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Die Zeit der Finsternis – Blut und Knochen 3

Das Buch

Der Dämonenkönig Asroth ist aus seinem eisernen Gefängnis entkommen. An der Seite seiner dunklen Braut Fritha steht er kurz davor, die Verfemten Lande mit einer Armee der Finsternis zu überschwemmen. Riv und die letzten Überlebenden der Ben-Elim versuchen verzweifelt, Widerstand gegen Asroth zu leisten, während weit im Westen Drem mit seinen Verbündeten vor der Vernichtung durch die Dämonen steht. Doch Hoffnung ist das Wertvollste, was die Kämpfer gegen Asroth in ihrer Hand halten – und Hoffnung wird am Ende über das Schicksal der Menschheit entscheiden.

Der Autor

John Gwynne studierte an der Brighton University, wo er später auch unterrichtete. Er spielte Bass in einer Rock’n’Roll-Band, bereiste die USA und lebte in Kanada. Heute ist er verheiratet, hat vier Kinder und führt in England ein kleines Unternehmen, das alte Möbel restauriert.

Weitere Informationen unter: http://www.john-gwynne.com/

Von John Gwynne bereits erschienen

Macht * Bosheit * Jähzorn * Ungnade

Die Zeit der Schatten * Die Zeit des Feuers * Die Zeit der Finsternis

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JOHN GWYNNE

Die Zeit
der Finsternis

Blut und Knochen 3

Aus dem Englischen
von Wolfgang Thon

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Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»A Time of Courage – Of Blood and Bone 3«
bei Pan Macmillan, London.

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Copyright der Originalausgabe © 2020 by John Gwynne
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, nach einer Originalvorlage
von Macmillan Publishers
Umschlagillustration: © Paul Young
Karte: © Fred van Deelen
BL · Herstellung: sam
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-641-23940-4
V002

www.blanvalet.de

Für meinen wundervollen Sohn William,
der mich zu einem Helden
in dieser Geschichte inspiriert hat –
was mich nicht weiter überraschte,
denn für mich bist du ein Held.

Ich liebe dich X

»Besser zu kämpfen und fallen,
als ohne Hoffnung zu leben.«

Die Völsunga-Saga

KAPITEL 1

DREM

Im Jahr 138 des Zeitalters der Kunde, Hundemond

Drem warf seinen Greifhaken hoch in die Luft. Er fühlte, wie der Haken den Scheitelpunkt seiner Flugbahn erreichte und anfing zu fallen. Mit einem dumpfen Knall landete er auf Holz. Drem zog an dem Seil, spürte, wie sich der Haken in das harte Material grub, und zog noch einmal, um zu prüfen, ob er festsaß und sein Gewicht halten würde.

Er kauerte dicht an einem hölzernen Palisadenzaun. Das einzige Geräusch, das Drem vernahm, war das Klopfen seines Herzens, dessen Schläge in seinem Schädel widerhallten und den Rhythmus seines keuchenden Atems bestimmten. Wieder hier zu sein, wo alles angefangen hatte, machte ihn nervös.

Die Mine am Rand des Sternenstein-Sees.

Auf Byrnes Befehl hin waren er und einige Dutzend Jäger des Ordens des Strahlenden Sterns mitten in der Nacht aus dem nördlichen Wald bis an die Mauern der Mine geschlichen. Drem hatte festgestellt, dass das Loch, das Hammer in den Palisadenzaun gebrochen hatte, geflickt worden war. Als er auf die Stelle blickte, wo er Sig das letzte Mal lebendig gesehen hatte, als sie ihren letzten Kampf ausfochten, wurde er beinahe von seinen Gefühlen überwältigt.

Diese Mischung aus Trauer und Wut hatte das Blut in seinen Adern schon zum Sieden gebracht, als er zwischen den Felsen hindurch und über die Heide gekrochen war. Und jetzt war er hier, drückte sich an die Palisadenwand und wartete, bis er hinüberklettern konnte, so wie er es zuvor schon zweimal getan hatte.

Diesmal allerdings bezwinge ich sie mit sechzig der härtesten und zähesten Frauen und Männer, denen ich je begegnet bin. Mit den Jägern des Ordens des Strahlenden Sterns. Das war irgendwie beruhigend. Er strich leicht mit der Hand über den Griff seines Scramasax. Auch das beruhigte ihn. Dann lockerte er seine Schultern, um das Gewicht seines Kettenhemdes besser zu verteilen. Er zuckte zusammen, als es über die wunden Stellen rieb, obwohl zwei Schichten von Leinen und Wolle schützend zwischen den Kettengliedern und seiner Haut lagen. Er trug es jetzt länger als eine Zehn-Nacht am Leib und hatte sogar darin geschlafen. Sie hatten einen Gewaltmarsch von dem Schlachtfeld im Herzen der Ödnis bis hierher zurückgelegt. In dieser Schlacht hatte er den Wert des Kettenpanzers schätzen gelernt, und so unbequem er auch sein mochte, er würde ihn nicht so bald wieder ablegen.

Der Morgen färbte das Land um ihn herum grau. Im dämmrigen Licht konnte er die dunklen Schatten eines anderen Mannes und einer Frau rechts und links neben sich ausmachen. Sie standen etwa zwanzig bis dreißig Schritte von ihm entfernt, hatten ihre Greifhaken ebenfalls geworfen und warteten mit ihm zusammen auf das Signal.

Eine Eule schrie.

Das ist Keld.

Drem atmete tief durch, dann begann er, am Seil hinaufzuklettern. Seine Stiefelsohlen kratzten über das Holz. Er war groß und schwer, aber er war auch kräftig, viel kräftiger als die meisten anderen, und diese Kletterei bereitete ihm kaum Mühe. Nach wenigen Herzschlägen war er oben angekommen, rollte sich über die Palisaden, ließ sich auf die Brustwehr hinab und ging in die Hocke.

Dann nickte er seinen Kameraden zu und schob sich von der Brustwehr hinab, baumelte einen Moment am Rand und ließ sich dann auf den Boden fallen. Dort hielt er inne und lauschte mit angehaltenem Atem. Er packte Scramasax und Faustaxt und schlich dann weiter in den Gebäudekomplex hinein.

