen und Steckzwiebeln in die Erde, die da, wo Daddy die Grube für das Fundament gegraben hatte, noch offen war. Ich vergrößerte die Mulden und füllte sie mit Kompost und frischem Pferdemist. Den bekamen wir aus einem zwölf Kilometer entfernten Stall, wo kleine Mädchen in beigen Reithosen und glänzenden Lederstiefeln auf Ponys, einer beleuchteten Reitbahn folgend, ihre Runden ritten. Ich pflanzte Stiefmütterchen, Narzissen, Rosen in verschiedenen Farben und den Steckling einer weiß blühenden Kletterpflanze, die ich aus einer alten Trockensteinmauer hatte sprießen sehen. Es war zum Pflanzen die falsche Jahreszeit, aber manche Triebe kamen hervor, und im Jahr darauf waren es schon mehr. Bei einem richtigen Haus geht es ums Warten. Wir mussten es uns zu eigen machen, es Fuß fassen lassen, es wie uns selbst mit den Jahreszeiten, den Monaten und Jahren verbinden.
Kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag kamen wir an. Cathy war gerade fünfzehn geworden. Es war Frühsommer, also hatte Daddy genug Zeit zum Bauen. Er wusste, er würde lange vor Anbruch des Winters fertig sein, und bereits Mitte September würden wir darin wohnen können. Bis dahin hausten wir in zwei ausrangierten Militärlastwagen, die Daddy von einem Dieb in Doncaster gekauft und auf Nebenstraßen und Feldwegen zu unserem Bauplatz gefahren hatte. Wir verbanden sie mit einem Stahlseil und spannten fachmännisch eine Plane, die uns Schutz bot. Daddy schlief in dem einen Wagen, Cathy und ich in dem anderen. Unter der Plane standen verwitterte Plastikgartenstühle und etwas später auch ein durchgesessenes blaues Sofa. Das war unser Wohnzimmer. Um unsere Becher und Teller abzustellen und an warmen Sommerabenden, wenn es außer Dasitzen, Reden und Singen nichts zu tun gab, die Füße hochzulegen, benutzten wir umgedrehte Kartons.
In den klarsten Nächten blieben wir bis zum Morgen draußen. Wir schalteten die Radios beider Wagen ein, und Cathy und ich tanzten auf der laubübersäten Erde zu unserer Stereoanlage im Wald, wohl wissend, dass kein Nachbar nahe genug wohnte, um es zu hören. Manchmal saßen wir auch da und sangen ohne die Radios. Jahre zuvor hatte Daddy für mich eine Blockflöte und für Cathy eine Geige gekauft. Als wir noch zur Schule gingen, bekamen wir kostenlosen Unterricht. Wir waren keine großen Könner, doch mit den Instrumenten, die wir hatten, klang es nicht schlecht. Daddy hatte eine gute Wahl getroffen. Von Musik verstand er nichts, wohl aber von filigranen Objekten. Er erkannte Kunstfertigkeit und Qualität am Holz, am Leim, am Geruch des Lacks und am Schliff der Kanten. Wegen dieser Instrumente waren wir bis nach Leeds gefahren.
Er wusste nämlich über verschiedene Hölzer Bescheid. Er lernte die Bäume, die in unserem Wäldchen lebten, schnell kennen und zeigte sie mir. Kaum einer war älter als fünfzig Jahre, denn das Wäldchen wurde schon seit langem zurückgeschnitten, schon seit Hunderten von Jahren, wie Daddy glaubte. In der Mitte, direkt im Herzen, standen ältere Bäume, und einer war der älteste von allen. Die Mutter, sagte Daddy, von der alle anderen abstammten. Dieser Baum stand schon über zweihundert Jahre dort, und seine Rinde war hart wie gezapftes Kauri-Harz.
Es gab auch Haselsträucher, und manche trugen Nüsse. Daddy schnitt Zweige von den Stämmen und zeigte mir, wie man das Grünholz mit einem scharfen Klappmesser bearbeitet. Ich verbrachte Tage mit dem Versuch, aus frischem Grünholz eine dünne Flöte zu fertigen, schnitzte die weiche Rinde weg und bohrte das fleischige Mark heraus. Ich arbeitete präzise, gab mir Mühe, die Außenseite so glatt wie möglich zu machen, rund wie ein Finger. Doch die Flöte gab keinen Ton von sich, und danach begann ich, nützliche Dinge zu schnitzen, Gegenstände, die nicht so viel Geschick erforderten, oder, genauer gesagt, Dinge, die existieren konnten, auch wenn sie nicht ganz präzise gearbeitet waren. Solange man in eine Schüssel etwas hineinlegen kann, ist sie leicht zu definieren, auch wenn sie hässlich und grob ist. Aber eine Flöte, die keinen Ton hervorbringt, kann nicht als Flöte bezeichnet werden.
