Buch
Sloane, Matt, Esther, Ines und Albie – sie wurden auserwählt, die Welt vor einer übernatürlichen Macht zu retten. Und tatsächlich gelingt es den Erwählten, nach einem Kampf, der ihnen alles abverlangt, den mächtigen dunklen Feind zu besiegen. Sie werden als Helden gefeiert, doch die seelischen Wunden, die sie während des Kampfes erlitten haben, sind tief.
Am 10. Jahrestag ihres Sieges geschieht das Unfassbare: Einer von ihnen stirbt auf tragische Weise, die anderen werden in eine alternative Welt katapultiert. Diese ist der ihren sehr ähnlich, nur, dass die Magie dort allgegenwärtig ist. Sie finden heraus, dass sie die dunkle Macht keineswegs besiegt haben. Wieder müssen sie kämpfen, doch dieses Mal machen sie eine Entdeckung, die alles, was sie zu wissen glaubten, infrage stellt …
Autorin
Veronica Roth ist die Autorin des Nr. 1 »New York Times«- und SPIEGEL-Bestsellers »Rat der Neun« und der Trilogie »Die Bestimmung«, von der sich weltweit über 35 Millionen Exemplare verkauft haben und die in drei Teilen mit hochkarätiger Besetzung verfilmt wurde. Veronica Roth lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Chicago.
Von Veronica Roth bereits erschienen
Rat der Neun · Rat der Neun – Gegen das Schicksal
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VERONICA ROTH
Die Erwählten –
Tödliche Bestimmung
Roman
Deutsch von
Petra Koob-Pawis
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Chosen Ones« bei Houghton Mifflin Harcourt, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2020 by Veronica Roth
Published by Arrangement with Veronica Roth
c/o NEW LEAF LITERARY & MEDIA, INC., 110 West 40th Street, Suite 2201, NEW YORK, NY 10018 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Catherine Beck
Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft unter Verwendung eines Motivs von f11photo/Shutterstock.com
Skyline von Chicago: © beboy/Shutterstock
Karte von Chicago: © Andreas Hancock nach einer Vorlage von David Lindroth
Karte von Cordus: © Andreas Hancock nach einer Vorlage von Virginia Allyn
JaB · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-25099-7
V001
www.penhaligon.de
Für Chicago,
die Stadt, die durchhält
TEIL EINS
Auszug aus
Comedian Jessica Krys’ Stand-up-Routine
Laugh Factory, Chicago, 20. März 2011
Hier ist eine Frage für euch: Wie zum Teufel sind wir auf den Namen »der Dunkle« gekommen? Dieser Typ taucht aus dem Nichts auf, in einer verdammten Wolke oder so, dann reißt er Menschen wortwörtlich in Stücke – und das offenbar nur mit der Kraft seiner Gedanken – , stellt willenlose Armeen auf, macht ganze Städte platt, zieht eine bis dahin nie da gewesene Schneise der Verwüstung durch unser Land … und alles, was uns dazu einfällt, ist »der Dunkle«? Da hätten wir ihn genauso gut nach dem gruseligen Typen bei dir im Haus benennen können, der dich im Aufzug immer ein paar Sekunden zu lange anglotzt. Du weißt schon, der mit den viel zu feuchten, weichen Händen? Tim. Sein Name ist Tim.
Ich persönlich hätte ja »Weltuntergang in Gestalt eines Mannes« oder »scheißverdammte Killermaschine« besser gefunden, aber leider hat mich niemand gefragt.
Auszug aus
Der Dunkle und die Erscheinungsformen moderner Magie
Von Professor Stanley Wisniewski
Natürlich gibt es Stimmen, die behaupten, die von uns nur ansatzweise verstandene und gemeinhin »Magie« genannte Kraft habe schon immer auf der Erde existiert. Legenden von übernatürlichen Ereignissen reichen zurück bis zum Beginn historischer Aufzeichnungen, angefangen von Herodots Mágoi, die Winde und Stürme beherrschten, bis zu den Djedi im alten Ägypten, die mit großer Geste Vögel köpften, nur um die Gänse oder Pelikane anschließend wieder zu heilen, wie uns das Westcar-Papyrus überliefert. Zweifellos ist dieses Phänomen fester Bestandteil fast jeder größeren Religion, man denke nur an Jesus Christus, der Wasser in Wein verwandelt, oder die Voodoo-Praktiken auf Haiti, bis hin zu den Theravada-Buddhisten, die im Dîrgha-âgama schweben – auch wenn dies gerade von den Ausführenden selbst nicht als »Magie« bezeichnet wird.
Diese großen und kleinen Geschichten tauchen in allen Kulturen und Teilen der Welt und auch zu allen Zeiten auf. Früher haben Gelehrte dies damit begründet, dass es schlicht in der menschlichen Natur liege, sich Geschichten auszudenken, um zu erklären, was der menschliche Verstand nicht fassen kann, oder um diejenigen zu erhöhen, die wir als größer und mächtiger wahrnehmen als uns selbst. Doch dann kam der Dunkle, und mit ihm kamen die Drains – jene berüchtigten Katastrophenereignisse, für die es trotz mannigfaltiger Versuche vonseiten der Wissenschaft keine rationale Erklärung gab. Vielleicht liegt den alten Legenden keine Wahrheit zugrunde. Aber vielleicht gab es dennoch schon immer eine übernatürliche Kraft, eine für uns unbegreifliche Energie, die in unsere Welt eindringt.
Gleich, welcher Theorie wir auch anhängen, eines steht fest: Nie zuvor hat es eine »Magie« gegeben, die so mächtig gewesen ist wie die Drains, mit denen der Dunkle die Menschheit heimgesucht hat. Im Folgenden sollen die verschiedenen Hypothesen anhand zentraler Fragestellungen analysiert werden. Welche Umstände haben zu seiner Ankunft geführt? Was waren seine Ziele, bevor er von unseren fünf Erwählten besiegt wurde? Welche Wirkung übt er auch nach seinem Verschwinden auf unseren Planeten aus?
TRILBY MAGAZINE, 24. JANUAR 2020
Sloane Andrews schert sich um nichts (um rein gar nichts)
Von Rick Lane
Ich mag Sloane Andrews nicht. Aber vielleicht würde ich gern mit ihr schlafen.
