Cover

ALEXANDRA KUI

TRÜGERISCHER
SOG

THRILLER

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Lied »Schrei nach Liebe«, Die Ärzte, 1993
Musik und Text: Bela B (Dirk Felsenheimer) und Farin Urlaub (Jan Vetter)
© Universal Music Publishing Group
Gedicht »Trutz, blanker Hans« von Detlev von Liliencron, 1883
Zitat Christian Friedrich Hebbel
Gedicht »Meeresstrand« von Theodor Storm, vermutlich 1853

© 2021 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: © Shutterstock
(Rush Photography Calgary; Andrzej Puchta; Abstractor)

FK · Herstellung: MJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-24245-9
V002

www.cbj-verlag.de

»Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe«

– Die Ärzte

Prolog

Ein Boot ist ein Boot, kein Geist. Ertrunkene sehen anders aus, oder? Dass wir trotzdem erblassen, dass unsere Hände zu zittern beginnen, liegt daran, dass es rot ist, rot wie die Glut in den Trümmern von gestern, wie die Sonne, die im Meer versinkt … Es gibt sonst keine roten Ruderboote auf der Insel, die meisten sind weiß, manche hellblau, ein gelbes hier und da, aber rot, kein Zweifel, das muss die Hoffnung sein, ihr Boot.

Frau Hoppe.

Hope.

Sie fehlt uns schon jetzt.

Der Sturm hat sich gelegt, die See ist glatt wie ein Spiegel für die Hässlichkeit unserer Seelen. Die Hoffnung hat Schlagseite.

Los, fass mal mit an. Wir müssen sie bergen. Zier dich nicht so. Gib zu, gestern bei Ebbe, als das rote Boot vor uns im harten Sand lag, von Frau Hoppe keine Spur, da hast du doch auch daran gedacht, die Ankerleine von der Boje zu lösen, nicht wahr? Genau wie ich.

Wir wollten sie loswerden, weil sie uns loswerden wollte. Deswegen ging sie so weit raus: Sie hatte uns gründlich satt. Wir liebten und wir hassten sie, beides aus demselben Grund. Weil sie jemand war, statt bloß irgendwer, ein heller Stern an einem Himmel voller Trabanten, ihr Name war von Bedeutung. Wir nannten sie Hope!

Die Hoffnung ist störrisch, sie will sich nicht von uns einfangen lassen, aber wir lassen sie nicht entkommen. Das zerschnittene Tau ist nass und schwer, es schürft die Haut an den Händen auf, Ruder und Motor fehlen, im Rumpf schwappt das Salzwasser trotzig auf und ab. Hoffnung, da steht es, weiße Schrift auf rotem Grund, der letzte Anstrich keine zwei Wochen alt, ein Willkommensgeschenk, das den Tod brachte. Du berührst die Buchstaben, deine Stimme ist nur ein Flüstern.

»Sie ist es.«

Hattest du Zweifel?

Ohne die Hoffnung kann die Hoppe, kann Hope es nicht an Land geschafft haben, nicht bei diesem Wetter. Erst der Sturm, dann die Flut. Sie hat so viel riskiert – und sie tat es für uns.

Was hat sie jetzt davon? Sie ist erledigt da draußen auf See.

Am Ende doch wieder eine von uns.

Willkommen unter den Namenlosen.

Warnung

Ich lese viel. Am liebsten Geschichten, in denen Leute ein stinknormales Leben führen, um dann in irgendeine krasse Sache reingezogen zu werden, die alles auf den Kopf stellt. Plötzlich stecken sie in tödlicher Gefahr und müssen sich so richtig durchbeißen. Idealerweise erweisen sie sich dann als Helden.

Falls ihr euch gerade langweilt und euch daher sehnlich wünscht, dasselbe könnte euch auch passieren, hier ist mein Rat: Wünscht euch lieber etwas anderes. Es geht nichts über ein stinknormales Leben. Ich muss es wissen, ich hatte eins – und dann wurde schlagartig alles anders. Erst ungemütlich, dann schlimm, dann schlimmer als schlimm. Und es ist noch nicht zu Ende, Ausgang offen.

Helden sind mir bisher keine begegnet, weder beim Blick in den Spiegel, noch sonst irgendwo.

Wenn ihr damit nicht klarkommt, lest nicht weiter!

Die Veränderung

Kim

Ich merkte erst, wie wütend die Hoppe war, als das Reagenzglas in ihrer Hand zersplitterte. Es hatte mal wieder Zoff gegeben. Frau Hoppe verzog selten eine Miene, aber die Hände hatte sie zu Fäusten geballt und dabei war es passiert. Blut sickerte hervor und tropfte auf den weißen Laborkittel und den Fußboden. Zuerst waren alle wie erstarrt, aber dann sprang die halbe Klasse auf, um ihr zu helfen, und ein heilloses Chaos entstand.

Sara blieb sitzen.

Ich auch.

Unsere Blicke begegneten sich genau in dem Moment zum allerersten Mal. Das Gefühl, das dabei in meiner Magengegend entstand, kann ich nicht beschreiben. Es war schön und schrecklich zugleich. Draußen trommelte Regen gegen die Scheiben. Drinnen kreischten die Mädchen, die kein Blut sehen konnten, um die Wette.

