Cover

Das Buch

Einst waren Drachen die Herrscher der Erde und die Könige der Lüfte, aber das ist lange vorbei. Vern, ehemals unter dem Namen Lord Highfire verehrt und gefürchtet, ist der Letzte seiner Art. Desillusioniert und deprimiert hat er sich in die Sümpfe Louisianas zurückgezogen, wo er, von den Menschen unbemerkt, seine Tage mit Wodka und schlechten TV-Serien verbringt. Seine selbstgewählte Einsamkeit gerät jedoch in Gefahr, als er eines Tages dem fünfzehnjährigen Halbwaisen Squib Moreau begegnet. Gerade als der grummelige Vern beginnt, sich mit Squibs Anwesenheit in seinem Leben abzufinden, gerät dieser dem korrupten Polizisten Regence Hooke in die Hände. Vern beschließt, dass es an der Zeit ist, den Menschen eine Lektion zu erteilen. Schließlich ist er immer noch der mächtigste Drachenlord, den es je gegeben hat …

Der Autor

Eoin Colfer wurde 1965 in Wexford, einer Küstenstadt im Südosten Irlands, geboren. Nach seinem Studium in Dublin kehrte er in seinen Heimatort zurück und arbeitete als Grundschullehrer. Mit seiner international gefeierten Jugendbuchserie Artemis Fowl gelang ihm der Durchbruch als Schriftsteller. Seine Bücher erscheinen in vierundvierzig Ländern und wurden bislang weltweit über achtzehn Millionen Mal verkauft. 2004 erhielt er den »Deutschen Bücherpreis«. Highfire ist sein erster Fantasy-Roman für Erwachsene. Eoin Colfer lebt mit seiner Familie in Wexford.

Eoin Colfer

HIGH

FIRE

KÖNIG DER LÜFTE

ROMAN

Aus dem Englischen übersetzt von Marcel Aubron-Bülles

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

HIGHFIRE

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Deutsche Erstausgabe 05/2021

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2020 by Eoin Colfer

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der

Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat GbR, München,

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-25134-5
V001

www.heyne.de

1

Kurz gesagt, Vern traute den Menschen nicht. Nicht einem. Er hatte in seinem Leben viele kennengelernt und einige wenige sogar gemocht, aber am Ende hatten sie ihn alle an den geifernden Mob verraten. Deshalb versteckte er sich im Honey-Island-Sumpf, und hier war er sicher.

Vern kam mit dem Sumpf klar, wie man mit ihm nach all der Zeit klarkommen konnte. Verdammt, diese langen Jahre reihten sich aneinander wie die Ziegel der Straße, die der gute alte König Darius vor langer Zeit, irgendwann vor Christi Geburt, hatte legen lassen. Komisch, dass all das aus heiterem Himmel wieder auftauchte, wie diese alte persische Straße. Er konnte sich kaum an letzte Woche erinnern, und dann blitzten vor seinem geistigen Auge Erinnerungen auf, die Tausende von Jahren zurückreichten – Pi mal Daumen. Vern hatte die Hälfte der Ziegel selbst gebrannt, als für ihn ordentliche Maloche noch infrage gekommen war. Hätte ihn fast den eigenen Verbrennungsmotor gekostet. Wegen dieses Scheißjobs hatte er sich zwei Stadien früher als geplant gehäutet, was an der Arbeit und seiner Kost gelegen hatte. Damals hatte niemand Ahnung von Ernährung gehabt. Heute ernährte sich Vern grundsätzlich ketogen, fettreich, und nahm wenig Kohlehydrate zu sich, abgesehen von seinen geliebten Frühstücksflocken. Für einen Drachen ergab die Keto-Diät natürlich Sinn, vor allem bei seiner Kerntemperatur. Bedauerlicherweise bedeutete das, dass Bier für ihn nicht mehr infrage kam, aber er behalf sich mit Wodka. Absolut war seine Lieblingsmarke: ein paar Umdrehungen zu viel, aber äußerst verträglich. Und Waxman lieferte es ihm gleich kistenweise.

