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Zum Buch

Ein Leuchtturm vor der Küste Norwegens – wir schreiben die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Um seine Familie vor dem finanziellen Ruin zu retten, muss Johan Marie heiraten, obwohl er Hannah liebt. Sie lassen sich auf dem Leuchtturm von Kjeungskjær nieder, Norwegens einzigem achteckigen Leuchtturm. Dort, vor der felsigen Küste im Nordatlantik, stürmt es so sehr, dass die Wellen manchmal bis zur Dachspitze reichen. Da oben sitzt Johan und fühlt sich vom Leben betrogen. Doch im Laufe der Geschichte wird es immer fraglicher, wer wen wirklich täuscht…

Zur Autorin

MAREN UTHAUG wurde 1972 als Tochter einer norwegischen Mutter und eines samischen Vaters geboren und wuchs in Dänemark auf. Sie arbeitet als Graphikerin und gewann 2013 den Cartoon-Wettbewerb der großen dänischen Tageszeitung Politiken. Für ihren Roman »Hannahs Lied« wurde sie mit dem Dänischen Romanpreis des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ausgezeichnet. Sie hat drei Töchter.

MAREN UTHAUG

Hannahs Lied

Roman

Aus dem Dänischen
von Ulrich Sonnenberg

Die dänische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Hvor der er fugle« bei Lindhardt og Ringhof, Kopenhagen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2021

Copyright © 2017 by Maren Uthaug

Published by agreement with Copenhagen Literary Agency ApS, Copenhagen.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021

by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Getty Images/Feifei Cui-Paoluzzo; © plainpicture/Thomas Günther

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

mb · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-23425-6
V001

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Für Turid und Solveig.
Als Dank für alle Geschichten.

Kjeungskjær Leuchtturm. Lage: 63° 43,6’ N 9° 31,9’ O, Gemeinde Ørland. Erbaut: 1880. Bauart: roter Mauerturm, bei mittlerem Hochwasser 20,6 Meter hoch. Leuchtweite: 13,1 nautische Meilen. Betriebszeit: 21. Juli–16. Mai.

Prolog

Kjeungskjær Leuchtturm, 1920

Es war lange her, seit er einen klaren Gedanken gefasst hatte. Einen Gedanken, der nicht einfach in dem dichten Nebel verschwand, der über ihm lag. Vielleicht auch über dem Leuchtturm, er wusste es nicht so genau. Aber heute wusste Lassen, was er wollte. Und der Gedanke beflügelte ihn. Er hatte geglaubt, er könne sich daran gewöhnen, allein auf der Schäre und im Leuchtturm zu leben; er hatte gedacht, er könne sich daran gewöhnen, dass sie nicht mehr da war. Einundzwanzig Jahre hatte sie hier draußen mit ihm allein gelebt, einundzwanzig Jahre waren sie gemeinsam einsam gewesen. Sie hatten keine Kinder, stattdessen hielten sie Hunde. Einen nach dem anderen.

Der Hund saß im Turm immer neben ihm, es sei denn, es wurde zu warm, dann verkroch er sich in den Keller. Er hatte die Klinken an der Tür des Turmzimmers versetzt, sie saßen jetzt niedrig genug, dass der Hund die Tür von außen und innen öffnen konnte.

Seit sie fort war, hatte er mit niemandem mehr gesprochen, nur noch mit dem Hund. Bis zum Land waren es zwei Kilometer – bis Uthaug. Bis zu den nächsten Menschen. Nicht dass dort viele Menschen lebten, hundert vielleicht, wenn man die Kinder mitzählte. Es gab natürlich noch die ganzen Herings­fischer, die von außerhalb kamen, um Geld zu verdienen. Wenn die Einheimischen nicht wussten, worüber sie reden sollten, bestätigten sie sich gegenseitig, dass der Rest Norwegens neidisch sein müsse auf all den Hering hier in ihrer Bucht. Lassen hatte nie darüber geredet. Er stammte nicht aus der Gegend.

Nicht nur die Gedanken waren ihm in der letzten Zeit schwer geworden. Er bewegte sich auch langsamer. Für die dreiundfünfzig Stufen vom Keller bis zur Lampe benötigte er beinahe doppelt so viel Zeit wie noch vor einem Jahr. Er brachte nicht einmal mehr die Energie auf, die Treppenstufen zu zählen, wenn es dunkel war, daher geschah es nicht selten, dass er über eine Stufe stolperte. Oder dass er den Fuß auf eine Stufe setzen wollte, die es gar nicht gab. Er hatte Wunden an den Knien und aufgeschürfte Handflächen. Sie hätte ihn ausgelacht, sie hätte ihn vielleicht sogar damit aufgezogen. Doch nun gab es niemanden mehr, für den er sich anstrengen musste.

Oben im Turm füllte er Petroleum in die Lampe, bis es an der Seite herunterlief. Dann putzte er das Glas, damit das Licht ungehindert scheinen konnte. Er nahm den Lappen, der an der Tür hinaus zum Geländer hing und trat vorsichtig ins Freie, auf die schrägen Bretter, die rund um das Turmzimmer führten. Sorgfältig wischte er die Schaumspritzer der Wellen von den Fensterscheiben. Nur weil er sterben wollte, mussten die Seeleute ja nicht mit ihm untergehen.

Er ging zurück ins Turmzimmer und versetzte dem getrockneten Hornfisch, der unter der Decke hing, zum Abschied einen kleinen Stoß. Jahrelang hatte der Fisch sich hin und her gedreht, um ihm zu erzählen, aus welcher Richtung der Wind wehte und wie heftig es werden würde. Das Wetter von morgen war jetzt bedeutungslos.

In einem Anflug von frischer Energie stieg er die Treppe bis in den Keller hinab, ohne zwischendurch stehen zu bleiben. Er rief nach dem Hund, der gern auf dem felsigen ­Boden dort unten schlief. Zusammen gingen sie hinaus aufs Riff. Der Hund schnüffelte träge an einem Tangklumpen. Ein kleiner Krebs schoss heraus. Ein Schwarm Vögel flog vorbei. Sie wussten, dass das Riff kein sicherer Ort war.

Das Wasser stieg, es hatte sich bereits halb auf den Felsen gefressen. Er dachte an die warmen Sommertage, an denen sie im Meer gebadet und hinterher zusammen auf den Felsen gelegen und sich gesonnt hatten. Sie ließ sich nur selten ins Wasser locken. Letzten Sommer war es nicht einen einzigen Tag warm genug gewesen. Aber da hatte sie bereits krank im Bett gelegen, und allein hätte er sich ohnehin nicht hinausgelegt.

