Buch

Dan war der erste Junge, den Ali geliebt hat. Der erste Junge, der ihr eine Musikkassette aufnahm. Aber das ist dreißig Jahre her, und Ali hat schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Genauso wenig wie an den Tag, an dem sie ihr altes Leben als Teenager überstürzt hinter sich lassen musste. Bis sie eine Nachricht von Dan erhält. Er hat ihr ein Lied aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit geschickt, Elvis Costellos »Pump It Up«. Für einen kostbaren Moment ist Ali keine mitten im Leben stehende, verheiratete Frau von fünfzig Jahren mit zwei temperamentvollen Töchtern. Es ist wieder 1978, sie ist sechzehn und zurück in ihrer Heimatstadt Sheffield, tanzend in viel zu engen Jeans. Sie kann nicht anders, als ihm ihrerseits mit einem Lied zu antworten, »Picture This« von Blondie. Und irgendwie ist es so, als würden die vielen Jahre, die zwischen ihnen stehen, dahinschmelzen. Bis sie sich schließlich einer Frage stellen müssen: Was, wenn all das, was hätte sein können, noch vor ihnen liegt?

Alis und Dans Songliste auf Spotify:

www.goldmann-verlag.de/schönstezeit

Autorin

Jane Sanderson ist Journalistin und Schriftstellerin. Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, war sie lange Zeit als Produzentin für den renommierten Hörfunksender BBC Radio 4 tätig. Die Autorin lebt mit ihrem Mann auf dem Land in Herefordshire, das Paar hat drei Kinder und besitzt ein Hausboot in London.

Jane Sanderson

Das war

die schönste Zeit

Aus dem Englischen

von Jörn Ingwersen

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Mix Tape« bei Bantam Press, an imprint of Transworld Publishers.


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Deutsche Erstveröffentlichung August 2020

Copyright © der Originalausgabe 2020 by Jane Sanderson

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Ann-Catherine Geuder

MR · Herstellung: ik

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-25100-0
V004


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Für Melanie

1

SHEFFIELD,

23. DEZEMBER 1978

Da gehen die beiden, ganz zu Anfang, als sie noch jung waren: Daniel Lawrence und Alison Connor. Er ist achtzehn, sie sechzehn. Es ist Samstagabend, und sie schlendern durch die winterlichen Straßen von Sheffield, auf dem Weg zu Kev Carters Weihnachtsparty. Sie haben noch nicht viel gesagt, seit er sie vom Bus abgeholt hat, doch sie sind sich beide der Gegenwart des anderen mehr als bewusst. Ihre Hand in seiner fühlt sich viel zu gut an, als dass es nur irgendeine Hand sein könnte, und während er so neben ihr läuft, wird ihr Mund ganz trocken, und ihr Herz schlägt viel zu schnell, pocht viel zu laut. Seite an Seite gehen sie auf dem Bürgersteig. Es ist nicht weit von der Haltestelle bis zu Kevs Haus, und schon bald ist die Stille zwischen ihnen von lauter Musik erfüllt. Er sieht zu ihr herab, so wie sie zu ihm aufblickt, und beide lächeln. Mit einem Mal spürt er dieses reine Verlangen, wie immer, wenn Alison ihn ansieht, und sie … nun, sie könnte nicht sagen, ob sie im Leben je glücklicher war.

Kevs Haustür stand offen, hieß den Abend willkommen. Musik kam ihnen entgegen, und Licht fiel auf das Unkraut und die kaputten Gehwegplatten, die durch den Garten führten. Kev war Daniels Freund, nicht Alisons – sie besuchten nicht dieselbe Schule. Auf dem Weg ins Haus ließ sie sich etwas zurückfallen, damit es aussah, als würde Daniel sie hinter sich herziehen. Sie genoss das Gefühl, von diesem Jungen ins Haus geführt zu werden. Alle sollten sehen, dass sie ihm gehörte und er ihr. Im Kassettendeck lief Blondie, »Picture This« – viel zu laut, sodass der Bass zerrte und vibrierte. Alison mochte den Song. Am liebsten wäre sie gleich ihren Mantel losgeworden, sie wollte sich was zu trinken holen und tanzen. Doch schon im nächsten Augenblick ließ Daniel ihre Hand los, um Kev zuzuwinken. Er brüllte gegen die Musik an und lachte über Kevs Antwort. Dann nickte er Rob Marsden zu, sagte: »Alles klar bei dir?«, und lächelte Tracey Clarke an, die vielsagend grinste. Sie stand an eine Wand gelehnt, allein, bei der Küchentür, als wartete sie auf den Bus. Kippe in der einen Hand, Dose Strongbow in der anderen. Dunkelblondes Haar mit Farrah-Fawcett-Locken, pflaumenfarbener Lippenstift und kajalgeschminkte Augen. Sie bedachte Alison mit einem kühlen, nachdenklichen Blick, nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und blies den Rauch zur Seite aus.