Also ertrug Vern den Sumpf. Es war nicht gerade glorreich, aber die glorreichen Zeiten waren ja schon lange Vergangenheit. Einst nannte man ihn Wyvern, Lord Highfire vom Drachenhorst derer von Highfire. So einen melodramatisch-dämlichen Namen konnte man ja kaum ernst nehmen. Jetzt war er der König von Rein Gar Nichts in Drecksschlammhausen, Louisiana. Aber er hatte schon an schlimmeren Orten gelebt. Das Wasser war angenehm kühl, und die Alligatoren taten meist, was er ihnen sagte.

Wenn ich euch Pissnelken sage, ihr sollt tanzen, dann solltet ihr mal zackzack an eurer Choreo arbeiten, gab Vern ihnen häufig in wenigen Worten zu verstehen. Es war wirklich erstaunlich, was gewöhnliche Alligatoren zustande brachten, wenn sie erst mal richtig motiviert waren.

Also verlebte er seine Tage im Bayou, passte sich den Gegebenheiten an und hielt sich windabgewandt von den Sumpfausflüglern. Natürlich gab es Tage, an denen er sich danach sehnte, richtig einen draufzumachen und einen Kahn dieser fotografierwütigen Schwachköpfe zu rösten. Aber wenn er den Touristen einheizte, dann würde man ihm die Hölle heißmachen, und Vern hätte nicht sein reifes Alter erreicht, wenn er ständig Aufmerksamkeit erregt hätte. Wer sich selbst die Zielscheibe auf den Schädel tackerte, war Verns Meinung nach ein Idiot. Und seine Meinung war die einzige, die seiner Meinung nach zählte. Schließlich war Vern seines Wissens der Letzte seiner Art. Und wenn das der Fall war, dann war er es seiner Spezies schuldig, so lange wie möglich am Leben zu bleiben.

Er fühlte sich im Augenblick auch nicht gerade selbstmordgefährdet. Das kam zwar häufiger vor, aber er hatte gelernt, sich achtsam zu verhalten. Bei seinen regelmäßigen Ausflügen zu den kleinen Köstlichkeiten des Sumpfs hatte er oft die Gelegenheit zur Meditation.

Aber der letzte Drache zu sein war schon eine ziemlich einsame Angelegenheit. Etwa fünfzig Prozent des Blues konnte Vern im Alkohol ertränken, doch es gab diese Nächte, in denen der Vollmond seine Handlanger auf dem Pearl River erhellte und Vern sich überlegte, sein Glück bei einem Alligatorweibchen zu suchen. Die standen alle Schlange bei ihrem König, weiß Gott! Und ein- oder zweimal hatte er es sogar zu ein wenig Schnüffeln im Schlick gebracht, und, nein, das war keine Anspielung. Es fühlte sich einfach nicht richtig an. Die Alligatoren mochten ihm auf dem DNA-Spektrum zwar nahe genug sein, aber egal, wie viel Wodka er konsumierte, Vern konnte nicht verleugnen, dass er eine dämlichere Spezies ausnutzte. Mal ganz davon abgesehen, dass Alligatoren keinerlei Charakter besaßen und hässlicher waren als die rückseitige Ansicht eines räudigen Kojoten.

Sie waren Kaltblüter. Sein Herz bestand aus flüssigem Feuer.

Solche Beziehungen funktionierten nie.

Vern verbrachte seine Nächte in einer Fischerhütte auf Boar Island, die Mitte des letzten Jahrhunderts verlassen worden war. Die Hütte stand ein wenig abseits des Ufers von einem der Nebenarme des Bayou und wurde langsam vom Würgegriff der sie umgebenden Mangrovenwälder zerquetscht, aber für die nächste Zeit würde es schon noch reichen. Vern hatte es sich mit einem Generator und den wichtigsten Annehmlichkeiten bequem gemacht. Er besaß eine kleine Kühltruhe, um seinen Absolut eiskalt zu halten, und einen Fernseher mit ordentlichem Programm. Waxman hatte von stromaufwärts die notwendigen Leitungen zur Außenwelt verlegt, sodass sich Vern nächtens bestens beschäftigen konnte.