Zu der Zeit war ich heimlich verknallt.

In Sara – und in Frau Hoppe, unsere Klassenlehrerin.

Etwas Blöderes hätte mir nicht passieren können. Meine Gefühle fuhren pausenlos Achterbahn, während weder die eine noch die andere groß von mir Notiz nahm.

Nach einer Weile hatte die Hoppe die Situation unter Kontrolle. Ihre Hand war verbunden, die Scherben aufgefegt. Zum Glück war das Reagenzglas noch leer gewesen, sonst hätte sie Kupfersulfat in die Wunde bekommen, und das ist bekanntlich ätzend. Der geplante Versuch, auf den ich mich gefreut hatte, weil ich Chemieversuche meistens ziemlich unterhaltsam fand, erst recht, wenn Frau Hoppe sie vorführte, fiel nun aus. Stattdessen redete sie uns bis zum Klingeln ins Gewissen, sie war mächtig in Rage und ließ kein gutes Haar an uns, jeder, wirklich jeder bekam sein Fett weg.

Zugegeben, ich fand das unfair, da es wie immer Sara gewesen war, die den ganzen Stress ausgelöst hatte. Was ich nicht wahrhaben wollte, war, dass diejenigen, die glauben, sich alles erlauben zu können, und die, die alles mit sich machen lassen, in gewisser Weise im selben Team spielen. Wir alle machten unsere Schule damals zu einem Ort, den Sara unbarmherzig, wie sie war, »Friedhof der Namenlosen« getauft hatte.

»So geht es nicht weiter«, sagte die Hoppe zum Schluss, und sie hatte natürlich recht.

Genau wie Sara war sie noch nicht lange an der Schule und wir wussten, dass die anderen Lehrer sie noch skeptisch sahen, weil sie jung und irgendwie keine typische Lehrerin war. Dauernd schlug sie Aktivitäten vor, die für die Kollegen und sie selbst mit einem gewissen Aufwand verbunden waren. Einmal machten wir zum Beispiel eine Rallye durch Hamburg, bei der wir ausschließlich die U-Bahn benutzen durften – für uns Landeier eine ziemliche Herausforderung. Drei Leute gingen vorübergehend verloren und gerieten in Panik. Die Eltern waren entsetzt, eine Mutter rief sogar die Polizei, und es gab tagelang Stress, sogar das Jugendamt schaltete sich ein.

Ihr eigentliches Ziel, die Klassengemeinschaft zu verbessern, erfüllte die Aktion leider nicht. Wir waren schwer zu knacken, gefangen in unserem Trott. Die Stimmung unter uns war nicht einfach nur schlecht, sie war unterirdisch. Und zwar genau seit dem Tag, an dem Sara auf der Bildfläche erschienen war und unsere heile Welt in ein Minenfeld verwandelt hatte.

Allen war klar, dass sich etwas ändern musste, doch leider besaß niemand den Mut, anzufangen. Meine Freunde und ich redeten oft vom Schwänzen, aber am Ende hockten wir doch wieder jeden Tag von acht bis halb zwei in unserer muffigen »Klassen-Gruft« im zweiten Stock und versuchten klarzukommen, unser Ding zu machen, ohne aufzufallen, denn das war gefährlich. Wir waren die Namenlosen, die schweigende Mehrheit.

Wenn andere Lehrer uns fragten, was mit uns los sei, zuckten wir mit den Schultern und starrten auf die Sneaker an unseren Füßen oder an die verblassenden Klassenregeln an der Wand, ein Überbleibsel aus Klasse fünf, als die Welt noch in Ordnung gewesen war:

Wir helfen uns und sind freundlich zueinander.

Wir schlagen nicht.

Wir petzen nicht.

Tatsächlich petzte niemand, auch nicht zu Hause, wo unsere Eltern ebenfalls anfingen, Fragen zu stellen, doch wir winkten ab und ließen sie hilflos stehen, verkrochen uns in unsere Zimmer, die Temperamentvollen knallten vielleicht die Türen hinter sich zu.

Ich nicht, ich bin keiner, der Türen knallt. Lärm ist überhaupt nicht so mein Ding, das war einer der Gründe, warum ich die Schule hasste, denn für einen Friedhof war es dort verdammt laut. Tausend Leute ohne Plan in einem Bunker aus Glas und Beton, ringsum Felder und Käffer, und eine wütende Großstadtgöre, die den Ton angab. Sie entschied, wer aus der anonymen Masse der lebenden Leichen auferstehen durfte, um im Kreis ihrer Gang Ruhm und Ehre zu erlangen. Die Führungselite bestand aus folgenden Arschgeigen: Lilli, unsere Klassensprecherin, Charlotte und natürlich Nick, fürs Grobe. Niemand wollte Nicks Stiefel in die Quere kommen, er trat zu, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Seine Gewalttätigkeit machte selbst vor hilflosen Tieren nicht halt. Einmal, so raunten wir uns zu, hatte er aus Spaß das Schaf eines Nachbarn angezündet, einfach so.

»Er ertränkt Katzenbabys.«

»Er verprügelt seine eigene Mutter, wenn ihm das Essen nicht schmeckt.«

»Halloween hat er eine alte Oma zu Tode erschreckt. Sie hatte einen Infarkt, ich schwöre.«

Das waren noch die harmlosen Sachen, die wir uns über Nick erzählten.