In wenigen Stunden würde das Wasser das ganze Riff überspült haben, die Wellen würden die Wände des Leuchtturms hinauflecken. Er entfernte sich so weit von dem Leuchtturm, wie das Wasser es zuließ, drehte sich um und betrachtete den Turm, der sich stolz und rot in den blauen Himmel erhob. Er hatte diesen Leuchtturm immer geliebt. Er ließ seinen Blick über die Ecken schweifen. Eins, zwei, drei, vier. Obwohl er die dem Land zugewandte Seite nicht sehen konnte, zählte er deren Ecken mit. Fünf, sechs, sieben, acht. Es war Norwegens einziger achteckiger Leuchtturm. Das heißt, er war nicht ganz sicher, ob es nicht doch noch andere gab, aber normalerweise prahlte er damit, wenn ihn selten genug einmal Fremde besuchten. Es war sein Leuchtturm, den Hering überließ er gern den anderen.

Er atmete tief durch. Am besten, er handelte, bevor der Nebel ihn wieder übermannte. Er rief den Hund, nahm im Keller einen langen Strick von der Wand, dann griff er nach der schwarzen Flagge, die mit der norwegischen Fahne im Regal lag. Er faltete die Flagge noch einmal zusammen, um sie unter den Arm klemmen zu können. Der Hund sah ihn schwanzwedelnd an.

»Komm«, forderte er ihn auf. Der Hund folgte ihm begeistert. Es war ein junger Hund, der noch viele gute Jahre vor sich hatte. An der Tür zum Turm zögerte er, den Hund könnte er zurücklassen. Wenn er die schwarze Flagge hisste, würden sie schon bald von Uthaug herüberkommen. Mit dem Motorboot dauerte es nicht mehr als zehn Minuten. Eine halbe Stunde, wenn sie ruderten. Der Hund wäre also nicht mehr als ein paar Stunden allein, wenn er nicht mehr da war. Zumindest, wenn sie die Flagge sahen, bevor das Tageslicht verschwand. Sonst würde möglicherweise jemand bemerken, dass die Lampe nicht mehr leuchtete, gegen drei Uhr nachts, wenn das Petroleum verbrannt war. Und selbst wenn niemand das erloschene Leuchtfeuer bemerkte, hatten sie den ganzen morgigen Tag Zeit, um die Flagge zu entdecken. Der Hund hätte nicht einmal Hunger, bis jemand kam. Der Hund blickte ihn flehend an, er hockte sich hin und umarmte ihn. Selbstverständlich würde der Hund ihm folgen, wohin er auch ging.

Er griff zur Schnapsflasche, die neben der Lampe stand, und setzte sie an den Mund. Er wusste, dass sie leer war, aber allein der Geruch tat gut.

Die Flagge glitt rasch in die Luft und flatterte munter im Wind. Zum ersten Mal hisste er die schwarze Flagge. Er zog sie ganz hoch und befestigte die Schnur am Beschlag der Stange.

Er überprüfte die Fenster ein letztes Mal auf Gischtspritzer und Vogelkot und schloss die Tür hinter sich. Er packte den Hund und band ihm den Strick um den Hals. Der ließ es bereitwillig geschehen, im Vertrauen darauf, dass sein Herrchen nur sein Bestes wollte. Er knüpfte den Knoten, mit dem er normalerweise sein Boot vertäute, und warf das andere Ende des Stricks über den Deckenbalken. Mit einem Brüllen zog er den Hund in die Höhe. Der Hund jaulte und strampelte mit den Beinen. Versuchte zu bellen, bekam aber keine Luft. Blickte ihn unglücklich an, als bitte er um Hilfe. Er brüllte, bis ihn der Tod aus den Augen des Hundes anstarrte.

Langsam ließ er ihn hinunter, sanft fiel der Hund auf den Holzboden. Vorsichtig stieß er ihn mit dem Fuß an. Er ­reagierte nicht mehr.

Er überlegte kurz, wo er selbst hängen sollte, ohne das Leuchtfeuer zu verschatten, und warf den Strick über den Balken, der der Küste am nächsten war. Er kletterte auf einen Stuhl und ließ den Blick zum Horizont wandern. Dann schloss er die Augen und trat den Stuhl unter sich weg, der krachend zu Boden fiel. Ein hastiges Schnappen nach Luft, ein verzweifeltes Zucken der Beine.

Bald war kein Laut mehr zu hören außer den Wellen, die sich geduldig und mit der Gewissheit auf das Riff fraßen, dass sie bald den ganzen Leuchtturm umschließen würden.

Ein Seevogel flog am Fenster vorbei. Schickte einen Klecks in Richtung Fensterscheibe, ohne zu treffen. Sein heiserer Schrei wurde schwächer, als er aufs Meer hinausflog.

JOHAN

Kjeungskjær Leuchtturm, 1936

Johan schaute vom Laternenraum auf seinen Sohn herunter. Er stand schon wieder vor der Tür des Leuchtturms und brüllte gegen den Wind an. Zumindest hatte er sich heute angezogen. Johan schüttelte den Kopf. Er wusste, dass es keinen Sinn hatte zu schreien. Vor allem nicht hier draußen auf dem Riff, man bekam bloß Schaumspritzer in den Mund. Es war lange her, dass Johan geschrien hatte. Nicht seit Hannah auf dem Festland gestanden und auf ihn gewartet hatte. Mit dem Bankert an der einen und dem Koffer in der anderen Hand. Er hatte versucht, ihr mit der Laterne Morsezeichen zu senden. Wollte erzählen, dass er nicht könne. Doch er hatte so schluchzen müssen, dass er mit dem Licht viel zu viele Fehler gemacht hatte. »Lang« wurde allzu lang, weil er sich die Nase putzen musste. Und »kurz« stolperte unregelmäßig hintereinanderher, so wie es die Tränen zuließen. Er musste mehrmals von vorn anfangen. So hätte das Leben nicht sein sollen.

Er wusste nicht, ob Hannah sein Blinken gesehen hatte. Sie antwortete nicht, obwohl sie sich oft in kurzen und langen Leuchtzeichen unterhielten, wenn sie getrennt waren. Seither hatte er nichts mehr von ihr gehört. Den Bankert hatte man bei ihrer Schwester gefunden, niemand ahnte jedoch, wo Hannah war.

»Diese Sorte zieht doch mit jedem los«, sagten die meisten, und doch halfen sie beim Absuchen des Ufers – wie immer, wenn vermutet wurde, dass jemand aus Ørland ertrunken war.