»Hast du was mit ihm?«, fragte sie und deutete mit dem Kopf in Daniels Richtung. Tracey – älter und weiser, kein jungfräuliches Schulmädchen mehr – verdiente schon eigenes Geld und hatte einen Freund mit Auto. Das war alles, was Alison über sie wusste. Unwillkürlich wurde sie rot.

»Ja«, sagte sie verlegen, »hab ich.« Daniel war inzwischen außer Reichweite, also starrte Alison nur konzentriert seinen dunklen Hinterkopf an, in der Hoffnung, dass er sich zu ihr umdrehte. Höhnisch grinsend zog Tracey eine Augenbraue hoch. Rauch hing zwischen ihnen in der Luft. Alisons Schuhe brachten sie um.

»Dann pass mal gut auf ihn auf«, sagte Tracey. »Der ist gefragt.« Es folgte ein kurzer Moment des Schweigens, weil Alison nichts erwiderte, dann zuckte Tracey mit den Schultern. »Getränke gibt’s da drinnen.«

Sie meinte die Küche hinter ihr, und durch die offene Tür sah Alison einen Haufen Leute, die sich um einen grünen Resopal-Tisch drängten, auf dem eine Unmenge Flaschen, Knabberkram und Plastikbecher standen. Sie flüchtete vor der leicht boshaften Aufmerksamkeit dieser Tracey und schob sich hinein. Daniel hätte ihr ruhig was zu trinken besorgen können, dachte Alison. Aber na ja, im Gegensatz zu ihr kannte er hier Hinz und Kunz, und die wollten halt alle was von ihm. Jetzt lief Jilted John vom Band, sodass plötzlich alle mitsangen, aber keiner mehr tanzte, und hinter Alison drängten noch mehr Leute in die winzige Küche. Sie sah kein einziges vertrautes Gesicht, und das, obwohl es hier so voll war. Sie schob sich zum Tisch mit den Getränken durch. Es roch nach Zigarettenqualm und Cider, und plötzlich nach Old Spice.

»Alles okay bei dir, Alison?«

Sie drehte sich um und sah Stu Watson. Mit seiner Jeansjacke und Joe Strummers mürrischer Miene auf dem T-Shirt wirkte er peinlich um Verwegenheit bemüht. Jede Wette, dass er keinen einzigen Song von The Clash kannte. Aber dennoch freute sie sich, endlich jemand Vertrautes zu sehen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte Stu sie bewundernd.

»Du siehst jedenfalls ganz okay aus«, sagte er.

»Na, und du ziemlich besoffen, Stu.«

»Eben erst gekommen?«

»Scheint so«, sagte sie und deutete auf ihren Mantel. »Du bist offensichtlich schon ein Weilchen da.«

»Der frühe Vogel eben«, sagte Stu. »Was trinkst du?«

»Noch nichts. Martini. Schätze ich.«

Stu zog eine Grimasse. »Wie kannst du den Scheiß bloß trinken? Schmeckt doch wie Medizin.«

Alison ignorierte ihn. Ihr war heiß, aber sie wusste nicht, wo sie ihren Mantel ablegen sollte, also ließ sie ihn ein Stück weit über die Schulter gleiten. Schon wanderte Stus Blick über ihre nackte Haut. Alison sah sich nach Daniel um. Er stand noch immer drüben im Wohnzimmer. Allerdings suchte er gar nicht nach ihr, wie sie gehofft hatte, sondern unterhielt sich mit einem anderen Mädchen. Mandy Phillips. Alison kannte sie aus dem Schulbus. Klein wie ein Kind, hennarote Locken, Elfennäschen. Sie blickte unentwegt zu Daniel auf, sonnte sich im Licht seiner Aufmerksamkeit. Er hielt die Arme verschränkt und ja, er stand zwar ein kleines Stück von Mandy entfernt, und doch schien es Alison, als könnte er sich kaum an ihr sattsehen. Alison beobachtete, wie Mandy Daniel an der Schulter zu sich herabzog, ihre zarte Hand an sein Ohr hielt und ihm etwas zuflüsterte. Daniel schenkte ihr sein typisches Lächeln: zögerlich, im Grunde nur ein halbes Lächeln. Ein paar Haarsträhnen fielen ihm vor die Augen, und Alison hätte sie am liebsten zurückgestrichen.