Die Mine war von Schatten und grauem Licht erfüllt und von gedämpften Geräuschen – eine knarrende Tür an rostigen Angeln, das leise Trippeln von Ratten und in der Ferne das Plätschern des Sees. Drem ging langsam von einem Gebäude zum nächsten, stieß die Türen auf und suchte in der Dämmerung nach irgendwelchen Bewohnern. Er sah Spuren und hockte sich hin, um sie zu inspizieren. Sie stammten nicht von Menschen – dafür waren sie zu lang, wie von Krallen gefurcht, aber sie waren auch nicht von Tieren hinterlassen worden. Drem hatte in letzter Zeit für seinen Geschmack zu viele Spuren wie diese gesehen.

Das sind Spuren von Wildlingen.

Aber sie waren alt, die Erde war hart und trocken.

Mindestens einen Monat alt, vielleicht auch älter.

Und dass sie nicht von neuen Fährten überlagert waren, bestätigte seinen Verdacht. Die Mine war schon vor langer Zeit verlassen worden.

Drem ging weiter und setzte seine methodische Suche fort. Er öffnete jede Tür und überprüfte jede Spur. Sein Weg führte ihn immer weiter in die Mine hinein, bis sich plötzlich vor ihm ein breiter Platz öffnete. Er war an drei Seiten von einer Reihe von Gebäuden begrenzt. Im Norden ragte eine Felswand in den Himmel wie eine Klippe. Unregelmäßige dunkle Stellen im Fels deuteten auf Höhlen hin. Drem wusste, was das war, er hatte sie schon zuvor gesehen.

Das waren Käfige für Frithas Experimente.

In der Mitte des Platzes stand ein mächtiger Tisch.

Drem erschauerte, als sich Erinnerungen in den dunklen Winkeln seines Verstandes regten.

Bilder von Blut und Feuer. Von Fritha, Gulla, dem Kadoshim und seinen uralten Machtworten. Er hatte gesehen, wie Fritha Gulla die Kehle durchschnitt und ihn auf den Tisch legte, neben die Leiche einer dieser gigantischen Fledermäuse der Ödnis und die Hand, die sie von Asroths Körper abgetrennt hatte. Er erinnerte sich daran, wie der Geschmack von Galle in ihm aufgestiegen war, als er die Wirkung dieser dunklen Magie beobachtet hatte, den blutigen schäumenden Dampf, die Gestalten, die sich auf dem Tisch wanden und vereinigten. Schließlich hatte er mit ansehen müssen, wie sich Gulla erhob, neu geboren, als etwas anderes.

Der erste Wiedergänger, so hat er sich genannt.

Drem schüttelte den Kopf und trat vorsichtig auf die freie Fläche des Platzes. Andere Gestalten tauchten aus den Schatten auf, weitere Jäger des Ordens, die ebenfalls die Mine durchsucht hatten und sich jetzt wie eine sich zusammenziehende Schlinge auf diesem Platz versammelten, dem Herzen des ganzen Komplexes. Sie standen schweigend da. Der Morgen graute und überzog das Land, vertrieb die Dämmerung, und Drem sah noch mehr Anzeichen dafür, dass dieser Ort schon lange verlassen worden war. Die Gebäude waren kalt und leer, Regen hatte die Asche aus den Feuergruben gespült, und die einzigen Lebenszeichen waren das Rascheln irgendwelcher Ratten oder Vögel unter den Giebeln. Die festgetretene Erde war von Spuren übersät. Drem stellte sich eine Versammlung vor, eine Mischung aus Bestien, Kreaturen und Menschen, aber die Spuren waren alle hart und trocken.

Vielleicht war das die letzte Versammlung gewesen, bevor Frithas Kriegerhorde zum Kampf gegen den Orden ausgerückt war?

Die Sonne kroch langsam höher, und ihr Licht fiel auf den riesigen Tisch in der Mitte des Hofs. Er kauerte dort wie eine schlafende, bösartige Bestie. In das Holz waren Ketten und Handschellen aus Eisen eingelassen, und überall auf der Maserung des Holzes zeigten sich dunklere Flecken.

Blut hinterlässt immer Flecken.

In dem allmählich aufhellenden Himmel über Drem zogen Krähen ihre trägen Kreise. Sie waren auch überall in der ganzen Mine verteilt, landeten auf Dächern und flogen durch offene Fenster in die Gebäude. Eine der Krähen sank in großen Kreisen in den Hof hinab. Im Gegensatz zu den anderen, schwarzen Krähen hatte sie weiße Federn. Sie krächzte und landete flügelschlagend auf Drems Schulter. Er spürte, wie Rabs Krallen Halt suchend zupackten, und war erneut froh über sein Kettenhemd.

»Gulla ist weg«, krächzte Rab.

»Ja, sieht so aus«, antwortete Drem.

»Keine entstellten Menschen?«, wollte Rab wissen.

»Ich kann jedenfalls keine finden.« Drem wusste, dass Rab damit Frithas Wildlinge meinte.

»Gut.« Rab schüttelte sich und plusterte sich auf.

Eine Gestalt tauchte auf einer Straße aus westlicher Richtung auf. Ein älterer Mann, dessen dunkles Haar bereits ergraute, der sich jedoch konzentriert und geschmeidig bewegte. Eine Sammlung von Messern und Faustäxten schimmerte an seinen Gürteln und Gurten. Das war Keld, der Jagdaufseher des Ordens und Drems Freund. Zwei riesige Woelvenhunde flankierten ihn. Der eine war schiefergrau, der andere rot. In einer Hand hielt Keld ein langes, in einen Mantel gehülltes Bündel.

Ein Speer?

Keld ging in die Mitte des freien Platzes und blieb neben dem Tisch stehen, den er finster musterte. Dann hob er den Blick und sah sich im Kreis um, erwiderte die Blicke jedes einzelnen Jägers und jeder einzelnen Jägerin. Drem schüttelte den Kopf, als Keld ihn ansah.

Kein Zeichen von den Lebenden.

Keld nickte, setzte ein Horn an die Lippen und stieß hinein.

In der Ferne antwortete ein anderes Hornsignal. Schon bald spürte Drem, wie der Boden unter seinen Füßen bebte.

Es ist schwer für die Kriegerhorde des Ordens, sich unauffällig fortzubewegen, vor allem mit mehr als hundert gigantischen Bären in ihren Reihen.