Alles, was zählte, war, zu überleben, und zu überleben bedeutete entweder zu hundert Prozent in der Öffentlichkeit zu stehen oder gar nicht. So richtig gar nicht. Keine Kreditkarten, keine Handys. Keine Ausflüge nach Petit Bateau, keine Online-Präsenz. Vern hatte sich vor einiger Zeit einen Social-Media-Account eingerichtet, sich Draco Smaug genannt – was er ziemlich süß fand –, und dann einen Hintergrund für diese erfundene Persönlichkeit erfunden. Doch als Facebook anfing, standortbezogene Dienste einzubauen, und einige Herr der Ringe-Fans bohrende Fragen stellten, legte Vern den Account wieder lahm.

Manche Fehler machte man nur einmal.

Von da an begnügte er sich mit Reality Shows und dem Surfen im Netz. Alle Informationen, die Vern brauchte, gab es da draußen, und er musste sie nur noch suchen.

Doch niemand durfte ihn finden.

Niemals.

Denn wann immer Menschen ihn fanden, brach, um es mit den Worten des Maximus Decimus Meridius zu sagen, auf jeden Fall die Hölle los.

Da Vern die Hölle mit sich herumtrug, konnte er sie überleben.

Doch der Mensch, der ihn fand, würde das nicht.

Squib hatte mal einen Daddy gehabt.

Und Daddy hatte früher immer Dinge gesagt wie:

»Klau mir nicht heimlich die Dollars aus der Tasche, Squib, oder ich zieh dir das Fell über die Ohren.«

Und:

»Hast du mein Bier gesehen, Junge? Wehe, du schlürfst mein Budweiser, Squib, oder ich zieh dir das Fell über die Ohren.«

Oder:

»Warum kümmerst du dich nicht um deinen Kram, Squib? Steck deine Nase nicht in Angelegenheiten, die dich nichts angehen, oder ich zieh dir nicht nur das Fell über die Ohren.«

Es hatte nicht lange gedauert, bis Squib begriffen hatte, dass Daddys Sprichwörter meist damit endeten, dass jemand das Fell über die Ohren gezogen bekam. Squib vermutete, dass es wahrscheinlich an ihm selbst lag, weil er eben Probleme damit hatte, seine Nase aus den Angelegenheiten anderer Leute herauszuhalten.

Wir leben in einem freien Land, dachte er, also geht mich alles was an.

Doch dann verschwand Daddy, an Squibs dreizehntem Geburtstag. Seinem Jungen einen Optimus Prime zu kaufen, war ihm wohl zu viel Aufwand gewesen, und seitdem war sein Gequatsche nicht mehr relevant. Tatsächlich war sein Daddy nicht einmal Squibs richtiger Daddy gewesen, egal, wie sehr sich Squib das eingeredet hatte. Waxman, der auf der anderen Seite des Flusses auf einem Hausboot lebte, behauptete, dass Squibs echtem Daddy diese Welt über den Kopf gewachsen und der jetzige Typ einfach nur ein Schmarotzer war, der sich in ihr Leben gedrängt hatte, als Squib noch ein Hosenscheißer und seine hochverehrte Mutter in Schwierigkeiten gewesen war. So wie Waxman es ihm erzählt hatte, war sein Ersatzdaddy nichts weiter als ein gottverdammter Trottel, der ständig die Klappe aufriss und Scheiße von sich gab, die er im Angola oder einem anderen Hochsicherheitsgefängnis in Louisiana aufgeschnappt hatte. Zumindest ließen das die Tätowierungen vermuten, die sich aus den Tiefen seines T-Shirts seinen Nacken hinaufzogen.

»Du und Elodie, ihr seid besser dran ohne diesen nichtsnutzigen Verlierer«, sagte er zu Squib, als der Junge ihm seine Einkäufe lieferte. »Der konnte gerade mal den Text auf einer Zigarettenschachtel lesen. Hat bloß das gute Herz deiner Momma ausgenutzt.«

Waxman gab in der Regel auch nur dumpfen Bullshit von sich, wie man es in den Mangrovenwäldern des Bayou halt machte, aber damit traf er den Nagel auf den Kopf, vor allem, was Elodie anging.