Getroffen habe ich sie in einem Café in ihrer Nachbarschaft, einem ihrer Lieblingsplätze, wie sie selbst sagt. Der Barista schien sie weder als besonderen Gast noch als eine der fünf Teenager zu kennen, die vor fast einem Jahrzehnt den Dunklen besiegt haben. Was offen gesagt ziemlich bemerkenswert ist, denn von ihrem weltbekannten Gesicht abgesehen, ist Sloane Andrews eine dieser unantastbaren Schönheiten, bei denen man es sich gern so richtig dreckig wünscht. Falls sie Make-up trägt, sieht man es nicht; sie hat reine Haut und große blaue Augen – die wandelnde, sprechende Kosmetikwerbung. Als sie das Café betritt, trägt sie eine Baseball Cap der Chicago Cubs und hat ihre langen braunen Haare hinten durchgesteckt, dazu ein graues T-Shirt, das an den richtigen Stellen eng anliegt, Ripped Jeans, die ihre langen, wohlgeformten Beine betonen, und Sneakers. Eine Kleidung, die zeigen soll, dass ihr Kleidung egal ist und vielleicht auch der große, schlanke Körper, der darin steckt.
Aber genau das ist der Punkt bei Sloane: Ich glaube ihr. Ich nehme ihr ab, dass sie sich um nichts schert, am allerwenigsten um mich und unser Treffen. Sie wollte von vorneherein kein Interview geben. Laut eigener Aussage hat sie nur zugestimmt, weil ihr Freund Matthew Weekes, einer der Erwählten, sie darum gebeten hat, die Veröffentlichung seines neuen Buchs zu unterstützen, Immer noch erwählt (Erscheinungstermin 3. Februar).
In der Vorbereitung zu unserem Interview waren ihre Vorschläge, wo wir uns treffen könnten, sehr begrenzt. Obwohl ohnehin jeder in Chicago weiß, wo Sloane Andrews wohnt – in der North Side von Uptown, nur ein paar Blocks vom Lake Shore Drive entfernt – , lehnte sie es rundheraus ab, mich in ihrer Wohnung zu empfangen. Ich gehe nirgendwohin, schrieb sie. Sobald ich mich in der Öffentlichkeit zeige, werde ich angesprochen. Wenn Sie also nicht neben mir her joggen wollen, treffen wir uns im Java Jam oder gar nicht.
Da ich meine Zweifel hatte, ob ich beim Joggen überhaupt mit ihr mithalten und nebenbei auch noch Notizen machen könnte, blieb nur das Java Jam.
Als sie einen Kaffee vor sich stehen hat, nimmt sie die Baseball Cap ab. Die Haare fallen ihr über die Schultern, als würde sie sich gerade auf einer Matratze wälzen. Aber da ist etwas in ihrem Gesicht – vielleicht sind es ihre etwas zu eng beieinanderstehenden Augen oder die Art, wie sie den Kopf zur Seite neigt, wenn ihr etwas nicht passt – , das sie wie ein Raubvogel aussehen lässt. Mit einem einzigen Blick hat sie es geschafft, die Rollenverteilung umzudrehen; jetzt bin ich derjenige, der auf der Hut ist, nicht sie. In Gedanken formuliere ich meine erste Frage, und während die meisten Menschen an dieser Stelle lächeln würden, um mich auf ihre Seite zu ziehen, starrt Sloane mich nur an.
»Der zehnte Jahrestag des Siegs über den Dunklen steht bevor«, sage ich. »Was ist das für ein Gefühl?«
»Wie Überleben«, antwortet sie.
Ihre Stimme ist hart, beinahe schneidend. Es läuft mir kalt über den Rücken, und ich kann nicht mal genau sagen, ob das gut ist oder nicht.
»Kein Triumph?«, frage ich, aber sie verdreht nur die Augen.
»Nächste Frage«, sagt sie und nippt zum ersten Mal an ihrem Kaffee.
Da wird mir klar: Ich mag sie nicht. Diese Frau hat Tausende, nein, Millionen Menschenleben gerettet. Teufel noch mal, vermutlich hat sie irgendwie auch mein Leben gerettet. Mit dreizehn wurde sie aufgrund einer Prophezeiung erwählt, zusammen mit vier anderen, die, so hieß es, eine übermächtige Inkarnation des Bösen besiegen würden. Sie hat mehrere Schlachten gegen den Dunklen überlebt – einschließlich einer kurzen Entführung, über deren Einzelheiten sie nie spricht – , ist unversehrt und wunderschön daraus hervorgegangen und seither berühmter als irgendjemand sonst. Als wäre das noch nicht genug, führt sie eine langjährige Beziehung mit Matthew Weekes, dem Golden Boy, dem Erwählten der Erwählten und vermutlich nettesten Menschen der Welt. Und trotzdem mag ich sie nicht.
Was sie völlig kaltlässt.
In mir weckt es den Wunsch, mit ihr schlafen zu wollen. So als könnte ich, wenn ich sie erst einmal nackt in mein Bett gekriegt habe, einen Hauch Wärme oder Gefühl aus ihr herauszwingen. Sie verwandelt mich in ein Alphamännchen, einen Jäger, wild entschlossen, die seltenste Beute auf diesem Planeten zu erlegen, um danach den Kopf als Trophäe an die Wohnzimmerwand zu hängen. Vielleicht wird sie deshalb immer belästigt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigt – nicht, weil die Menschen sie lieben, sondern weil sie sie gern lieben würden, sie liebenswert machen möchten.
Als sie ihren Becher absetzt, fällt mein Blick auf eine Narbe an ihrem rechten Handrücken. Sie ist breit und wulstig und zieht sich über die ganze Fläche. Niemand weiß, woher sie die hat, und ich bin sicher, sie wird es mir nicht sagen, aber einen Versuch ist es trotzdem wert.
»Am Papier geschnitten«, sagt sie knapp.
Ich vermute, das sollte ein Witz sein, also lache ich. Dann frage ich sie, ob sie an der Einweihungsveranstaltung des Zehnjahres-Denkmals teilnehmen wird – eine Kunstinstallation, die an der Stelle errichtet wurde, an der die entscheidende Schlacht gegen den Dunklen stattfand – , worauf sie antwortet: »Das gehört zum Job«, als handelte es sich dabei um Schreibtischarbeit und nicht um die sprichwörtliche Schicksalsfrage.
»Klingt so, als könnten Sie gut darauf verzichten«, sage ich.
»Was hat mich verraten?«, fragt sie grinsend.
Im Vorfeld des Interviews habe ich einige Freunde befragt, was sie von ihr halten, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie der Durchschnittsmensch auf der Straße Sloane Andrews wahrnimmt. Einer von ihnen erklärte mir, dass er sie noch nie habe lächeln sehen, und wie ich ihr jetzt so gegenübersitze, frage ich mich, ob sie überhaupt dazu fähig ist. Also stelle ich die Frage laut, gespannt, wie sie darauf reagiert.