Allein die Tatsache, dass dieser Typ wie ein Schatten an Saras Seite wachte, sicherte ihre Machtposition weit über unsere Klasse hinaus. Und ausgerechnet in so eine musste ich mich verlieben, als wäre es nicht schon schlimm genug, auf die eigene Klassenlehrerin abzufahren.

Beide waren wie gesagt erst vor Kurzem in mein Leben getreten und hatten mich zunächst mit ihrer Schönheit umgehauen. Frau Hoppe hatte feuerrotes Haar und Lippen und lackierte Nägel in derselben Farbe. Sara sah aus wie ein Engel, gleichzeitig war sie klug, zielstrebig und für uns allein schon deswegen interessant, weil sie aus der Großstadt kam – ein Mädchen wie sie hätte locker die beliebteste Schülerin jeder verfluchten Schule bei uns auf dem platten Land werden können, ohne dafür irgendjemanden terrorisieren zu müssen.

Nachtrag: Es versteht sich von selbst, dass ihr Team die Hamburger U-Bahn-Rallye gewonnen hatte (und ganz nebenbei die drei Idioten, die zwischendurch abhandengekommen waren, in eine falsche Richtung geschickt hatte). Ständig zeigte sie uns unsere Grenzen auf – als ob wir die nicht längst gekannt hätten.

Sara dagegen konnte tun, lassen und besitzen, was immer sie wollte, sie schöpfte aus dem Vollen. Ihre Familie lebte in einem schönen Haus, ihr Vater war Flugzeugingenieur und pendelte nach Hamburg, ihre Mutter arbeitete halbtags bei der Gemeindeverwaltung. Nette Leute, die regelmäßig bei Schulfesten mithalfen. Was ich nicht kapierte, war, warum das alles ihr nicht reichte. Warum musste sie so boshaft sein? Einfach nur, weil sie es konnte? Aus schierer Langeweile, Frust über die Verbannung in eine Welt voller Traktoren und Maisfelder? Oder gab es da ein dunkles Geheimnis, das sie zu dem gemacht hatte, was sie war?

Okay, ich gebe zu, ich zerbrach mir ziemlich oft den Kopf über Sara, ich war ihr geradezu verfallen. Zum einen, weil sie in der Klasse schräg vor mir saß, so nah, dass ich den Duft ihres Shampoos riechen konnte. Vor allem in den langweiligen Stunden musste ich mir größte Mühe geben, nicht dauernd ihre langen Haare anzustarren, die wie Weizen in der Sonne glänzten, wenn sie sie lachend zurückwarf. Zum anderen, weil ich unabhängig von meiner Verknalltheit eine Heidenangst vor ihr hatte. Da ging es mir wie allen anderen.

Und dann also dieser Blickkontakt nach dem »Blutbad« in Chemie. Es war einfach unbeschreiblich. Und zufällig genau der Moment, in dem sich mein Leben auf den Kopf stellte – was ich natürlich nicht wusste, aber ich ahnte es. Es war wie in einem Film, wenn die spannende Musik einsetzt.

Ich kann fürs Protokoll ja mal kurz erzählen, was davor passiert war. Eigentlich ist die Geschichte banal: Sara hatte sich einen Spaß daraus gemacht, Julian alle paar Minuten mit Spucke getränkte Papierkügelchen in den Nacken zu werfen, was ja Kinderkram für ein Mädchen ist, das einen Schläger und Stiefeltreter zum Freund hat und in Sachen Cybermobbing in der ersten Liga spielt. Doch Julian stand in Chemie auf fünf und brauchte dringend Pluspunkte für seine mündliche Note, weshalb er versuchte mitzuarbeiten. Die beharrlichen Störungen hinderten ihn natürlich daran. Manchmal sind die einfachsten Streiche die effektivsten, von Generationen von Schülern vor uns erprobt. Wenn er aufgerufen wurde, redete er den größten Mist und Saras Gang lachte sich kaputt. Genau deswegen waren die Papierkügelchen eben doch keine Lappalie, sie überbrachten eine unmissverständliche Botschaft: Das hier ist mein Klassenzimmer. Ich entscheide, wer hier heute etwas lernt und wer nicht. Hinter Saras Engelsfassade schwelte die Bereitschaft, wann immer in ihren Augen nötig, Gewalt anzuwenden.

Bis die Hoppe wollte, dass Sara und Julian ihre Plätze tauschen – und ausgerechnet Julian sich weigerte. Das soll einer verstehen: Sie bot ihm einen eleganten Ausweg aus seiner Misere und er probte zum ersten und letzten Mal in seiner Schülerkarriere den Aufstand. Julian, das Lamm.

Dann platzte das Reagenzglas.

Worauf unsere Klassenlehrerin spontan beschloss, uns alle auf eine einsame Insel zu verfrachten. Vier Wochen im Frühherbst, ein Unterrichtsprojekt. Als sie uns am nächsten Tag davon erzählte, war klar, dass sie es gegen alle Widerstände durchboxen würde.

So war die Hoppe, man konnte ihr schlecht etwas abschlagen. In gewisser Weise ähnelten Sara und sie einander. Vielleicht fingen sie deshalb irgendwann an, sich zu hassen.

