Buch:
Nur wenn Marco kopfüber ins Wasser eintaucht, fühlt er sich wirklich frei. Dann kann er alles vergessen: seine Eltern, die ihn verlassen haben, die Jahre in Pflegefamilien und die schwindende Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Doch dieser Rausch, den er so liebt, und ein Mädchen, das er beeindrucken will, lassen ihn eines Tages von einer Klippe ins Meer springen – ein Sprung, bei dem er sich schwer verletzt. Im Krankenhaus verfällt er in Wut und Resignation. Er fühlt sich vom Meer, vom Leben verraten. Doch dann trifft er auf Lara, seine Physiotherapeutin, die für ihn der rettende Engel zu sein scheint. Sie hört ihm zu und gibt ihm Kraft. Marco willigt ein, sie in das Dorf zu begleiten, in dem sie geboren wurde. Warum sie ihn dorthin bringt, wird ihm erst nach und nach klar. Es ist ein Weg, der ihn tief zu sich selbst führt …
Autor:
Salvatore Basile wurde in Neapel geboren und lebt heute in Rom, wo er als Drehbuchautor und Regisseur arbeitet. Seit über zehn Jahren lehrt er kreatives Schreiben an der Alta Scuola in Media Communicazione e Spettacolo dell’Università Cattolica in Mailand. Nach »Die wundersame Reise eines verlorenen Gegenstands« ist »Der Junge, der ans Meer glaubte« sein zweiter Roman.
Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag
und www.facebook.com/blanvalet.
Salvatore Basile
Der Junge,
der ans Meer glaubte
Roman
Aus dem Italienischen
von Elvira Bittner
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel
»La leggenda del ragazzo che credeva nel mare« bei Garzanti, Mailand.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Copyright der Originalausgabe © 2018 by Salvatore Basile
License agreement made through Laura Ceccacci Agency SRL
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Angela Kuepper
Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München
Umschlagmotiv: iStock.com/SaulHerrera; furoking300/Shutterstock.com
KW · Herstellung: sam
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-24365-4
V002
www.blanvalet.de
Für meine engsten Cousins und Cousinen
Schönheit ist nichts anderes als die Enthüllung einer gefallenen Dunkelheit und des Lichts, das daraus hervorging.
Alda Merini
»In jedem von uns leben zwei Wölfe. Der eine nährt sich von Hass und Eifersucht, Neid, Missgunst, der andere von Frieden, Liebe, Großzügigkeit und Mitgefühl. Tag für Tag bekämpfen sie sich gegenseitig.«
»Und welcher Wolf gewinnt?«
»Derjenige, den du am meisten fütterst.«
Eine alte Legende der Cherokee
In jener Nacht schien auch das Meer an der Decke aufgewühlt. Selbst die Zimmerwände vibrierten in einer seltsamen Unruhe. Der Mann betrachtete die Seesterne über seinem Kopf, die anders glitzerten als sonst.
Die Asteroiden.
Milena war es gewesen, von der er dieses schwierige Wort gelernt hatte. Sie hatte ihm auch erzählt, dass Seesterne einer alten Sage nach einfach vom Himmel ins Meer gefallene Sterne seien. Ein gefallener Stern für jedes Glück, das verloren war. Die Sage wollte es so, dass sie eines Tages in den Himmel zurückkehren und von dort herableuchten würden, allerdings erst, wenn es einem gelänge, ein verlorenes Glück aufs Neue zu ergreifen. Und zu erspüren, von welcher Beschaffenheit es war.
Milena wusste die Worte zu nutzen, sie las Bücher über Bücher. Und das schüchterte den Mann ein, da er doch nur ein Fischer war und mit Mühe und Not die Sprache des Meeres kannte, die Versprechen und Drohungen im Raunen der Wellen, die an den Flanken seines Bootes leckten und ihn vor einem heraufziehenden Sturm warnten oder ihn beruhigten, weil das Wetter milde blieb. Seesterne waren für ihn, bevor er Milena begegnete, nur kleine Wesen, die man wieder ins Wasser warf, wenn sie sich in den Netzen verfingen.
Sie heirateten am Meeresufer, unter den Sternen, den nicht gefallenen. Der Altar am Strand war in Mond- und Kerzenlicht getaucht. Und Milena war schön wie eine Musik, die ihn jedes Mal aufs Neue überraschte.
»Du bist wie eine Melodie, die ich auswendig weiß und doch immer wieder zum ersten Mal höre«, hatte er zu ihr gesagt, als er ihr den Ring an den Finger gesteckt hatte. Und alle hatten es gehört und sich gewundert, denn dies waren nicht die Worte eines Fischers, sondern die eines Dichters oder wenigstens eines Mannes, der studiert hatte. Sie wussten nicht, dass er durch Milenas Liebe alle Bücher der Welt in sich aufgesogen hatte.
Und dann, als Milena ihm gestand, dass sie schwanger war, sagte er nichts. Er blickte ihr einfach in die Augen, die die Farbe von Honig hatten, und machte dann kehrt und verließ das Haus. Er ging einen Stoff kaufen, den er ein paar Tage zuvor im Kurzwarengeschäft des Dorfes gesehen hatte. Er war dafür gemacht, im Dunkeln zu leuchten, genau wie die Sterne: Aus ihm wurden die Jacken und Anoraks der Leute geschneidert, die nachts im Straßenbau arbeiteten, damit sie nicht von einem Auto erfasst wurden. Er aber schnitt den Stoff in tausend Stücke, jedes in der Form eines Seesterns. Und die klebte er dann an die Decke des Zimmers, das ihrem kleinen Sohn oder ihrer kleinen Tochter gehören würde. Denn er hielt das Glück schon mit den Händen gepackt. Und darum war es richtig, dass alle Sterne aus dem Meer zurückkehrten in den Himmel.