Squibs Momma war definitiv eine gute Seele. Sie pflegte Leute den ganzen lieben Tag lang für zwei Dollar über dem Mindestlohn, und dann kam sie nach Hause, um sich um seinen delinquenten Arsch zu kümmern. Squib kannte diesen Begriff nur zu gut, delinquent, weil das oft genug auf seinem Zeugnis stand oder auf einem Anklageprotokoll.

Manchmal dachte er, er sollte um seiner Momma willen einen Gang zurückschalten und nicht mehr den bösen Jungen spielen. Er liebte sie nämlich sehr und war unglaublich wütend auf all die Arschlöcher, die ihr das Herz gebrochen hatten: erst mal auf seinen richtigen Daddy, der sich in dem Augenblick verpisst hatte, sobald sich Leute auf ihn verlassen hatten, und natürlich auf Möchtegern-Daddy, der gegangen war, nachdem er Elodies Herz ausgesaugt hatte – wie so eine Art Vampir, nur dass er Liebe gewollt hatte statt Blut.

Deswegen versuchte Squib, sich immer wieder zusammenzureißen. Und es klappte nie.

Tief innen drin konnte sich Squib eingestehen, dass ihm ein Daddy fehlte, selbst einer, der nur so tat als ob. Doch so was hätte er niemals ausgesprochen.

Denn Daddy soff Bier, als ob es ihn am Leben halten würde, nicht das Gegenteil. Daddy klaute das Kleingeld aus Mommas Kaffeedose und verschwendete es für Rubbellose.

Squib vermutete, dass er seinen Daddy geliebt hatte, zumindest ein bisschen. Selbst wenn Daddy jedes Mal, wenn er besoffen war, nach Squib schlug. Man kann ja nicht anders, als seine Familie zu lieben. Aber das hieß nicht, dass er ihn nicht auch hassen konnte. Als Möchtegern-Daddy schließlich seine Momma Elodie mit nichts mehr als einer leeren Kaffeedose und einer Menge Wettscheine zurückließ, deren Spur sich bis nach New Orleans zog und die Wettbürobesitzer nicht die geringsten Probleme damit hatten, die zu begleichenden Schulden auf sie zu übertragen, obwohl sie nur in einer eheähnlichen Gemeinschaft gelebt hatten, kannte Squibs Hass auf seinen Möchtegern-Daddy kein Ende und war für einen Jungen, auf dessen Kinn sich noch nicht mal der geringste Flaum eingestellt hatte, ziemlich beachtlich.

Squib hatte heute, zwei Jahre später, kaum Fortschritte zum Thema Flaum zu verzeichnen, aber immerhin war er knapp fünfzehn Zentimeter gewachsen und gab sich alle Mühe, den harten Kerl raushängen zu lassen, was ihm im zarten Alter von fünfzehn Jahren schon eine Menge Interesse seitens der Bullen eingebracht hatte. Es gab da einen Constable namens Regence Hooke, dem Squibs Momma in der Pearl Bar and Grill vor allen Leuten einen Korb verpasst hatte. Seit diesem Abend hatte Hook Squib auf dem Kieker und machte aus jeder noch so kleinen Beschwerde gegen den Minderjährigen eine persönliche Angelegenheit. Manchmal hatte Squib den Eindruck, dass jedes Mal, wenn er einen fahren ließ, der gute alte Regence an ihrer Tür klopfte und seiner Momma anbot, alle fünfe gerade sein zu lassen, wenn sie ihm nur ein klein wenig entgegenkam.

Drecksarsch Hooke, dachte Squib. Er wird damit nicht aufhören, bis es was zu vögeln gibt.