Er selbst hatte jetzt neun Jahre gesucht. Wenn das Wetter es zuließ. Er quälte sich damit, dass ihn die Schuld an ihrem Tod traf. So sehr hatte er sie im Stich gelassen, dass sie keinen anderen Ausweg wusste, als ins Wasser zu gehen.

Als Hannah verschwand, waren Marie und er sieben Jahre verheiratet. Damals hatte Marie immer wissen wollen, wo er war und was er tat. Er hatte behauptet, er würde am Ufer Eider­daunen für neue Kopfkissen sammeln. So intensiv hatte er nach Hannah gesucht, dass der Leuchtturm nicht nur neue Daunendecken, sondern auch gute große Federn für die Matratzen bekommen hatte. Aber das war lange her. Kein Grund, sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen. Manchmal hatte er das Gefühl, als sei der Abend, an dem sie verschwand, die einzige Erinnerung, die er an seine vierunddreißig Lebensjahre hatte.

Johan lehnte sich oben im Turm gegen das Geländer und betrachtete Valdemar, der an seiner Leine zerrte und dem Land seine Sehnsucht entgegenbrüllte. Die Wellen erstickten den größten Teil des Lärms, bevor er bis zu Johan hinaufdrang. Natürlich war es ärgerlich, dass Valdemar immer noch festgebunden werden musste, obwohl er schon so groß war. Eigentlich sollten nur kleine Kinder angebunden werden, denn ein kleines Kind konnte bei starkem Wind leicht im Wasser enden. Mit Valdemar verhielt es sich allerdings anders.

Marie hatte bei der Gemeinde beantragt, ein Netz um den Felsen zu spannen, aber der Antrag war abgelehnt worden. Das würde die Seeseite verunstalten, hieß es, und der Leuchtturm sei nun einmal das Erste, was die Seeleute sahen, wenn sie von der Seeseite kamen. Marie war wütend gewesen, aber Johan hatte durchaus Verständnis dafür, dass Ørland und ­Uthaug sich von ihrer besten Seite zeigen wollten. Es kamen häufig Schiffe aus dem Ausland.

Johan sah Darling aus dem Turm kommen, die sich ihren Schal enger um die Schultern zog und im Wind schauderte. Sie vergaß ihren Bruder nie, sie wusste genau, wann er wieder in den Turm musste, damit die Flut ihn nicht erwischte. Sie tätschelte ihm den Rücken, wie er es gern hatte, band ihn von seinem Seil los und schubste ihn liebevoll zur Tür. Er trottete gutwillig mit; hätte er sich aufgerichtet, wäre er ebenso groß wie sie gewesen, doch das tat er nie. Auch sie war nicht sonderlich groß, und es war nicht zu erwarten, dass sie noch weiterwuchs, immerhin war sie bereits sechzehn. Allerdings war sie groß genug, dass die Leute nicht redeten. Tatsächlich hielt man sie sogar für hübsch.

Johan war es nicht aufgefallen, sie war doch bloß Darling, die verrotzte und lästige Göre, die älter geworden war. Eines Tages hatte er jedoch gehört, wie die Alten vor dem Laden unten am Hafen über sie redeten. »Hübscher bekommen wir sie hier auf Ørland nicht«, hatten sie gesagt, und zunächst hatte er nicht gewusst, über wen sie redeten. Der Fette hatte mit der Zunge geschnalzt und ein bisschen mit der Hüfte gewackelt. Einer der anderen hatte ihm den Ellenbogen in die Seite gestoßen, als sie Johan sahen. Verlegen blickten sie zu Boden, aber der Fette hatte erklärt, Johan könne stolz darauf sein, so eine hübsche Tochter zu haben. Der Fette war als Huren­bock bekannt und konnte es sich bei all dem Geld, das er besaß, durchaus erlauben, so etwas zu sagen. Johan hatte nur die Achseln gezuckt und war nach Hause gerudert.

Während des Abendessens hatte er sich Darling angesehen, die am Tisch saß und sich Hering in den Mund schaufelte, dass ihr das Butterfett übers Kinn lief. Vielleicht hatten die Alten recht. Sie ist tatsächlich ziemlich hübsch, dachte er und schlug den Blick nieder, als sie ihm direkt in die Augen sah.

Jetzt hörte er Marie unten aus der Küche rufen. Johan kontrollierte noch einmal, ob das Licht vorschriftsmäßig brannte. Jetzt, im Herbst, sollten die Schiffe bereits zur Essenszeit Licht haben.

Er trat die Türklinke mit dem Fuß herunter und schob die Tür auf. Längst hatte er aufgehört, darüber zu fluchen, dass irgendjemand die Klinke so tief angebracht hatte. Wie gewöhnlich zählte er die Stufen bis in die Küche. Siebenundvierzig. Sechs Stufen mehr, und er wäre im Keller.

»Setzt euch«, forderte Marie sie auf und stellte Valdemar eine Schüssel auf den Fußboden. Der setzte sich gehorsam auf seinen kleinen Teppich und schlug die Beine übereinander. Längst hatten sie es aufgegeben, mit ihm zusammen am Tisch sitzen zu wollen. »Das ist das letzte Grünzeug, das ich habe«, seufzte Marie. »Nur Gott weiß, was ich ihm im Winter geben soll.« Sie sah Valdemar bekümmert an, der an seinem Salat knabberte.

»Du sollst warten, bis wir gebetet haben, das weißt du doch«, ermahnte ihn Marie. Sofort hielt er inne und sah seine Mutter mit einem um Entschuldigung heischenden Blick an. Sie streichelte ihm kurz über den Kopf und zog ihren Stuhl an den Tisch. Johan nahm Darling bei der einen und Marie bei der anderen Hand, schloss die Augen und dankte für die Kartoffeln und den gekochten Fisch. Langsam strich Darling mit ihrem Daumen über die Innenseite seiner Handfläche. Er zog die Hand zurück.

»Amen«, sagte Marie und lächelte beide an.

Johan fand es noch immer verwunderlich, wenn er auf dem Leuchtturm stand und aufs Festland blickte. Seine ganze Kindheit hatte er an Land gestanden und aufs Meer geblickt. Und von dem Leben geträumt, das kommen würde. Natürlich kannte er den Leuchtturm und all die Geschichten von denen, die hier draußen gelebt hatten, aber nie hätte er sich vorstellen können, eines Tages derjenige zu sein, der auf der Schäre stand und aufs Land blickte.