In unserem Zuhause im Wald gab es eine Küche und einen großen Eichentisch. Als wir noch kampierten, kochte Daddy auf einem Grill, den er aus Wellblechstücken angefertigt hatte, mit Holzkohle, die er im Herzen des Wäldchens nahe dem alten Mutterbaum in zwei Öltonnen gebrannt hatte.
Damals aßen wir zu viel Fleisch. Wir hielten uns an Daddys Kost und aßen das, was er für sich zubereitet hatte, bevor wir dauerhaft zu ihm gezogen waren. Das war vor allem das Fleisch der Tiere, die er auf der Jagd erlegte. Aus Obst und Gemüse machte er sich nichts. Er jagte Ringeltauben, Felsentauben, Türkentauben, Fasane und Waldschnepfen, wenn sie abends aus der Deckung kamen. In der Umgebung lebten auch Muntjaks, und wenn es nicht genug zu jagen gab, wenn er Geld in der Tasche hatte oder ein bisschen Abwechslung wollte, ging er ins Dorf und feilschte um Rinderbraten, Lamm- oder Schweinswürste. In der Jagdsaison gab es kleinere Tiere zum Frühstück. Ein Mann aus dem Dorf hatte einen Zwergfalken, mit dem fing er so viele Feldlerchen, dass er sie nicht allein verzehren konnte, deshalb tauschte er sie gegen Vögel ein, die für den Falken zu groß waren. Wir aßen die Lerchen auf Toast, fast im Ganzen, und tranken heißen Milchtee dazu.
Einmal zog Daddy für vier Tage mit den Fahrenden los und kehrte mit einem Jutesack voll gerupfter Enten und fünf Kisten lebender Hühner zurück. Nicht weit von da, wo später die Hintertür des Hauses sein würde, baute er einen Hühnerstall. Danach aßen wir Eier, doch bis auf die Beeren vom Straßenrand weiterhin kaum Obst oder Gemüse.
Erst als das Haus fertig war, pflanzte ich Apfel- und Pflaumenbäume und bat Daddy, mir, wenn er im Dorf etwas zu erledigen hatte, Säcke voll Möhren und Pastinaken mitzubringen. Mit Messern, die mein Daddy geschärft hatte, bereitete ich zu, was er auf den geschrubbten Küchentisch brachte.
Bevor das Haus fertig war, in jenen heißen, trockenen Monaten, in denen wir kampierten und sangen, redete Daddy ernsthaft mit uns. Er machte nur wenig Worte, doch wir hörten viel mehr. Er sprach von den Männern, mit denen er gekämpft, und denen, die er getötet hatte, auf den Torffeldern Irlands oder im schwarzen Schlamm von Lincolnshire, der wie Tinte an Händen und Füßen klebt. Daddy boxte für Geld, mit bloßen Fäusten, weit weg von Sporthallen oder Auditorien, doch es konnte um große Summen gehen; von überall her kamen Männer, die aus dem Nichts plötzlich Geld hatten, um auf seinen Sieg zu wetten. Wer nicht auf meinen Daddy setzte, war ein Trottel. Er konnte einen Mann mit einem einzigen Hieb k. o. schlagen, und wenn es länger dauerte, dann weil er es so wollte.
Die Kämpfe wurden von Fahrenden oder derben Männern aus der Gegend veranstaltet, die nach der Gelegenheit gierten, sich zu beweisen und eine Stange Geld zu verdienen. Seit Jahrhunderten hielten die Fahrenden solche Kämpfe ab. »Preiskämpfe« nannten sie sie oder »Jahrmarktkämpfe«. Man trug weder gepolsterte Handschuhe, noch wurde das Ganze in Runden mit Pausen unterteilt. Diese Männer kämpften nicht bis zum ohrenbetäubenden Friedensgeläut der Glocke, sondern bis einer aufgab oder totgeprügelt war. Manchmal legten die Kämpfe Streitigkeiten zwischen verfeindeten Sippen bei. Doch genauso oft ging es um Geld. Mitunter um Zehntausende Pfund, und Daddy konnte gut davon leben.