Dann tauchten Gestalten auf der breiten Straße nach Westen auf, die sich vom Haupttor der Mine bis zum Platz erstreckte. Berittene strömten auf die Lichtung. An der Spitze ritt Byrne, Erster Hauptmann des Ordens des Strahlenden Sterns und Drems Tante. Sie war eine ernste Frau, trug ihr Haar in einem straffen Knoten auf dem Hinterkopf, und ihr Kettenhemd und ihr Ledermantel waren verdreckt von dem langen Ritt hierher. Über ihre Schulter lugte der Griff eines Krummsäbels. Drem dachte darüber nach, wie unauffällig sie wirkte; sie trug keinen auffälligen Schmuck aus Gold oder Silber, und ihre Waffen waren schlicht, aber von feinster Handarbeit. Wenn man sie so sah, würde niemand vermuten, was für eine tödliche Kämpferin Byrne war. Drem dachte an die letzte Schlacht zurück. Byrne hatte gegen Fritha gekämpft, und beide hatten Klingen und Erdmagie eingesetzt. Fritha war ihr deutlich unterlegen gewesen. Stolz und Zuneigung überkamen Drem. In dieser Schlacht hatte Byrne ihm das Leben gerettet. Sie war seine Familie, die Einzige, die ihm nach dem Tod seiner Mutter und seines Vaters geblieben war. Das bedeutete Drem viel. Mehr noch, sie hatte ihm Liebe geschenkt, ihn freundlich behandelt, was in diesen trübseligen und unseligen Zeiten noch weit mehr zählte.

Neben Byrne trottete ein riesiger Bär, auf dem eine dunkelhaarige und bleiche Gigantin saß. Königin Ethlinn. Sie hielt einen Speer, dessen Schaft durch eine Schlaufe am Sattel gehalten wurde und der in einer Schale am Sattelgurt endete. Ethlinn überflog den freien Platz mit einem prüfenden Blick, der schließlich an dem Tisch hängen blieb.

Auf Byrnes anderer Seite schritt ein weiterer Gigant. Sein weißes Haar war zu einem Kriegerzopf geflochten, und eine Augenhöhle war nichts weiter als ein faltiges Netzwerk aus Narbengewebe. Sein Kettenhemd und sein Lederwams konnten die Muskeln an seiner hünenhaften Gestalt nicht verbergen. In seinen riesigen Händen hielt er einen Streithammer. Das war Balur Einauge, Ethlinns Vater und der berühmteste Krieger der Verfemten Lande.

Hinter diesen dreien ritt die Kriegerhorde des Ordens: eine wilde Mischung aus Giganten auf ihren Bären und Berittenen, von denen immer mehr aus kleineren Gassen auf den freien Platz strömten. Drem sah Cullen dicht hinter Byrne. Der junge, rothaarige Krieger suchte Drems Blick und grinste ihn dann spöttisch an. Keld hatte sich für Drem eingesetzt und seine Fähigkeiten als Jäger und Fährtensucher gelobt, hatte ihn gern in die Reihen der Jäger des Ordens aufgenommen. Cullen hatte Drem mit den anderen Kundschaftern zur Mine begleiten wollen, doch Byrne hatte es ihm verboten. Cullen war kein Jäger und besaß weder die Geduld noch die Gabe der Verstohlenheit. Dafür war er aber ein sehr geschickter Schwertkämpfer, besser als fast alle anderen und weit besser jedenfalls als Drem. Allerdings war er hitzköpfig und handelte, ohne nachzudenken. Deshalb hatte Byrne dem jungen Krieger befohlen, bei ihr zu bleiben. Worüber Cullen nicht allzu erfreut gewesen war.

Byrne ritt zum Tisch und zügelte ihr Pferd. Die anderen kamen langsam hinter ihr zum Stehen. Geschmeidig glitt Byrne aus dem Sattel, näherte sich dem Tisch, blieb davor stehen und betrachtete ihn finster. Ethlinn folgte ihr und hielt eine Hand über den Tisch, während sie die Lippen bewegte. Dann zuckte sie zusammen, als würde sie die schrecklichen Handlungen sehen, die sich auf diesem Tisch vollzogen hatten. Balur hob eine der Ketten an, verzog die Lippen und ließ sie wieder fallen.

»Keld?« Byrne sah ihren Jagdmeister an.

»Die Mine ist verlassen. Und zwar schon eine ganze Weile, wie es aussieht«, knurrte Keld.

Byrne nickte und sah wieder auf den Tisch.

»Aber ich habe das hier gefunden.« Keld hielt den Gegenstand hoch, den er in seinen Mantel gewickelt hatte.

Byrne nahm ihn entgegen und wickelte den Mantel ab. Unterschiedliche Emotionen zuckten über ihr Gesicht, als sie den Gegenstand erkannte. Trauer und Wut. Und ihre Hände zitterten leicht, als sie ihn schließlich hochnahm.

Es war ein Schwert.

Drem erkannte es sofort, obwohl es noch in seiner Scheide steckte und ein langer Gürtel darum gewickelt war. Größe und Länge wiesen eindeutig darauf hin, dass es kein gewöhnliches Schwert war, sondern einem Giganten gehört hatte. Einer Gigantin.

Das ist Sigs Schwert.

Drem zog sich bei dem Anblick der Magen zusammen. Er hatte Sig zwar nur kurz gekannt, aber sie hatte einen unauslöschlichen Eindruck in seinem Herzen hinterlassen. Sie war ein Beispiel für wahre Freundschaft gewesen, für Loyalität. Für Liebe.

Ein Beispiel für Wahrheit und Mut.

Eine Träne lief ihm über die Wange.

Byrne nickte und hielt das Schwert für alle sichtbar hoch.

»Du solltest es nehmen.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und hielt die Waffe Balur Einauge hin.

Der alte Gigant blinzelte. Er schob seinen Streithammer in die Lasche auf seinem Rücken und streckte zögernd die Hand aus. Dann zog er sie wieder zurück.

»Nein«, sagte Balur. »Es sollte von jemandem aus deinem Orden getragen werden. Sig war eine Kriegerin des Strahlenden Sterns, durch und durch.«

Byrne senkte die Klinge und stellte die Spitze der Scheide auf den Boden. »Das bist du ebenfalls, hier«, sagte sie und legte eine Hand auf ihr Herz.

Balur brummte, aber es war kein Widerspruch, wie Drem bemerkte. »Ich habe euren Eid nicht geleistet.«

»Du kanntest Corban und wusstest, wofür er kämpfte. Du warst sein Freund«, erklärte Byrne.

»Das war ich«, erwiderte Balur leise. »Dennoch habe ich ihm nie die Treue geschworen. Mich bindet nur ein Schwur, das Leben meiner Tochter mit meinem eigenen zu schützen.« Er streckte seine gewaltige schwielige Hand aus und berührte Ethlinns Wange.