»Nicht mit mir«, sagte Sara mit eisiger Stimme. »Ich gehe bestimmt nicht auf so eine Scheißinsel.«

»Wir werden die Fähre nehmen«, erwiderte die Hoppe trocken. »Und zwar alle.«

Niemand lachte.

Mit einem Ortswechsel ist es so eine Sache. Wer aufbricht, kehrt nie zurück, hat meine Oma immer gesagt und damit die Veränderungen gemeint, die Reisende allein durch die Horizonterweiterung unweigerlich durchleben. Da sie sich ziemlich toll fand, blieb sie lieber, wo sie war.

Ich dagegen reiste gern, fand mich eher semitoll und hatte große Lust, ein anderer zu werden: ein Mensch mit einem Namen, der zählt. Übrigens: Ich heiße Kim.

Fürstin

Sara

Mein Name ist Sara. Macht was her, oder? Schlicht, aber edel. Hebräisch für Prinzessin, Fürstin oder Herrin. Eine Prinzessin wollte ich nie sein, nicht mal mit fünf in einem integrativen Kindergarten namens Schokoladenfabrik, als die Erzieherinnen mich mit meinen Goldlöckchen so niedlich fanden, dass sie mir alles durchgehen ließen, wofür die Jungs, vor allem, wenn sie Kevin oder Mohammed hießen und davon hatten wir einige, ohne Umwege auf die stille Bank verbannt wurden. Prinzessinnen sind sterbenslangweilig, irgendwelche Püppchen, die hübsch aussehen müssen und nichts zu melden haben, bemitleidenswerte Geschöpfe. Falls man in der Lage ist, Mitleid zu empfinden; ich persönlich wollte damit in der achten Klasse keine Zeit vergeuden. Fürstin oder Herrin, das gefiel mir besser, damit konnte ich mich identifizieren.

Meinen Thron hatte ich mir natürlich erobern müssen, ungerechterweise war ich nicht als Blaublüterin zur Welt gekommen und Normalsterbliche kriegen nichts geschenkt im Leben. Und was noch schlimmer ist: Alles, was man hat, kann einem genommen werden. Wenn das jemand früh begriffen hatte, dann ich.

Deshalb war ich maximal unfroh, als die Hoppe die Idee mit der extralangen Klassenreise hatte, um bessere, also in erster Linie teamfähigere Menschen aus uns zu machen. Schließlich hatte ich gerade erst eine ziemlich frustrierende Pechsträhne und einen Umzug überstanden und mir in der Verbannung mit viel Mühe und der Hilfe eines komplett dorftrotteligen Fußvolks ein neues Königreich geschaffen: den Friedhof der Namenlosen.

Ein besserer Mensch wollte ich keinesfalls werden, im Gegenteil, es fing gerade erst an Spaß zu machen, fies, jung und unsterblich zu sein. Und dann das: Verbannung Nummer zwei, diesmal gleich auf eine Insel mit dem merkwürdigen Namen Maroog, der absolute Supergau. Als wären die Wälder und Felder ringsum, an die ich mich langsam gewöhnte, nicht schon Arsch der Welt genug. Mit dem Meer hatte ich mich noch nie anfreunden können. Zu nass, zu tief, zu unheimlich. Ich weiß, die meisten stehen drauf, ich nicht.

»Interessantes Projekt, aber leider kann ich nicht mitfahren, fürchte ich«, verkündete ich meinen Eltern beim Essen. Wir aßen jeden Abend zusammen. Am Esstisch, nicht vor dem Fernseher oder so. Gutes Geschirr, Handyverbot. Darauf legten sie Wert. Einmal am Tag machten wir einen auf Familie.

»Nicht?«, fragte mein Vater. Er war leicht zu durchschauen: Ich wusste sofort, dass seine Motivation, diese Unterhaltung zu führen, gegen null tendierte. Was nebenbei bemerkt auf die meisten Unterhaltungen mit mir zutraf, weshalb es idiotisch war, an diesem blöden Essensritual festzuhalten. Die reinste Heuchelei.

»Wisst ihr, ich habe doch diese Salzwasserallergie, die damals im Urlaub auf Fuerteventura aufgetreten ist.«

»Das war eine Chlorallergie«, sagte meine Mutter. »Die hast du dir im Hotelpool geholt.«

»Was nie bewiesen wurde.«

Meine Eltern tauschten gequälte Blicke aus. »Das war auch nicht nötig. Es ging ja von allein wieder weg«, sagte meine Mutter betont geduldig.

Im Hintergrund dudelte Bach. Meine Eltern liebten Klassik. Die musikalische Berieselung sollte wahrscheinlich für eine harmonische Atmosphäre am Tisch sorgen, machte mich aber aggressiv. Dennoch versuchte ich zu argumentieren. »Allergien können sich verschlimmern, wenn sie wiederholt auftreten. Und woher willst du überhaupt wissen, dass dieser angebliche Arzt da im Hotel überhaupt Medizin studiert hatte? Hat er dir vielleicht seine Zulassung gezeigt? Vielleicht hat er was Wichtiges übersehen. Beim nächsten Kontakt mit Salzwasser bekomme ich bestimmt einen anaphylaktischen Schock.«

»Den Gefallen tust du uns ganz sicher nicht«, brummte mein Vater und sezierte das mediterrane Pfannengemüse auf seinem Teller mit Hingabe.