Er hatte davon geträumt, hinaus in die Welt zu reisen, fremden Boden unter den Füßen zu spüren und mit Smaragden und seltenen Gewürzen nach Hause zu kommen. Er gestattete sich diese kindlichen Träume, weil er immer gewusst hatte, dass er den Hof seines Vaters übernehmen würde. Nicht dass es ein großer Hof war, aber er reichte, um eine Familie zu ernähren. Die Felder gehörten zum fruchtbaren Land von ­Ørland und zum besten von Uthaug – sie waren ebenso gut wie die Äcker des Fetten. Das Korn wuchs hoch, und die Ernte fiel in der Regel gut aus. Er wusste, dass er wie sein Vater das Korn im Frühjahr säen und im Herbst ernten würde. Er würde die Kühe kalben sehen, die Kälber aufziehen und die schlachten, die geschlachtet werden sollten. Als Junge hatte er geweint, wenn der Schlachter kam. Sein Vater war böse geworden und hatte gesagt, er solle sich zusammenreißen und nicht heulen wie ein Mädchen. Er war dann zu seiner Mutter gelaufen, die immer bereit war, ihn zu trösten.

Eines Abends, als sie glaubten, er schliefe, hörte er seinen Vater sagen, der Junge sei zu empfindlich, um Bauer zu werden, er hänge zu sehr an den Tieren. Er hörte den Verdruss in der Stimme seines Vaters. Seine Mutter verteidigte ihn. Meinte, dass er noch ein paar Jahre auf dem Buckel brauche, dass die Zeit ihn schon abhärten würde. Als der Vater in den Stall ging, weinte die Mutter. Johan beschloss, sich zusammenzureißen.

Als die Weihnachtszeit kam und die Tiere geschlachtet werden sollten, wollte er dabei sein, egal, was geschah oder wie er sich dabei fühlte. Es war schon spät. Der Schlachter hatte seit den Morgenstunden viel zu tun gehabt. Und der Schnaps, den er auf jedem Hof als Dank für seine Arbeit bekam, hatte seinen Blick unstet und den Vorschlaghammer in seiner Hand schwer werden lassen.

Johan stand wie versteinert da und sah zu, wie der Schlachter zwei Kälber malträtierte, deren Geburt er erlebt, mit denen er gespielt und die er getröstet hatte, wenn sie nach ihrer Mutter muhten. Der Schlachter traf das eine Kalb über dem Auge. Hart genug, um ihm das Auge auszuschlagen, aber nicht hart genug, um es zu töten. Beim dritten Versuch verlor er das Gleichgewicht, der Vorschlaghammer traf Johan an der Schulter. Endlich gelang es dem Schlachter, das Kalb an der Stirn zu treffen, sodass die Beine des Tiers einknickten. Er zog das Messer heraus und schnitt ihm die Kehle durch.

»So, nun aber«, schnaufte er.

Johan trat ein paar Schritte zurück und stolperte über den Eimer, in dem der Schlachter das Blut auffing.

»Bring mir den Eimer!«, brüllte der, dass ihm der Schaum vor dem Mund stand. »Beeil dich, Junge!« Johan rannte davon, er hörte seinen Vater hinter sich fluchen. Er weinte erst, als er hinter dem Stroh in Sicherheit war, und er ging erst wieder ins Haus, als man nicht mehr sehen konnte, dass seine Augen feucht gewesen waren.

Ein halbes Jahr später, als es wieder an der Zeit war zu schlachten, legte der Vater den Strick in Johans Hand. Schweren Herzens zog Johan mit dem Kalb davon, und obwohl er sicher war, dass der Vater bemerkte, wie seine Unterlippe bebte, lobte ihn sein Vater hinterher, er hätte es gut gemacht.

»Das Leben ist nicht immer angenehm, aber wir müssen das tun, was notwendig ist, um selbst zu überleben«, erklärte er und schlug Johan auf die Schulter.

Als Vierzehnjähriger zog Johan allein mit den Kälbern los. Wie sein Vater blieb er mitten auf dem Hofplatz stehen und winkte der Mutter am Fenster zu. Dachte daran zu lächeln. Sie winkte zurück, und er sah, dass sie stolz war. Es war lange her, dass sie geweint hatte. Johan gelobte sich, den Schlachter im nächsten Jahr zu fragen, ob er dem Kalb die Kehle durchschneiden dürfe.

Doch es gab kein nächstes Jahr mehr. Die Preise fielen, und der Hof wurde zwangsversteigert. Johan hätte die dritte Generation auf dem Hof sein sollen.

»Aber wir sind noch hier«, versuchte die Mutter den Vater zu trösten, als sie nach der Auktion am Küchentisch saßen und Kaffee tranken. Es wurden so viele Höfe zwangsversteigert, dass die Bank ihnen erlaubt hatte, im Haus weiterhin zur Miete zu wohnen. Im Stall kümmerten sich jetzt jedoch andere Leute um das Vieh.

»Es ist nicht dasselbe«, erwiderte der Vater und ging zu Bett. Johan hatte ihn nie zuvor mitten am Tag zu Bett gehen sehen.

Mit jedem Tag schien der Vater kleiner zu werden.

Johan war gerade fünfzehn geworden und hatte die Schule beendet. Eigentlich hätte er die Landwirtschaftsschule besuchen sollen, nun suchte er sich stattdessen eine Arbeit am ­Hafen. Trotz der schlechten Zeiten wurde der Hafen erweitert, und Johan schleppte Steine vom Hafeneingang bis ans Ende der Mole. Es war nicht üppig, was er verdiente, dennoch war er jeden Monat stolz, wenn er seiner Mutter das selbst­verdiente Geld geben konnte.

Eines Samstags kam der Pastor vorbei. Er war beliebt, man wusste, dass er zu jedermann freundlich war. Die Mutter bot ihm Kaffee an, holte den Vater und erkundigte sich nach den Kindern des Pastors.

»Marie ist doch wahrscheinlich auch mit der Schule ­fertig?«

»In einem Jahr«, antwortete der Pastor und erzählte ein wenig von seiner Tochter. Von seinem Sohn sprach er nicht. Der gehörte nicht zu den besten Kindern Gottes. Der Pastor war Witwer, solange Johan denken konnte, daher hatten die Leute dem Sohn des Pastors sein fehlendes gutes Benehmen verziehen, als er kleiner war. Nun war er jedoch erwachsen, und da mangelte es den Menschen an Verständnis.

Marie war anders. Sie war ein Jahr jünger als Johan. Vielleicht zwei. In seinem letzten Schuljahr hatten sie sich den Klassenraum geteilt. Er hatte nie mit ihr geredet. Sie saß aufrecht an ihrem Pult, immer ganz vorn, und trug frisch gebügelte Kleider. Sie sagte nicht sehr viel und schien tatsächlich außer Lesen keine anderen Interessen zu haben.