Ethlinn legte ihre Hand darüber und lächelte. »Dieser Schwur könnte niemals in Konflikt mit dem Treueschwur des Ordens geraten«, sagte sie. »Sig war dir lieb. Du solltest das Schwert nehmen.«

Balur betrachtete es einen Moment und nickte dann.

»Gut.« Er nahm Byrne das Schwert ab, zog es aus der Scheide und hielt es hoch in die Luft. Es schimmerte in der Sonne, obwohl dunkle Flecken das Metall beschmutzten.

»Ich werde dich mit diesem Schwert rächen, tapfere Sig!«, schrie Balur unvermittelt. Seine Stimme hallte von den Gebäuden wider und schallte durch die leeren Straßen. Die Krieger um ihn herum jubelten, am lautesten unter ihnen Drem.

Einen Teil dieses Schwurs hast du bereits erfüllt, dachte Drem, der sich daran erinnerte, wie Balur gegen den Giganten Gunil gekämpft hatte, Sigs Mörder und ein Verräter an seinen Gigantenclans. Balur hatte ihm mit einem Hieb seines Streithammers den Schädel zertrümmert.

Es hatte Drem sehr befriedigt, Gunil tot zu sehen, und nicht nur als Rache für Sigs Tod. Gunil war auch einer von denen gewesen, die für den Mord an Drems Vater Olin verantwortlich gewesen waren.

Jetzt ist nur noch Fritha übrig, die dafür zur Rechenschaft gezogen werden muss, dachte Drem. Er ballte unwillkürlich die Fäuste, als er an die Frau dachte, die seinen Vater getötet hatte.

»Und es ist mit Runen gezeichnet«, sagte Byrne leise zu Balur. Sie lächelte, während die Rufe allmählich verklangen, und Balur schob das Schwert in die Scheide zurück. »Das könnte in den Tagen, die noch vor uns liegen, sehr nützlich sein.«

»So ist es.« Balur nickte.

Während des Kampfes gegen Fritha waren sie von einer großen Heerschar von Wiedergängern angegriffen worden, pervertierten Geschöpfen, die durch den Biss von Gulla und seinen Auserwählten geschaffen worden waren. Sie waren zwar von menschlicher Gestalt, kämpften jedoch ohne jegliche Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit und waren nur sehr schwer zu töten. Drem hatte gesehen, dass man sie durch eine Enthauptung zur Strecke bringen konnte, aber nach jeder anderen noch so schweren Verletzung griffen sie einfach immer wieder an. Es sei denn, sie wurden mit einer von Runen gezeichneten Klinge durchbohrt. Wenn Wiedergänger von einer Klinge getroffen wurden, auf der die Runen der Erdmagie eingeätzt waren, fielen sie unweigerlich. Drem hatte mit seinem eigenen Scramasax den Hauptmann der Heerschar, Ulf, niedergestochen. Die Waffe war von seinem Vater Olin mit Runen gezeichnet worden. Ulf war gestorben, und mit seinem Tod war auch seine ganze Heerschar von Wiedergängern zusammengebrochen und verendet.

Jeder von uns sollte eine runengezeichnete Klinge besitzen.

Aber diese Klingen waren selten und wurden nur jenen übergeben, die Byrne für würdig genug gehalten hatte, sie den Gebrauch der Erdmagie zu lehren. Sie sagte, es brächte eine große Verantwortung mit sich, die Erdmagie zu erlernen, also könnte nur ein kleiner Teil des Ordens des Strahlenden Sterns solche Waffen benutzen. Sig war eine dieser Auserwählten gewesen.

Jetzt jedoch, nach der Schlacht gegen Fritha, mussten möglichst alle Krieger des Ordens runengezeichnete Waffen ins Feld führen, ob sie die Erdmagie beherrschten oder nicht. Sonst würden sie gegen diese Wiedergänger nicht bestehen.

Balur zog seinen Streithammer vom Rücken und schob das Schwert unter die Riemen, nachdem er sie enger geschnallt hatte. Byrne half ihm, sie fester zu ziehen. Dann lockerte der Gigant seine Schultern.

»Ich muss erst lernen, dieses Ding zu benutzen«, murmelte er.

»Das bringe ich dir gern bei, Einauge!«, rief Cullen. Einige Krieger auf dem Platz lachten.

»Ich nehme dich beim Wort, du Welpe«, knurrte er. Dann bückte er sich und hob seinen Streithammer auf. »Aber einstweilen halte ich mich daran.« Er schwang die Waffe und lächelte, als er das vertraute Gewicht fühlte.

Byrne blickte zu Keld. »Muss Balur seine neue Klinge bereits hier einsetzen?«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte Keld. »Wir haben die ganze Mine durchsucht – hier gibt es keine lebende Seele, außer Ratten und dergleichen. Der einzige Ort, an dem wir noch nicht gesucht haben, ist da drin.« Der Jagdmeister nickte zu der Felswand. »Ich wollte keinen von meinen Leuten dort hineinschicken, bevor wir mehr Schwerter zur Unterstützung hatten.« Der Fels war von Dutzenden kleiner Höhlen durchzogen, vor denen sich ausnahmslos Eisengitter befanden. Sie waren alle geöffnet. Drem erinnerte sich noch viel zu gut an die Bewohner dieser Felsenzellen: Wildlinge, Mutationen von Männern, Frauen und Kindern, die irgendwie zu einem widerlichen Halbleben verdammt worden waren, geschaffen von Frithas perversem Verstand und ihrer dunklen Blutmagie.

Zwischen den Zellen fand sich eine dunklere Fläche. Es war ein großer Höhleneingang, der aussah, als würde dahinter ein Tunnel tief in die Felswand führen. Drem erinnerte sich an das schreckliche Geheul, das während der Schlacht in jener albtraumhaften Nacht aus diesem dunklen Loch gedrungen war.

Byrne hob den Blick und starrte auf genau dieses schwarze Loch in der Granitwand.

»Verteilt euch und sucht jede Handbreit dieses Platzes ab!«, rief sie. »Ich muss wissen, wo sich Gulla befindet.«

Die Kriegerhorde verteilte sich auf die umgebenden Gebäude. Ethlinn und Balur blieben mit zwei Dutzend Kriegern zurück. Das waren Byrnes Leibwache sowie Cullen und Utul, Byrnes Hauptmann aus dem Süden. Er war dunkelhäutig, hatte eine Hakennase und graue Strähnen in seinem pechschwarzen Haar und tiefe Falten um die Augen – eine Folge seines nahezu ständigen Lächelns. Der Griff eines Krummsäbels ragte über seine Schulter. Er ähnelte dem von Byrne, hatte aber einen längeren Griff. Dieser Mann war einer der tödlichsten Schwertkämpfer, die Drem jemals gesehen hatte, und er hatte in letzter Zeit das Privileg gehabt, etliche zu sehen.