»Also bitte«, sagte meine Mutter zu ihm. »Das war nicht sehr nett.« Und zu mir: »Schätzchen, das wird ganz sicher nicht passieren.«

Ich wusste, dass ihre Empörung gespielt war, letzten Endes stand sie immer auf seiner Seite. Meine Eltern mochten mich nicht besonders, ich war eben gerade nicht ihr »Schätzchen«, insgeheim hielten sie mich sogar für eine schreckliche Bitch, was mir egal war. Es gab Gründe für mein Verhalten. Gründe, die sie natürlich kannten, gerade deshalb konnten sie ja nicht auf mich eingehen, dann hätten sie sich selbst infrage stellen müssen.

Klingt kompliziert? Ist es auch. Wenn die Schule ein Friedhof war, war unsere kleine Familie eine Art Vorhölle. Auch wenn alle das Gegenteil glaubten: Mein Leben war kein Wunschkonzert.

Ich ging in mein Zimmer und bearbeitete geradezu streberhaft meine Hausaufgaben für die ganze Woche, bevor ich versuchte, so viel wie möglich über Maroog in Erfahrung zu bringen. Letzteres erwies sich komischerweise als schwieriges Unterfangen, denn Google spuckte verdächtig wenig aus. Da waren ein paar Hochglanzbilder, die die Kurverwaltung ins Netz gestellt hatte – Dünen, Strand und Gischt, Gänsekolonien auf Salzwiesen, dazu die Abfahrtszeiten der Fähre (in der Nebensaison fuhr maximal eine pro Tag, wenn überhaupt). Es gab Werbung für ein Drachenfestival und die überteuerten Wellnessangebote eines Hotels, das mit »Digital Detox« warb. Laut Klimaaufzeichnungen war dort anscheinend ein bösartiges Sturmtief am Himmel festgezimmert, was in mir den Wunsch weckte, so viele Schals und Mützen zu bestellen, wie die Kreditkarte meiner Mutter zuließ. Unwetter machten mich nervös. Beim Gedanken an die Überfahrt wurde mir jetzt schon schlecht.

Maroog. Wie kam man auf so ein abgeschiedenes Fleckchen Erde? Wer außer vielleicht einer Handvoll erschöpfter Rentner, die auf den Tod warteten, könnte allen Ernstes dorthin verreisen wollen?

Am Ende warfen mich zwei Dinge aus der Bahn: Erstens sprach die Formulierung »Digital Detox« dafür, dass die Internetversorgung lausig war, und ohne Internet würde ich nirgends auf der Welt klarkommen, davon war ich überzeugt. Meine Handflächen wurden feucht, mein Mund zum Ausgleich staubtrocken, als ich mir vorstellte, wie es sich anfühlen würde, offline zu sein. Mein Herz raste.

Ich brauchte das Netz. Es hatte Linn zerstört und mich groß gemacht.

Zweitens, und auch dieses Problem hatte indirekt mit Linn zu tun: Maroog war autofrei. Alle Wege auf der Insel musste man zu Fuß oder mit dem Rad zurücklegen, auf längeren Strecken und für schwere Lasten wurden Kutschen eingesetzt. Kutschen! Diese altertümlichen Fuhrwerke, die von Pferden gezogen wurden. Pferde – ausgerechnet. Es dauerte eine Weile, bis mein Hirn die Tragweite dieser Informationen verarbeitet hatte, dann sprang ich auf, um mich nochmals mit meinen Eltern anzulegen.

Sie mussten mir eine Entschuldigung für diese dämliche Reise schreiben, sie mussten einfach. Denn ich hasste Pferde, und das wussten sie genau. Unter meinen zahlreichen Feinden in der Tierwelt nahmen Pferde eine Sonderstellung ein, denn im Gegensatz zu Menschen, die leicht zu manipulieren waren, waren mir diese Biester ein Rätsel. Alles an ihnen beunruhigte mich. Ihre schiere Größe. Ihre Hufe. Der irre Blick in ihren Augen, wenn sie aufgeregt waren.

In meiner Verzweiflung vergaß ich, dass ich meine Zimmertür aus Prinzip immer verschlossen halte, und rannte mit voller Wucht dagegen. Es muss ziemlich witzig ausgesehen haben, doch ich lachte natürlich nicht, ich stöhnte. Ich hatte mir die Stirn gestoßen.

Als ich die Tür endlich aufbekam, stand meine Mutter davor, ihre Miene besorgt wie lange nicht: »Kleine, was ist denn los? Hast du dir wehgetan? Zeig mal her.«

Sie führte mich auf mein Bett und untersuchte die Beule vorsichtig. Sonst sprang sie wesentlich rabiater mit mir um.

Die ungewohnte Fürsorge tat gut und eine Weile ließ ich mich einfach nur bemuttern. Bis ich begriff, dass ich aus der Situation Profit schlagen konnte und musste.

»Mama, ich schwöre, ich fahre auf keinen Fall mit nach Maroog«, sagte ich.