Der Pastor erkundigte sich nach dem Leben auf dem Hof. Er wählte seine Worte vorsichtiger als die übrigen Einwohner von Uthaug, ja, eigentlich von ganz Ørland. Er war in der Stadt aufgewachsen. Der Vater antwortete ausweichend, ­Johan schämte sich für ihn.

»Ich habe gehört, dass es mit der Freude hier im Haus derzeit nicht zum Besten steht?«, sagte der Pastor. Der Vater runzelte die Stirn, und die Mutter erhob sich eilig, um die Kuchen­platte aufzufüllen. Der Pastor trank seine Tasse Kaffee aus, lehnte dankend ein weiteres Stück Kuchen ab und bot dem Vater eine Arbeit bei der Kirche an. Er könne dem Toten­gräber behilflich sein. Der Vater erwiderte, das sei nett von dem Pastor. Allein, dass er an ihn gedacht habe. Natürlich würde er die Stelle gerne antreten. Aber Johan sah, dass er es demütigend fand, als ehemaliger Hofeigentümer nun der Laufbursche des Totengräbers zu werden.

Der Vater trat seine neue Beschäftigung bereits am nächsten Tag an. Ohne zu frühstücken, fuhr er mit dem Fahrrad los. Ohne sich auf dem Hofplatz umzudrehen und ohne ­Johan und der Mutter zuzuwinken, die am Fenster standen und ihm nachsahen.

Der Vater hielt nicht lange durch. Sie hoben gerade ein Grab für eine Dame aus der Stadt, aus Trondheim, aus, die gern in der »heimischen Erde« auf Ørland liegen wollte, als er umfiel. Sie waren fast fertig mit dem Grab, es fehlten nur noch ein paar Spatenstiche.

Auf der Stelle tot, sagte der Arzt. Im Fall hatte der Vater den Stiel des Spatens zerbrochen. Johan sah den Stiel vor dem Schuppen des Friedhofs auf der Erde liegen. Er war mit dem Rad zur Kirche gefahren, um beim Totengräber den restlichen Lohn des Vaters zu holen, damit sie die Beerdigung bezahlen konnten.

»Es wäre einfacher gewesen, ihn in dem Loch liegen zu lassen, Erde darüber zu schaufeln und für die Dame ein neues Grab auszuheben«, hörte er den Totengräber zu seinem neuen Helfer sagen. Beide lachten.

»Stattdessen waren drei Männer nötig, um ihn aus dem Loch zu holen und in die Leichenhalle zu schleppen.«

Johan drehte sich um und lief davon. Seine Augen brannten, und er blinzelte so heftig, um nicht zu weinen, dass er mit Marie zusammenstieß, die gerade durch die Pforte auf den Friedhof kam. Sie ließ die Blumen fallen, die sie in den Händen hielt.

»He, sieh dich doch vor!«, rief sie, dann sah sie seine Tränen. »Was ist denn los?«

Er lief so schnell er konnte. Die Gänse vor dem Pfarrhaus schnatterten hinter ihm her. Es klang, als würden sie lachen.

Zu Hause sagte er der Mutter, der Vater hätte keinen Lohn mehr zu bekommen. Die Mutter wurde nicht zornig, sie weinte nur. Er wünschte, sie hätte ihn stattdessen angeschrien.

Sie beerdigten den Vater mit Hilfe der Almosen der Nachbarn. Und der Pastor war so freundlich, die Mutter im Pfarrhaus als Putzfrau anzustellen. Sie sprachen nicht darüber, dass ihre Hände mit jedem Tag steifer wurden und sie kaum den Putzlappen halten konnte; zusammen mit Johans schmalem Lohn hatten sie nun genug, um das Essen und die Miete zu bezahlen.

»Zumindest haben wir noch das Haus, ich könnte nirgendwo sonst wohnen«, erklärte die Mutter mit blanken Augen, und Johan gab sämtliche Pläne auf, mit ihr den Hof zu verlassen und zu vergessen, was einmal war. Er machte am Hafen Überstunden und schleppte alles, was geschleppt werden musste, damit die Mutter ihre Hände schonte und vormittags nicht mehr als ein paar Stunden im Pfarrhaus putzen musste. Er wollte rund um die Uhr arbeiten, um ihr den letzten Rest an Würde zu bewahren. Außerdem weinte sie so oft, dass er es ohnehin zu Hause nicht aushielt. Er stand früh auf und ging zum Hafen und kam spätabends nach Hause, müde und mit Rückenschmerzen.

»Du bist ein guter Sohn, wie sollte ich nur ohne dich zurechtkommen?«, sagte sie.

»Ich mache das gern«, erwiderte er.

Er schlief jede Nacht, ohne zu träumen.

Es war Anfang Juni. Er wurde bald siebzehn und dachte nicht weiter als bis zur nächsten Pause bei seiner Arbeit. Er saß am Kai und wartete auf ein Schiff von den Lofoten. Er lehnte sich an die Mauer und ließ den Blick übers Wasser schweifen. Hing seinen Gedanken nach, als der Leuchtturm in sein Blickfeld geriet. Die Frau des alten Leuchtturmwärters war gerade gestorben. Einige behaupteten, der Leuchtturmwärter hätte sie erschlagen. Vermutlich war sie jedoch an Altersschwäche gestorben. Im Laufe der Jahre, in denen Johan am Hafen arbeitete, hatte er den Leuchtturmwärter häufig gesehen, wenn er vom Leuchtturm nach Uthaug gerudert kam, das Boot auf den Strand zog und zum Hafen hinaufging. Er schien ein bescheidener Mann zu sein, der ein paar Schritte ging und dann stehen blieb, um sich umzusehen, als müsse er sich vergewissern, dass er nicht bereits umkehren und in die andere Richtung gehen musste, so wie er es vom Riff gewohnt war. Johan schloss die Augen und spürte, wie die Sonne ihm auf die Stirn schien. Ihm ging durch den Kopf, dass es lange her war, seit er das letzte Mal die Sonne gespürt hatte, hatte sie im vergangenen Jahr überhaupt geschienen?

Er zuckte zusammen, als sich jemand neben ihn setzte.

»Hej«, grüßte sie. Johan rückte instinktiv ein Stück beiseite. Weit genug, um sich sicher zu fühlen, aber nicht so weit, dass sie es als Beleidigung auffassen könnte.