»Drem, du kommst mit uns«, sagte Byrne. Rab krächzte, spreizte die Flügel und erhob sich flatternd.

»Du kennst diesen Ort besser als jeder andere von uns. Ich möchte einen Blick dort hineinwerfen«, sagte Byrne und deutete mit einem Nicken auf den Höhleneingang. Dann setzte sie sich in Bewegung, gefolgt von Ethlinn, Balur und den anderen. Keld stand bereits an der Öffnung und schlug Funken mit einem Feuerstein, um eine Fackel zu entzünden, die er aus einer Halterung unmittelbar hinter dem Höhleneingang genommen hatte. Die Flammen loderten zischend auf und ließen die Schatten tanzen. In dem Licht sah Drem, dass der Tunnel tief in den Fels hineinführte und leicht abschüssig war.

Keld trat in die Höhle und hob die Fackel hoch. Seine beiden Woelvenhunde Fen und Ralla folgten ihm. Drem sah, wie sich ihre Nackenhaare sträubten und ihre Nasen zuckten. Byrne befahl der Hälfte ihrer Leibwache, am Höhleneingang zu bleiben. Die anderen zehn folgten ihr, als sie Keld hinterherging. Ethlinn, Balur, Cullen und Utul begleiteten sie.

Drem holte tief Luft und eilte hinter ihnen her.

KAPITEL 2

JIN

Jin nockte einen Pfeil ein, spannte die Sehne und schoss. Sie wiederholte das zweimal, noch bevor der erste Pfeil in das Lindenholz des Schildes einer Weißschwinge einschlug. Ihr zweiter Pfeil prallte mit einem metallischen Geräusch von einem Eisenhelm ab, und der dritte bohrte sich in das Auge des Kriegers. Er fiel zurück und verursachte eine Erschütterung des Schildwalls, bevor ein anderer über seine Leiche nach vorn trat, um die Lücke zu schließen.

Ein scharfer Schrei ertönte von oben. Dann wurde ein Schatten sichtbar, und ein Kadoshim landete krachend auf dem Boden, Schwingen und Arme weit ausgestreckt. Blut pumpte aus einem Riss in seinem Kettenpanzer. Jins Pferd wich tänzelnd zur Seite aus, strauchelte über Leichen und suchte sicheren Tritt. Rauch quoll in dicken Wolken über den Hof. Überall hing der Gestank von Blut und Tod in der Luft, durch die die Schreie der Kämpfenden und Sterbenden hallten.

Jin hielt die Tore von Drassil, umringt von ihren Leibwächtern. Andere ihres Clans waren abgestiegen und verteidigten den Torturm. Pfeile pfiffen von oben herab. Das bedeutete, ihre Cheren hatten die Türme erobert und waren bereits auf den Wällen. Sie grinste verzerrt über ihren Erfolg und nahm sich einen Moment Zeit, um den Stand der Schlacht einzuschätzen.

Sie und ihr Clan der Cheren hatten schon bei ihrem ersten Angriff ein gewaltiges Gemetzel angerichtet. Die Torwächter hatten sie für ihre Verbündeten gehalten und ihr und ihren Kriegern die Tore geöffnet. Sie hatten sie überrannt und ein Blutbad verursacht. Aber jetzt gruppierten sich Drassils Weißschwingen neu. Sie hatten in der Mitte des Hofs einen Schildwall gebildet und schoben sich langsam auf sie zu. Frithas Akolyten strömten durch die offenen Tore, eine Welle von kahlköpfigen Kriegern, grimmig und entschlossen. Es waren die Frauen und Männer, die sich gegen die Herrschaft der Ben-Elim aufgelehnt und sich mit den Kadoshim verbündet hatten. Einige von ihnen hatten viele Jahre in der Wildnis von der Hand in den Mund gelebt, weil sie es gewagt hatten, die eisernen Gesetze der Ben-Elim zu missachten. Deshalb waren sie verstoßen worden, doch jetzt war ihre Zeit der Rache gekommen.

Es hatte lange gedauert, an diesen Punkt zu gelangen.

Ich will mich an so vielen rächen. An den Ben-Elim und ihren Weißschwingen-Marionetten, die mich in diesem ekelhaften, barbarischen Loch so lange gefangen gehalten haben, während ich stattdessen mit meinem Clan in Freiheit hätte über das Grasmeer reiten können.

Mit meinem Vater.

Sein Tod bereitete ihr immer noch körperlichen Schmerz. Der Mord an ihm war wie eingebrannt in ihren Verstand, als hätte sie zu lange ins Feuer gestarrt. Wie Bleda seine Klinge in den Hals ihres Vaters gerammt hatte, ihm die Kehle aufgeschlitzt hatte, wie sein Blut gespritzt war.

Dafür werde ich dich töten, Bleda, und wenn es das Letzte ist, was ich tun werde.

Selbst dass sie Bledas Mutter nur wenige Augenblicke später getötet hatte, konnte ihr Bedürfnis nach Vergeltung nicht befriedigen. Es brannte lodernd in ihr.

Er hat eine Närrin aus mir gemacht. Mein Verlobter, der sich insgeheim mit diesem geflügelten Halbblut-Miststück traf! Unvorstellbar, dass ich meinen Vater angefleht hatte, ihn am Leben zu lassen und uns zu erlauben zu heiraten. Sie knirschte mit den Zähnen vor Scham, weil sie ihre Emotionen nicht beherrschen konnte.

Die Akolyten prallten gegen den Schildwall, Pferde bäumten sich auf und wieherten schrill. Schreie ertönten, als die Kurzschwerter der Weißschwingen zwischen den Schilden herauszuckten und sehr effektiv töteten. Aber es gab zu viele Akolyten, und ständig ritten noch mehr in den Hof. Hinter ihnen sah Jin eine wabernde Nebelwolke. Sie wusste, was sich darin verbarg.

Zeit zu verschwinden.

Gulla hatte ihr zwar versichert, dass seine Kreaturen, die sich in diesen Nebel hüllten, weder ihr noch den Cheren-Kriegern etwas antun würden, aber sie hatte gesehen, was sie mit den Sirak gemacht hatten. Da wollte sie lieber kein Risiko eingehen.

