Kapitel 2
Wissen Sie noch, wie Sie sich das Leben »im Alter« beziehungsweise als alter Mensch vorgestellt haben, als Sie ein kleines Kind waren? Wahrscheinlich gar nicht, oder? Ist es doch eine Segnung der Kindheit, vollkommen im Heute zu versinken. An morgen denken Kinder genauso selten wie an später – es sei denn, Weihnachten oder der eigene Geburtstag stehen vor der Tür. Sonst zählt das Leben im Hier und Jetzt. Wie also sollte man auch nur theoretisch in einer solch glücksseligen Momentversunkenheit ans Alter denken!?
Dennoch entwickeln bereits kleine Kinder ein erstes Gefühl fürs Alter. Besonders deutlich zeigt es sich, wenn Kinder gefragt werden, wie alt sie jemanden schätzen oder ab wann man für sie alt ist. Wer kennt das nicht aus eigener »leidvoller« Erfahrung? Wenn man als noch nicht mal Dreißigjähriger das erste Mal von einem Kind gesiezt wird, obwohl man sich doch selbst noch jung fühlt. Oder wenn man, sobald man einem Kind sein Alter verrät, meist in mitleidigem Ton zu hören bekommt: »Sooo alt bist du!?« Das ungesagt mitschwingende, aber durchaus gefühlte »Du Armer« oder auch »Dann bist du ja bald tot« sind wohl die ersten Anzeichen, dass man älter wird.
Es sind diese und viele weitere Momente, in denen einem klar wird, dass das Alter und das Altwerden bereits bei den ganz Kleinen eher negativ als positiv angesehen werden. Und: Wenn wir ehrlich sind, an bekannten Vorurteilen über alte Menschen mangelt es wahrlich nicht. Befragt man junge Erwachsene, was sie über das Alter beziehungsweise Altwerden denken, hört man nicht selten Folgendes:
»Man kann vieles nicht mehr machen, weil der Körper abbaut und immer mehr verfällt. Man wird gebrechlicher und kann sich immer schlechter bewegen.«
»Alte Leute sind andauernd krank, jede Woche beim Arzt und nur noch am Leiden.«
»Man wird vergesslich, kann sich schlecht an was erinnern, kriegt nicht mehr so viel mit.«
»Die tragen alle ’ne Brille, weil die nichts mehr sehen. Und brauchen alle Hörgeräte und Gehhilfen.«
»Ohne fremde Hilfe kriegen alte Leute nichts mehr hin.«
»Die werden immer faltiger, dicker, die Haare fallen aus.«
»Alte Leute riechen auch so komisch.«
»Irgendwann kommen die dann ins Altersheim, weil die nichts mehr allein hinbekommen. Und dann sterben die auch bald.«
Kein Wunder, dass man auf die Gegenfrage an Kinder »Freust du dich darauf, auch irgendwann mal alt zu sein?« meistens eine ablehnende Antwort erhält. Sie erraten diese sicherlich selbst. Und, ganz offen und ehrlich: Wer möchte es den Jungen verdenken? Als junger Mensch steht man in der Regel noch »voll im Saft«, und das einzige Zipperlein ist vielleicht der Kater nach einer ausgiebigen Feier am nächsten Morgen.
Der Blick, den wir Menschen insgesamt auf unsere Umwelt und unsere Mitmenschen bekommen, verändert sich, je älter wir werden. Er wird differenzierter. Und mit ihm verändert sich auch das Bild übers Alter und Altwerden. Verständlich, denn mit steigender Zahl an Lebensjahren weicht das sehr oberflächliche Bild, das sich meist nur aus der Beurteilung von Äußerlichkeiten zusammensetzt. Die eigenen Erfahrungen mit älteren Menschen werden mehr. Man spricht öfter mit ihnen, erfährt bisher unbekannte (oder unbeachtete) Dinge, nimmt mehr von ihnen, ihrem Leben, ihrer Sicht auf die Dinge wahr. Aber: Das Bild wird dadurch nicht per se positiver. Im Gegenteil.