»Ich warte darauf, dass sie anlegen und ich die Ladung ­löschen kann«, sagte er und zeigte auf das Schiff, ohne dass er sie anzusehen wagte. Er wusste genau, wer sie war, hatte sich aber nie mit ihr unterhalten. Sie hieß Hannah und war in der Klasse über ihm gewesen. Sie musste jetzt ungefähr achtzehn Jahre alt sein, vielleicht neunzehn. Sie war hübscher als die meisten anderen Mädchen, und er hatte oft an sie gedacht, wenn er bei gelöschtem Licht im Bett lag.

»Arbeitest du hier jeden Tag?«, erkundigte sie sich.

Er nickte und stand auf. Das Schiff hatte festgemacht, die Gangway wurde ausgelegt.

»Soll ich dir helfen?«, fragte sie.

Zusammen trugen sie die Säcke und Kisten an Land. Er war überrascht, dass sie versuchte, so schwere Kisten zu heben.

»Da hast du dir ja ein hübsches Frauenzimmer angelacht«, feixten die Schauerleute, die halfen, die Ladung an Land zu bringen. Johan lächelte verlegen und fand die Situation auch ein wenig eigenartig. Aber Hannah schmunzelte und lachte. Ganz offensichtlich genoss sie die Aufmerksamkeit, die sie ­erregte.

Hinterher setzten sie sich nebeneinander und lehnten den Rücken an den Rand der Mole.

»Sind wir nicht zusammen zur Schule gegangen?«

»Ja.«

»Du bist ja ein richtiger kleiner Mann geworden«, grinste sie und stieß ihn mit dem Ellenbogen an. »Wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Ich hätte dich älter geschätzt.«

»Danke«, sagte er und wusste nicht, was er sinnvollerweise hätte sagen sollen.

Sie nickte in Richtung Kjeungskjær.

»Glaubst du, dass der Leuchtturmwärter seine Frau um­gebracht hat?«

»Nee …«

»Ich auch nicht.«

»Ich auch nicht«, wiederholte Johan und hörte selbst, wie dumm es klang, dass er das Gleiche sagte.

»Komm«, bedrängte sie ihn plötzlich, sprang auf und streckte ihm die Hand hin.

Er ließ sich hochziehen.

»Ich kenne da einen Ort«, sagte sie und drehte sich um, ohne zu bemerken, dass ihre Berührung ihn hatte rot werden lassen.

Hannah ging zu dem Bootshaus am Hafenrand. Johan folgte ihr verlegen, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er betrachtete die Vögel auf dem Dach des Bootshauses.

»Ich kann nicht so lange bleiben, ich muss mithelfen, den Kai aufzuräumen.«

»Komm schon«, lachte sie.

Ängstlich blickte er zum Büro des Hafenmeisters.

Vorsichtig öffnete Hannah die Tür zum Bootshaus. Das Vorhängeschloss war zu verrostet, um noch richtig zu schließen. Sie zog ihn hinein und zerrte ihn in die hinterste Ecke, wo sie sich auf ein paar Säcke warf. Er setzte sich linkisch daneben.

»Hast du schon mal ein Mädchen geküsst?«, wollte sie wissen, er schüttelte den Kopf.

Sie beugte sich vor und küsste ihn auf den Mund. Er hatte keine Ahnung, was er jetzt tun sollte. Er schaute zum Fenster, auf das gerade ein Vogel kackte. Sie küsste ihn noch einmal. Er legte unbeholfen einen Arm um sie. Sie schob ihre Zunge zwischen seine Lippen.

Noch als Erwachsener, allein in der Spitze des Turms, konnte er das bebende Gefühl in den Fingerspitzen heraufbeschwören, das ihn überkam, als sie kurz darauf seine Hand nahm und damit ihr Bein hinaufstrich. Und ganz nach oben führte, wo es feucht wurde. Ihre langen Haare kitzelten ihn und dufteten nach frischer Luft und Tang. Wie der Hafen. Sie waren im Nacken zerzaust, vermutlich vom Wind. Den Rest seines Lebens musste er sich konzentrieren und an etwas anderes denken, wenn dieser besondere Geruch nach Tang und frischer Luft ihn traf, um nicht zwischen den Beinen hart zu werden.

Er wusste nicht viel darüber, aber er wusste, dass anständige Mädchen so etwas nicht taten. Bereits beim ersten Mal auf den Säcken durfte er in sie eindringen. Alles in ihm ­explodierte.

»Du siehst aus wie jemand, dem es gefallen hat«, lachte sie und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar. Die andere Hand steckte sie zwischen ihre Beine, wischte sich ab und betrachtete hinterher die Hand von der einen, dann von der anderen Seite. Sie runzelte die Brauen und führte die Hand erneut ­zwischen die Beine.

»Siehst du Blut?«, fragte sie und hielt ihm die Hand direkt vors Gesicht. Er sah sie sich gründlich an, konnte aber auch kein Blut entdecken und küsste sie noch einmal. Plötzlich erschien es ihm nicht mehr so schwierig.

Sie verabredeten, sich zu treffen, sobald er am nächsten Tag Feierabend hatte. Zu Hause erzählte er, er hätte am ­Hafen Überstunden gemacht. Die Mutter atmete erleichtert auf.

»Das ist doch gut«, meinte sie und wrang die Hände.

Hannah kam nicht.

Er warf Steine ins Wasser und wartete über eine Stunde. Ging enttäuscht nach Hause.

Sie kam auch am zweiten Tag nicht.

Und nicht am dritten.

Am vierten Tag beschloss er, nicht zu warten. Da kam sie angelaufen, die Haare flatterten hinter ihr her.

»Hej!«, rief sie bereits von weitem und winkte. Um Atem ringend setzte sie sich neben ihn und erzählte, wie schnell sie gelaufen sei. Sagte nicht, warum sie nicht zu ihrer Verabredung gekommen war. Er fragte nicht nach.

Das Schöne wiederholte sich. Auch als sie sich ein paar Tage später noch einmal trafen. Sie hörten auf, feste Absprachen zu treffen, stattdessen wartete er jeden Tag auf sie, manchmal kam sie, und manchmal kam sie nicht. Wenn sie nicht kam, musste er sich die Zeit vertreiben, bis seine Mutter ihn zu Hause erwartete.

»Bist du sicher, dass er dich für all die Stunden bezahlt, die du arbeitest?«, fragte die Mutter. Er versicherte ihr, dass er bekam, was er verdiente.