Nicht besonders gut, wie sich herausstellt.
»Wenn ich ein Mann wäre, würden Sie mich das dann auch fragen?«
Hastig lenke ich das Gespräch in eine andere Richtung. Es ist weniger ein Gespräch als eine Runde Minesweeper, bei der mit jedem Klick die Anspannung wächst, weil die Wahrscheinlichkeit zunimmt, auf ein Minenfeld zu treten. Ich klicke das nächste Kästchen an und frage, ob diese Jahreszeit für sie persönlich besondere Erinnerungen mit sich bringt.
»Ich versuche, nicht darüber nachzudenken«, antwortet sie. »Sonst wäre mein Leben ein Adventskalender. Jeden Tag eine andere Dunkelschokolade, aber alle schmecken scheiße.«
Und wieder klicke ich ein Kästchen an und frage, ob sie denn nicht auch gute Erinnerungen hat.
»Wir fünf sind Freunde geworden. Werden es immer sein. Wenn wir unter uns sind, fliegen die Insider Jokes nur so hin und her.«
Puh. Ich nehme an, es ist einigermaßen ungefährlich, sie über die anderen vier Erwählten auszufragen: Esther Park, Albert Summers, Ines Mejia und natürlich Matthew Weekes.
Erst als wir auf sie zu sprechen kommen, kommt das Gespräch in Schwung. Die sogenannten Erwählten haben sich schon beim ersten Zusammentreffen aufeinander eingeschworen, mit Matthew als dem geborenen Anführer. »So ist er einfach«, sagt sie, und es klingt fast, als würde sie sich darüber ärgern. »Er übernimmt immer die Leitung, trägt Verantwortung und führt uns die ethischen Aspekte vor Augen. So was alles.« Erstaunlicherweise war es nicht Matt, zu dem sie sofort einen guten Draht hatte, sondern Albie. »Er war still«, sagt sie und meint das als Kompliment. »Unsere Brüder und Väter waren tot – das war Teil der Prophezeiung – , aber mein Bruder war erst kurz vorher gestorben. Ich habe diese Stille gebraucht. Außerdem – der Mittlere Westen, Alberta, da sind sofort Gemeinsamkeiten da.«
Albert und Ines wohnen zusammen in Chicago – platonisch, denn Ines ist lesbisch – , und Esther ist im vergangenen Jahr nach Glendale, Kalifornien, zurückgekehrt, um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern. Die räumliche Entfernung sei schwierig für alle, sagt Sloane, aber zum Glück hätten sie wenigstens Kontakt zu Esther über deren regelmäßig geführte (und sehr beliebte) Insta-Seite, auf der sie minutiös ihr Leben dokumentiere.
»Was halten Sie von der ›Erwählte sind alle gleich‹-Bewegung, die sich in den letzten Jahren formiert hat?«, frage ich. Dabei handelt es sich um eine kleine, aber lautstarke Gruppierung, die eine ebenbürtige Rolle der anderen vier Erwählten beim Sieg über den Dunklen propagiert und nicht in erster Linie Matthew Weekes als treibende Kraft sieht.
Sloane nimmt kein Blatt vor den Mund. »Ich finde das rassistisch.«
»Es gibt Leute, die finden es sexistisch, Matt aus der Gruppe hervorzuheben«, wende ich ein.
»Sexistisch ist es, wenn man ignoriert, was ich sage, und dann auch noch meint, ich wüsste es nicht besser«, erwidert sie. »Ich denke, Matt ist der wahre Erwählte. Das habe ich immer wieder betont. Also tun Sie nicht so, als würden Sie mir einen Gefallen tun, indem Sie ihn schlechtmachen.«
Danach lenke ich das Gespräch von den Erwählten weg hin zu dem Dunklen, und ab da läuft alles aus dem Ruder. Ich frage Sloane, warum der Dunkle ausgerechnet an ihr besonderes Interesse gehabt hat.
Sie blickt mich einen Augenblick lang unverwandt an, während sie den letzten Schluck Kaffee trinkt, und als sie den Becher absetzt, zittern ihre Hände. Sie setzt die Baseballmütze auf ihr herrlich zerwühltes Haar und sagt: »Wir sind fertig.«
Und wenn sie sagt, wir sind fertig, dann sind wir das auch, denn Sloane ist bereits zur Tür hinaus. Ich werfe rasch einen Zehner auf den Tisch und eile hinterher, nicht gewillt, so leicht aufzugeben. Habe ich schon erwähnt, dass Sloane Andrews mich in einen Jäger verwandelt?
»Ich habe ein einziges Thema genannt, dass off limits ist«, blafft sie mich an. »Wissen Sie noch, welches das war?«
Sie ist rot im Gesicht und wütend und glüht, halb Domina, halb fauchende Straßenkatze. Warum habe ich so lange gezögert, sie auf die Palme zu bringen? Diesen Anblick hätte ich schon viel früher haben können.
Das Off-Limit-Thema ist natürlich alles, was mit ihrer besonderen Beziehung zum Dunklen zu tun hat. Andererseits kann sie ja nicht ernsthaft geglaubt haben, ich würde sie nicht dazu befragen. Es ist das Interessanteste an ihr.
Sie blickt mich an, als wäre ich ein durchweichtes Blatt Papier in einer Hinterhofpfütze, nennt mich Arschloch und geht bei Rot über die Ampel, um von mir wegzukommen. Diesmal lasse ich sie gehen.
1
DER DRAIN SAH AUS wie immer, mit schreienden Menschen, die vor der riesigen schwarzen Chaoswolke flohen, aber nie schnell genug rannten. Wenn die Walze sie erfasste, löste sich die Haut von ihren Knochen, bei lebendigem Leib, unter unvorstellbaren Qualen, und das Blut spritzte weg wie bei zerquetschten Moskitos, o Gott.
Sloane schreckte hoch und rang nach Atem. Ganz ruhig, sagte sie sich. Ihre Zehen rollten sich ein, der Boden war kalt im Haus des Dunklen, außerdem hatte er ihr die Stiefel weggenommen. Sie war auf der Suche nach etwas Schwerem oder Scharfem – auf beides gleichzeitig wagte sie nicht zu hoffen, so viel Glück hatte sie einfach nicht.
Sie zog eine Schublade auf, wühlte zwischen Löffeln, Gabeln, Pfannenwender herum. Eine Handvoll Gummis. Tüten-Clips. Warum hatte er ihre Stiefel genommen? Was hatte ein Massenmörder von den Doc Martens eines Mädchens zu befürchten?