Stu folgte ihrem Blick. »Mein Name ist Mandy, und ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug«, sagte er. »Wohl eher einen angenehmen Fick

»Ach, verpiss dich, Stu«, sagte Alison. Sie griff sich eine Flasche Martini Rosso vom Tisch, schenkte sich einen Becher voll und nahm einen großen Schluck. Er hatte recht, das Zeug war wirklich eklig bitter. Aber auch sehr vertraut. Also nahm sie noch einen Schluck. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über den Mund, stellte ihren Becher auf den Tisch und zog ihren Mantel aus, hängte ihn über einen Stuhl. Sie trug eine Wrangler-Jeans, mit der sie extra in der Wanne gelegen hatte, damit sie hauteng saß, und eine neue Bluse, die gut aussah, sogar verdammt gut, das wusste sie. Schließlich hatte sie sich lange genug im Schlafzimmerspiegel betrachtet. Die Bluse war weiß und fühlte sich an wie Satin, und auf dem Weg zum Bus hatte Alison sie noch ein Stückchen weiter aufgeknöpft. Stu konnte den Blick gar nicht mehr von ihr wenden. Doch sie ließ ihn einfach stehen, nahm ihren Becher und schob sich durch die Menge, raus aus der Küche.

Alison unterhielt sich mit Stu Watson, diesem fiesen Frettchen, diesem Widerling mit den gierigen Augen, der seine Finger nicht bei sich behalten konnte. Daniel sah die beiden in der Küche stehen, aber er kam nicht weg von Mandy Phillips. Die blöde Kuh ließ gerade ein paar Tränchen kullern, während sie ihm erzählte, wie Kev Carter mit ihr Schluss gemacht hatte, heute Abend, auf seiner eigenen Party, der Scheißkerl. So ging es Daniel oft. Mädchen schütteten ihm ihr Herz aus. Er musste sie nicht dazu ermutigen, sie witterten einfach etwas an ihm, von dem er selbst nicht wusste, was es war, und dann hörten sie nicht mehr auf zu reden. Alison Connor war anders. Vor ein paar Tagen hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde, und sie hatte Ja gesagt. Nur dass sie in den kurzen Momenten, in denen sie seither zusammen gewesen waren, kaum einen Satz mit ihm gewechselt hatte. Dennoch wollte er sie an seiner Seite haben, wusste irgendwie, dass sie etwas Besonderes war. Aber mit diesem blöden Stu Watson hatte sie in der Küche jetzt schon länger geredet als jemals mit ihm. Mittlerweile war Mandy beim zweiten Durchgang derselben traurigen Geschichte, und es wurde immer deutlicher, worauf sie hinauswollte: erst ein verführerischer Blick, dann ein Kuss, die Aussicht auf mehr. Kev alberte derweil mit ein paar anderen herum, doch plötzlich sah er herüber und hielt den Daumen hoch, als wäre Daniel auf seine abgelegten Freundinnen angewiesen. Für Kev Carter war das Leben nur ein Spiel. Natürlich hatte er Mandy heute Abend abgeschossen – er hatte einen Sinn für Dramatik, und wo blieb der Spaß, wenn man schon vorher wusste, wem man später ins Höschen greifen würde?

Jetzt plärrte »Night Fever« aus den Lautsprechern, und Mandy fing an, ihre Schultern im Rhythmus der Musik zu wiegen. Mitten im Zimmer übte ein Gruppe Mädchen Seite an Seite Travolta-Moves, während ein paar Jungs lachend versuchten, es ihnen nachzumachen. Mandy zog an Daniels Schulter, und er beugte sich zu ihr vor, damit sie ihre kleine Hand an sein Ohr legen konnte.

Mit warmem Atem flüsterte sie ihm etwas ins Ohr, doch es war zu laut um sie herum, er verstand sie nicht.

Er richtete sich wieder auf und lächelte sie an. »Was?«

»Möchtest du …?« Sie stockte und erwiderte sein Lächeln. »Du weißt schon … tanzen?« Sie sagte »tanzen« auf eine Art und Weise, die weit, weit mehr andeutete. Keine Tränen mehr. Kev war längst vergessen.