Er erzählte uns, dass es zwischen den Joyces und den Quinn-McDonaghs jahrzehntelang eine Fehde gab. Etwa alle drei Jahre schickten sie ihre jungen Männer in einen Zweikampf, der mit bloßen Fäusten ausgetragen und von älteren Männern aus neutralen Familien angeleitet wurde. Bei diesen Kämpfen durften die Familien selbst nicht anwesend sein, da sonst zwischen der einen und der anderen Sippe, zwischen Alt und Jung, Männern und Frauen eine Schlägerei ausbrechen konnte und womöglich ein großer Teil der fahrenden Gemeinschaft ausgelöscht oder verhaftet, in Gefangenenwagen verfrachtet und hinter Gitter gebracht wurde.
Es gab viel zu gewinnen. Bei diesen Fehdenkämpfen ging es um hohe Summen. Die Joyces und Quinn-McDonaghs wetteiferten darum, wie viel Geld sie einzusetzen bereit waren. Manchmal an die 50 000 Pfund jeweils, und der Gewinner nahm alles mit in seinen Wohnwagen und hielt die ganze Sippe einen Abend lang mit Whisky frei. Daddy sagte, sie sehnten sich geradezu nach den Kämpfen. Der Streit zwischen den Familien sei nach dieser ganzen Zeit kaum noch von Bedeutung, aber sobald eins der Oberhäupter knapp bei Kasse sei, würden sie ihn in der Hoffnung auf Gewinn neuerlich schüren. Es gehe um mehr als Stolz; es gehe um Preisgeld.
Darum ging es auch Daddy. Wir waren keine Fahrenden, die Fehden waren für uns bedeutungslos. Er nahm an Kämpfen teil, die um des Geldes willen veranstaltet wurden, bei denen Fahrende, grobe Bauern, Kriminelle aus den Städten, Besitzer von illegalen Nachtclubs und Bars, Drogendealer und Schläger oder bloß Männer, die dachten, ihr Wert liege in ihren Fäusten, zusammenkamen und ihr Geld mitbrachten, um es zu vermehren. Daddy erschien in Bluejeans und zugeknöpfter Bomberjacke. Ein Mittelsmann nannte ihm am Telefon Zeit und Ort, oder er wurde einfach von den Fahrenden oder irgendwem abgeholt. Er wartete still inmitten seiner Bewunderer. Selten redete er mehr als unbedingt nötig. Ließ sich nur von sehr wenigen in die Augen blicken. Drehte sich weg und ging ruhig auf und ab, während die Männer ihre Geschäfte abschlossen und die Quoten vereinbarten.
Daddy fing an. Er legte Jacke und Pullover ab und stand in weißem Unterhemd da, wobei nicht die schieren Muskelschichten eines Athleten zum Vorschein kamen, sondern Bizepse, die weiche, straffe Kissen hätten sein können, hätten sie nicht aus langen, gummiartigen Strängen bestanden. An seinen Armen wuchsen kaum Haare. Erstaunlich wenige. Sein Rücken war bis hinauf zum Nacken voller schwarzer Haare, und an seinem Bauch wuchsen sie bis zur Brust hinauf und trafen auf einen schwarzen Vollbart und Schopf, doch seine Arme waren unbehaart. Er betrat die vereinbarte Stätte, und auch der andere Mann nahm seinen Platz ein. Daddy sah seinen Gegner zum ersten Mal. Er war emotionslos. Er hasste diesen Mann nicht. Er trat auf ihn zu und boxte mit ihm, und als es vorbei war, hörte er verhaltenen Beifall und wurde zu einem blauen Peugeot hinter der Menschenmenge gebracht, aus dessen Kofferraum man ihm eine Tasche voll schmutzigen Geldes gab.
Irgendetwas an dem, was jene Männer sahen, musste sie mit Genugtuung erfüllen. Das Wetten verdeckte den wahren Reiz. Das Geld gehörte natürlich dazu, um das Ganze abzusichern. Um es zu einem Geschäft zu machen. Um das Spektakel mit etwas zu unterfüttern. Um die Darbietung zu rechtfertigen. Aber wäre es ihnen um Geld gegangen, hätten sie es auf andere Weise bekommen können, und wäre es rein geschäftlich gewesen, wären die Kämpfe nicht mit bloßen Fäusten ausgetragen worden.