Als sie die ersten Male zusammen waren, hatte Johan die Sache mit dem Bauch gar nicht bemerkt. Das tat er erst, als sie sich bereits drei Wochen in aller Heimlichkeit getroffen hatten. An diesem Tag hatte er den ganzen Weg zu ihrem Treffpunkt im Bootshaus auf dem Fahrrad vor sich hin gesummt. Glücklicherweise hatte ihn niemand gehört. Hannah hatte ihm die kleine Melodie beigebracht, die er pfiff. Sie hatte sie ihm leise ins Ohr gesungen, als sie verknäult auf den Säcken lagen. »Es heißt Liebesleid«, hatte sie gesagt, ohne ihren Stolz zu verbergen, dass sie ein deutsches Wort kannte. »Das bedeutet irgendetwas mit Liebe.«

»Kannst du Deutsch?«, hatte er beeindruckt gefragt.

»Nein, aber ich kann dieses Lied«, hatte sie geantwortet und die Melodie den ganzen Weg von seinem Brustkasten bis zur Wurzel seines Glieds geträllert; sie hatte erst aufgehört, als sie es in den Mund nahm. Er wusste weder, dass es so schöne Lieder gab, noch, dass man den Mund auf diese Weise benutzen konnte.

Als er dasselbe mit ihr machen wollte, bemerkte er es. Ihr Bauch wölbte sich.

»Na, hast du ein bisschen zu viel gegessen?«, neckte er sie.

Sie schüttelte den Kopf und machte plötzlich ein betrübtes Gesicht. »Nein, ich bekomme ein Kind.«

»Ist es von mir?«, fragte er erschrocken. Sie lachte und zerzauste ihm leicht das Haar.

»Nein, ganz ruhig. So schnell geht’s dann doch nicht. Wir kennen uns ja erst drei Wochen.«

»Aber wer ist der Vater?«

Sie zuckte die Achseln. »Ist nicht so wichtig. Es wird schon wieder verschwinden. Karen, meine Schwester, hat mir von einer erzählt, die ein Kind bekommen sollte und es verloren hat, weil sie es nicht wirklich wollte. Gott hat sie auf diese Weise gestraft. Ich will dieses Kind ja auch nicht, und das wird es merken, also wird Gott einen anderen Ort finden, an dem es geboren werden kann.«

»Glaubst du wirklich?«

»Ja, das glaube ich.« Sie kuschelte sich an ihn. »Deshalb habe ich dir auch beim Schleppen geholfen, ich habe nämlich gehört, dass man keine schweren Sachen tragen darf, wenn man schwanger ist. Ich habe auch eine Menge Essig getrunken. Und unten hineingegossen, weil ich nicht so genau wusste, was am besten ist. Außerdem habe ich gehört, dass es dem Kind schadet, wenn man mit einem Mann zusammen ist. Ich würde noch gern Zitronen ausprobieren, aber ich kann mir nur eine Zitrone leisten. Ich glaube, das ist nicht genug. Meinst du, du könntest mir ein paar Zitronen beschaffen?«

Er konnte es nicht.

»Es ist nicht die Saison für Zitronen«, hieß es im Laden. Er kam auch nicht weiter, als er ein paar Matrosen am ­Hafen fragte.

Die nächsten beiden Monate ignorierten sie einfach den Bauch, obwohl er wuchs – beinahe jedes Mal, wenn sie sich trafen, war er größer geworden. Er fing an, im Weg zu sein, wenn er in sie eindrang; und statt der kleinen, weichen Pflaumen, in die er sich verliebt hatte, lagen ihre Brüste nun wie zwei große Kugeln in seinen Händen.

Hannah seufzte und schüttelte den Kopf. »Offensichtlich hat es sich entschieden zu kommen, obwohl ich mir solche Mühe gegeben habe, damit es schiefgeht. Ich war so oft mit dir zusammen, ohne dass es geholfen hat, also muss ich wohl akzeptieren, dass es herauskommt. Aber vielleicht ist es ja ganz schön, gemeinsam etwas Kleines zu haben?«, sagte sie ­lachend. »Ein kleines, süßes Baby, das hier zwischen uns liegt.« Sie klopfte auf den Sack, auf dem sie lagen. Johan fand das nicht lustig.

Er knöpfte sich die Hose zu und verließ sie. Versteckte sich im Wald und weinte, wie er nicht einmal geweint hatte, als sein Vater ins Grab gefallen war.

Heute wusste er, dass sie nur hätten sagen müssen, es sei von ihm. Dass sie sich schon länger kannten, als es tatsächlich der Fall war. Sie hätten geheiratet und die Schande gemeinsam ertragen, die über sie gekommen war. Sie hätten die Enttäuschung seiner Mutter geteilt, dass er ihr ein Mädchen mit einem Ruf wie Hannah nach Hause brachte. Dann wären sie heute Mann und Frau. Selbstverständlich hätte er das Kind wie sein eigenes geliebt. Es war schließlich Hannahs Kind. Bestimmt hätten sie noch mehr Kinder bekommen. Hannah hätte ihm prächtige Kinder geschenkt. Und keine Kinder, die ihm lästig waren. Oder peinlich. Wie Darling und Valdemar.

Sobald die Leute Hannahs Bauch bemerkten, fing das Gerede an. Er verteidigte sie nie. Er schämte sich noch immer dafür, dass er nur dagestanden hatte, wenn die anderen sie Flittchen nannten und behaupteten, sie hätte schon als Kind einen schmutzigen Charakter gehabt. Niemand wusste, wer der Vater des Kindes war, aber viele glaubten, es sei der Fette. So war es häufiger, wenn in Ørland ein Kind ohne Vater auf die Welt kam. Und Hannah hatte lange bei ihm im Haus gearbeitet. Als Dienstmädchen und Kindermädchen. Es gab allerdings auch den einen oder anderen, der daran zweifelte, und Johan hörte jemanden sagen, sie hätte mit einem Matrosen von einem der fremden Schiffe geschlafen. Daraufhin rechneten die Leute nach, aus welchen Ländern die Schiffe gekommen waren, die im Hafen gelegen hatten, als Hannah schwanger wurde. Man fing an zu wetten, ob wohl etwas Schwarzes oder Gelbes aus dem Schoß des Mädchens kommen würde.

Das tat es nicht. Das Kind war ebenso weiß wie alle anderen. Johan konnte sich selbst davon überzeugen, als Hannah ihm mit dem kleinen Kinderwagen am Hafen begegnete, wo sie früher ihre heimlichen Treffen gehabt hatten. Das Mädchen war nicht mehr als ein paar Monate alt. Er hatte Hannah seit dem Nachmittag nicht mehr gesehen, als er davongelaufen war und im Wald geweint hatte. Aber in seiner Fantasie sah er sie jedes Mal vor sich, wenn er sich im Bett entleerte. Sein Herz überschlug sich, als sie plötzlich vor ihm stand. Es geschah in der Woche, in der er sich mit Marie verlobt hatte.