»Nein«, sagte Daniel und wich zurück. Er sah zur Küche hinüber, suchte Alison, konnte sie aber nicht finden, und Stu auch nicht. Er hätte bei ihr bleiben, ihr den Mantel abnehmen, ihr was zu trinken holen sollen. Wieso hatte er sich bloß von Mandy vollquatschen lassen?

»Echt nicht?«, fragte Mandy, diesmal laut genug, um sich gegen die Musik durchzusetzen.

Daniel war inzwischen voll damit beschäftigt, sich nach Alison umzusehen. »Nein, Mandy, ich möchte ganz bestimmt nicht mit dir tanzen.« Leise Panik machte sich in ihm breit, als er sich fragte, ob Alison überhaupt noch auf der Party war. Vielleicht war sie schon abgehauen. Er wünschte, er würde sie gut genug kennen, um zu wissen, wie sie tickte.

»Du bist so ein Arsch, Daniel Lawrence!«, kreischte Mandy und wollte ihm eine runterhauen, was ihr allerdings nicht gelang, weil sie zu betrunken war, und so erwischte sie ihn nur mit den Fingernägeln und zerkratzte ihm die Wange.

»Spinnst du?« Fassungslos starrte er sie an.

Verdächtig leicht brach sie in Tränen aus und wandte sich ab, auf der Suche nach einer anderen Schulter, an der sie sich ausheulen konnte. Daniel strich über seine brennende Wange. Nicht zu fassen. Und er hatte noch nicht mal ein Bier gehabt. Tolle Party. Als er sich eben auf den Weg zur Küche machte, fanden die Bee Gees ein brutales Ende, weil Kev die Kassette aus dem Rekorder riss und eine andere einlegte. Mit einem Mal ertönte das drängende Schlagzeug-Bass-Intro von »Pump It Up«, und Daniel blieb wie angewurzelt stehen. Ehrfurchtsvoll wartete er darauf, dass Elvis Costellos Stimme ihren Weg an sein Ohr fand.

Und, o Gott, da entdeckte er sie. Alison. Sie tanzte allein in der Menge. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen und tanzte mit geschlossenen Augen, ohne ihre nackten Füße zu bewegen, auch wenn ansonsten der ganze Körper von der Musik gefangen war und ihre Arme wilde, wundervolle Formen über ihrem Kopf beschrieben. Sie tanzte wie niemand sonst. Andere versuchten, ihren Tanzstil zu kopieren. Doch immer wenn es ihnen fast gelang, änderte sie etwas, ließ sich von der Musik treiben, ohne sich dabei vom Fleck zu bewegen. Daniel betrachtete sie, war vollkommen fasziniert. Noch nie hatte er etwas gesehen, das so schön, so ungehemmt, so verdammt sexy war, in seinem ganzen Leben nicht.

2

EDINBURGH

10. OKTOBER 2012

Journalisten waren bei Gigs immer leicht zu erkennen. Standen ganz hinten, tranken nichts, taten, als hätten sie alles schon mal gehört und gesehen. Und dann verdrückten sie sich schnell, sobald das Konzert zu Ende war. Dan Lawrence war auch so einer, und nun stand er in der Queen’s Hall und hörte sich Bonnie »Prince« Billy an, der seine spröden, eingängigen Songs über den Tod der Liebe sang. Dan setzte sich nie hin. Man sollte bei Konzerten nicht sitzen. Es war kein Theater, kein Kino, es war Musik. Kurz nachdem er nach Edinburgh gezogen war, hatte er einmal eine Freikarte für Prefab Sprout in der Queen’s Hall bekommen und sich eingesperrt auf dem Balkon wiedergefunden, auf einem nummerierten Sitz. Er war trotzdem aufgestanden, hatte direkt auf die Köpfe der Band heruntergesehen und versucht, deren Setliste zu entziffern, die unter ihm auf dem Bühnenboden klebte. Heute aber stand er an seinem Lieblingsplatz, so nah wie möglich am Ausgang. Dan mochte Billy – diesen fusselbärtigen Countrysänger aus Louisville –, auch wenn man es seiner ausdruckslosen Miene nicht ansah. Er machte sich nicht mal Notizen, sog nur das in sich auf, worüber man gut schreiben konnte, während er gleichzeitig überlegte, was sich damit sonst noch anfangen ließe, im Tausch gegen Geld.