Tatsächlich hatte Regence Hooke Squib seinen Decknamen verpasst. Eigentlich hieß er nämlich Everett Moreau. Als Squib das erste Mal ins Polizeirevier musste, hatte Hooke gesagt: »›Moreau‹, wie der Doktor mit der Insel voller Freaks, hm, Junge? Bloß bist du nicht der Doktor, sondern einer von den Freaks.«

Die Geschichte mit seinem Spitznamen war passiert, als Squibs Möchtegern-Daddy noch in der Moreau-Baracke gepennt hatte und der junge Everett eines Nachts auf den See gefahren war, um mit einer Stange Dynamit ein paar Welse in die Luft zu jagen. Das Dynamit hatte er einem der Jungen aus der Schule abgekauft, dessen Vater zu Hause dafür einen Sicherheitsschrank hatte. Im Verlauf dieses Experiments war kein einziger Wels zu Schaden gekommen, aber Everett hatte es geschafft, sich sowohl den kleinen Finger seiner linken Hand als auch das Heck eines Kanus abzusprengen, das er sich für diese Nummer geliehen hatte. Regence Hook hatte schon auf ihn gewartet, als der notdürftig zusammengeflickte Junge aufs Revier gebracht worden war, dem man übertriebenerweise auch noch Handschellen angelegt hatte.

»Hab gehört, du wolltest mit Dynamit spielen, Junge«, hatte er zu ihm gesagt. »War wohl ein Schlag ins Wasser, du Knallfrosch.«

Tja.

Squib. Knallfrosch.

Pech.

Nach dieser Nacht hatte Everett Moreau nur noch neun Finger, dafür aber einen Spitznamen. Und da seine Momma Regence Hooke die Abfuhr verpasst hatte, kannte Hooke ihn nicht nur, er hatte nun auch jemanden, den er für seine Demütigung leiden lassen konnte. Squib war mit den Händen auf seinem Kopf auch wirklich leicht zu erkennen.

Squib Moreau im Alter von fünfzehn Jahren, ein echter Hingucker: ein dunkeläugiger, gewiefter Rabauke mit dem Cajun im Blut, dem Schlamm des Sumpfs unter den Fingernägeln und ohne die geringste Zukunft, außer er stellte sich an einen Barbecue-Grill oder schleppte Ziegelsteine in Slidell. Träume hatte er eine Menge, aber die meiste Zeit nicht den geringsten Plan. Er gab sich alle Mühe, nicht auf die schiefe Bahn zu geraten, aber auf geradem Wege schienen sich einfach nicht alle Rechnungen bezahlen zu lassen, trotz seiner drei Jobs und der Tatsache, dass seine Momma in der Petit-Bateau-Klinik und dem Slidell-Memorial-Krankenhaus ständig Extraschichten schob.

Aber die Welt war im Wandel, denn Squid hatte sich eine Chance geboten. An diesem Sommerabend, begleitet von den blutschlürfenden Moskitowolken, die über den trüben Gewässern des Sumpfs schwebten, und den Zypressen, die an den Ufern von Honey Island Wache standen, hatte sich Squib auf einen Deal eingelassen, der ihm und seiner Mutter ein wenig Spielraum verschaffte, um den Avancen von Regence Hooke zu begegnen, der sein Balzverhalten gegenüber Elodie Moreau in letzter Zeit eskalieren ließ. Es schien kein Tag zu vergehen, an dem er nicht an der Anlegestelle der Moreaus vorbeischaute – ein Bulle, der bis ans Ende einer unbefestigten Straße fuhr, und das mit verschissenen Ausreden.

Ruhestörung.

Schulschwänzen.

Landfriedensbruch.

Verkehrswidrige Überquerung einer Straße, um Himmels willen – jeder Dreck, der ihm einfiel. Und er hatte immer eine Flasche Schaumwein dabei, in der Kühlbox seines Chevys in blaue Kühlakkus gepackt. Schamesröte. Mommas Lieblingsgetränk. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Regence einen Fuß in der Tür hatte. Und dann war das Einzige, was ihm noch im Weg stand, eine Fliegengittertür. Eine Fliegengittertür war kein Hindernis, mit der sich ein brünftiger Hirsch wie Hooke aufhalten ließ. Squib wusste, dass sich seine Momma für den Constable nicht erwärmt hatte, so gar nicht, aber im Bayou waren die Nächte lang, und da Regence Hooke sein Revier mehr als deutlich markierte, ließen sich keine anderen Hunde mehr blicken.