»Hej«, sagte Hannah, und in dem Moment wusste er, dass er niemals aufhören würde, sie zu lieben.

Hannah und Johan fiel es schwer, voneinander zu lassen. Auch nachdem er Marie geheiratet hatte. Aber die Heirat war schließlich auch etwas ganz anderes, entschuldigte er sich. Die hatte sich einfach aus Notwendigkeit und zum Besten aller ergeben. Hannah war seine Freistatt. Der Dank, dass er für seine Mutter alles so schön arrangiert hatte. Und für Marie, die auch glücklich zu sein schien. Hannahs Schwester Karen war so nett, sich des Bankerts anzunehmen, Lillian. »Lillen« wurde sie genannt. Sie war ein wenig schmächtig, und irgendetwas schien mit einem Fuß nicht in Ordnung zu sein.

»Vielleicht haben die vielen Verwünschungen ihren Fuß kaputtgemacht?«, überlegte Hannah, ohne dass es ihr leidtat. Der Pastor hatte auch nichts dagegen, dass Lillen im Pfarrhaus wohnte, wo Karen arbeitete.

»Gott liebt auch die, die in Schande geboren wurden«, erklärte er. Außerdem half Marie mit der Kleinen, wenn Karen viel zu tun hatte oder etwas besorgen musste.

»Sie ist so süß, die Kleine«, sagte Marie zu Johan auf ihren kurzen Spaziergängen vor der Hochzeit. »Hoffentlich wird es ihr trotz allem gut ergehen. Im Grunde ist sie doch unschuldig.«

Hannah hatte Johan angeschrien, sie hatte ihn geschüttelt und geheult, bis seine Schulter auf der einen Seite ganz nass war, als er ihr gestanden hatte, dass er Marie heiraten werde. Er selbst hatte auch weinen und sich den Rotz abwischen müssen, der ihm aus der Nase lief. So etwas gehörte sich für einen Mann eigentlich nicht. Er war sicher gewesen, Hannah würde verstehen, dass er eine wie sie nicht wählen konnte. Aber sie verstand es nicht.

Sie schlug ihn mit geballten Fäusten. Er nahm die Schläge hin und versuchte, ihr zu erklären, dass es nicht um Liebe ging. Schließlich trug er die Verantwortung, dass seine Mutter in den Jahren, die ihr noch blieben, ein anständiges Leben führen konnte.

»Aber was ist mit mir?«, jammerte Hannah. »Du hast mich haben dürfen, ich dachte doch, dass du auf mich aufpassen würdest?«

»Und was ist mit meiner Mutter?«, erwiderte Johan. »Soll ich sie im Armenhaus enden lassen? Von dem Lohn, den ich im Hafen bekomme, können wir nicht leben.«

»Dann such dir doch eine andere Arbeit als den Leuchtturm, eine Arbeit, bei der du nicht so eine dämliche Frau brauchst!«, schrie sie.

»Es ist ja nicht so, dass ich es nicht versucht hätte«, antwortete er mit gesenktem Kopf. Es war keine Arbeit zu bekommen, aber eines Abends hatte er unten am Hafen gehört, dass der alte Leuchtturmwärter sich erhängt hatte. Die Leute waren aufgeregt. Alle wussten, dass er nach dem Tod seiner Frau verrückt geworden war. Dass er allein aufs Riff ging und mit den Vögeln sprach. Aber solange er sich um das Licht kümmerte, hatte es keinen Grund gegeben, ihn zu entlassen. Auf diese Weise abzutreten war nicht schön, dennoch gönnten ihm die Menschen in Uthaug einhellig, dass er seinen Frieden gefunden hatte. Kein Mann war geschaffen, allein auf einer Schäre zu leben. Und man war sich ebenfalls einig, dass der Leuchtturm Kjeungskjær kein Ort für gewöhnliche Menschen war.

Am nächsten Morgen ging Johan zum Hafenmeister, obwohl es dessen freier Tag war. Es war ein hässlicher Morgen, an dem die Mutter mit ihren geplagten Händen nicht einmal mehr die Kaffeetasse hatte halten können; sie fiel ihr auf den Boden und zersprang in tausend Stücke. Eine Woche zuvor hatte sie bei dem Pastor aufhören müssen. Als Johan auf den Knien die Scherben aufkehrte, jammerte sie und schlug sich mit ihren gichtkranken Knöcheln ins Gesicht.

»Hoffentlich sterbe ich bald, hoffentlich sterbe ich bald«, schluchzte sie, »ich kann uns nicht einmal eine neue Tasse kaufen.« Johan versuchte, sie zu trösten, den Blick auf den ­Boden gerichtet.

Der Hafenmeister kannte Johan, seit er ein Junge war, und meinte, so weit, so gut, er würde dem Posten durchaus gewachsen sein.

»Allerdings bist du nicht der Erste, der sich danach erkundigt. Der Pastor war gerade hier. Und der Leuchtturmwärter ist ja kaum tot. Allerdings muss ich dich leider enttäuschen, ebenso wie Alfred, den Sohn des Pastors.« Er breitete die Arme aus. »Es ist Vorschrift, dass der Leuchtturmwärter, abgesehen von starken Nerven, eine Familie haben muss. Also zumindest eine Frau. Du hast ja mitbekommen, wie es dem alten Lassen ergangen ist. Es war ein Fehler, hier fünfe gerade sein zu lassen, allerdings hat er sich auch nach dem Tod seiner Frau ebenso sorgfältig um das Feuer gekümmert wie immer. Aus diesem Grund muss ich leider ablehnen, es sei denn, du hast eine Frau in der Hinterhand. Zu deinem eigenen Besten. Es tut mir wirklich leid, denn ich weiß ja, wie es um euch steht.«

»Aber ich werde bald heiraten«, behauptete Johan und überraschte damit nicht zuletzt sich selbst. Der ­Hafenmeister sah ihn skeptisch an. »Wen?« In Uthaug wussten die Leute voneinander, was sie wissen mussten.

»Wir wollten es noch ein wenig geheim halten, wenn du mir jedoch versprichst, dass ich die Stelle bekomme, werde ich die Hochzeit beschleunigen.«

»Aha, so ist das also«, sagte der Hafenmeister und zwinkerte ihm zu. »Tja, dann beeil dich mal mit der Heirat.«