Ja, es war während jenes Sommers im Wald, bevor das neue Haus fertig war, dass Daddy uns diese Geschichten erzählte, dass er sich uns anvertraute, und Cathy und ich hörten zu, als erhielten wir ein kostbares Erbe. Daddy machte riesige Augen, wenn er zu uns sprach, sie waren gesprenkelt, hellblau wie abgenutzter Jeansstoff. Er beugte sich vor, riss sie weit auf und kniff sie leicht zusammen, sobald er nach einer undeutlichen Erinnerung kramte. Er setzte sich auf die Stuhlkante, die langen, mächtigen Beine gespreizt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die riesige Brust von breiten, schweren Schultern gekrönt.
Vermutlich stammte unser Geld daher. Von Daddys Kämpfen. Doch monatelang fanden keinerlei Kämpfe statt, und Daddy suchte sich andere Arbeit. Er erwähnte diese andere Arbeit, aber da gab es nicht so viele Geschichten. Manchmal waren die Männer, mit denen er zusammenarbeitete, Fahrende, oft jedoch kamen sie von weither.
Eines Donnerstags in unserem ersten September saßen Cathy und ich abends allein in der Küche unseres neuen Zuhauses. Am Nachmittag war es windig gewesen, und am Abend war es noch windiger. Die Fundamente und Fugen des Hauses wurden auf die erste Probe gestellt, und sie knarrten und ächzten, wie es in jedem Gebäude ist, das noch nicht Fuß gefasst hat. Das Haus suchte seinen Platz in der Landschaft, es setzte sich und schmiegte sich in seine Mulde, und wir spürten, wie es stundenlang seufzte und stöhnte.
Daddy war seit dem Vortag fort, und wir rechneten damit, ihn eine Weile nicht zu sehen. Deshalb waren wir überrascht, als er am nächsten Morgen kurz nach Tagesanbruch nach Hause kam. Wir spielten Karten und tranken becherweise Tee, und plötzlich hörten wir seinen Wagen heranrollen und behutsam auf der Laubstreu bremsen, und dann seine vertrauten Schritte, die auf uns zukamen. Ich lief in die Diele, um ihm die Tür zu öffnen, entriegelte sie oben und unten und schloss auf. Dann zog ich die Tür auf und trat beiseite, um meinen Daddy vorbeizulassen. Hellwach, aber erschöpft ging er zum Küchentisch und setzte sich auf einen der drei Holzstühle, der sich unter seinem Gewicht bog.
Er forderte Cathy auf, ihm eine Tasse Tee zu machen, und sie stand auf und stellte den Kessel wieder auf den Herd. Daddy streckte die Beine unter den Tisch und zog sie wieder an, um die fest verknoteten Schnürsenkel zu lösen. Cathy drehte ihm eine Zigarette, während sie auf das Wasser wartete, und als sie sie ihm reichte, sah ich, dass ihr Gesicht plötzlich wach war, genau wie seins, als hätte er etwas Putzmunteres für uns zum Verzehr mitgebracht. In dem Augenblick sah ich, wie so manches andere Mal, dass sie wahrhaft seine Tochter war.
Er sagte, es habe ihn jemand angerufen. Jemand, den er von hier und dort kenne. Peter lebte im Dorf, seit er neun oder zehn war; damals war seine Mutter von Doncaster hergezogen, um in der Frittenbude zu arbeiten, wo sie das Geld der Kunden entgegennahm und dann den Fisch einpackte, den die Männer gebraten hatten. Peter hatte, natürlich durch einen Freund, gefragt, ob Daddy mal vorbeikommen könne. Er habe gehört, dass wir in die Nähe gezogen seien. Das heißt, er hatte von Daddys Ruf gehört. In gewissen Kreisen in Teilen Yorkshires und in Lincolnshire und den umliegenden Grafschaften gab es nur wenige, denen er kein Begriff war.