»Regence könnte für uns sorgen, Junge«, sagte Elodie eines Nachts zu Squib, als ihre Augen nach einer langen Schicht in der Klinik fast von selbst zufielen. »Und er könnte dir mal den Kopf geraderücken. Der Herr weiß, dass ich es nicht kann.«

Squib wusste, dass seine Momma todmüde und verdammt deprimiert sein musste, wenn sie von Hooke auch nur als Möglichkeit redete. Vielleicht hatte sie einen ihrer Lieblingspatienten auf den letzten Stunden seiner Reise auf Gottes grüner Erde begleitet. Er wusste, dass der einzige Grund, aus dem Elodie Moreau ein solches Weltklassearschloch über ihre Türschwelle lassen würde, ihre Hoffnung war, dass er Squibs kriminelle Ader in den Griff bekam. Und dafür fühlte er sich verantwortlich. Manchmal träumte er davon, wie Constable Hooke und seine Momma sich in den Armen lagen, mit Küssen und so ’nem Zeug, und dann wachte er schweißgebadet auf. Was nichts mit der Hitze im Bayou zu tun hatte.

Also schwor Squib zum vielleicht hundertsten Mal, dass er sich in den Griff kriegen würde. Er schwor es ganz heiß und inniglich, und eins musste man ihm lassen: Für ihn war es jedes Mal ein heiliger Eid. Aber er war jung, und das bedeutete fehlbar. Kaum eine Woche später schwänzte Squib schon wieder die Schule.

So bin ich, das wurde ihm klar. Ich werde mich niemals ändern.

Als es wieder in die Schulferien ging, hatte er sich an Willard Carnahan von der Pearl Bar gewandt. Carnahan war vielleicht der einzige Mann in Louisiana, der sich im Sumpf besser auskannte als Squib, und daher bot der Junge seine starken Arme und seinen noch belastbareren Rücken dem Sumpfschmuggler an. Man einigte sich auf einen Probelauf. Heute Nacht sollte Squibs Lehrzeit beginnen.

Nur diesen Sommer, ermahnte sich Squib. Und nur Fusel oder Zigaretten. Maschinenteile vielleicht auch noch. Keine Drogen, keine Leute. Ich werde genug verdienen, um unsere Schuld abzubezahlen, und vielleicht können wir uns dann eine Wohnung in der Stadt leisten. Weit weg von Hooke und der Erinnerung an seinen miesen Möchtegern-Daddy.

Also schlich sich Squib hinaus in den Sumpf, ohne sich die Mühe zu machen, Elodie irgendwas davon zu erzählen. Die war wieder in der Klinik zur Nachtschicht und hätte ihn an die Wasserleitung gekettet, wenn sie gewusst hätte, mit wem er da gemeinsame Sache machte.

Er schob den Sperrholzkahn, den er mit einigen Tipps von Waxman selbst gebaut hatte, keine drei Meter von der Terrasse der Moreau’schen Flusshütte ins Wasser, entschied sich aber noch dagegen, den Außenbordmotor anzuschmeißen. Heute Nacht wird sich alles ändern, dachte er, während er seine kleine, flache Piroge gegen den Strom durch den Schlamm paddelte, der vom Damm ausgewaschen worden war, und nutzte die Rohrkolbenröhrichte als Deckung.

Ich habe ein schwarzes T-Shirt an und für den Notfall eine Packung Jerky dabei, dachte sich der neunfingrige Junge. Nix kann mehr schiefgehen.