An jenem Abend hatte er den Blick zu dieser Decke gerichtet. Und es schien ihm, dass die Sterne weniger leuchteten als sonst.
Als die Tür hinter ihm aufging, drehte er sich um, und jeder andere Gedanke war fort. Was er sah, war die junge Hebamme, die auf ihn zukam mit einem weißen Bündel in den Armen.
»Es ist ein Junge«, hörte er sie sagen, leise und verstohlen, als verriete sie ein Geheimnis.
Er nahm das Bündel in die Arme und blickte in die Augen des Neugeborenen, dessen Iris von unbestimmter Farbe war, tief und unerforschlich, wie das Meer in der Nacht.
»Angelo …«, murmelte er. Das war der Name, den sie für ihn ausgesucht hatten. Und wenn es ein Mädchen geworden wäre, hätte es Angela geheißen.
Dann streichelte er ihm übers Gesicht, schob das Tuch zur Seite, das ihn umhüllte, und entdeckte auf der Schulter des Jungen einen kleinen rötlichen Fleck in der Form eines Sternes.
»Ein Muttermal«, flüsterte die Hebamme.
Er nickte mit einem Lächeln und dachte an die langen Monate von Milenas Schwangerschaft. Die Müdigkeit, die er in ihrem Gesicht gelesen hatte. Seine Versuche, ihr beizustehen: »Was möchtest du essen? Soll ich dir vielleicht etwas kochen? Worauf hast du Lust?« Und sie, die lächelnd den Blick hob, zum Meeresboden, der an der Decke leuchtete, zu den Seesternen, ihrem Glück, das sie beide mit vollen Händen gepackt hielten.
»Mir genügt es schon, unsere Sterne anzusehen …«, hatte sie geantwortet.
»Es ist ein Seestern«, sagte der Mann wie zur Bestätigung und küsste Angelo auf die Stirn.
Erst jetzt merkte er, dass im Blick der Hebamme etwas Dunkles lag. Und er hörte das Geräusch der Welle, die aus dem Meer heranrollte. Sie brach sich an den Felsen und kündete von Schmerz.
»Milena hat es nicht geschafft.«
Nie würde er begreifen, ob es die Hebamme war, die zu ihm gesprochen hatte, oder das Meer.
Aber er begriff, warum die Sterne an der Decke heute Abend so trübe waren.
Er gab das Kind zurück, wie etwas, das ihm nicht mehr gehörte.
Nie wieder würde ihm etwas gehören, ohne Milena.
Weder der Himmel noch die Sterne noch das Meer.
Und vor allem nicht das Kind, das schon keinen Namen mehr hatte.
ERSTER TEIL
1
Die Sprungleiter kam ihm vor wie ein Weg, der sich nach oben schraubte, ins Unbekannte. Marco musterte sie lange, bevor er sich endlich entschloss, sie hochzusteigen. Verstohlen sah er sich um, um sicherzugehen, dass er wirklich allein war. Das klare tiefblaue Wasser unter ihm lag in der Abendstille vollkommen ruhig in seinem Becken wie ein Spiegel, der das hohe Deckengewölbe reflektierte. Der Chlorgeruch stieg Marco in die Nase, intensiv wie am ersten Tag. Es war noch keine Woche vergangen, seit er das Schwimmbad zum ersten Mal betreten hatte, und schon hatte er sich an den penetranten Geruch gewöhnt, der an Reinlichkeit und Regeln denken ließ, an Arbeit, die mit penibler Sorgfalt zu erledigen war. Als er den Fuß auf die erste Leiterstufe stellte, beschloss er, nicht auf seine innere Stimme zu hören, die ihm zuraunte, es lieber zu lassen: Er war doch nur der Putzjunge, der Hilfsarbeiter, und die Sprungbretter waren für die Athleten reserviert, für die Sprungchampions, die die Olympiade im Blick hatten.
Nach zwölf Stufen hatte er das Drei-Meter-Brett erreicht. Er blieb am Anfang der flexiblen Holzplanke stehen, die Hände fest um die eisernen Treppengriffe gelegt, die nackten Füße auf dem Stahlgelenk. Seine Kleider waren in der Umkleide zurückgeblieben, und er trug nur einen dunklen Baumwollslip. Was hatte ihn hier heraufgeführt? Und wie ging es jetzt weiter? Er wusste, dass nicht einfach nur Neugier ihn getrieben hatte oder die Lust zu erfahren, wie es sich anfühlte, hier oben zu stehen. Es war auch nicht der Reiz, die Vorschriften zu missachten, welche ihm den Zugang zu den Sprungbrettern untersagten: Nur das Wartungspersonal durfte hier heraufsteigen, meist sehr früh am Morgen, bevor die Sportler kamen, oder auch am Abend. Dann wurde kontrolliert, ob alles in Ordnung war: ob die Bolzen richtig saßen, die die Holzbretter fixierten, ob die Elastizität des Bretts für den Impuls beim Absprung stimmte, ob es vielleicht notwendig war, ein rutschhemmendes Material anzubringen.