Hinterher trat er auf die Clerk Street hinaus. Er hielt weder nach bekannten Gesichtern Ausschau, noch gönnte er sich ein Bier. Katelin war sicher schon im Bett, schlief tief und fest, flach auf dem Rücken, die Arme über dem Kopf, wie ein Kind. Oft hatten Dan und Katelin einen gegensätzlichen Tagesrhythmus, und wenn er sich zu ihr ins Bett legte, half ihm ihr gleichmäßiger Atem in den Schlaf, wie ein sanftes Metronom. Sie rührte sich im Grunde nie. Schlief den Schlaf der Gerechten.

Er befand sich auf der falschen Seite von Edinburgh. Die Uhr zeigte schon halb zwölf, doch diese Stadt hatte etwas an sich, das ihn animierte, zu Fuß zu gehen, nicht den Bus zu nehmen oder ein Taxi anzuhalten. Diese Stadt war die architektonische Liebe seines Lebens, streng und imposant, aber zunehmend hip – steinalt und gleichzeitig modern. Im Vergleich zu Sheffield – dem Sheffield, das er Anfang der Achtziger hinter sich gelassen hatte – war Edinburgh eine Offenbarung. Zugegebenermaßen hatte Katelin ihn hierhergelockt, ohne die er diese Stadt möglicherweise weniger attraktiv gefunden hätte, aber trotzdem … Dan hatte sich hier sofort wohlgefühlt, und mittlerweile war Edinburgh sein Zuhause geworden.

Jetzt überquerte er die George IV Bridge, mit gesenktem Blick, die Hände tief in seiner Lederjacke vergraben, Ohrhörer drin, iPod auf Shuffle. Deshalb erschreckte er sich fast zu Tode, als ihn plötzlich jemand von hinten an der Schulter packte wie ein Polizist mit einem Haftbefehl.

»Meine Fresse, Duncan!«, rief Dan. Er riss sich die Stöpsel aus den Ohren. »Scheiße, willst du mich umbringen?«

Duncan lachte und schlug Dan zwischen die Schulterblätter. »Mann, ich renn dir schon eine halbe Meile hinterher, um dich einzuholen. Bist du auf der Flucht, oder was?«

»Will nur schnell nach Hause.«

»Warst du bei Bonny Billy?«

»Ja, du auch?«

»Jep, hab kurzfristig noch ’ne Freikarte gekriegt. Verdammt, der ist aber auch manchmal eine trübe Tasse, oder?«

»Sind wir das nicht alle?«

»Na, stimmt auch wieder. Hör mal …« Duncan streifte seinen Army-Rucksack von den Schultern, kramte in dessen Tiefen herum und holte eine CD heraus, ohne Cover, ohne Bild, nur eine Plastikhülle mit handschriftlicher Titelliste.

Dan lächelte. »Was hast du da?«, fragte er. »Das nächste große Ding? Mal wieder?«

»Willie Dundas, ein Fischer aus East Neuk, ob du’s glaubst oder nicht. Spielt Gitarre wie Rory Gallagher, singt wie John Martyn.«

»Schon klar.«

»Ungelogen. Hör’s dir an!«

Er gab Dan die CD. Duncan hatte ein feines Ohr für schrullige, horizonterweiternde Talente. Ständig lernte er in seinem schlecht laufenden Plattenladen an der Jeffrey Street irgendwelche Nerds kennen, die zu introvertiert waren, um sich selbst zu loben, und die zu Hause im stillen Kämmerlein Texte und Melodien schrieben, die ohne Duncan niemand jemals hören würde. Schon immer hatte er Dan mit seinen Entdeckungen belagert, dem das allerdings nichts ausmachte. Denn was war das Leben anderes als die ewige Suche nach dem einen perfekten Album, das noch in der Sammlung fehlte, aufgenommen von diesem einen Genie, das sonst keiner kannte? Dan ließ sich auf Duncans entspannteren Schritt ein, und so schlenderten sie nebeneinander durch die spätabendliche Stille der Altstadt von Edinburgh.

»Bock auf einen Single Malt?«, fragte Duncan.

»Schon mal auf die Uhr geguckt?«

»Ach, stell dich nicht so an. Du weißt doch, wenn man mit Duncan Lomax unterwegs ist, gibt es keine Sperrstunde.« Dan lachte. Duncan boxte ihn freundschaftlich. »Nur einen kleinen Absacker«, sagte er. »Kann doch nicht schaden, oder?«

Dan kam zu dem Schluss, dass es tatsächlich nicht schaden konnte, ganz und gar nicht, und so änderten sie ihren Kurs in Richtung Niddry Street, wo sie sich ins zwielichtige Whistle Binkies drückten – geöffnet bis drei Uhr nachts, jeden Abend Live-Musik und selbst um kurz nach Mitternacht noch ausgesprochen gut besucht.