»Zu mir!«, schrie sie. Sie drückte die Knie gegen die Flanken ihres Pferdes, das sofort reagierte und sie von dem Torgang wegtrug. Donnernder Hufschlag ertönte, als Hunderte ihrer Krieger ihr folgten, in ihren blauen Deel-Tuniken und ihren Kettenhemden, die Recurvebögen in den Fäusten und mit den Falkenbannern, die über ihnen im Wind knatterten. Der erste war Gerel, der wie immer dicht neben ihr ritt, ihre treue Schildwache.

Jin zügelte ihr Pferd, als sie sah, dass sie aus dieser veränderten Position Lücken für ihre Pfeile in dem feindlichen Schildwall fand. Sie griff nach ihrem Köcher, nockte einen Pfeil ein und fluchte, als der Muskel in ihrer Schulter schmerzte. Die Pfeilwunde, die sie sich bei Bledas Flucht zugezogen hatte, war noch nicht gänzlich verheilt.

Dieses geflügelte Miststück hat mich tatsächlich mit einem Pfeil erwischt. Könnte sie besser zielen …

Die Weißschwingen hielten ihre Phalanx immer noch, trotz der Welle der Akolyten, die ihnen zahlenmäßig weit überlegen waren. Die Weißschwingen sahen aus wie ein Felsbrocken in einem Fluss aus kahlköpfigen Kriegern. Viele Akolyten strömten um die Flanken des Schildwalls herum und ignorierten ihn vollkommen, als sie zu ihrem eigentlichen Ziel eilten. Asroth, ihr in Sternenstein-Metall gegossener König. Jin ignorierte den Protest der strapazierten Muskeln in ihrer Schulter und feuerte einmal, zweimal, dreimal. Ihre Clansleute folgten ihrem Beispiel, und ein Pfeilhagel prasselte auf den Schildwall herab. Der dumpfe Aufprall der Pfeile, wenn sie in den Schilden landeten, wurde von vereinzelten Schreien akzentuiert, wenn einige Lücken dazwischen fanden und sich in Fleisch gruben.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Jin die Nebelwolke, die durch den Torturm in den Hof quoll. Undeutlich erkannte sie Gestalten in diesem Dunst, mit langen Armen und klauenbewehrten Händen. Sie hörte das geifernde Knurren und das schlangenartige Zischen, als ihre neuen Verbündeten in Drassil einfielen, über den Schildwall hinwegkletterten und darum herum quollen.

Einen Moment lang herrschte Stille, dann begannen die Schreie.

Schilde brachen krachend, wurden von Armen gerissen, Schwerter gruben sich in Fleisch. Jin kannte das Geräusch, wenn Eisen einen Körper durchbohrt, das Knallen von Schlägen, wusste, wie es sich anhörte, wenn Haut zerfetzt wurde. Die Schreie wurden schriller, von Furcht erfüllt, und der Schildwall erbebte, bis er in Hunderte Teile zerbrach.

Diese … Kreaturen kann man nicht aufhalten.

Der Nebel quoll weiter, teilte sich und rollte in die Straße, die zur Großen Halle von Drassil führte.

»Es ist vollbracht: Der Hof ist unser«, sagte Jin gedämpft zu Gerel. Er nickte, ohne den Blick von dem nebelumhüllten Gemetzel abzuwenden.

Jin schnalzte, und ihr Pferd trabte an.

»Wohin willst du?«, rief Gerel ihr nach.

»Ich suche nach mehr Weißschwingen, die ich töten kann«, antwortete Jin.

»Gulla hat uns befohlen, das Tor zu erobern und zu halten«, erinnerte Gerel sie.

»Ich bin nicht sein Kettenhund!«, fuhr sie ihre Schildwache an. »Er ist mein Verbündeter, nicht mein Herr. Außerdem ist das Tor erobert. Sie können es sich nicht mehr zurückholen. Und ich habe noch längst nicht genug Feinde getötet.«

Gerel nickte bei ihren Worten und trieb sein Pferd hinter ihr her. Krieger der Cheren schlossen sich ihnen an, und die Hufschläge ihrer Tiere vermischten sich mit dem Lärm der Schlacht.

Jin zügelte ihr Pferd und betrachtete die Szenerie vor sich.

Breite Straßen führten von dem Hof in alle Teile der Festung von Drassil. Am härtesten wurde in der Straße gekämpft, die zu Drassils Großer Halle führte, wo Asroth immer noch in seinem eisernen Gefängnis gehalten wurde. Aber Jin hatte etwas auf einer anderen Straße gesehen, einer Straße, die nach Osten führte. Eine Gruppe von Weißschwingen war dort entlanggelaufen, fort von der Großen Halle, weg von der Schlacht. Einige humpelten.

Eine von ihnen war stehen geblieben und starrte entsetzt in Richtung des Hofs. Sie hatte dunkles Haar, kurz geschoren wie das aller Weißschwingen, aber Jin erkannte sie. Sie hatte sie lange Jahre auf dem Waffenfeld trainieren sehen. Ihre Bewegungen waren selbstbewusst, fließend und ökonomisch, was nur die besten Krieger auszeichnete.

»Aphra«, flüsterte Jin.

Die Gestalt drehte sich um und lief mit ihren Gefährten weiter, verschwand außer Sicht.

»Wenn ich dieses Halbblut-Miststück nicht töten kann, dann begnüge ich mich fürs Erste damit, ihre Schwester umzubringen.« Jin grinste bösartig.

Dann trieb sie ihr Pferd weiter.

KAPITEL 3

RIV

Riv taumelte durch den Himmel, schlug mit ihren mächtigen Flügeln, während sie mit einer Hand einen benommenen Krieger durch die Luft trug. Um sie herum waren Ben-Elim und Kadoshim in tödlichem Kampf ineinander verbissen, ein wildes Ringen in der Luft, das den Himmel mit Blut und Federn füllte.

Sie schwang ihr Kurzschwert, als ein Kadoshim zu dicht an ihr vorbeiflog, während er auf einen Ben-Elim einstach. Ihre Klinge durchtrennte die Muskeln seines Flügels, und der Dämon stürzte taumelnd in die Tiefe.

Der Ben-Elim, den sie gerettet hatte, nickte ihr kurz zu, doch dann riss er die Augen auf, als er sah, was sie mit ihrer linken Hand hielt.

Vielmehr, nicht was, sondern wen.

Einen anderen Ben-Elim, dessen langes schwarzes Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden war und der Narben auf der Stirn und auf der Wange hatte.

Meical, einst Erster Hauptmann der Ben-Elim, der seit mehr als hundert Jahren in einem Gefängnis aus Sternenstein-Metall eingeschlossen gewesen war, ohne dass jemand gewusst hatte, ob er tot war oder noch lebte.