Nicht selten hört man aus den Mündern junger Erwachsener und ebenso von Mittdreißigern oder Mittvierzigern Äußerungen wie:
»Alte Leute reden immer nur von früher und erzählen nur über sich, was sie damals gemacht haben.«
»Die wollen einem immer irgendwelche Ratschläge zu allem geben, weil sie alles besser wissen, obwohl die Welt heute ganz anders ist als damals, als die selbst jung waren.«
»Die kennen sich doch mit unseren Sachen gar nicht aus und interessieren sich auch nicht dafür.«
»Alte Leute sind stur, ignorant und meckern immer nur an allem und jedem herum.«
»Die interessieren sich doch nur noch für ihre Krankheiten.«
Interessant, oder? Klingt nach Altersdiskriminierung und ist es stellenweise sogar. Genauso wie Sätze wie dieser, der suggeriert, dass alte Leute mit Technik nicht umgehen können:
»Diese Software ist so einfach, dass selbst meine Großmutter sie benutzen könnte.«
Fragt man die Jungen, wie sie sich selbst beziehungsweise ihre Altersgenossen so einschätzten, hört man nicht selten Dinge wie:
»Wir sind offen, spontan, kreativ, neugierig. Wir engagieren uns, weil wir noch eine Zukunft haben.«
Ist die Welt so einfach? Zum Glück nicht. Befragt man ältere Menschen über die Jungen, dreht sich das von der Jugend über sich selbst gezeichnete Bild schnell in die andere Richtung.
»Die jungen Leute heute interessieren sich doch nur für sich selbst und ihr Handy.«
»Die sind total undankbar und nehmen keinen Rat an.«
»Ständig fotografieren sie sich selbst, ihr Essen oder unnützen Kram und nehmen andere gar nicht wahr.«
»Die haben keinen Respekt vor alten Leuten.«
»Die übernehmen keinerlei Verantwortung und suchen immer nur ihren Vorteil.«
»Die sind aufmüpfig, frech, wissen alles besser, lassen sich nichts sagen.«
»Die hinterfragen alles, stellen alles infrage und hören nicht auf die Erfahrung von uns älteren Leuten.«
Wir könnten Seiten über Seiten mit Vorurteilen füllen, weil es so unendlich viele davon gibt. Irgendwoher müssen sie ja kommen. Vielleicht steckt ja sogar in jedem Vorurteil auch ein Funken Wahrheit, so wie das von Gerüchten immer behauptet wird?
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»Dem lieben Gott ist das Alter nicht gut gelungen«, sagte mir eine kluge Frau kürzlich. Wie recht sie hat, wissen wir alle. Aber auch, dass wir trotzdem da durchmüssen. Also lasst uns das Beste draus machen. Es liegt zu einem großen Teil in unserer Hand.
Es liegt einfach in der Natur des Menschen, andere Menschen instinktiv und ohne es selbst wahrzunehmen, in soziale Gruppen einzuteilen. Zum einen in die »In-Gruppen«, sozusagen »die Guten«. Zu den In-Gruppen gehören alle Menschen, die uns nahe sind, beispielsweise in Sachen Alter, Familienstand, Beruf, Freizeitgestaltung, Interessen et cetera.
Die »anderen», die sich stark von uns unterscheiden, gehören automatisch zur »Out-Gruppe«. Und weil diese Menschen so anders sind, sind sie und ihre Ansichten, Lebensweisen et cetera auch eher fremd. Das ist nicht weiter schlimm, wenn wir uns in andere Menschen hineinversetzen (können). Gerade dies fällt vielen jedoch unglaublich schwer, was aber nicht verwunderlich ist.
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In Zeiten enorm gestiegener Lebenserwartung vom »Alter« als einer einheitlichen Lebensphase zu sprechen, ist wie Kindheit, Pubertät und junges Erwachsensein in einen Topf zu schmeißen. Zumindest die Unterscheidung zwischen dem jungen Alter zwischen sechzig und achtzig, in dem gerade mal fünfzehn Prozent der Menschen im Alltag von gesundheitlichen Herausforderungen behindert werden, und der Zeit danach ist zu treffen. Alles andere verbaut den Blick auf eine der schönsten Lebensphasen.