Er wusste schon, was ihn heraufgeführt hatte: Es war das Erlebnis, das er wenige Tage zuvor gehabt hatte.
Er war ein wenig zu früh zur Arbeit gekommen und wollte gleich ins Schwimmbad gehen, um dort mit dem Putzen zu beginnen. Doch er hatte die Schwimmhalle noch nicht betreten, als er schon das Aufklatschen eines Körpers hörte, dann das typische Beben des Wassers nach dem Untertauchen und schließlich das beruhigende Plätschern, das anzeigte, dass der Kopf wieder aus dem Wasser kam, wie von einer mysteriösen Kraft getrieben. Zögernd verharrte Marco an der Schwelle und hörte, wie zwei Leute miteinander tuschelten. Dann das Geräusch von Schritten. Nasse, leichte Füße auf dem Boden, das Lachen einer Frau, das sich mit der Stimme eines Mannes mischte: »Komm, Virginia, wir versuchen’s noch mal …«
Als er durch die Tür in die Schwimmhalle lugte, sah er sie: ein junges Mädchen mit glatten blonden Haaren, blauen Katzenaugen und perfekt geschwungenen Wangenknochen unter der leicht gebräunten Haut. Er fühlte sich sofort unwiderstehlich zu ihr hingezogen, und es kam ihm so vor, als wäre sie aus einem immer wiederkehrenden Traum aufgetaucht, ihm so vertraut, als würde er sie längst kennen, auch wenn er sie in Wirklichkeit zum ersten Mal sah.
Das Mädchen namens Virginia stand unbeweglich auf dem Drei-Meter-Brett. Und auf dem Brett daneben, parallel zu dem ihren, stand ein junger Mann, groß und muskulös, mit kurzen braunen Haaren. Seine Augen schienen hinter zwei Schlitzen verborgen, schmal wie Klingen.
Marco stand wie angewurzelt und starrte die beiden jungen Sportler an, die wie zwei antike Statuen auf ihren Sprungbrettern posierten. In ihrer eng anliegenden, leuchtenden Badekleidung, die Blicke in stiller Konzentration nach vorn gerichtet, waren sie von entwaffnender Schönheit. Eine Hymne an das Leben. Die Konturen ihrer definierten Muskeln erschienen ihm von einer bewundernswerten Klarheit, und ihre Oberkörper, die sich unter der Atmung hoben und senkten, waren wie von einem leichten, rhythmischen Pulsieren durchwirkt.
Jetzt nickten Virginia und ihr Freund sich unmerklich zu, wie um eine Übereinkunft zu treffen, stellten sich dann auf die Fußspitzen und wagten sich langsam an den äußersten Rand der Planke vor. Vollkommen synchron setzten sie zu einem kleinen Hopser an, kamen gleich darauf in einer federnden Bewegung wieder auf dem biegsamen Holz auf und drückten sich abermals ab, zweimal hintereinander, als hätten sie nur einen einzigen Körper. Beim dritten Hopser kamen sie nicht mehr zurück, sondern stiegen wie zwei Pfeile empor, um sich einen Augenblick später, Irrlichtern gleich, in der Luft zu drehen. Zweimal kreiselten ihre Leiber blitzschnell um sich selbst, dann streckten sie sich wieder und stürzten als blinkende Schwerter ins Wasser.
Marco stand mit angehaltem Atem ins Dunkel gedrückt und sah ihnen zu, als sie eine Reihe von weiteren Sprüngen vollführten. Sie waren so mit ihren Volten und Kapriolen beschäftigt, dass sie ihn gar nicht bemerkten, doch er selbst spürte, dass eine wachsende Unruhe von ihm Besitz ergriff. Es war nicht nur Neid, weil der junge Springer diese Momente mit Virginia teilte. Vielmehr war es, als hörte er einen Ruf von geheimnisvoller Kraft, der ihn magisch hinzog zu dieser Kunst, ins Leere zu springen und sich federleicht durch die Luft zu bewegen.