Hallo Sloane, flüsterte er in ihr Ohr.
Sie unterdrückte ein Schluchzen und riss eine weitere Schublade auf. Ihr Blick fiel auf Messergriffe; die Klingen steckten in einem Messerblock aus Plastik. Gerade wollte sie das Schlachtermesser herausziehen, als sie ein Knarzen hörte. Der Schritt eines Menschen.
Sloanes Füße klebten am Linoleum, als sie herumwirbelte und mit dem Messer ausholte.
»Holy Shit!« Matt packte ihr Handgelenk und wehrte den Angriff ab, und für einen Moment standen sie sich gegenüber, mit ausgestreckten Armen, das Messer über dem Kopf, und starrten einander an.
Sloane schnappte nach Luft, als die Wirklichkeit sie schlagartig einholte. Sie war nicht im Haus des Dunklen, nicht in der Vergangenheit, sondern nur in dem Apartment, in dem sie und Matthew Weekes wohnten.
»O Gott.« Sloanes Hand erschlaffte, das Messer fiel klappernd zwischen ihren Füßen zu Boden. Matt legte seine Hände auf ihre Schultern, sie spürte die Wärme seiner Berührung.
»Bist du da?«, fragte er.
Das hatte er sie schon oft gefragt, Dutzende Male. Bert, ihr Betreuer, hatte sie eine einsame Wölfin genannt und sie nur selten mit den anderen zum Training oder auf eine Mission geschickt. Lass sie ihr eigenes Ding machen, hatte er Matt geraten, als sich abzeichnete, dass Matt der Anführer sein würde. Damit erzielst du bessere Resultate. Matt war seinem Rat gefolgt und hatte sich nur bei ihr gemeldet, wenn es notwendig war.
Bist du da? Am Telefon, leise flüsternd, mitten in der Nacht oder auch Auge in Auge, wenn sie wieder einmal wegen irgendetwas ausflippte. Anfangs hatte sich Sloane über die Frage geärgert. Natürlich bin ich da, wo zur Hölle sollte ich denn sonst sein? Mittlerweile kannte Matt sie gut genug, um zu wissen, dass sie nicht immer mit Ja antworten konnte.
»Ja«, sagte sie.
»Okay. Bleib hier, hörst du? Ich hole deine Tabletten.«
Sloane lehnte sich Halt suchend an die Marmoranrichte. Das Messer lag vor ihren Füßen, sie wagte nicht, es anzufassen. Sie wartete und atmete und starrte auf das Durcheinander aus Grautönen, in dem sie die Umrisse eines alten Mannes im Profil zu erkennen glaubte.
Matt kam mit einer kleinen gelben Pille in der einen Hand und einem Wasserglas von ihrem Nachttisch in der anderen zu ihr zurück. Sie nahm beides mit zitternden Fingern und schluckte die Pille gierig. Her mit dem inneren Frieden verheißenden Benzodiazepin. Sie und Ines hatten einmal betrunken eine Ode an die Pillen verfasst, sie für ihre hübschen Farben gepriesen und für ihre rasche Wirkung und dafür, dass sie etwas vermochten, das sonst niemand konnte.
Sloane stellte das Wasserglas ab und ließ sich auf den Fußboden gleiten. Durch ihre Pyjamahose – die mit den Laseraugen-Katzen – spürte sie die Kälte, aber diesmal war sie wohltuend. Matt setzte sich in Boxershorts vor den Kühlschrank.
»Hör zu«, fing sie an.
»Du musst nichts sagen.«
»Klar, warum auch? Warum sollte ich mich entschuldigen, ich habe ja nur versucht, dich zu erstechen.«
Sein Blick war sanft. Besorgt. »Ich will nur, dass du okay bist.«
Wie hatte dieser grässliche Zeitungsartikel ihn beschrieben? »Womöglich der netteste Mensch der Welt.« Zumindest in diesem Punkt hatte sie Rick Lane, Creepmaster 2000, nicht widersprochen. Matt hatte Augenbrauen, die sich in der Mitte berührten und ihm einen Ausdruck von Dauermitgefühl gaben, nicht zu vergessen ein Herz, das diesem Eindruck voll und ganz entsprach.
Er griff nach dem Schlachtermesser auf dem Boden. Es war groß, fast so lang wie sein Unterarm.
Sloanes Augen brannten. Sie kniff sie zu. »Es tut mir sehr leid.«
»Ich weiß, dass du mit mir nicht darüber reden willst«, sagte er. »Aber vielleicht mit jemand anderem?«
»Mit wem denn?«
»Dr. Novak zum Beispiel? Sie arbeitet mit Veteranen, schon vergessen? Wir hatten einen gemeinsamen Talk in der Jugendstrafanstalt.«
»Ich bin keine Soldatin«, sagte Sloane.
»Ja, aber sie kennt sich mit PTBS aus.«
Eine offizielle Diagnose hatte Sloane nie nötig gehabt – es war eine Posttraumatische Belastungsstörung, daran bestand kein Zweifel. Es Matt so beiläufig sagen zu hören, als hätte sie die Grippe, war trotzdem seltsam.
»Also gut.« Sie zuckte die Schultern. »Ich rufe sie morgen an.«
»Jeder würde eine Therapie brauchen, weißt du?«, sagte er. »Nach allem, was wir überstanden haben. Ines hat auch eine gemacht.«
»Ines hatte eine, und trotzdem stellt sie immer noch Sprengfallen in ihrer Wohnung auf, als würde sie Home Alone nachstellen«, sagte Sloane.
»Okay, das war ein schlechtes Beispiel.« Das Flutlicht auf der Hintertreppe fiel durch das Fenster, leuchtete orangegelb auf Matts dunkler Haut.
»Du hast nie eine gebraucht«, sagte Sloane.
Er sah sie an und zog die Augenbrauen hoch. »Was glaubst du, wohin ich nach dem Tod des Dunklen ein ganzes Jahr lang gegangen bin?«
»Du hast gesagt, du hättest Termine beim Arzt.«
»Zu welchem Arzt geht man einmal in der Woche, und das über Monate hinweg?«
»Keine Ahnung. Ich dachte, du bist krank …« Sloane deutete vage auf seinen Unterleib. »Du weißt schon. Deine Jungs oder so.«
»Versteh ich dich richtig?«, fragte er grinsend. »Du dachtest, ich hätte eine peinliche medizinische Notlage, die es erfordert, dass ich sechs Monate lang regelmäßig einen Arzt aufsuche … und hast mich nie danach gefragt?«
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Das hört sich an, als wärst du enttäuscht?«
»Nein, nein. Ich bin beeindruckt.«
Er war dreizehn Jahre alt, als sie ihm zum ersten Mal begegnet war, ein Junge mit einem schlaksigen, eckigen Körper, ohne Gespür dafür, wo die Gliedmaßen anfangen oder enden. Aber sein Lächeln hatte er schon damals.