Wie sollen wir wirklich verstehen können, wie schwer der Beruf einer Pflegekraft ist, wenn wir selbst zum Beispiel in einem Verwaltungsjob gearbeitet haben? Wie sollen Männer wirklich verstehen, wie sich Frauen an ihren besonderen Tagen im Monat fühlen? Dementsprechend überrascht es nicht, dass sich junge Menschen auch nicht wirklich in ältere hineinversetzen können – und andersherum, obwohl jeder mal jung war. Wirklich verstehen können wir nur, wenn wir es fühlen können. Die reine Nachvollziehbarkeit über den Verstand reicht bei Weitem nicht aus.
Aufgrund dieser »natürlichen Unfähigkeit« sehen wir oftmals eher die negativen Seiten der anderen. Unser Gehirn bildet ganz automatisch Muster der Vereinfachung, damit wir uns in der täglichen Flut an Informationen, die auf uns einprasseln, besser zurechtfinden. Das ist zwar hilfreich, führt aber zu Wertungen, die uns das Leben und das Zusammenleben erschweren.
Wir betrachten andere (Menschen und Gegebenheiten) nicht neutral, sondern vergleichen die anderen und das andere mit unserem Leben, unseren Ansichten und so weiter. Wer gewinnt bei diesem Vergleich? Natürlich wir. Schon aus Selbstschutz. Verständlich also, dass die Jungen nicht alt sein und es auch nie werden wollen.
Vielleicht schwingt unbewusst noch ein bisschen das mit, was in einigen Kulturen schon vor Tausenden von Jahren zum Alter niedergeschrieben wurde. Beispielsweise, dass das Alter eines der großen Leiden des Lebens ist (unter anderem neben Krankheit und Tod), was neben Mangelernährung, körperlichen Anstrengungen und fehlender gesundheitlicher Versorgung auch ein Grund dafür sein könnte, dass die Menschen früher nicht wirklich alt wurden.
Für die Menschen früher war es auch das Alter, das Leiden schaffte. Wir können das Alter zur Leidenschaft machen, es zumindest mit einer solchen begehen und uns darüber jeden weiteren Meter auf unserem Lebensweg freuen. Denn auch diesen tröstenden Gedanken findet man in den Religionen: Alter, Krankheit und Tod werden nicht von allen lediglich als Leid begriffen. Im Buddhismus gelten diese gar als »Götterboten«, die uns Menschen zu ernstem Nachdenken führen. Also: Denken wir lieber nach, bevor wir vorschnell austeilen und Stäbe über dem Alter brechen, die ihm gar nicht gebühren. Leider ist dies leichter geschrieben als getan.
Manche Vorurteile sind in jahre-, teilweise gar jahrzehntelangen »Erfahrungen« mit dem Alter verwurzelt, auch bei Menschen, die noch gar keine eigenen Erfahrungen mit dem Alter haben. Menschen lernen und übernehmen manche Muster: Vorurteile, Bewertungen unserer Eltern und Großeltern, aus der Schule, dem Fernsehen, von Zeitungen. Dabei sehen sie oftmals nicht, dass einzelne Einschätzungen wahrlich nicht zur Allgemeingültigkeit taugen.
Was denken Sie über das Altwerden und Altsein? Welche Vorurteile haben Sie von anderen übernommen?
Die Antworten darauf sind gar nicht so einfach, oder? Der 2016 verstorbene Schauspieler, Sänger und Schriftsteller Manfred Krug sagte einst: »Ich hatte immer Angst, wie mein Vater zu werden. Jetzt bin ich’s, und es ist gar nicht so schlimm.« Vielleicht vermag diese Erkenntnis, Jung und Alt einander näherzubringen. Zumindest verdeutlicht sie den Sinn (und Wert) von Vorurteilen aufs Wunderbarste.
Wir müssen es also nicht automatisch mit dem bayerischen Komiker Karl Valentin halten, der meinte: »Die Zukunft war früher auch besser.« Auch wenn manche Menschen mit Angst in die Zukunft und ins Alter schauen, lassen sich diese Vorurteile und stillen Sorgen widerlegen, indem wir Fakten entgegensetzen.