Peter hatte immer mal wieder für Bauunternehmen in der Gegend gearbeitet. Die meisten vergaben inzwischen keine Aufträge mehr, und die, bei denen nicht völlig Schluss war, hatten zumindest nur noch eingeschränkt zu tun. Zwei, drei Jahre lang habe Peter nicht viel zum Leben gehabt, sagte Daddy, doch er habe es überstanden. Er habe begonnen, eigenständig zu arbeiten, auf privater Basis, und habe sich an jeden in der Gegend verdingt, der noch Geld besaß. Er habe Anbauten errichtet, Rohrleitungen verlegt, Fenster eingesetzt und dergleichen mehr. Arbeiten, die Daddy hätte übernehmen können, aber nicht ausführen wollte. Peter habe das gut gekonnt, sagte Daddy. Er habe gewusst, wie man seine Zeit und sein Geld einteilt, was schon die halbe Miete sei. Die Leute hätten ihren Bekannten von ihm erzählt, und er habe mehr als genug Arbeit gehabt. Eine Zeit lang habe er sich nicht bloß über Wasser gehalten, er habe Stolz oder so was empfunden, ein Gefühl, das in dieser Gegend fast vergessen sei. Es habe für ihn wieder so was wie eine Zukunft und eine Vergangenheit gegeben, und Peter habe begonnen, sich dazwischen einzurichten.
Vor zwei Jahren habe er im Winter auf einem der großen Bauernhöfe gearbeitet. Er habe gerade an einem der Nebengebäude einen Anbau errichtet, als eine fette Milchkuh mit zwei Kälbern im Bauch ihre Zitzen aus der Melkmaschine gerissen und sich freigestrampelt habe und zum Scheunentor herausgaloppiert sei. Sie habe die Leiter unter Peters Füßen umgerannt, und er sei ihr unter die Hufe gestürzt. Als sie mit dem Hinterbein auf seinen Rücken getreten sei, habe sie den veränderten Untergrund gespürt und erst nach der Scheunenwand und dann nach Peters Kopf und Hals ausgeschlagen. Er habe das Bewusstsein verloren und sei blutend auf dem schmutzigen, nassen Beton liegen geblieben.
Bauernhöfe können einsame Orte sein. Wenn man Risswunden und zerschmetterte Knochen hat, kann es dort einsam sein. Wenn man stirbt, kann es dort einsam sein. Aber bei Peter an jenem Tag sei es anders gewesen. Einer der festangestellten Arbeiter habe ihn und seinen versehrten Körper gefunden, ihn in seinen Mantel gehüllt und in einem Pferdetransporter nach Doncaster ins Krankenhaus gebracht.
Seine Beine könne Peter nicht mehr gebrauchen. Er müsse die meiste Zeit im Rollstuhl verbringen. Er könne nicht mehr arbeiten. Nach dem Unfall sei er abends nicht mehr in den Pub gegangen, sondern zu Hause geblieben und habe auf Besuch gewartet. Alte Freunde seien noch vorbeigekommen, doch allmählich sei er von der Bildfläche verschwunden, und so hätten ihn außer seinen besten Freunden alle vergessen. Die Gemeinde habe ein bisschen geholfen und auch die Kirche. Peter habe eine ältere Nachbarin, die ihm im Garten zur Seite stehe. Sie schneide in der richtigen Jahreszeit die Zweige von Bäumen und Sträuchern, fege die herabgefallenen Blüten und Blätter auf und sorge dafür, dass nach Regengüssen das Wasser ablaufen könne. Er habe eine Tante, die er erst nach dem Tod seiner Mutter kennengelernt habe, und die bringe ihm jeden zweiten Sonntag Kuchen und Zeitungen und wechsle seine Bettwäsche.
Es sei alles in Ordnung, doch es könnte besser sein. Nach seinem Unfall habe Peter das Geld einfordern müssen, das man ihm für die Arbeit des vorangegangenen Jahres und die Materialien schuldete, die er bereitgestellt hatte. Er habe nie sofortige Zahlung gebraucht, weil es für ihn gut gelaufen sei. Gleichbleibend. Er habe genauso darauf vertraut, dass man ihn bezahlen werde, wie er auf seinen Körper und seine Beständigkeit vertraut habe. Er habe nicht bedacht, dass man ihn betrügen könnte, denn er habe nie Schwäche gekannt. In unserer Welt gehe es um Muskelkraft, sagte Daddy immer, und daran habe es Peter erstmals im Leben gefehlt. Er habe seine Schuldner angerufen, und die Hälfte habe unverzüglich gezahlt oder begonnen, die Summe in Raten abzustottern. Nach seinem zweiten Anruf habe auch die Hälfte der übrigen reagiert. Die verbleibenden Leute hätten ihre Schulden nach beharrlichem Nachfragen und ein paar scharfen Worten von anderen Männern, Freunden aus Peters Kindheit und Arbeitsleben, schließlich beglichen. Nur ein Einziger sei übrig geblieben. Er sei ein schmieriger Mistkerl, sagte Daddy, und wohne in einem der freistehenden Häuser in der besseren Gegend von Doncaster, einem Haus mit Fenstern beiderseits der Haustür und einer mit Steinen ausgelegten Einfahrt. Er sei kein guter Mensch, sagte Daddy, und auch wenn er vor den Augen der Polizei zu seinem Geld gekommen sei, habe er es weder sauber erworben noch auf anständige Weise ausgegeben. Weder geziemend noch ehrlich. Er habe es nicht eigenständig, mit seinem Verstand und seiner Hände Arbeit, verdient, sondern zusammen mit einer Clique von Männern, die sich zusammengetan hätten, um noch die letzten Blutstropfen aus ihrer Heimatstadt herauszuquetschen. Dieser Mann habe die Arbeit anderer Männer ge- und verkauft und besitze schummrige Clubs in schummrigen Gassen, in denen sich Frauen tanzend ihrer Kleidung entledigten. Sein Geld stamme von den Körpern anderer Leute, sagte Daddy, von den Muskeln der Männer und der Haut der Frauen.