Sie hatte sich ein halbes Dutzend Mal in ihn verliebt, bevor sie es sich selbst eingestand – wenn er über den ohrenbetäubenden Lärm der Drains Befehle schrie, damit alle am Leben blieben; wenn er auf den nächtlichen Fahrten übers Land zusammen mit ihr wach blieb, als alle anderen längst eingeschlafen waren; wenn er seine Großmutter anrief und seine Stimme ganz sanft wurde. Jemanden zurückzulassen war für ihn undenkbar.
Sie krümmte die Zehen gegen die Bodenfliesen. »Ich war schon mal, weißt du? In einer Therapie, meine ich. Als wir sechzehn waren, bin ich über mehrere Monate hingegangen.«
»Tatsächlich?« Er runzelte leicht die Stirn. »Das hast du mir nie erzählt.«
Sie hatte ihm vieles nicht erzählt, ihm nicht und auch sonst niemandem. »Ich wollte euch nicht beunruhigen«, sagte sie. »Und das will ich auch jetzt nicht, also … sag den anderen nichts davon, okay? Nicht dass es irgendwann in dem verdammten Esquire zu lesen ist, unter der Überschrift ›Rick Lane hat es euch gesagt‹.«
»Natürlich.« Matt nahm ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren. »Lass uns ins Bett gehen. In ein paar Stunden müssen wir wieder aufstehen und zur Denkmalseinweihung gehen.«
Sloane nickte, aber sie blieb auf dem Küchenfußboden, bis die Wirkung der Tablette einsetzte und sie nicht mehr zitterte. Dann legte Matt das Messer weg, half ihr hoch, und beide gingen zurück ins Bett.
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ARIS
ABTEILUNG FÜR RISIKOANALYSE UND INVESTIGATION VON SUPRANORMALEM
4. Oktober, 2019
Ms Sloane Andrews
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Referenz: H-20XX-74545
Liebe Ms Andrews,
am 13. September 2019 hat das Büro für Informations- und Datenschutzkoordination Ihre Anfrage vom 12. September 2019 gemäß Informationsfreiheitsgesetz (IFG) erhalten, in der Sie Akteneinsichtnahme zum Projekt Ringer anfordern.
Viele der angeforderten Akten sind auch jetzt noch Verschlusssache. Angesichts Ihres jahrelangen Einsatzes für die Regierung der Vereinigten Staaten haben wir uns jedoch entschlossen, Ihnen Zugang zu sämtlichen Unterlagen zu gewähren, mit Ausnahme derjenigen, die der höchsten Sicherheitsstufe unterliegen. Wir haben unsere Datenbanken durchsucht und übersenden Ihnen anbei die entsprechenden Dokumente im Umfang von 120 Seiten, in der Hoffnung, damit Ihre Fragen beantwortet zu haben. Für die Kopien werden Ihnen keine Unkosten in Rechnung gestellt.
Mit freundlichen Grüßen
Mara Sanchez
Informations- und Datenschutzkoordinatorin
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ALS AM NÄCHSTEN MORGEN Sloanes Wecker schrillte, nahm sie sofort eine Benzo, um den Tag zu überstehen. Morgens würden sie am Festakt zur Einweihung des Zehnjahres-Monuments teilnehmen, eines Denkmals für alle, die bei den Angriffen des Dunklen ihr Leben verloren hatten, und am Abend war eine Friedensgala zum Zehnjährigen geplant, denn so lange war der Sieg über ihn schon her.
Die Stadt Chicago hatte einen Künstler namens Gerald Frye beauftragt, ein Monument zu entwerfen. Wie unschwer an seinem Portfolio zu erkennen war, hatte er sich von dem Minimalisten Donald Judd inspirieren lassen; das Monument war im Grunde ein Metallkasten inmitten einer Schneise, wo einst das hässliche Hochhaus stand, direkt am Fluss. Im Vergleich zu den umgebenden hohen Gebäuden war das Denkmal eher klein, aber es glitzerte in der Sonne, als Sloanes Auto am Tag der Einweihung vor dem Monument hielt.
Matt hatte einen Fahrer angeheuert, damit sie nicht erst einen Parkplatz suchen mussten, was sich als schlau erwies, denn in der ganzen Stadt wimmelte es von Menschen; die Menge stand so dicht gedrängt, dass der Fahrer des schwarzen Lincolns hupen musste, um durchzukommen. Und selbst dann ignorierten die meisten das Tuten, bis sie die Wärme des Motors in den Kniekehlen spürten.
Als sie nahe genug waren, winkte ein Polizist ihren Wagen durch eine Absperrung, und sie fuhren auf der leeren Zufahrt direkt bis vor das Monument. Sloane spürte ihren Puls hinter den Augen wie einen pochenden Kopfschmerz. Sobald Matt die Autotür öffnete und ausstieg, würden alle wissen, wer sie waren. Die Menschen würden ihre Handys hochhalten, um zu filmen. Sie würden Fotos und Notizhefte und Arme über die Absperrung strecken, um ein Autogramm zu ergattern. Sie würden Matts und Sloanes Namen kreischen und weinen und gegen die Absperrung drängen und erzählen, wen und was sie verloren hatten.
Sloane wollte nur eines: nach Hause. Stattdessen wischte sie ihre Handflächen am Kleid ab, holte tief Luft und legte die Hand auf Matts Schulter. Das Auto hielt an. Matt öffnete die Tür.
Sloane stieg nach ihm aus und prallte gegen eine Wand aus Geräuschen. Grinsend drehte Matt sich um und raunte: »Vergiss nicht zu lächeln.«
Schon viele Männer hatten Sloane gebeten zu lächeln, aber alle wollten damit nur in irgendeiner Form Macht über sie ausüben. Matt hingegen wollte sie beschützen. Sein eigenes Lächeln war eine Waffe gegen eine sanftere und hinterhältigere Form von Rassismus, die dazu führte, dass die Menschen ihn in Geschäften misstrauisch beäugten, bis sie erkannten, wer er war. Oft gingen sie auch von vornherein davon aus, er sei in einem rauen Stadtviertel und nicht in der Upper East Side aufgewachsen, oder sie akzeptierten ausschließlich Sloane und Albie als Retter der Welt, als hätten Matt, Esther und Ines nichts damit zu tun gehabt. Dieser Rassismus schwang in der Stille und im Zögern mit, in gedankenlosen Witzen und ungeschicktem Gestammel.