Er war morgens um halb drei nach Hause gekommen und hatte sich leise reingeschlichen, mit der übertriebenen Vorsicht eines Angetrunkenen. Dennoch war McCulloch, der beherzte kleine Jack Russell, aufgewacht und hatte sein Körbchen mit der Schicksalsergebenheit eines ältlichen Dieners verlassen, um Dan ganz bis hinauf in sein Büro unterm Dach zu folgen. Der Raum verdiente kaum seinen Namen, mit seinen schrägen Wänden und diesem einen kleinen Fenster. Aber das zeigte zumindest nach Westen, sodass an wolkenlosen Abenden Sonnenlicht auf den dunklen Holzfußboden fiel. Mittendrin stand ein ramponierter Metallschreibtisch, darauf eine verstellbare Messinglampe aus einer alten Fabrik. Ein originaler Eames-Stuhl, schwarzes Leder, Metallrahmen. Plattenspieler, CD-Player und iPod-Dock. Drei speziell angefertigte Stahlschränke für LPs und Singles und ein vierter für CDs. Dan bewahrte auch alle seine Musikkassetten auf – es waren Hunderte –, aber die lagerte er im Keller in Plastikkisten. Eine Wand stand voller Bücher, an einer anderen hing eine riesige Weltkarte, und die dritte war von Erinnerungen übersät, die Dan allesamt am Herzen lagen. Ein signiertes Schwarz-Weiß-Foto von ihm und Siouxsie Sioux nach einem Gig in Manchester 1984. Ein offizielles gerahmtes Foto der Mannschaft von Sheffield Wednesday nach deren Finalsieg um den League Cup von 1991. Ein Werbeplakat der Amerika-Tour von Echo & The Bunnymen für ihr Album Evergreen. Die Tour, die er mitgemacht hatte, so richtig mitgemacht hatte, um die Bandgeschichte zu recherchieren und aufzuschreiben. Fotos von Alex, Filzer- und Kreidebilder von Alex und ein ausgiebig illustriertes Gedicht vom damals achtjährigen Alex, zum Vatertag:

Er spielt Gitarre, fährt das Auto, kauft mir manchmal Bienenstich.

Er spielt gern Fußball, steht im Tor, sein Lieblingsmensch bin ICH.

Fotos von Katelin mit Alex – wie sie ihn auf dem Arm hielt, wie sie ihn auf der Schaukel anschubste, wie sie seine Füße hielt, während er Kopfstand übte. Ein Foto von allen dreien, freudestrahlend an dem Abend, an dem Alex sein überragendes Abschlusszeugnis bekommen hatte. Und in der Mitte von allem ein Foto von Dan und Katelin, auf dem sie wie Kinder aussahen, vor einer Bougainvillea in einer schattigen Gasse von Cartagena. Sie blickten nicht in die Kamera, sondern lächelten einander an, wie zwei, die über einen heimlichen Scherz lachten. Damals kannten sie sich noch kaum. Dan wusste nicht einmal mehr, wer das Foto eigentlich aufgenommen hatte.

Am Schreibtisch sitzend ließ er den Blick über seine Vergangenheit schweifen. Diese Wand erzählte die Geschichte seines Lebens, gab ihm Halt hier in ihrem Haus in Stockbridge, mit dem langen, schmalen Garten, dem Fahrradschuppen, der Haustür in Sheffield-Wednesday-Blau. Anfangs hatten Katelin und er sich schwer damit getan, sich irgendwo richtig niederzulassen. In fünf Jahren waren sie genau fünfmal umgezogen. Doch dann hatte er eine detailbesessene Geschichte des New Musical Express verfasst und dafür einen in der Branche ungewöhnlich hohen Vorschuss bekommen. Mit einem Mal war die Zeit des Lotterlebens vorbei – die Zeit der Matratzen auf dem Boden, des Schimmels an der Decke, der nackten Glühbirnen, des Wandteppichs vor dem Schlafzimmerfenster, der permanent für schummeriges Licht sorgte. Aber, verdammt, es war eine tolle Zeit gewesen. Katelin studierte damals Spanisch an der Uni, und Dan verbrachte seine Tage damit, unaufgefordert Musikkritiken für den Scotsman zu schreiben. Sie lebten von Katelins Studienbeihilfe und dem gelegentlichen Zehner, den Dan mit seinen Artikeln verdiente. Kennengelernt hatten sie sich in Kolumbien, in einer Bar in Bogotá. Damals war Katelin absolut unerschrocken gewesen, ein stämmiges rothaariges Mädchen aus Coleraine mit milchweißer Haut, selbst noch nach zwei Monaten in Südamerika. Sie sprach fließend Spanisch, trank wie ein Bauarbeiter, und wenn sie einen im Tee hatte, sang sie schmutzige irische Lieder – »Schmuddelballaden« sagte sie dazu. Zum ersten Mal, seit er im Land war, genoss Dan seinen Aufenthalt.