Peter habe für ihn einen Wintergarten gebaut. Nach allem, was man höre, sei der wunderschön. Das habe Wochen gedauert und ein Vermögen gekostet, und der Mann schulde Peter noch fast fünftausend Pfund und die elektrischen Präzisionswerkzeuge, die er an der Baustelle zurückgelassen habe. Er habe telefoniert, geschrieben und von der Straße aus gerufen, doch der Kerl habe es nicht für nötig befunden zu reagieren. Und so habe Peter nach ein paar Monaten, als rasch die Armut einsetzte, herumgefragt, und der Freund eines Freundes eines Freundes habe ihm von dem bärtigen Riesen erzählt, der mit seinem kleinen Sohn und seiner raubvogelhaften Tochter im Wald wohne.
»Ich habe ihn gestern Nachmittag besucht«, sagte Daddy. »Er wohnt noch immer im Haus seiner Mutter, ich kenne es aus der Zeit, als ich in der Gegend gelebt und bei allen in der Straße den Rasen gemäht hab. Er hat mir das Ganze erzählt. Mir die Einzelheiten berichtet. Mir seinen Fall dargelegt, sozusagen. Und er hat mich überzeugt. Ihr beide wisst besser als jeder andere, dass ich nicht für nix kämpfe. Und ich rede hier nicht von Geld oder Preisen. Bei so einem Kampf muss es einen Grund geben, und Pete hat einen. Dieser Mr Coxswain ist ihm gehörig was schuldig, und das gefällt mir gar nicht. Jemanden in Peters Lage so auszunutzen, noch auf ihm rumzutrampeln, wenn er schon am Boden liegt. Ich bin kein Schläger, das dürft ihr nicht denken, aber bei Gott, so was macht mich wütend. Pete hat mir erzählt, wo und wann ich Coxswain erwischen kann. Abends ist er meistens in einem Hinterzimmercasino am Stadtrand, da trinkt er und spielt Karten. Der Laden gehört einem alten Kumpel von ihm, sie haben ihn zusammen aufgemacht, um für ihre Clique Geld zu scheffeln. Manchmal schleppt Coxswain Tausende Pfund nach Hause, das Geld von verzweifelten Trotteln, die nicht begreifen, dass sie zum Verlieren verdammt sind. Als ich das erfuhr, bin ich gleich am Abend hingefahren, weil ich wusste, er würde Geld dabeihaben. Es wäre ja sinnlos, die Sache durchzuziehen und am Ende ohne Petes Geld dazustehen. Das wäre nur die halbe Gerechtigkeit, wisst ihr. Die andere Hälfte ist das Geld zum Leben. Zu erledigen, was zu erledigen ist.«
Daddy hatte seinen Tee schon getrunken, bevor er abgekühlt war.