Es gab natürlich auch schroffere und gewaltsamere Formen, aber gegen die half Lächeln als Waffe nicht.
Matt ging zu den wartenden Menschen, die sich gegen die Barriere drückten. Viele hatten Fotos von ihm, Zeitschriftenartikel, Bücher. Er nahm einen schwarzen Marker aus der Tasche und signierte alles, was ihm hingestreckt wurde, mit einem schnellen MW, der eine Buchstabe eine Umkehrung des anderen. Sloane beobachtete ihn aus der Entfernung, für einen Moment abgelenkt von dem Chaos. Matt beugte sich zu einer mittelalten Rothaarigen, die sich nicht mit den Funktionen ihres Telefons auskannte, nahm das Handy und zeigte ihr, wie man zur Frontkamera umschaltet. Egal, wohin er sich wandte, überall gaben ihm Leute etwas von sich selbst, manchmal als Dank, manchmal in Form von Geschichten über Menschen, die sie an den Dunklen verloren hatten. Er schulterte sie alle.
Nach ein paar Minuten ging Sloane zu ihm und legt eine Hand auf seinen Arm. »Tut mir leid, Matt, aber wir müssen weiter.«
Natürlich streckten die Wartenden auch die Hände nach Sloane aus oder wedelten mit dem Trilby-Artikel vor ihrer Nase herum. Auf der einen Seite prangte ihr Gesicht, auf der anderen stand Rick Lanes sexistisches Arschlochgelaber. Einige riefen ihren Namen, aber sie ignorierte sie, wie immer. Matts Waffen waren Großzügigkeit, Freundlichkeit, zwischenmenschlicher Anstand. Bei Sloane waren es Distanz, eine große Statur und eine hartnäckige Affektverweigerung.
Matts Blicks fiel auf eine Gruppe schwarzer Teenager in Schuluniformen. Eines der Mädchen hatte die Haare zu kleinen Zöpfen mit Perlen an den Spitzen geflochten, die klappernd aneinanderstießen, wenn sie aufgeregt auf den Zehenspitzen wippte. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand, vermutlich eine von so vielen Petitionen.
»Eine Sekunde«, sagte Matt zu Sloane und ging zu der Gruppe.
Sie ärgerte sich ein bisschen über seine Zurücksetzung, aber als sie die fast unmerkliche Veränderung in seiner Haltung bemerkte und sah, wie seine Schultern sich lockerten, verflog das Gefühl.
»Hey«, begrüßte er grinsend das Mädchen mit den Zöpfen.
Sloane spürte ein leichtes Ziehen in der Brust. Es gab Winkel seines Wesens, in die sie nie vordringen würde, und es gab eine Sprache, die er ihr gegenüber nie sprechen würde, denn in ihrer Gegenwart verflüchtigten sich manchmal die Worte.
Sie beschloss, ohne ihn weiterzugehen. Es spielte keine Rolle, ob er rechtzeitig zu der Zeremonie kam. Alle würden auf ihn warten.
Sie ging den schmalen Korridor entlang, den die Polizei inmitten der Menschen für sie frei gemacht hatte, und stieg die Stufen zu einer Art Bühne hinauf, von der aus man einen Blick auf das Monument hatte; sie war etwa so groß wie ein durchschnittliches Schlafzimmer, aufgestellt auf einer ansonsten freien Fläche.
»Slo!« Esther stand auf dem Podest – in mehr als zwölf Zentimeter hohen High Heels und einer schwarzen Lederhose – und winkte. Ihre weiße Bluse saß gerade so locker, dass sie noch als elegant durchging, und wenn man Esthers Gesicht aus einiger Entfernung sah, konnte man tatsächlich glauben, sie sei noch ganz wie damals, als sie den Dunklen besiegt hatten. Aber je näher Sloane kam, desto deutlicher wurde, dass der makellose Glanz nur mithilfe von Foundation, Highlighter, Abdeckpuder und wer weiß was sonst noch alles erzielt wurde.
Es war schön, sie zu sehen. Seit sie wieder in ihre Heimat gezogen war, um sich um ihre Mutter zu kümmern, war es zwischen den fünf Erwählten nicht mehr so wie früher. Sloane stieg die Stufen hinauf, schüttelte den Kopf, als eine Security ihr den Arm hinstreckte, und zog Esther an sich.
»Hübsches Kleid!«, sagte Esther, als sie sich wieder voneinander lösten. »Hat Matt es ausgesucht?«
»Ich bin durchaus in der Lage, mir meine Kleidung selbst auszusuchen«, antwortete Sloane. »Wie …«
Sie wollte Esther fragen, wie es ihrer Mutter geht, aber da hatte Esther bereits ihr Handy für ein Selfie hervorgeholt.
»Nein«, protestierte Sloane.
»Slo … komm schon, ich möchte ein Foto von uns!«
»Nein, du möchtest ein Foto von uns, um es einer Million Menschen auf Insta zu zeigen, und das ist etwas ganz anderes.«
»Ich krieg eines, egal, ob du lächelst oder nicht, wie wär’s also, wenn du zur Abwechslung mal dem Image von dir als Turbo-Bitch keine neue Nahrung gibst?«, schlug Esther vor.
Sloane verdrehte die Augen, aber dann ging sie leicht in die Knie und streckte den Kopf in die Kamera. Sie brachte sogar den Anflug eines Lächelns zustande. »Nur eins, okay?«, sagte sie. »Ich halte mich nicht ohne Grund von Social Media fern.«
»Schon kapiert, du bist so alternativ und authentisch und was sonst noch alles.« Esther wedelte verächtlich mit der Hand, ohne den Blick vom Handy zu nehmen. »Ich werde dir einen Schnurrbart zeichnen.«
»Wie passend für die Zehnjahres-Gedächtnisfeier einer grauenvollen Schlacht.«
»Also gut, ich poste es so, wie es ist. Du bist so langweilig.«
Der Einwand kam an dieser Stelle immer. Sloane und Esther gingen zu Ines und Albie, die neben dem Podium Platz genommen hatten. Beide trugen fast identische schwarze Anzüge. Ines’ Revers war etwas breiter und Albies Krawatte etwas blauer, aber soweit Sloane das beurteilen konnte, hörten die Unterschiede damit auch schon auf.
»Wo ist Matt?«, fragte Ines.
»Bei seinen Untertanen«, antwortete Esther.