»Natürlich wirst du fahren. Es ist eine schulische Veranstaltung. Der Unterricht geht dort weiter.«

»Ich lerne daheim. Du kannst meine Hausaufgaben kontrollieren, alles schon erledigt.«

»Vielleicht wird es netter, als du denkst.«

Ich stöhnte auf. »Niemals. Es wird die Hölle.«

»Warum denn bloß?«

»Es gibt keine Autos.«

Meine Mutter musste lachen. »Na und? Du hast doch sowieso noch keinen Führerschein.«

»Kapierst du nicht? Sie haben keine Autos, aber dafür Kutschen. Damit machen sie sogar Werbung. Die ganze verdammte Insel ist verseucht mit Pferden!«

»Pferde? Ach, wirklich.« Für den Bruchteil einer Sekunde sah es aus, als hätte ich meine Mutter überzeugt. Doch dann senkte sie den Blick und redete, ohne mir in die Augen zu sehen, mit dieser leisen, intensiven Stimme weiter, die ich an ihr am meisten hasste: »Weißt du, ich kann verstehen, dass dich das erschreckt, aber wer weiß? Vielleicht soll das so sein. Vielleicht hilft es dir sogar. Ich kann es nämlich nicht und dein Vater noch weniger. Ein neuer Ort. Eine neue Chance. Die Pferde werden dir nichts tun. Es sind keine Monster.«

In meiner Welt waren sie genau das.

»Ich befinde mich bereits an einem neuen Ort«, erinnerte ich meine Mutter. »Und ich brauche keine verdammte Hilfe. Ich will einfach in Ruhe mein Leben leben!« Ich betonte jedes einzelne Wort, doch ich wusste, dass die Entscheidung gefallen war. Maroog erwartete mich.

Ich war keine achtzehn, was sollte ich tun? Abhauen? Unter einer Brücke schlafen?

Meine Mutter wirkte unendlich müde, man sah es an ihren Augen und den runtergezogenen Mundwinkeln. Ihre Haare waren strähnig, die Haut fahl. Sie war diejenige, die eine Entgiftung brauchte – ein Tochter-Detox. Ihr trauriger Anblick machte mir bewusst, wie sehr die Vorstellung, die Verantwortung für mich wenigstens für eine Weile abzugeben, ihr behagte.

Das tat mir leid, aber es machte mich auch stinkwütend. Es war ihre Entscheidung gewesen, mich in die Welt zu setzen. Ihre und die meines Vaters, der meiner Lehrerin sicherlich auch die Erlaubnis erteilt hätte, mich mit dieser Ansammlung von Opfern, die jetzt meine Klassenkameraden waren, ins All zu schießen, am besten gleich in ein anderes Sonnensystem.

Was konnte ich dafür, dass ich ihr Kind war? Dass ich überhaupt lebte? Hatte mich jemand gefragt? Meine Antwort hätte ihnen wahrscheinlich nicht gefallen, denn ich hätte Forderungen aufgestellt. Mir eine bessere Realität ausgehandelt.

Ich wartete, bis sie gegangen war, dann brachte ich Helena dazu, mir ein ziemlich heißes Foto von sich in Unterwäsche zu schicken. Helena aus meiner Klasse. Sie stand schon eine Weile auf meiner Abschussliste. Anfangs hatte ich sie gemocht, jetzt fand ich sie nur noch lästig.

Ständig hatte sie Liebeskummer und laberte mich damit zu. Natürlich schickte sie das besagte Bild nicht absichtlich mir, sie glaubte, mit diesem extrem gut aussehenden Schlagzeugspieler aus der Elften zu chatten, in den sie aktuell verschossen war.

Unfassbar bescheuert, oder? Merkte die noch was? Warum sollte so ein Typ sich mit ihr abgeben? Er spielte in mehreren Bands, hatte den Local-Hero-Wettbewerb als Drummer eingeheimst. Der konnte doch jede haben.

Es war wirklich dumm, seinen eigenen Marktwert nicht zu kennen. Noch dümmer war es, als kleiner Fisch in einem Haifischbecken die Schwarmdeckung zu verlassen. Nackt im Netz – dieses gehörte den Profis, die wussten, wie man damit reich wurde.

Obwohl wir ständig von unseren Eltern und irgendwelchen Klugscheißern vor den Gefahren des Internets gewarnt wurden, waren die meisten Leute in meinem Alter der Meinung, ihnen könnte das alles nicht passieren.

Logisch waren sie ständig online, aber sie waren außerstande, einen einfachen Code zu programmieren, und hatten keinen blassen Schimmer, wie die Dinge im Netz wirklich funktionierten. Sie zockten und chatteten bis zur totalen Verblödung – und das war es auch schon. Sie konnten nicht mal die Ortung ausschalten; sie mit Fake-Accounts hinters Licht zu führen, war in etwa dasselbe, wie Dick und Doof über eine Bananenschale stolpern zu lassen: banal, aber effektiv. Und wahnsinnig lustig.

Natürlich verbreitete ich die peinliche Aufnahme von Helena in ihrem roten Nuttenschlüpfer nicht selbst. Ich sorgte dafür, dass Charlotte es tat. Sie war wie die meisten Mädchen unglaublich leicht zu manipulieren. Meine Nachricht an sie lautete: »OMG, jemand sollte sie warnen. Das geht sonst viral.«

Dann löschte ich alle Spuren, inklusive der Nachricht an Charlie.

Helena war erledigt.