Irgendwann stieg der dunkelhaarige Junge allein auf das Sprungbrett, während das Mädchen unten stehen blieb, um ihm zuzuschauen. Am Rand des Bretts angekommen, drehte er sich mit dem Rücken zum Wasser und stellte sich aufrecht in Position. Marco entging es nicht, wie bewundernd Virginia zu ihrem Freund aufsah, und der schmerzhafte Stich, der ihn durchfuhr, mischte sich mit dem unwiderstehlichen Drang, selbst einen solchen Sprung zu wagen. Er ließ den Jungen nicht aus den Augen, als dieser nun die Lider schloss und die Arme hob, den Rücken leicht durchgebogen. Alles schien plötzlich stillzustehen in einem Augenblick gespannter Konzentration: Die blaue Wasseroberfläche lag unbewegt da, das dumpfe Keuchen der Belüftung und das Schwirren der Luftreiniger traten in den Hintergrund, und selbst die fernen Verkehrsgeräusche schienen zu verstummen wie in Erwartung eines Wunders …
Langsam hob sich der Springer auf die Zehenspitzen, um dann ganz leicht in die Knie zu gehen und sich mit einem plötzlichen Schwung nach hinten zu bugsieren. Staunend verfolgte Marco, wie er rückwärts um sich selbst kreiselte und dann wie ein Wirbelwind durch die Luft rotierte, ein-, zwei-, dreimal, wie ein Windrad aus purem Licht. In diesem Moment begriff er, dass ein solcher Sprung bedeutete, sich dem Leben rückhaltlos auszuliefern in der Gewissheit, aufgefangen zu werden. Nur jemand, der vor Selbstbewusstsein strotzte und fest mit der Bewunderung der anderen rechnete, konnte so springen. Es war genau das, was ihm in seinem eigenen Leben immer gefehlt hatte, in diesem unsteten Umherirren von einer Pflegefamilie zur nächsten, ohne Sicherheiten, ohne Wurzeln, aus denen er Kraft ziehen konnte, ohne Perspektive auf eine anständige Zukunft. Und als nun Virginia ihrem Freund applaudierte, voller Respekt, ja Verehrung, als sie leicht tänzelnd dazu von einem Bein aufs andere hüpfte, die Augen strahlend vor Begeisterung, da meinte Marco förmlich in sich zusammenzusacken. Er wünschte fast, nicht Zeuge dieser Vorführung gewesen zu sein, denn sie machte ihm deutlich, dass das Mädchen und er zwei völlig verschiedenen Welten angehörten, für immer getrennt von einer unüberbrückbaren Kluft, die ein Zusammenfinden unmöglich machte.
Und doch, trotz allem, übte diese andere Welt einen geheimnisvollen Zauber auf ihn aus. Schon hatte sich in seinem Kopf ein Gedanke festgesetzt, auch wenn er ihn zu unterdrücken suchte.
In den folgenden Tagen spürte Marco den immer drängenderen Wunsch, selbst auf das Sprungbrett zu steigen und zu springen. Er hatte keine Angst vor dem Wasser: Im Sommer badete er oft im Meer, ließ sich von den sanften Wellen schaukeln und sich Hitze und Schweiß vom Leib waschen. Doch auch wenn er immer gerne geschwommen war, hatte er vor diesem Abend den Akt des Springens nie als magisch empfunden. Er hatte sich das Schwimmen ganz allein beigebracht, bei den wenigen Gelegenheiten, als seine jeweiligen Pflegefamilien ihn ans Meer mitgenommen hatten. Zunächst war er einfach mithilfe eines Schwimmreifens an der Wasseroberfläche gedümpelt und hatte sich dann, nach und nach, immer weiter aufs Meer hinaustreiben lassen. Dazu hatte er mit den Armen Schwimmbewegungen gemacht und mit den Beinen rhythmisch gestrampelt, um sich an der Wasseroberfläche zu halten. Und irgendwann war er tatsächlich geschwommen, hatte sogar den Kopf unter Wasser gesteckt und dort ausgeatmet, um dann mit kräftigen Armstößen wieder emporzutauchen.
Er war die ganze Zeit so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er während der Arbeit kaum bei der Sache war. Immer wieder ertappte er sich dabei, dass er so tat, als würde er putzen, obwohl er seinem Arbeitspensum heillos hinterherhinkte. Wie nicht anders zu erwarten, fing er sich dafür einen Rüffel von seinem Chef ein, und eines Abends, als dieser schon nach Hause gegangen und Marco allein im Schwimmbad zurückgeblieben war, fasste er spontan den Entschluss, den Sprungturm zu erklettern …
Oben angekommen, nahm er die Hände vom schützenden Geländer und tat ein paar Schritte nach vorn. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, als er sich auf dem Brett, das immer schmaler zu werden schien, weiter vorantastete. Vom äußersten Rand aus wagte er einen Blick hinunter auf das klare blaue Wasser, durch das er sogar die weißen Fugen zwischen den blauen Kacheln am Beckenboden erkennen konnte. Er beugte leicht die Knie und deutete einen kleinen Hopser an, der die Planke unter seinen Füßen zum Vibrieren brachte und einen Ton hervorrief, der sich in der Stille wellenförmig ausbreitete. Ein weiterer Hopser, eine weitere Vibration, und plötzlich fühlte sich Marco wie durch ein Wunder von dem seltsamen Gefühl getragen, in vollkommener Sicherheit zu sein. Er nahm einen kräftigen Atemzug und beschloss, dass der Moment zum Sprung gekommen war. Er würde es auf die allereinfachste Weise machen: sich nach oben abdrücken und dann hinunterspringen, aufrecht wie eine Spindel, die Beine zusammengepresst und mit den Füßen voraus. Er spürte, wie sein Herz kaum merklich schneller schlug, machte einen weiteren Hopser, um sich abzudrücken, und trat dann hinaus ins Leere … Der Flug war nur kurz, und schon spürte er, wie seine Füße ins Wasser tauchten und er pfeilgerade in die Tiefe sank, nur um gleich darauf wieder nach oben zu steigen und mit einem lauten Schrei zurück an die Luft zu brechen.
Er schwamm zum Beckenrand und zog sich aus dem Wasser. Die Wassertropfen auf seiner Haut kamen ihm vor wie eine Schutzschicht, die ihn vor allen Gefahren bewahren würde.