Sie hielten Kontakt. Katelin war wieder zurück an die Uni gegangen, um im September ihren Abschluss zu machen, und Dan hatte seine Eltern in Sheffield besucht, um diese über seine Zukunftspläne in Kenntnis zu setzen. Dann trampte und wanderte er mit seinem Rucksack und der Gitarre auf dem Rücken den ganzen Weg bis nach Edinburgh. Als er an die Tür von Katelins Wohnung in der Marchmont Road klopfte, hatte er Löcher in den Turnschuhen, Blasen an den Füßen und seit anderthalb Tagen nichts gegessen. Er hatte dort gestanden, benommen, halb verhungert, und in den zwei Minuten, die sie brauchte, um zur Tür zu kommen, zog er zum ersten Mal die Möglichkeit in Betracht, dass sie vielleicht entsetzt sein würde, ihn zu sehen, oder aber dass sie – schlimmer noch – gar nicht wirklich existierte. Doch dann ging die Tür auf, und Katelin stand da, in Fleisch und Blut, genau so, wie Dan sie in Erinnerung hatte. Sie lächelte und sagte: »Du hast ganz schön lange gebraucht«, und damit war alles klar.

Das war inzwischen lange her – sehr, sehr lange. Dan saß am Schreibtisch, hoch oben in seinem Turm, morgens um kurz vor drei, und ließ seinen von Whisky befeuerten Gedanken freien Lauf. Darüber, mit welch unfassbar grausamer Geschwindigkeit die Zeit verging. Er war auf dem besten Wege, melancholisch zu werden, als ihm gerade noch rechtzeitig Willie Dundas einfiel. Er zog die Scheibe aus seiner Jackentasche, schob sie in den CD-Player, und augenblicklich war das kleine Büro erfüllt von einem Gitarrenintro, das Dan grinsen ließ: erst ein einzelner Akkord, der in der Luft hing wie ein Versprechen, dann ein schnelles, bluesiges Riff und schließlich Willies Stimme, tief, weich, gefühlvoll, er nuschelte wie betrunken, als hätte er kaum noch die Kraft, sich zu artikulieren. Dieser Fischer war schon irgendwie genial – aber das hatte Dan mit Duncans Entdeckungen schon öfter erlebt. Meist waren diese Künstler dermaßen integer, dass man sie kaum aus ihrem Schlafzimmer, ihrem Schuppen oder eben ihrer Fischerhütte locken konnte. Dan ließ die Musik laufen, während er den Mac hochfuhr, um noch mal kurz bei Twitter reinzuschauen, falls es was Neues gab, und er stellte sich Willie Dundas vor, wie dieser auf seinem Kutter draußen auf der Nordsee sang. Ob man den Mann wohl dazu überreden konnte, vor lauter Fremden in einem Laden wie dem Whistle Binkies zu singen?

Twitter erstrahlte hellblau auf dem Bildschirm, und eine Flut von Tweets erschien in ihrer ganzen egomanen Pracht und Herrlichkeit. Achtundzwanzig Benachrichtigungen von Leuten, mit denen Dan kaum etwas zu tun hatte. Sieben persönliche Nachrichten von Leuten, die er tatsächlich kannte, aber nichts, worum er sich morgens um drei kümmern musste. Man sollte besser aufpassen, dass man nicht einsam wirkte, wenn man mitten in der Nacht antwortete, unter dem Einfluss von Laphroaig. Beiläufig scrollte er durch den Nachrichtensumpf, mit dieser müden Gleichgültigkeit, die Twitter immer bei ihm auslöste, und eben wollte er den Computer schon herunterfahren und ins Bett gehen, als eine neue Meldung auf dem Bildschirm blinkte. Kev Carter. Kevs Nachrichten waren immer lesenswert, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dan beugte sich dichter an den Bildschirm heran, dann wich er abrupt zurück, als hätte man ihm einen Schlag versetzt.