Sloane blickte zurück. Matt unterhielt sich immer noch mit dem jungen Mädchen, hörte ihr mit zusammengezogenen Augenbrauen zu und nickte.
»Er kommt gleich«, sagte sie zu den anderen.
Albie hatte rot geäderte Augen, was daran liegen mochte, dass es acht Uhr früh war und Albie normalerweise nicht vor zehn aufstand. Als sich ihre Blicke trafen, wirkte er sehr müde, aber klar. Er winkte sie zu sich.
»Hab dir einen Platz reserviert, Slo«, sagte er und klopfte auf den Stuhl neben sich. Sie setzte sich, mit verschränkten Fußknöcheln und abgeknickten Beinen, wie ihre Großmutter es ihr beigebracht hatte. Willst du, dass fremde Leute deine Unterwäsche sehen? Nein? Dann verschränk die Beine, Mädchen.
»Alles okay?«, fragte sie Albie.
»Nein«, sagte er mit der Andeutung eines Lächelns. »Aber das ist ja nichts Neues.«
Sie lächelte ebenso verhalten zurück.
»Hey, Leute.« Ein Mann kam über die Bühne auf sie zu. Er trug eine tiefschwarze Stoffhose, dazu einen Blazer mit hellblauem Hemd, und seine grau melierten Haare waren ordentlich zurückgekämmt. Er war nicht irgendwer, sondern John Clayton, der Bürgermeister von Chicago, gewählt mit der Kampagne »Nicht ganz so korrupt wie die anderen«, dem Motto von Chicagos Politikern der vergangenen Jahre. Darüber hinaus war er vermutlich der höflichste Mann der Welt.
»Danke fürs Kommen«, sagte Bürgermeister Clayton und schüttelte Sloanes Hand, dann Albies, Ines’ und Esthers. Matt kam die Stufen hoch, gerade noch rechtzeitig, um als Letzter die Hand des Bürgermeisters zu schütteln. »Ich werde kurz ein paar Worte sagen, dann können Sie das Monument begehen. Als eine Art Segnung, okay? Danach bringen wir Sie sofort wieder weg. Man wird ein Foto von uns machen wollen. Jetzt gleich? Okay, dann sofort.«
Er winkte den Fotografen herbei, der alle so postierte, dass hinter ihnen das Monument zu sehen war. Matt stand in der Mitte, seine Hand berührte Sloanes Rücken. Sloane war sich nicht sicher, ob sie für das zehnjährige Gedenken an den Sieg über den Dunklen lächeln sollte. Die ganze Welt feierte heute. Sogar die Stadt Chicago, die so viel verloren hatte – man würde den Fluss blau einfärben, in Wrigleyville würde das Bier in Strömen fließen, und die Hochbahn würde zum Viehwaggon werden. Festfreude war etwas Gutes, das wusste Sloane, in den ersten Jahren hatte sie sogar mitgemacht, aber im Laufe der Zeit war es immer schwieriger geworden. Man hatte ihr versichert, dass es leichter werden würde, aber bisher konnte sie das in keiner Weise bestätigen. Der Jubel und der Triumph nach dem Sturz des Dunklen waren verklungen, und zurückgeblieben waren dieses nagende Gefühl der Unzufriedenheit und das Wissen um die vielen Opfer, die der Sieg gekostet hatte.
Sie lächelte nicht auf dem Foto. Während Esther dem Bürgermeister Boomerang-Videos erklärte, setzte Sloane sich wieder neben Albie. Matt unterhielt sich mit der Ehefrau des Bürgermeisters, die wissen wollte, ob er zur Eröffnung einer neuen Bibliothek in Uptown kommen würde, und Ines wippte mit dem Bein, hektisch wie immer. Albie legte seine Hand auf Sloanes Hand und drückte sie.
»Alles Gute zum Jahrestag oder so«, sagte sie.
»Ja«, sagte er. »Alles Gute zum Jahrestag.«
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Nationaler Sicherheitsrat Memorandum Nr. 70
An: Abteilung für Risikoanalyse und Investigation von Supranormalem (ARIS)
Betreff: unerklärliche Katastrophenereignisse 2004
Auf Grundlage der Sitzungsprotokolle des Nationalen Sicherheitsrates vom 2. Februar 2005 ordnet der Präsident an, die Katastrophenereignisse von 2004 im Hinblick auf ein möglicherweise zugrunde liegendes Muster zu untersuchen. Da die einzelnen Vorfälle sich bisher mit konventionellen Methoden nicht zufriedenstellend erklären lassen, wird dieses Projekt ab sofort der Abteilung für Risikoanalyse und Investigation von Supranormalem (ARIS) unterstellt.
ARIS wird darüber hinaus aufgefordert, der Studie absoluten Vorrang einzuräumen und die ersten vorläufigen Ergebnisse beim nächsten Treffen des Sicherheitsrats vorzustellen. Anbei eine Sammlung von Artikeln zu besagten Ereignissen.
Shonda Jordan
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CHILLICOTHE GAZETTE
Offizieller Bericht zur Katastrophe in Topeka bleibt vage
von Jay Kaufman
TOPEKA, 6. MÄRZ: Letzten Zählungen zufolge belaufen sich die Opferzahlen in Topeka, Kansas, nach der Katastrophe vom 5. März 2004 auf 19 327, allerdings wissen die offiziellen Stellen immer noch nicht, was genau zu diesen enorm hohen Verlusten geführt hat. Und falls sie es wissen, sagen sie es nicht.
Wetterberichte am Morgen des 5. März kündigten Bewölkung und Höchstwerte bis 40 Grad an, mit einer Regenwahrscheinlichkeit von 10 Prozent. Zeugen aus den nahe gelegenen Städten sprechen von gelegentlichem Sonnenschein und leichtem Windaufkommen. Um genau 01:04 Uhr fing das Wetter an, verrückt zu spielen. Ein Angestellter des Nationalen Wetterdiensts sprach von »absolutem Chaos« im Büro und beschrieb »kreischende Monitore« und lautes Geschrei.
»Für ein paar Minuten war es, als hätten wir gleichzeitig einen Tornado, ein Erdbeben und einen Hurrikan. Die Luftdruckveränderungen waren unglaublich, das Beben war noch im entfernten Kentucky zu spüren. Etwas Ähnliches habe ich noch nie erlebt«, weiß unsere Quelle zu berichten. Der Angestellte möchte aus Angst um seinen Job anonym bleiben. Der Nationale Wetterdienst hat seither eine Verlautbarung herausgegeben, wonach man der Öffentlichkeit aufgrund der laufenden Untersuchungen noch keine weiteren Details mitteilen könne.