Sofort kletterte er von Neuem die Leiter hoch. Diesmal würde er versuchen, einen Kopfsprung zu machen. Am Rand des Sprungbretts angekommen, schloss er die Augen und konzentrierte sich, um sich nochmals die Reihe von Bewegungen vor Augen zu halten, die er bei den anderen Springern gesehen hatte. Er hatte nicht vor, es ihnen nachzutun und akrobatische Übungen zu vollführen oder gar Purzelbäume zu schlagen. Noch nicht jedenfalls. Aber er wollte wenigstens versuchen, nicht völlig krumm und schief auf der Wasseroberfläche anzukommen.
Langsam breitete er die Arme aus und beugte sich nach vorn. Dann ging er leicht in die Knie und ließ sich vornüberfallen. Instinktiv verschränkten sich seine Hände, als wollten sie eine Pfeilspitze bilden, die unerschütterlich auf ihr Ziel zeigte.
Er spürte, wie er flog. Und im Flug schien ihm, dass die Zeit stehen blieb. Plötzlich sah er den langen Korridor eines Waisenhauses vor sich, in dem er einmal gelebt hatte, und sich selbst als Kind, das ihn entlangrannte, dem Lärm des Silvesterfeuerwerks nach, das im nahen Dorf im Gange war. Durch die Fenster am Ende des Korridors konnte er sie schon sehen, die bunten, glitzernden Fontänen, die über den dunklen Himmel schossen und trotz aller Pracht doch nur das Glück der anderen Menschen beleuchteten.
Dann drang er sanft ins Wasser ein, wie eine Schwalbe, die in gemäßigtem Sturzflug auf ihr Nest zuhielt. Unwillkürlich riss er die Augen auf und sah den Beckengrund auf sich zukommen, und mit einem Ruck drehte er aus der Hüfte ab und vollführte eine Kehrtwende, die Arme an die Seiten gelegt, während er sich mit strampelnden Füßen nach oben drückte, ins Freie.
Wie lange hatte er wohl gedauert, dieser Sprung? Eine Sekunde vielleicht oder wenig mehr. Aber das Glücksgefühl, das er empfunden hatte, war ihm viel länger vorgekommen, als hätte sich sein Flug ins Unendliche ausgedehnt, bis er ihn sogar zu dem Feuerwerk seiner Kindheit geführt hatte.
Was war nur passiert? Woher kamen diese Gefühle?
Während er auf den Beckenrand zuschwamm, fiel ihm ein, dass er einmal gehört hatte, kurz vor dem Tod spule sich im Schnelldurchlauf das ganze Leben vor dem inneren Auge ab, als durchlebte man nochmals alle wichtigen Momente. Marco hatte den Eindruck, als wäre ihm gerade etwas Ähnliches passiert. Und ihm war klar geworden, was sein sehnlichster Wunsch war: so bald wie möglich wieder zu springen, und dann wieder und immer wieder.
Er wollte gerade aus dem Becken steigen, als er das Geräusch von Schritten hörte. Das musste der Wachmann sein, der soeben seine Schicht angetreten hatte. Marco verharrte bewegungslos und hielt den Atem an. Wenn man ihn um diese Zeit im Schwimmbecken entdeckte, riskierte er nichts Geringeres, als seinen Arbeitsplatz zu verlieren.
Die Schritte kamen näher: Der Mann würde sicher gleich in der Schwimmhalle ankommen.
Marco holte tief Luft und tauchte unter.
Von dort unten drangen alle Außengeräusche nur gedämpft an sein Ohr. Doch er konnte immer noch die Schritte des Wachmanns hören, der die Anlage inspizierte. Als ihm langsam die Luft ausging, drückte er immer wieder ein wenig Luft aus der Lunge, die in Form von zahllosen Bläschen an die Wasseroberfläche stieg. Als er gerade auftauchen wollte, hörte er das Klicken des Generalschalters, und das Schwimmbad fiel ins Dunkel. Marco wartete noch einen Moment, bis die Schritte des Wachmanns sich entfernten, um dann endlich aufzutauchen und gierig die Luft in die Lunge zu saugen.
Jetzt war er nur noch von Dunkel und Stille umgeben. Er streckte sich auf dem Wasser aus wie auf einem Teppich, die Arme ausgebreitet, das Gesicht zur Decke gewandt, und ließ sich noch ein Weilchen auf der Oberfläche treiben. Dann schwamm er zum Beckenrand und zog sich hoch, ängstlich darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu machen. Das sanfte Licht des Mondes half ihm, sich an das Dunkel zu gewöhnen, und so konnte er bald die Umrisse des Deckengewölbes, des Sprungturms und der Holzbänke an der Wand ausmachen.
Er schlich beinahe lautlos in den Umkleideraum zurück, fand seine Kleider, trocknete sich mit den Papiertüchern ab, die er sonst zum Polieren der Fliesen benutzte, und zog sich hastig an.
Dann stahl er sich hinaus wie ein Dieb.
2
Als er die Sporthalle verließ, nieselte ein feiner Sommerregen auf die Stadt. Die Gehsteige waren schon mit Wassertropfen gesprenkelt, die sich auf dem dunklen Grau des Straßenbelags verliefen und wegen der Hitze, die der Asphalt den Tag über aufgenommen hatte, schnell verdampften. Es war kaum Verkehr, da die Leute entweder in ihren Häusern oder in den Restaurants beim Abendessen saßen. Später würden sie dann wieder auf die Straßen strömen und die Bars bevölkern, die Kioske am Flussufer oder die Musikkneipen, die bis spät in der Nacht geöffnet hatten.