Wie Linn.

In meinem Zimmer gab es unter der Dachschräge eine Abseite, sie verbarg sich hinter einer Piratenflagge. Zur Sicherheit hatte ich auch noch mein Bett davor platziert.

Ich schob es zur Seite und kroch auf allen vieren in das lang gezogene Versteck. Im Taschenlampenlicht meines Handys kramte ich Linns Buch hervor. Ein blau-bunt geblümtes Notizbuch, ihr größtes Heiligtum.

Sie hatte es immer unter ihrer Matratze versteckt, jetzt gehörte es mir.

Obwohl es gefährlich war, beschloss ich, die Aufzeichnungen mit auf die Insel zu nehmen.

Maroog.

Meine Panik, ein inneres Getöse, war verklungen, aber noch immer spürte ich Angst. Sie hielt sich jetzt im Hintergrund und ergriff auf eine leise Art von mir Besitz. Wie ein tropfender Wasserhahn, den man nicht abstellen konnte.

»Ich passe gut darauf auf«, sagte ich zu Linn. »Besser als du.«

Blamagen

Kim

Die Fähre war spät dran. Es lag am Wetter. Seit einer guten halben Stunde warteten wir am Anleger und starrten auf eine gigantische Nebelwand, die die Aussicht auf das Wasser und den Himmel verstellte, was ich für ein schlechtes Zeichen hielt.

Eigentlich glaubte ich nicht an Zeichen, aber dieses eine drängte sich geradezu auf. Ich liebte den ersten Blick aufs Meer, wenn man lange nicht dort gewesen war. Jetzt fühlte ich mich darum betrogen.

Mein Pessimismus hatte auch mit Helena zu tun, die ein so trauriges Bild abgab, dass es einem das Herz brach, jedenfalls wenn man eins hatte, was bekanntlich nicht bei jedem in der Klasse der Fall war.

Seit sie davon ausgehen musste, dass jeder, dem sie begegnete, wusste, wie sie in kreischend roter Spitzenunterwäsche aussah, versteckte sie sich in einem grauen Oversize-Hoodie vor dem Rest der Welt, die Kapuze, wann immer möglich, tief in die Stirn gezogen. Heute trug sie dazu trotz des Nebels noch eine Sonnenbrille und lungerte mit gesenktem Blick gefährlich nah an der Wasserkante herum, als wäre sie kurz davor, sich ins Hafenbecken zu stürzen.

»Oh Helene, Beene haste schöne. Titten haste keene«, hatten ein paar Fünftklässler in der Pausenhalle gesungen.

Helene war rausgerannt und in den nächsten Bus nach Hause gestiegen.

Ich schwöre, ich hatte die dämlichen Fotos von ihr nicht gesehen, nur gehört, wie andere darüber redeten –, aber damit stand ich wohl ziemlich allein da. Der Skandal hatte weite Kreise gezogen und sogar ein paar armeselige Reporter auf den Plan gerufen, was superpeinlich war. Fremdschämen pur.

Helena würde von jetzt an für alle immer nur das Mädchen sein, das a) auf jeden miesen Trick reinfiel und b) bereit war, sich für einen Typen auszuziehen, den sie kaum kannte. Ihr Ruf war ruiniert, dabei hatte sie sich einfach nur verliebt und infolgedessen etwas völlig Idiotisches gemacht, wie es Verliebte eben tun. Sie tat mir leid.

Obwohl die meisten Helena bedauerten, gab es niemanden – außer der Hoppe natürlich –, der sich offen um sie bemühte, auch ich hatte mich bisher nicht dazu durchringen können.

Warum nicht?

Pech färbt ab.

Während ich Helena verstohlen beobachtete und inständig hoffte, dass sie nicht wirklich vorhatte zu springen, grübelte ich über meine Stellung in der Klasse nach. Ausbaufähig würde ich sagen, aber nicht hoffnungslos. Zwar war ich nicht übermäßig beliebt, ein Namenloser eben, aber ich hatte wenigstens meine Ruhe und wollte, dass das so blieb. So war es eben. Das System war grausam, aber schützte einen, solange man nicht aus der Reihe tanzte.

Trotzdem: In dem Moment kam ich mir extrem feige vor.

»Ganz schön kalt, oder?«, machte ich einen halbherzigen Versuch, Helena ein Gespräch aufzudrängen.

Ich trat nach vorn, stellte mich dicht neben sie. Leise klatschte das Wasser an den Kai.

Sie antwortete nicht und sah auch nicht hoch.

»Alles klar bei dir?«

Schweigen.

Ich wartete ab. Je länger sie mich ignorierte, desto blöder kam ich mir vor. Ich spürte die Blicke der anderen im Rücken, hörte, wie sie über mich lachten und tuschelten. Schließlich zog ich mich zurück.

Helena rührte sich nicht vom Fleck, sie wirkte völlig abwesend, was ich ihr ziemlich übel nahm. Ich hatte bloß nett sein wollen – und sie ließ mich dermaßen auflaufen, anstatt sich dankbar zu zeigen.

Als ich endlich bemerkte, dass sie Kopfhörerstöpsel in den Ohren hatte, wurde ich knallrot, als hätte ich mich gerade total blamiert.