»Also hab ich mir Petes Wagen geliehen. Das hat er selbst vorgeschlagen, und damit hatte er recht. Wenn der Wagen gesehen wurde, würden die Leute ihn damit in Verbindung bringen, aber niemand würde ihm das zutrauen, was ich vorhatte. Pete kann nicht mal mehr fahren, der arme Kerl. Aber es hat sowieso niemand was gesehen. Ich hab zehn Minuten entfernt geparkt, bin gegen zwei Uhr früh zum Casino und hab bis nach vier gewartet, bis die meisten Männer gegangen waren, hab darauf geachtet, nicht gesehen zu werden, hab mich hinter ein paar Platanen verborgen. Coxswain war einer der Letzten, die gingen. Müde, aber nicht betrunken. Dafür war er zu wachsam. Und zu entschlossen, beim Spielen zu gewinnen. Er kam zu seinem Wagen, der nicht weit von mir geparkt war. Ich würde gern behaupten, dass ich es so geplant hatte – hätte ich tun sollen –, hatte ich aber nicht, ich hatte einfach Glück, zugegeben. Doch ich war langsam. Er öffnete den Kofferraum und stellte die Tasche rein, und ich kam erst bei ihm an, als er ihn wieder schloss. Natürlich drehte er sich um, natürlich überlegte er, wer ich bin, und vermutete zu Recht, dass ich Ärger machen würde, aber er verstand nicht, warum. Noch nicht. Er richtete sich auf, aber ich war schneller mit meiner Frage. Ich fragte, ob er der wär, für den ich ihn hielt. Er hätte Nein sagen sollen, aber er sagte, er wär’s. Mutig. Ein kleines bisschen Respekt schlich sich ein. Aber dann hat er’s vermasselt. Hat sein wahres Ich gezeigt. Ich bat um das Geld, das er Pete schuldete. Um den exakten Betrag – ich bin ja kein Dieb. Ich sagte, ich würde es Pete übergeben. Machte klar, dass ich’s ihm sofort abnehmen würde, dass ich wüsste, dass er Geld dabeihatte. Erst dachte ich, er spurt. Er sagte, er würde es aus dem Kofferraum holen, und steckte den Schlüssel ins Schloss. Jemand anders als ich wäre vielleicht misstrauischer gewesen, aber für so was hab ich keine Zeit. Ich muss nicht misstrauisch sein. Misstrauen beruht auf Angst, wisst ihr. Wenn er eine Pistole oder ein Messer rausgeholt hätte, hätte ich gewusst, wie ich damit fertig werde. Ist mir egal. Er öffnete also den Kofferraum, als wollte er seine Geldtasche rausholen, aber stattdessen griff er nach einem Golfschläger. Er holte aus und wollte nach mir schlagen, aber …«
Daddy blickte auf den geschrubbten Eichentisch. Ein leichtes Lächeln glitt über seine feuchten Lippen. Dann fixierte er Cathy mit seinen blauen Augen. Sie hatte sich die Geschichte angehört, blieb aber ungerührt. Ihr Gesicht war reglos, ihr Blick klar.
»Tja. Spielte keine Rolle«, sagte er. Cathys Augen weiteten und verengten sich wie die Wellenmuster auf einem alten Kreisel.
Daddy erzählte, was er als Nächstes getan hatte. Wie er den Arm ausgestreckt und den Schläger gepackt hatte. Wie er ihn mit bloßen Händen zerbrochen hatte. Wie Mr Coxswain würgend auf dem Asphalt gelegen hatte, so zusammengeschlagen, dass er hätte bewusstlos sein müssen. Doch Daddy war ein Experte. Er wusste, wie man einen Kampf in die Länge zieht. Wie man jemanden leiden lässt.
Er schilderte es ausführlich. Erzählte uns alles. Bis ich das Gefühl hatte, dass mir Tränen in die Augen traten.
Da hielt er inne. Brach plötzlich ab. Erhob sich von seinem Stuhl und nahm mich in die Arme, sagte, es tue ihm leid, er hätte uns nichts erzählen sollen.
»Und hast du Peters Geld?«, fragte Cathy.
Er drehte sich zu ihr um und setzte sich wieder, ließ meine Hand aber nicht los.
»Ja«, sagte er. »Ich hab’s ihm wiedergeholt. Alles. Und jetzt zeig ich euch, was er mir dafür gegeben hat.«
Er stand auf und schlüpfte zur Haustür hinaus. Bei seiner Rückkehr hielt er zwei schwarze Welpen in den blutverschmierten Pranken. Zwei Lurcher. Mit Border Collies gekreuzte Windhunde. Noch an jenem Morgen tauften wir sie Jess und Becky und richteten ihnen in der Diele ein gemütliches Plätzchen ein. Dort war noch kein Fußboden verlegt, und so würde es gleichzeitig wie drinnen und wie draußen sein. Daddy sagte, das würde zu ihnen passen.