Marco fröstelte plötzlich, als er an der Bushaltestelle ankam, mit noch nassen Haaren und feuchten, nach Chlor riechenden Kleidern. Neben ihm stand ein knutschendes Liebespaar im Schutz des orangefarbenen Schutzdachs. Die beiden blickten kurz auf, als er sich zu ihnen gesellte. Marco empfand bei ihrem Anblick eine Mischung aus Neid und Bewunderung, denn sie waren auffallend gut gekleidet und strahlten die natürliche Eleganz von Menschen aus, die noch nie Geldsorgen gekannt hatten. Wieder kam ihm Virginia in den Sinn. Auch sie gehörte zu dieser Art von Menschen, auch sie war es gewohnt, ohne eigenes Zutun alles zu bekommen, was sie haben wollte, auch sie paradierte ganz selbstverständlich auf einem Teppich, den das Leben durch das Vorrecht ihrer Geburt vor ihr ausgebreitet hatte.
Ich dagegen habe schon mein ganzes Leben für alles kämpfen müssen …, dachte er. Und oft genug habe ich mich abgerackert, ohne dass auch nur das geringste bisschen dabei herausgekommen ist.
Schnell flüchtete er sich in die Erinnerung an das erfrischende Wasser im Schwimmbad und spürte wieder, wie er nach dem Sprung an die Oberfläche getaucht war und nach Luft geschnappt hatte. Dieser Moment des Atemholens kam ihm plötzlich vor wie ein Versuch, sich sein Leben zurückzuholen, fast wie bei einer Wiedergeburt. Wenn er doch nur die Möglichkeit hätte, ernsthaft zu trainieren, wenn er das Geld hätte, um sich in diesem oder einem anderen Schwimmbad in einen Springkurs einzuschreiben, wenn es ihm gelingen könnte, ein echter Profispringer zu werden, wer weiß, dann gäbe es vielleicht sogar die Hoffnung, dass Virginia sich für ihn interessierte …
Die Ankunft des Busses riss ihn aus seinen Gedanken. Er stieg mit einem kleinen Hüpfer ein und ging ganz nach hinten, um wie üblich auf der Rückbank Platz zu nehmen. Dort blickte er aus dem Fenster auf die Stadt, die an ihm vorüberzog. Mit der Zeit wurden die hellen Leuchtreklamen der Geschäfte im Zentrum spärlicher, und das Bild wurde immer mehr dominiert von den heruntergekommenen Wolkenkratzern der Peripherie. Der Bus füllte sich mit Menschen, die nach einem langen Arbeitstag nach Hause fuhren, Menschen mit müden, abgespannten Gesichtern und abgetragenen, ausgeleierten Klamotten, die sie wahrscheinlich auf den Märkten ihres Stadtviertels gekauft hatten.
Die Schlaglöcher auf den Straßen waren inzwischen mit grauem Regenwasser vollgelaufen.
Das ist mein Leben … jedenfalls im Moment, dachte Marco, während der Bus sich immer weiter zu den Rändern der Stadt bewegte, ins Niemandsland.
Die Wohnung war sehr klein, nur zwei möblierte Zimmer mit Kochecke und einem winzigen Bad, in dem die Dusche förmlich am Waschbecken klebte. Sie lag im Souterrain und war über eine Treppe erreichbar, die neben dem Aufzug in die Tiefe führte. Wer sie hinunterging, wurde leicht von dem Gefühl beschlichen, in eine andere, dunklere Dimension hinabzusteigen.
Na, das ist ja auch so eine Art Sprung in die Tiefe, dachte Marco jetzt mit einem ironischen Lächeln, als er unten ankam.
Schon am ersten Abend, als er mit den Freunden aus seinem alten Viertel auf sein neues Leben angestoßen hatte, war ihm klar geworden, dass die Einsamkeit ihm Angst machte. Er war daher froh, dass Aldo, ein alter Bekannter, sich das Apartment mit ihm teilte.
»Mensch, Marco, was für ein Glück!«, sagte Gigi damals zu ihm, während er einen Joint drehte und die Bierflasche kreisen ließ. »Du hast einen Job gefunden, ein Zimmer in einer Wohnung mit dieser Arschgeige Aldo … und da ist keiner, der euch auf den Sack geht. Das Leben liegt dir zu Füßen, was willst du noch mehr?«
Marco antwortete nicht, sondern nahm einen großen Schluck aus der Flasche und verzog das Gesicht bei dem bitteren Geschmack des lauwarmen Biers. Der kleine Platz, wo sie sich oft am Abend trafen, mit dem vertrockneten Gärtchen und den rostigen Eisenbänken, war ihm inmitten der umstehenden Betonburgen immer vorgekommen wie vom Himmel gefallen, als wäre er das letzte Bollwerk eines romantischen Widerstands gegen den städtischen Niedergang. Um zehn Uhr abends war er üblicherweise schon in Dunkelheit getaucht, und nur der Schein der laufenden Fernseher hinter den Fenstern machte den wenigen Straßenlampen mit ihrem trüben Licht Konkurrenz. Um diese Uhrzeit fuhr auch kein Auto mehr vorbei, denn in dieses Viertel begab man sich einzig und allein in der Absicht, nach einem Arbeitstag nach Hause zu kommen – jedenfalls, wenn man das Glück hatte, eine Arbeit zu haben.