Hey Mann @DanLawrenceMusic kennst du noch Alison Connor? Guck mal, was die so treibt … voll berühmt!

@CarterK9

@AliConnorWriter

Alison Connor. Wow. Dan starrte ihr Foto an.

Alison Connor.

Alison Connor.

@AliConnorWriter.

Zum ersten Mal seit bestimmt dreißig Jahren sah er sie wieder. Großer Gott. Sie sah noch ganz genauso aus: älter natürlich, aber sonst genauso. Er klickte ihren Namen an, und ihre Seite baute sich auf. Dann klickte er auf ihr Foto. Es füllte den Bildschirm aus. Sein Mund wurde ganz trocken, was ihn doch erstaunte, denn immerhin war es drei Jahrzehnte her, dass er sich Alison Connor aus dem Kopf geschlagen hatte. Aber sie sah immer noch genauso süß aus, so klug, so verletzlich irgendwie. Großer Gott. Er betrachtete ihr Gesicht. Ja, sie sah einfach unglaublich aus. Er klickte zurück zu ihrem Profil.

@AliConnorWriter

Schreibe meine Bücher, höre meine Songs, freue mich des Lebens.

Adelaide, SA

Beigetreten November 2011

Dan lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. Er dachte über die Welt nach, in der nicht nur er lebte, sondern tatsächlich auch Alison Connor. Offenbar war sie nach Südaustralien gezogen und Bestsellerautorin geworden, wenn man den Zahlen glauben durfte.

»Meine Güte, Dan, was machst du denn um diese Zeit noch am Computer?«

Katelin war aus dem warmen Bett gestiegen und die Treppe heraufgekommen. Jetzt stand sie in der Tür und musterte ihn, offensichtlich leicht verstimmt. Er hatte sie gar nicht gehört. Sofort bekam er ein seltsam schlechtes Gewissen und ging in die Defensive.

»Ach, alles Mögliche«, erwiderte er. »Während die einen schlafen, ist die andere Hälfte der Menschheit wach.«

»Ich schlafe nicht, Dan. Deine Musik hat sich in meine Träume geschlichen.«

»Oh, entschuldige. Hab ich dich geweckt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, nein, ich musste aufs Klo, aber als ich wach war, konnte ich die Musik hören.« Sie fuhr sich mit einer Hand durch ihre Haare, die jetzt kreuz und quer abstanden, und sie sah tatsächlich etwas komisch aus, mit ihrer leicht mürrischen Miene und ihrem karierten Pyjama.

»Okay«, sagte er. »Tut mir leid. Willie Dundas, Fischer aus East Neuk.«

»Ganz toll. Machst du aus und kommst ins Bett?«

»Na klar.« Er sah sie lächelnd an, stellte seinen Mac jedoch keineswegs aus. »Ich will mir nur noch ein paar Sachen zu Bonnie Prince Billy aufschreiben.« Verdammt, dachte er. Warum lüge ich?

Sie verdrehte die Augen. »Jetzt? Im Ernst? Kann das nicht warten?«

»Noch fünf Minuten. Dann bin ich bei dir. Versprochen.«

»O Gott, McCulloch ist ja auch hier oben!«

»Er ist mir hinterhergelaufen. Ich nehme ihn gleich mit runter.«

»Fünf Minuten.«

»Jep.«

Sie sah ihn an, als sei ihm nicht zu helfen, dann tappte sie wieder die Treppe hinab. Er sollte wirklich runtergehen. Er musste sich zu Bonnie Prince Billy nichts aufschreiben. Es gab keinen Grund, noch weiter hier oben zu bleiben, und er war hundemüde. Trotzdem blieb er da. Und dachte über @AliConnorWriter nach. Nur noch eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten. Es fiel ihm schwer, sich von ihr zu trennen, nachdem er sie gerade erst wiedergefunden hatte. Am Ende wurden daraus fast zehn Minuten, in denen er sich ihre Fotos ansah, sich durch ihre Tweets scrollte, ihren Namen googelte und eine Fülle von Informationen zum unaufhaltsamen Aufstieg der Ali Connor fand. Dann dachte er: scheiß drauf! Er ging noch mal zu ihrem Twitter-Account, klickte auf den Folgen-Button, klappte sein Notebook zu, stellte Willie Dundas aus und nahm McCulloch mit nach unten.