Laut Ingo Froböse, dem Leiter des Instituts für Bewegungstherapie und bewegungsorientierte Prävention und Rehabilitation an der Deutschen Sporthochschule in Köln, verfügt ein Siebzigjähriger über schätzungsweise vierhundert Prozent mehr Wissen als ein Zwanzigjähriger.
Sportlich aktive Alte leben laut Studie der schwedischen Universität Uppsala länger als Nichtsportler. Über einen Zeitraum von fünfunddreißig Jahren untersuchte man zweitausendachthunderteinundvierzig aus Uppsala stammende Männer mit dem Ergebnis: Wer als Fünfzigjähriger sportiv war, lebte im Schnitt 2,3 Jahre länger als ein Stubenhocker. Wer seine sportliche Aktivität zwischen dem fünfzigsten und sechzigsten Lebensjahr vergrößerte, halbierte sogar sein Sterblichkeitsrisiko jenseits des sechzigsten Lebensjahres. Und auch Prof. Albert Gollhofer, Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und einer der führenden deutschen Experten auf dem Gebiet des Krafttrainings, kennt die positive Wirkung sportlicher Aktivitäten und die Möglichkeiten des Krafterhalts – vor allem im Alter: »Der Peak (Höhepunkt) der muskulären Kraft liegt im Alter von fünfundzwanzig Jahren. Es ist aber ein Irrglaube in der breiten Bevölkerung, dass die Kraft mit sechzig Jahren verfällt. Mit Training kann man die Kraft da sehr gut erhalten.«
Der Ökonomie-Professor David Blanchflower vom Darthmouth College hat Umfragen mit Menschen aus hundertzweiunddreißig Ländern unter die Lupe genommen und festgestellt, dass sich unser Glück wie ein »U« durch unser Leben zieht. Bis zum Alter von etwa achtzehn Jahren leben wir im Glückshoch, bis unsere Zufriedenheit stetig abfällt und mit etwa siebenundvierzig Jahren seinen Tiefpunkt erreicht. Danach geht’s dann wieder aufwärts, und wir nähern uns, je älter wir werden, unserem früheren Glück an. Es stimmt also nicht, dass unser Leben mit den Jahren per se immer schlechter und wir unglücklicher werden. Im Gegenteil: Wenn wir unser Tal der Tränen durchschritten haben, also die Zeit, in der wir hoch beansprucht und oft gestresst sind von Arbeit, Familie, wenig Freizeit, wird’s besser.
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Dem Leben auf den letzten Metern noch Schnippchen schlagen. Wider Erwarten immer noch Licht, Liebe, Lachen und Leidenschaft herausholen aus schwieriger werdenden Umständen. Selbst mit dem Rollator in bestimmten Momenten tanzen.
Was können Sie jetzt ganz konkret aus diesen Gedanken zu Vorurteilen mitnehmen auf Ihren Weg ins Alter? Einerseits, dass ein Vorurteil immer ein Urteil ist und im Falle des Alterns zudem ein Urteil zu etwas, das Sie wahrscheinlich noch gar nicht richtig einschätzen können, weil Sie eben nicht genau wissen, wie Ihr Alter werden wird. Man stelle sich vor, ein Mensch, der sich mit dem Bau von Flughäfen nicht auskennt, solle entscheiden, wie man einen Flughafen bestmöglich baut. Welches Ergebnis kann man da schon erwarten?
Anderseits sind Vorurteile getrost zu missachten, da sie reine Einschätzungen sind und keine Tatsachen. Wie wunderbar, dass kein Leben einem anderen gleicht und wir Menschen so unterschiedlich sind. Die Erfahrung, die der eine macht, ist für den anderen keine Blaupause, sondern nicht mehr als eine Orientierung in Form eines Anreizes oder einer Warnung.
Wer ein herumgeisterndes Vorurteil für bare Münze nimmt oder gar auf sich selbst münzt, macht sich zum Richter über Dinge, über die er nicht richten sollte. Richten wir lieber unseren Blick auf die unzähligen positiven Beispiele um uns herum, die uns beweisen, dass Alter und Altwerden kein Leidensweg sein muss. Suchen wir doch einfach nach lebenden Beweisen für ein glückliches Altern und wandeln wir Vorurteile zu Vorbildern.