»Wir kommen dich dann besuchen, versprochen!«
»Fährt denn überhaupt ein Bus dorthin, wo du wohnst?«
»Na, er zieht ja nicht nach Patagonien … und wir wohnen ja auch nicht gerade im Zentrum.«
»Ja, aber es ist echt in der Pampa … Er kann ja froh sein, dass er ein Zimmer gefunden hat, aber leider ist es nun mal am Arsch der Welt.«
»Na ja, wenn du es Zimmer nennen willst … Eher wohl eine Art Abstellkammer.«
»Haha, stimmt. Mädchen braucht ihr euch in dieses Loch jedenfalls nicht einzuladen …«
Marco hatte an jenem Abend über die Kommentare der Freunde nur gutmütig gegrinst, und gleichzeitig war es ihm vorgekommen, als würden ihre Gesichter sich jetzt schon auflösen, geschluckt werden von einer Gegenwart, die die Vergangenheit ablöste. Er hatte weiter mit ihnen geplaudert und gekifft und auf ihre Witze und Sticheleien reagiert, aber im Grunde seines Herzens war ihm klar gewesen, dass sie bald ins Reich der Erinnerung abdriften würden. Er hatte sie schon längst verloren, genau wie die anderen Freunde, die er gefunden hatte, genau wie die Familien, die ihn aufgenommen und denen er sich anzupassen versucht hatte, genau wie die anderen Leben, die ihm fremd geblieben waren.
Mit zwei großen Reisetaschen, die alles enthielten, was er besaß, war er dann später in den Nachtbus gestiegen. Zuvor hatte er sich noch flüchtig von Saverio und seiner Frau verabschiedet, seinen letzten Pflegeeltern, mit ihren drei Kindern, von denen er sich kurzzeitig eingebildet hatte, sie könnten ihm vielleicht zu Geschwistern werden. Die Frau hatte geweint, als sie ihn umarmt hatte, und an diese Tränen hatte er sich verzweifelt geklammert und sich eingeredet, dass sie vielleicht doch ein Fünkchen Zuneigung für ihn empfunden hatte.
Aber dann waren fast zwei Monate vergangen, und er hatte sie nicht wiedergesehen und nicht mal mehr von ihnen gehört. Mit den anderen Pflegefamilien war es nicht anders gewesen, als hätten sie ihn im selben Moment aus ihrem Leben gestrichen, als er ihre Häuser verlassen hatte.
An der Wohnungstür angekommen, steckte er den Schlüssel ins Schloss und wollte aufsperren, bemerkte aber plötzlich einen dunklen Schatten, der sich im Kellergeschoss in eine Ecke duckte. Marco wich erschrocken zurück, als der Schatten sich nun auch noch bedrohlich auf ihn zubewegte.
Bin ich schneller, wenn ich weglaufe oder wenn ich in die Wohnung schlüpfe und die Tür hinter mir zuschlage?, dachte er blitzartig. Doch gerade als er die Flucht ergreifen wollte, merkte er, dass es nur Aldo war, der ihn schallend auslachte.
»Du schaust ja ganz schön bescheuert aus der Wäsche. Hab ich dir etwa Angst gemacht?«
Marco fluchte leise, atmete aber gleichzeitig erleichtert auf, als sein Freund mit dem schiefen Grinsen und den leicht gelblichen Schneidezähnen ins Licht trat.
»Wieso lauerst du mir denn auf, verdammt?«, fragte er verärgert und machte sich nun endlich daran, die Tür aufzuschließen.
»Ich hab schon wieder den Schlüssel in der Wohnung vergessen … Aber wenigstens hab ich die Zeit genutzt und eine strategische Runde gemacht«, erwiderte Aldo und hielt ihm zwei volle Tüten vor die Nase, die nach Pizza und Frittenfett dufteten. Die »strategische Runde« bestand darin, die Imbissläden im Viertel wenige Minuten vor Geschäftsschluss abzuklappern, wenn die übrigen Pizzastücke, Kroketten und Reisbällchen nicht mehr verkauft werden konnten. Sehr oft wurden sie dann zu einem Spottpreis verscherbelt, und wenn man Glück hatte, bekam man sie sogar geschenkt.
»Der Typ mit dem Schnurrbart hat mir fast eine halbe Schippe Capricciosa und drei frittierte Stockfischfilets geschenkt, das ist doch was, oder?«, frohlockte Aldo, während er sich hinter Marco in die Wohnung schob. »Und bei der Scancarella habe ich auch noch zwei Stück Margherita und eine Handvoll Kroketten erwischt, die sind zwar kalt, aber wir können sie uns ja aufwärmen. Hast du Bier gekauft?«
Marco deutete auf den kleinen Kühlschrank unter dem Spülbecken, und Aldo stürzte darauf zu und riss ihn auf.
»Ich hab’s heute früh besorgt … Übrigens müssen wir schon wieder die Gemeinschaftskasse auffüllen«, sagte Marco, während er sich auf ein kleines, mit Flicken besetztes Sofa fallen ließ.
Aldo hatte schon zwei Bierdosen geöffnet, setzte sich jetzt neben ihn und ließ den Blick durch den Raum schweifen.
»Ach, aber weißt du … eigentlich geht es uns doch gar nicht schlecht hier, für das, was wir zahlen«, meinte er mit selbstzufriedener Miene. »Und jetzt, wo wir uns die Miete teilen, ist es für mich auch leichter …«
Marco sah ihn an und grinste.