Die Bundesregierung hat sich ganz ähnlich dazu geäußert. Weder von der Homeland Security noch von der Nationalen Koordinationsstelle für Katastrophenhilfe kam bisher ein Kommentar. Das FBI sieht derzeit keinerlei Hinweise auf eine Beteiligung ausländischer oder inländischer Terrororganisationen, könne sie zum momentanen Zeitpunkt aber auch nicht völlig ausschließen. Auf lokaler Ebene hat der Bürgermeister von Topeka, Hal Foster – der zur betreffenden Zeit in Orlando, Florida, Urlaub machte –, sein Beileid ausgesprochen und seine Bestürzung zum Ausdruck gebracht, aber keine Theorie zu den Ursachen der Katastrophe geliefert.
Was wir bisher über das Ereignis zusammentragen konnten, stammt von Privatpersonen. Andy Ellis aus Lawrence, Kansas, hat das Gebiet um Topeka mit einer Drohne überwacht, mit der er bisher den Bau seines neuen Hauses dokumentierte. Seine Bilder von Topeka, die er allen nationalen Nachrichtenagenturen gleichzeitig zur Verfügung stellte, sind verstörend. Sie zeigen Gebäude, von denen nur noch Skelette übrig sind, Leichen in den Straßen und – was besonders merkwürdig ist – keine einzige lebende Pflanze. Von den Bäumen in Topeka, das lassen die Aufnahmen vermuten, sind nur noch dürre Äste und totes Laub übrig.
Da konkrete Erklärungen bisher fehlen, tauchen in der Öffentlichkeit immer mehr Verschwörungstheorien auf, wie zum Beispiel eine Invasion von Aliens, ein schiefgelaufenes Experiment der Regierung, eine neue Massenvernichtungswaffe oder ein neues Wetterphänomen als Auswirkung des Klimawandels. Hysterie breitet sich aus, einige Leute haben bereits angefangen, ihre Häuser mit bombensicheren Bunkern auszustatten oder Evakuierungspläne zu entwickeln, in denen empfohlen wird, sich möglichst weit vom Zentrum einer Stadt entfernt aufzuhalten.
»Wir brauchen Antworten«, sagt Fran Halloway, Bewohnerin von Willard, einer der Städte in der Nähe von Topeka, die der Katstrophe entgangen sind. »Wir haben ein Recht darauf zu wissen, warum unsere Lieben tot sind. Und wir werden nicht eher Ruhe geben, bis wir die Antworten bekommen.«
PORTLAND BUGLE
Portland von Katastrophe getroffen – Zehntausende von Toten
Von Arjun Patel
PORTLAND, 20. AUGUST: Ein nach ersten Analysen als Hurrikan eingestuftes Wetterereignis, das am 19. August in Portland, Oregon, stattfand, hat zu einer Flutwelle und der massiven Zerstörung von Wohnhäusern und anderen Gebäuden geführt. Wenn die Klassifizierung beibehalten wird, wäre dies der erste tropische Hurrikan seit Beginn der Aufzeichnungen, der die Westküste getroffen hat.
Mit einer geschätzten Zahl von bis zu 50 000 Toten wäre dies die tödlichste Naturkatastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten, gefolgt von dem Topeka-Unglück desselben Jahres, das amtlichen Angaben zufolge fast 20 000 Menschenleben gekostet hat und für das es noch immer keine eindeutige Erklärung gibt.
Das Wetterereignis lässt jene Wissenschaftler ratlos zurück, die bisher niedrige Temperaturen im Pazifischen Ozean als Grund für das Fehlen von Hurrikan-Aktivitäten an der Westküste sahen. »Hurrikans brauchen warme Wassertemperaturen«, erklärt Dr. Joan Gregory, Professor für atmosphärische Wissenschaften an der Universität von Wisconsin-Madison. »Eine mögliche Erklärung wäre der Klimawandel, aber in letzter Zeit hat es keine Meldungen von signifikant höheren Temperaturen im Pazifik gegeben, weshalb wir dieses Wetterereignis bisher als singuläres Vorkommnis einordnen.«
Mehr Informationen erhofft man sich im Laufe der Aufräumungs- und Wiederaufbauarbeiten. Eine Mahnwache für die Opfer ist für Donnerstag, 20 Uhr, auf dem Pioneer Courthouse Square geplant.
ROCHESTER OBSERVER
Geheimnisvolle Gestalt inmitten der Katastrophe
Verschwörungstheorien verbreiten sich wie ein Lauffeuer, während sich Berichte über eine dunkle Gestalt häufen
Von Carl Adams
ROCHESTER, 7. DEZEMBER: »Überall herrschte Chaos«, sagt Brendan Peterson aus Sutton, Minnesota, einer der Überlebenden des Angriffs auf Minneapolis, der Anfang des Jahres fast 85 000 Menschenleben gefordert hat. Er war direkt im Zentrum der Verwüstung und beschreibt einen Höllensturm und herumfliegenden Schutt. »Eine Frau ist direkt vor meinen Augen in Stücke gerissen worden«, berichtet er mit zitternden Händen. »So etwas habe ich noch nie gesehen, niemals, nicht einmal in Filmen.«
Brendan bezeichnet die Tatsache, dass er überlebt hat, als »reines Glück«, und er steht mit dieser Meinung nicht allein. Mehrere Überlebende, die sich ausführlicher geäußert haben, wussten von ähnlichen Horrorgeschichten zu berichten, eine grässlicher als die andere. Aber alle haben eines gemeinsam: die Gestalt eines Mannes, der völlig ungerührt mitten durch den Ort der Verwüstung schreitet.
»Ich schätze, es könnte auch eine Frau gewesen sein«, sagt George Williams, ebenfalls Einwohner von Sutton und Nachbar von Brendan Peterson. »Aber es war eindeutig ein Mensch. So etwas Gruseliges habe ich noch nie gesehen.«
Die Katastrophe wurde von der amerikanischen Regierung als »Angriff« gewertet, wobei völlig unklar ist, wer die Schuldigen sind. Im Internet kursieren diverse Theorien, manche halbwegs plausibel (Terroristen, Agenten einer feindlichen ausländischen Regierung), andere haarsträubend absurd (Aliens, eine zornige Gottheit).
»Er war nicht gut zu erkennen«, stellt Brendan später klar, als er die mysteriöse Gestalt von Minneapolis näher beschreibt. »Dunkel von Kopf bis Fuß. Ich bin nicht verrückt. Ich weiß, was ich gesehen habe.«