Regence Hooke war ohne jeden Zweifel eine schillernde Persönlichkeit. Es gab praktisch kein Verbrechen, das er im Laufe seines Lebens nicht selbst begangen oder bei dem er nicht ein Auge zugedrückt hatte. Man kann mit Sicherheit sagen, dass er diesen Punkt seines Lebens nicht erreicht hatte, weil er ein braver Kirchengänger war oder Kekse für Afrika gebacken hatte. Hooke war über die Armee zur Polizei gekommen, und er war bei der Armee gelandet, weil sie ihm eine bessere Alternative schien als ein Bundesgefängnis. Andere Möglichkeiten hatte er damals nicht. Als der achtzehnjährige Regence vor einem Richter des Miami-Dade County gestanden hatte, musste der Gerichtsbeamte tief Luft holen, um alle Anklagepunkte vorlesen zu können. Dazu gehörten:

Verschwörung, Verletzung des Post- und Fernmeldegeheimnisses, Bedrohung, Bestechung eines Zeugen, schwerer Fahrzeugdiebstahl, Diebstahl (illegale Downloads), Besitz von Betäubungsmitteln mit Handelsabsicht, Körperverletzung und Behinderung der Justiz.

Der Richter reagierte auf diesen gefühlt endlosen Katalog mit dem Ausruf »Jesus, Maria und verfickter Josef, Junge«, was ihn im Grunde der Missachtung des eigenen Gerichts schuldig machte. Er bot dem jungen Regence zwei Möglichkeiten.

Die erste lautete: Armee.

Die zweite lautete: Baker Bundesgefängnis.

Regence entschied sich für A. Er verpflichtete sich bei der Armee, seine Unterlagen wurden versiegelt. Nach der Ausbildung schickte man ihn in die Ferne, wo er eine Menge Leute umbrachte und einige Jahrzehnte später mit einem Haufen Auszeichnungen zurückkehrte, um sich drei Bundestaaten westlicher in Petit Bateau, Louisiana, niederzulassen. Die kleine Gemeinde hieß den hochdekorierten Veteranen herzlich willkommen, da sie nicht die geringste Ahnung von den vielen und vielfältigen Sünden seiner Vergangenheit hatte.

Und mit gut vierzig Jahren war er nun der Constable seines kleinen Bezirks und fuhr in voller Straffreiheit in seinem eigenen Auto durch die Gegend. Regence konnte kaum fassen, wie rosig die Dinge für ihn aussahen. Sein Daddy hatte immer zu ihm gesagt: »Den Gerechten wird Gutes vergolten.« Daher betrachtete Regence jeden korrupten Dollar, den er sich in seine Brieftasche stopfte, als erhobenen Mittelfinger in Richtung seines toten Daddys, denn er war todsicher keiner der Gerechten.

Den Großteil seiner Einnahmen verdankte Regence Ivory Conti, der in New Orleans die Interessen des Los-Zetas-Kartells vertrat und ihn Besorgungen machen ließ. Auf Ivorys Lohnliste standen Dutzende Bullen, aber Regence kletterte die Erfolgsleiter verdammt schnell hoch. Das lag nicht nur an seiner unnachgiebigen Art, sondern auch an seiner Bereitschaft, alles über die Pontchartrain-Brücke zu transportieren, was in den Kofferraum seines Chevrolet Tahoe passte. Regence war es scheißegal, was Ivorys Leute bei ihm reinpackten, solange es nicht auslief oder tropfte oder als Beweismittel diente.

In der Nacht, in der unsere Erzählung beginnt, parkte Regence seinen Chevy an Bodi Irwins Bootshafen und fuhr mit seinem geliebten Kajütboot den Pearl River hinauf, um einen kleinen Plausch mit einem Typen zu halten, der in Ivorys Revier vor Kurzem richtig Mist gebaut hatte.

Es war bedauerlich, dass dieses Gespräch überhaupt stattfinden musste, weil der Kerl, mit dem er zu reden hatte, echt nützlich war – einzigartig sogar. Aber diese Angelegenheit für Ivory zu regeln, bedeutete für ihn auch, dass er eine Grenze überschritt. In diesem Fall würde er um einiges mehr als seine monatlichen zweitausendvierhundert Dollar verdienen.

Also, fick dich, Daddy, dachte Regence und raste in seinem Boot flussaufwärts. Der Aluminiumbug der Elodie schnitt sich eine Bahn durch die Algen.

Die Elodie.

Benannt nach dem Engel von einer Mutter, die diesen Kümmerling Squib ihren Sohn nannte.

Und so Christus sein Zeuge war, damit er würde sie bestimmt umstimmen.