»Glück gehabt«, kommentierte er mit ironischem Unterton.
Dann machte er sich daran, in den Tüten zu wühlen, die Aldo mitgebracht hatte.
»Aber das sind doch gar keine Stockfischfilets da in der Panade … das sind Zucchiniblüten!«
»War ja klar, dass irgendein Beschiss dabei sein musste«, gab Aldo zurück. »Aber solange es nichts kostet …«
Dann stand er auf und deckte den Tisch.
»Hör mal, Marco, ich muss dich was fragen …«
Im Nu waren die Pizzen und die frittierten Köstlichkeiten verputzt, und jetzt waren sie dabei, das letzte Bier zu leeren, am Küchentisch sitzend, mit der Stimme von Demi Lovato im Hintergrund, die gerade »Stone Cold« sang. Marco wandte sich erwartungsvoll Aldo zu, der ein wenig verlegen dreinsah.
»Schieß los …«
Sein Freund zögerte noch einen Moment und platzte dann heraus: »Hast du was dagegen, wenn ich mich mit Lorena treffe?«
Marco sah ihn überrascht an. Lorena war ein Mädchen, mit dem er ein paar Monate zuvor ein kurzes Intermezzo gehabt hatte.
»Nein, kein Problem«, gab er zurück.
»Wirklich?«
»Wirklich.«
Aldo atmete erleichtert auf, stand dann von seinem Stuhl am Tisch auf und wechselte auf das Sofa.
»Es war mir aber wichtig, dich zu fragen. Ich wollte nicht, dass du dich hintergangen fühlst.«
Marco nickte verlegen.
»Na ja … Ehrlich gesagt, fahre ich inzwischen sowieso auf eine andere ab«, entfuhr es ihm dann.
Aldo beugte sich überrascht auf dem Sofa vor.
»Echt? Und wer ist das? Kenne ich sie?«
Marco zuckte die Schultern, als wollte er die Sache herunterspielen.
»Nicht so wichtig … Es ist eine, die ins Schwimmbad zum Springen kommt«, erwiderte er.
»Toll! Du hast sie also in deinem neuen Job kennengelernt?«, wollte Aldo interessiert wissend.
Marco nickte und stieß einen Seufzer aus.
»Also, kennengelernt ist ein bisschen übertrieben … Bisher kenne ich sie nur vom Sehen, nicht mehr. Aber sie kommt regelmäßig ins Schwimmbad. Das ist ja das Problem«, fügte er betrübt hinzu.
»Was meinst du denn damit?«
»Ich meine damit, dass ich da nichts anderes als der Kloputzer bin. Und sie ist allermindestens die Tochter von einem Minister oder so. Du solltest sie mal sehen …«, gab Marco zurück.
»Ist sie sexy?«, fragte Aldo, nun noch interessierter.
»Ob sie sexy ist?«, erwiderte Marco und verdrehte die Augen. »Die Frau ist so schön, das kannst du dir nicht mal vorstellen … Und sie hat wirklich Klasse, da kommt unsereins wahrscheinlich sowieso nicht ran.«
Aldo hatte es vor Überraschung die Sprache verschlagen.
»Ob sie sexy ist …«, wiederholte Marco, in einem Ton, als bezichtige er Aldo der Ketzerei, »… echt, das glaubt man doch nicht.«
»Mhm, mir scheint, diesmal hat’s dich wirklich erwischt«, kommentierte Aldo. »Wie wird das erst sein, wenn du mal mit ihr redest.«
»Ach, ich rede ja nicht mit ihr«, gab Marco zurück.
Er trank den letzten Schluck Bier und schloss die Augen. Seine Gedanken schweiften ab, und er sah wieder das Rechteck des Schwimmbeckens zu seinen Füßen. Er versuchte, das Glücksgefühl zurückzuholen, das er während des Sprungs empfunden hatte, die Mischung aus Euphorie und tiefem Frieden, die ihn überraschend überkommen hatte und die eine ganz unerwartete Entdeckung für ihn gewesen war.
»Aldo«, flüsterte er mit geschlossenen Augen.
»Was ist? Denkst du immer noch an die Tochter vom Minister?«
»Ich weiß ja gar nicht, wer ihr Vater ist. Aber nein, ich habe nicht an sie gedacht …«
»Und woran dann?«
»Hast du mal einen Moment gehabt in deinem Leben … einen Moment, in dem du gedacht hast: Scheiße, jetzt bin ich genau der, der ich immer sein wollte?«
»Meinst du, wenn ich normal bin oder nach einem Joint?«
Marco grinste.
»So was passiert uns sowieso nicht, Marco. Das ist es, was ich denke«, fuhr Aldo fort, nun ernst geworden. »Wir bleiben besser mit den Füßen auf dem Boden der Realität.«
Marco nickte stumm. Wieder sah er das Blau des Wassers unter sich. Dann begann das rechteckige Becken vor seinem inneren Auge eine andere Form anzunehmen: Die Ecken wurden rund und buchteten sich zu einem langen Oval aus, das sich immer weiter auseinanderzog und sich schließlich teilte, bis zwei leuchtend blaue Spiegel daraus geworden waren. Plötzlich begriff er, dass die beiden Spiegel in Wirklichkeit Virginias Augen waren. Und mit einem Sprung, der nicht enden wollte, stürzte er sich hinein und merkte gar nicht, dass ihn der Schlaf übermannte.