Die Welt ist und bleibt das, was wir von ihr denken. Wir ziehen das an, was wir denken. Wer Menschen kennt, die den ganzen Tag nur über Krankheiten reden, weiß, dass diese Menschen meist öfter krank sind (oder sich entsprechend fühlen). Das bedeutet natürlich nicht, dass diejenigen, die nur über Gesundheit reden, überwiegend gesund sind. Aber das Gesetz der Anziehung hilft Ihnen, die Wahrscheinlichkeit auf Gesundheit zu erhöhen, wenn Sie sich auf die Dinge fokussieren, die Ihnen und Ihrer Gesundheit dienlich sind.
Es ist wie bei einem Drachenflieger, der glücksversunken über Wiesen und Felder schwebt und die untergehende Sonne am Horizont genießt. Lässt er sich aber davon ablenken und richtet den Blick beispielsweise zu einem hektisch winkenden Mann, der ihm zuruft: »Vorsicht! Fliegen Sie nicht auf den Baum!«, dann wird er unweigerlich auf dem einzigen Baum weit und breit landen. Wir kommen dort an, wohin unser Blick sich richtet.
Suchen wir nach den positiven Bildern. Schauen wir dankbar und bewundernd auf den Fünfundachtzigjährigen, der Marathon läuft, zu den Omas, die sich liebevoll um ihre Enkel kümmern, zu den eifrig werkelnden Rentnern, die für jedes Problem eine Lösung haben. Blicken wir zu den weltbereisenden, anerkannten Alten, den vielen lebenden Beispielen dafür, dass es sich lohnt, sich aufs Alter zu freuen. Und die dem Weg des Alterns eine reizvolle Note verleihen.
Beherzigen wir doch einfach, was Epiktet schon vor über zweitausend Jahren wusste, als er konstatierte: »Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.«
Vielleicht ist das Alter ja doch schöner, reizvoller, magischer, als viele denken? Irgendetwas Anziehendes muss das Alter haben. Wieso sollten sonst fast alle »Alten« auf die Frage, ob sie noch einmal jung sein möchten, dieselbe Antwort geben: »Nein.«
Oder könnte es gar sein, dass es dieses ominöse Alter gar nicht gibt? Dass wir mit unserer Einschätzung, man wäre ab einer gewissen Zahl an Lebensjahren alt, komplett falsch liegen?
Was wäre, wenn wir damit aufhören würden, nach der exakten Jahreszahl zu suchen, ab der man alt ist, weil sie nicht existiert?
Was wäre, wenn wir das Alter grundsätzlich ganz anders betrachten würden? Sind wir nicht zu jeder Zeit unseres Lebens alt, nur jeder auf unterschiedliche Art? Ein Baby, das drei Monate auf der Welt ist, ist alt, eine dreiundzwanzigjährige Studentin ist alt, ein neunundsiebzigjähriger Rentner ist alt. Jeder Mensch von uns ist alt. Wäre es nicht erleichternd, wenn wir das Alter nicht nur negativ mit Menschen in Verbindung bringen würden, die bereits eine gewisse Zahl in Form absolvierter Lebensjahre erreicht hätten? Wenn wir uns alle als »alt« fühlen würden, verlöre »das Alter« seinen Schrecken, weil wir uns nicht vor etwas fürchten müssen, das uns irgendwann ereilt. Wir sind schon alt, waren es schon immer.
Und was wäre, wenn wir auch das »Altern« neu beleben würden? Wir könnten den Prozess des Älterwerdens als vorfreudiges Wachstum ansehen. Würden wir nicht altern, wären wir schon tot. Wenn wir also altern, leben wir.
Kapitel 3
Wer bin ich? Wozu bin ich hier? Was ist der Zweck des Lebens? Dies ist die wohl klassischste Frage der Philosophie. Seit Jahrtausenden beschäftigen sich unzählige der klügsten Menschen unserer Welt damit, Antworten zu finden. Je älter Menschen werden, desto häufiger und intensiver klopft diese Frage auch an ihre Tür und fordert sie auf, sich mit ihr zu beschäftigen. Aber: Wie lautet die Antwort? Gibt es sie überhaupt, wenn unterschiedliche Philosophen seit Menschengedenken hierzu unterschiedliche Theorien formulierten?