Regence kannte seine Gepflogenheiten gut genug, um sich klarzumachen, dass er auf dem besten Weg war, von dieser Cajun-Kleinen besessen zu sein. Kleinen? Verdammt, sie war eine erwachsene Frau, die ihr Haltbarkeitsdatum schon längst überschritten und nichts anderes vorzuweisen hatte als diesen Idioten von Sohn. Und den hielt Hooke eher für eine Bürde als eine Bereicherung.

Sohnemann, das ist eine ganz dumme Idee, ermahnte er sich. Am Ende dieser Straße liegen nur Schmerzen und Leid.

Doch Regence hatte sein Verlangen nicht im Griff, und es ging ihm gar nicht so ums Handgreifliche. Hooke kannte eine Menge Hurenhäuser, die er regelmäßig mit seiner Anwesenheit beehrte. Sein Interesse an Elodie Moreau war nachhaltiger Natur.

Sie sollte sich glücklich schätzen, dass ich sie überhaupt eines Blickes würdige, dachte sich Constable Hooke mehrfach am Tag. Dieser Gedankengang änderte nichts daran, wie verärgert er darüber war, dass sein Balzverhalten keine erkennbaren Fortschritte einbrachte. Er war schlau genug, um die psychologischen Rahmenbedingungen der Situation zu ergreifen. Psychologie hieß in diesem Fall, dass er nicht befummeln durfte, was er befummeln wollte, aber auch ein Therapeut hätte ihm nicht helfen können, seine Bedürfnisse in den Griff zu bekommen.

Wenn sie mich nur nicht in aller Öffentlichkeit niedergemacht hätte. Als wäre ich eine Sumpfratte, die gerade an Land gerobbt wäre.

Regence war schon von anderen Frauen abgewiesen worden, hatte aber oft feststellen müssen, dass sie ihre Meinung änderten, wenn er ihnen eine andere Perspektive aufzeigte. Zum Beispiel morgens um vier in einer dunklen Gasse. Einmal hatte er gar nichts sagen müssen, sondern einfach nur den Kopf zur Seite geneigt und schief gepfiffen.

Aber Elodie. Sie war härter im Nehmen, so abschätzig wie sie ihn damals in der Pearl Bar gemustert hatte, kurz nachdem sie vor dem Revier zufällig aufeinandergetroffen waren. Sie hatte erschöpft vor einer Kaffeetasse gesessen und sogar noch den Krankenhauskittel ihrer letzten Nachtschicht getragen. Hooke hatte sie sich kurz angesehen und gedacht: Elodie ist völlig am Ende, vielleicht ist sie ja jetzt ein wenig zugänglicher. Also war er zu ihr geschlendert und mit den folgenden Worten rausgerückt: »Morgen, Schätzeken. Erinnern Sie sich an mich? Ich heiße Constable Hooke, und genau wie mein Namensvetter, der Captain, würde ich Sie gern mal an meinem Haken spielen lassen.«

Geschmackloser ging es kaum, aber Regence war nicht daran gewöhnt, mit Süßholzgeraspel Erfolge zu feiern. In der Regel reichte es schon, wenn er irgendwas sagte. Nur diesmal nicht. Elodie hob den Kopf, als ob die Last ihrer Sorgen die Tonnengrenze bei Weitem überschritten hätte. Sie starrte ihn mit diesen schokoladenbraunen Augen an und antwortete ihm, ein wenig lauter als notwendig, vor der gesamten Frühstückstruppe. Und ihre Worte lauteten: »Constable Hooke, ich habe die gesamte Nacht die Scheiße alter Männer aus Hygienebeuteln geschaufelt und würde mit hundertprozentiger Sicherheit lieber das für den Rest meines Lebens tun, als an ihrem Haken herumzuspielen.«

Eine ziemlich geistreiche Bemerkung, daran gab es keinen Zweifel. Die Leute in der Pearl lachten sich schlapp, und Regence ging mit einem roten Hals hinaus. Elodie hatte ihn seitdem freundlicher behandelt, aber die Scham brannte Regence immer noch unter dem Kragen.