Riv hatte ihn aus Drassils Großer Halle gerettet, wohin Gulla und seine Kadoshim geflogen waren, um ebendiesen frisch erweckten Ben-Elim abzuschlachten. Jetzt flogen sie hoch über der Halle durch die Luft. Leichen lagen überall am Boden verstreut, und unter ihnen waren viele Knäuel von Kämpfenden.

Meical war noch ziemlich benommen gewesen, als sie ihn gepackt und aus der Halle geschleppt hatte.

Wenn man hundertdreißig Jahre lang schläft, ist das wohl verständlich, dachte Riv.

Jetzt sah er sich um, und seine Augen wirkten wacher, während er das Gemetzel betrachtete. Dann blickte er zu Riv hoch, und seine Lippen bewegten sich, aber sie konnte in dem Kampflärm um sie herum seine Worte nicht verstehen.

»Wo ist Corban?«, rief Meical jetzt lauter.

Riv blinzelte. Diese Frage hatte sie nicht erwartet.

Corban? Der Gründer des Ordens des Strahlenden Sterns?

»Er ist tot!«, rief Riv zurück.

Seine Verwirrung schlug in Trauer um. Das Gefühl von Schmerz und Verlust in den Augen des Ben-Elim war so deutlich, dass es Riv den Atem verschlug. »Seit fast achtzig Jahren!«, erläuterte sie.

Nein. Sie sah nur, wie seine Lippen das Wort bildeten.

Hinter ihnen strömte eine Wolke von Kadoshim aus den Türen der Großen Halle. Gulla führte den Angriff an. Er war größer als die anderen Kadoshim, und sein Gesicht war zu einer hasserfüllten Fratze verzerrt. Sein Kopf ruckte herum wie der eines Raubvogels, als er sich im Hof umsah.

Er ist auf der Jagd nach Meical.

Riv zog ihre Schwingen ein und sank, landete auf einem Dach und zog Meical in den Schatten unter einen Überstand.

»Was meinst du mit achtzig Jahren?«, wollte Meical wissen.

Riv warf einen Blick in den Himmel und sah, wie Gulla die Kadoshim nach Südosten führte, zum Haupttor von Drassil.

Dann sah sie wieder zu Meical zurück und holte tief Luft.

»Du hast seit hundertdreißig Jahren geschlafen«, erklärte Riv. Natürlich, an jenem Tag, an dem er vom Sternenstein-Eisen überzogen worden und erstarrt war, hatte auch eine Schlacht getobt, ähnlich wie diese.

Sie deutete auf die Kämpfe um sie herum. »Das hier ist nicht der ›Tag des Zorns‹, als die Kadoshim besiegt und Asroth und du in Sternenstein-Metall gegossen und gefangen genommen wurden. Das ist vor sehr langer Zeit passiert.«

Meical fuhr sich mit der Hand über die Augen, massierte seine Nasenwurzel und verarbeitete Rivs Worte. Dann seufzte er tief und atmete langsam aus.

Er hat viel nachzuholen, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit. Riv musste Aphra finden, und unter diesem dringenden Bedürfnis lauerte noch etwas Tieferes, Dunkleres, dieser stets präsente Strom von Wut, der ihr zuflüsterte, alles andere zu vergessen und einfach nur jeden Feind zu töten, auf den sie stieß. Überall waren Kadoshim und ihre Anhänger, und sie mussten sterben.

Eine Hand packte ihre Schulter.

»Sag es mir.« Meical musterte Riv prüfend. Von seiner Verwirrung und seiner Trauer, die er noch vor wenigen Momenten gezeigt hatte, war nichts mehr zu bemerken, und der Schmerz war aus seinen Augen verschwunden.

»Die Kadoshim haben Drassil angegriffen«, sagte sie schnell. »Dann haben sie dich und Asroth aus eurem Gefängnis befreit.« Sie dachte kurz nach. »Eigentlich haben sie Asroth befreit. Du warst ein zufälliger Nutznießer.«

Meical nickte. »Sie wollten mich töten«, flüsterte er. Seine Augen schienen in die Ferne zu blicken, als er sich erinnerte.

»Ja«, pflichtete Riv ihm bei. »Und das gelingt ihnen vielleicht auch, wenn wir hier nicht schleunigst verschwinden.«

»Wer führt die Ben-Elim an?«

Riv zuckte mit den Schultern. »Kol, falls er noch am Leben ist.«

»Kol? Was ist mit Israfil?«

»Israfil ist tot.« Sie hob die Hand, um Meicals Fragen zuvorzukommen. »Wir haben keine Zeit für Fragen!«, fuhr sie ihn an. Die Schreie der Kämpfenden gellten immer noch durch die Luft. »Drassil ist verloren, und unsere einzige Hoffnung besteht darin zu entkommen. Und zwar jetzt!«

»Fliehen?« Meical verzog das Gesicht.

»Ja, fliehen«, erwiderte Riv düster. Ihr gefiel der Gedanke auch nicht. Er hinterließ einen üblen Geschmack in ihrem Mund. Aber es war besser zu leben als zu sterben. Riv schlug mit den Flügeln und schüttelte Meicals Griff ab. Dann erhob sie sich in die Luft und schwebte über ihm. Meicals Blick fiel auf ihre grau getupften Federn.

»Du bist keine Ben-Elim«, stellte Meical finster fest. »Was bist du?«

»Ich sagte dir schon, wir haben keine Zeit zu reden.« Riv verlor allmählich die Geduld, dachte an Aphra, die da draußen kämpfte, ihre Hilfe brauchte. »Wenn wir hier heil herauskommen, beantworte ich alle deine Fragen, aber jetzt müssen wir verschwinden.« Sie ließ das Kurzschwert in ihrer Faust durch die Luft wirbeln. »Ich jedenfalls verschwinde. Du kannst hierbleiben und sterben oder mit mir kommen und leben.« Sie schlug mit den Flügeln und stieg noch höher in die Luft, von wo aus sie auf ihn hinabblickte.

Meical starrte sie an, sah dann an ihr vorbei in den von Kämpfenden erfüllten Himmel.

»Gib mir ein Schwert«, knurrte er.

Sie grinste böse, warf ihm das Kurzschwert zu und zog eine andere Klinge aus der Scheide.