Apropos verliebte Idioten: Auch wenn Charlotte den Ärger für die Verbreitung der anzüglichen Fotos kassiert hatte, inklusive einer Anzeige bei der Polizei, glaubte jeder, dass Sara hinter all dem steckte. Sie selbst hatte es mehrmals angedeutet, nachweisen konnte man ihr am Ende natürlich nichts, dazu war sie viel zu gerissen und außerdem ein Ass am Computer.

Seit dieser Sache hatte ich Sara gründlich satt. Jemand wie sie verdiente meine Gefühle nicht. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wie ich meinen Gedanken verbieten konnte, weiterhin um ein Mädchen zu kreisen, das dermaßen boshaft war. Niemand sollte so jemanden lieben.

Ich nestelte meine eigenen Kopfhörer aus der Tasche und hörte dröhnend Musik, bis in dem gleißenden Grau, das den Horizont verhüllte, ein nostalgisch wirkender Dampfer Gestalt annahm. Das Schiffshorn tutete. Es ging durch Mark und Bein. Ich weiß nicht, was die anderen dachten, aber ich war wirklich reif für die Insel. Hier kommt der Beweis:

»Ist das die Fähre?«, fragte Nick. Er wirkte skeptisch. »Die ist ja total winzig. Da sollen wir alle rauf?«

»Sie wird größer, wenn sie näher kommt. Hat mit Physik zu tun«, erwiderte ich, denn die aggressive Musik hatte meine schlechte Laune noch verstärkt und in mir die Lust geweckt, sie ausnahmsweise an jemand anderem auszulassen, anstatt immer nur der nette, unscheinbare Kerl zu sein, den jeder übersah.

Gut, vielleicht hätte ich mir nicht ausgerechnet Nick aussuchen sollen, einen Typen, der seine Ehre schon angekratzt sah, wenn man nur in seine Richtung atmete. Doch er stand nun mal gerade in der Nähe.

»Hast du eben was zu mir gesagt?«, fragte er.

Letzte Chance, einen Rückzieher zu machen. Keine Ahnung, was mich ritt, aber ich ergriff sie nicht.

»Ja«, antworte ich. »Soll ich es wiederholen?«

»Nicht nötig.«

Die allgemeine Aufmerksamkeit war uns jetzt sicher. Gebannt warteten alle auf Nicks Reaktion. Ich sah, wie sie den Nervenkitzel genossen, und konnte es ihnen nicht verübeln. Mir wäre es an ihrer Stelle genauso gegangen. Die Spannung unter uns war seit Wochen so groß, dass sie sich irgendwann entladen musste. Und ich war plötzlich mittendrin statt nur dabei.

Nick genoss seinen Auftritt sichtlich und ließ sich Zeit mit seiner Reaktion. Sein kalter Blick ruhte auf mir, ein leichtes Grinsen signalisierte Gewaltbereitschaft, dabei rieb er sich spielerisch die Faust.

Die Fähre legte an. Der Kai erbebte. Ich war entschlossen, mich nicht auf einen Kampf einzulassen, denn mit Prügeleien hatte ich keinerlei Erfahrung. Aber was würde ich stattdessen tun? Weglaufen? Weiter Witze reißen?

Bevor die Eskalation ihren Lauf nehmen konnte, traten zwei schräge Gestalten von der Fährgesellschaft dazwischen, um uns mitzuteilen, dass wir unsere Koffer noch abgeben mussten, da diese extra verschifft würden. Lilli und Sara protestierten umgehend, worauf Nick ihnen gewohnheitsmäßig beisprang.

Gutes Timing: Ich war gerettet. Fürs Erste zumindest.

Wenig später, als wir uns in die lange Schlange einreihten, die vor der Gangway entstanden war, informierte mich Nick: »Du kleiner Scheißer, ich hab dich abgespeichert.«

»Hoffentlich nicht in der Cloud«, erwiderte ich und spielte darauf an, dass es auf der Insel laut Frau Hoppe kaum Internet gab.

Zu meiner Überraschung hörte er kurzzeitig auf, mich drohend anzustarren, stattdessen zeigte sich ein Anflug von Anerkennung auf seinem Brutalo-Gesicht. »Du bist ja ein richtiger Witzbold«, stellte er fest.

»Das Gleiche sagen die Leute über dich.«

Nicks Miene verfinsterte sich wieder. »Wir werden sehen, wer zuletzt lacht«, sagte er.

Über seinem Kopf schwebte sein Lieblingswort »Ehre« in einer knallgelben Gedankenblase.

Okay, ich war definitiv zu weit gegangen. So fühlte sich das also an. Obwohl ein Teil von mir sich am liebsten in Luft auflösen wollte, weil der böseste unter den Bösewichtern mich von nun an auf dem Radar hatte, fühlte ich mich durch die ganze Aktion paradoxerweise gestärkt. Mutiger als sonst. Risikofreudiger. Vielleicht wegen Helena, weil ich es satthatte, zu kuschen und mich anschließend selbst dafür zu hassen.

Plötzlich nahm ich alles ungeheuer intensiv wahr: Wie über uns die Möwen schrien, wie die Männer der Schiffsbesatzung sich Kommandos zuriefen. Ich war lebendig, platzte fast vor Energie und Neugier. Der Friedhof der Namenlosen lag auf einmal weit hinter mir.