Meical fing das Schwert auf, wog es kurz in der Hand, um die Balance abzuschätzen, dann ging er in die Knie und stieß sich in die Luft ab. Seine Schwingen waren breit und strahlend weiß – die eines wahren Ben-Elim, im Gegensatz zu ihren gefleckten, die eines Halbbluts, wie die anderen sie nannten.

Im Hof unter ihnen toste ein Mahlstrom aus Kämpfen. Kleine Gruppen von Weißschwingen stemmten sich immer noch mit ihren Schildwällen gegen die Akolyten der Kadoshim, die sie umschwärmten. Hier und da sah Riv dunklere Gruppen der bleichen Kreaturen mit den scharfen Zähnen, gegen die sie im Fornswald gekämpft hatte. Ihre Gestalt war menschlich, aber sie kämpften, wie Riv es noch nie zuvor erlebt hatte. Ihre ungezügelte Wildheit war animalisch. Und sie waren auch schwer zu töten. Die einzige Möglichkeit, sie für immer zu erledigen, schien darin zu bestehen, sie zu enthaupten.

Riv hatte drei Kriegerhorden dieser Kreaturen gesehen, die zu Drassils Mauern schwärmten. Sie wusste, dass sie nicht zu besiegen waren – es waren zu viele.

Über ihnen kämpften Ben-Elim mit Kadoshim und deren Halbblut-Nachkommen. Riv machte kehrt und flog durch das Kampfgetümmel. Sie musste gegen das Bedürfnis ankämpfen, einzugreifen und das Blut ihres Feindes zu vergießen, aber sie hatte Aphra und einigen Dutzend Weißschwingen geholfen, sich den Weg aus Drassils Großer Halle freizukämpfen. Jetzt machte sie sich Sorgen, was aus ihnen geworden war, während sie zurückgekehrt war, um Meical zu retten.

Ein Rauschen in der Luft war die einzige Warnung. Sie fuhr herum und sah die ledernen Flügel und das platte Gesicht eines Kadoshim-Halbbluts, sah das Blitzen des Schwertes, als er damit nach ihr stach. Mit ein paar kräftigen Flügelschlägen wurde sie langsamer und verteidigte sich. Funken stoben auf, als sie die Klinge abwehrte, aber die Geschwindigkeit des Halbbluts war zu groß. Er krachte gegen sie, und sie wirbelten ineinander verschränkt durch die Luft, knurrten und zischten sich gegenseitig an, während sie fochten.

Schließlich schlang Riv einen Arm um die Taille ihres Angreifers, zog sich dichter an ihn heran und hämmerte ihre Stirn in sein Gesicht. Knorpel wurde zerschmettert, und Blut spritzte, aber das Halbblut verfluchte sie nur und versuchte, Riv seinen Schwertgriff auf den Kopf zu schlagen.

Sie wich aus, und ein Luftzug fuhr ihr übers Gesicht, als der Griff sie knapp verpasste. Dann holte sie mit ihrem eigenen Schwert zu einem tödlichen Stoß aus.

Doch in diesem Augenblick verkrampfte sich das Halbblut und riss vor Überraschung Augen und Mund auf, während Blut über seine Lippen quoll. Ein Schwert hatte seine Lunge durchbohrt. Er sackte zusammen und stürzte dann in die Tiefe.

Meical schwebte über ihr. Sein Kurzschwert war blutüberströmt, sein Gesicht kalt und hart vor Hass. Er warf Riv ihre Waffe zu, da er selbst jetzt ein anderes, längeres Schwert in seiner Faust hielt, das er dem sterbenden Halbblut aus den Fingern gerissen hatte.

»Ich hatte ihn!«, knurrte Riv ihn an. Es gefiel ihr nicht, dass Meical ihrem Todesstoß zuvorgekommen war.

»Du selbst hast gesagt, wir sollten uns beeilen«, erinnerte Meical sie.

Aphra.

Riv verkniff sich einen bissigen Kommentar, schob ihre Schwerter in die Scheiden und wandte sich dann nach Norden.

Das Haupttor von Drassil befand sich in der westlichen Mauer, und dort tobten die Kämpfe auch am heftigsten. Die Bogenschützen der Cheren, angeführt von ihrer verräterischen Königin Jin, hatten das Tor erobert und hielten es für die Akolyten der Kadoshim offen. So ermöglichten sie ihnen, in das Innere von Drassil zu strömen. Dicht hinter ihnen waren die Nebel-Monster aus dem Fornswald gekommen.

Keiner der Kämpfer am Boden würde noch durch diese Tore flüchten können.

Aber für alle, die sich auskannten, gab es noch andere Auswege aus Drassil.

Riv schlug schneller mit ihren Schwingen, und schon bald hatte sie keine kämpfenden Ben-Elim und Kadoshim mehr vor sich. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass Meical ihr folgte. Sie schwenkte nach rechts, ging tiefer und flog durch fast leere Straßen. Gebäude erhoben sich rechts und links von ihr. Hier liefen Menschen, keine Krieger. Die Kasernen der Weißschwingen lagen alle im Süden der Festung. Diese Leute waren Händler und ihre Familien. Riv schmerzte bei diesem Anblick das Herz.

Wie könnten sie sich gegen die Kadoshim und ihre Heerscharen verteidigen?

»Lauft zum östlichen Tor!«, schrie Riv ihnen zu, als sie über sie hinwegzischte.

Dann drehte sie nach Süden ab, und die Schreie wurden lauter, ebenso das Klappern der Hufe. Riv wurde unwillkürlich von den Geräuschen der Schlacht angezogen, aber mit schierer Willenskraft konnte sie erneut abbiegen, nach links, flog über eine weitere leere Straße in Richtung Osten.

Erneut wurden die Kampfgeräusche leiser, und Riv konzentrierte sich nur noch auf das Fliegen. Ihre Schwingen erzeugten einen wahren Sturm, als sie über Drassils gepflasterte Straßen hinwegfegte und Blätter und Schmutz hinter sich aufwirbelte. Die Geschwindigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen, und ihr blondes Haar flatterte wie eine Fahne im Wind. Angst um Aphra, ihre Schwester, nein, ihre Mutter, verlieh ihr noch mehr Kraft, und die Gebäude flogen wie Schemen an ihr vorbei.

Riv konnte einfach die Vorstellung nicht abschütteln, dass Aphra in ihrem Blut dalag, während ein Kadoshim über ihr stand.

Ein reiterloses Pferd lenkte ihre Konzentration wieder auf die Realität. Der Reiter hatte sich mit dem Fuß im Steigbügel verfangen, und seine Leiche wurde von dem Pferd über das Pflaster gezerrt.

Ein Cheren.