Der Philosoph René Descartes vertrat beispielsweise die These, dass wir im Kern rein geistige Wesen seien, die nur zufällig während unseres irdischen Daseins in einem Körper stecken. Sicherlich kennen Sie sein berühmtes Argument »Cogito ergo sum«. »Ich denke, also bin ich.« Oder, etwas genauer: Wenn ich denke, dann existiert auch der Träger dieses Gedankens, also ich.
Interessant, sicherlich, aber wirklich hilfreich noch nicht. Zumal nicht wenige Philosophen seiner These widersprachen und den Mensch nicht als rein-geistiges Wesen betrachteten, sondern unter anderem als biologisches Wesen (samt Körper), das ein Ich-Gefühl und ein Selbstbild entwickeln kann.
Was sind wir jetzt? Ein Wesen mit einer unsterblichen Seele? Eine reine Ansammlung von Molekülen?
Wer bin ich, und wenn ja, wie viele? Der wohl bekannteste lebende deutsche Philosoph, Richard David Precht, erweiterte die Sinnfrage und landete damit einen Bestseller. Der Buchmarkt ist voll von Ratgebern zum Thema Lebenssinn und Sinnsuche. Immer mehr »normale« Menschen suchen nach Antworten, nicht mehr nur die Philosophen. Manche suchen ihr Heil in den Religionen, andere in Meditationsübungen und Bewusstseinsseminaren.
Wie schön wäre es, wenn immer mehr Menschen den einen Sinn (wenn es ihn denn gibt) oder ihren eigenen Lebenssinn finden. Bedeutet dies doch meist, dass man angekommen ist, mit sich im Reinen, dem eigenen Glückszentrum ganz nahe.
Wie viele Ältere kennen Sie, die von sich selbst behaupten, ihren Sinn gefunden zu haben?
Wenn man es ehrlich betrachtet, bleiben die meisten Menschen oftmals bis zum Ende ihres Lebens Suchende. Warum ist das so? Ist es grundsätzlich unmöglich, Sinn zu finden, oder ist es einfach schwer, den eigenen Sinn zu finden? Und, die viel spannendere Frage: Kann man nicht auch ohne Sinn leben und glücklich und zufrieden sein?
Die Generation der Großeltern sprach praktisch nie davon, nach einem Sinn im Leben zu suchen; geschweige denn eine Begründung für die Existenz des eigenen Daseins finden zu wollen. Früher reichte es den Menschen, da zu sein: gesund, mit genügend Essen, einem Dach über dem Kopf, in Frieden auskömmlich leben zu können. Insbesondere die Alten waren doch, je näher sie ihrem Lebensende kamen, froh um jeden neuen Tag, den sie möglichst ohne Schmerz und mit guter Laune erleben durften.
Konnte man früher vielleicht ohne Sinn leben? Oder hatten die Menschen damals ihren Sinn schon gefunden, ohne es zu wissen und vor allem, ohne danach bewusst gesucht zu haben?
In vergangenen Zeiten war dieses »Warum« eher kleiner, unscheinbarer Natur. Überleben, ein Dach über dem Kopf, genügend Essen, gesund oder zumindest nicht schwer krank sein, nicht allein sein, arbeiten dürfen und können. Heute sind diese Dinge, die in der Maslowschen Bedürfnispyramide, in der die Bedürfnisse und Motivationen in ihrer Wichtigkeit für den Menschen stufenweise angeordnet sind, weit unten stehen, für die meisten eine nicht weiter erwähnenswerte Grundvoraussetzung des Lebens, ihr gelebter und erlebter Alltag. Das Gros der Sinnsucher strebt nach mehr: mehr Tiefe, mehr Höhe, mehr Wirkung, mehr Resonanz, mehr Wissen und Bewusstsein.
Heutzutage wird man das Gefühl nicht los, dass immer mehr Menschen für alles eine allumfassende Erklärung haben möchten, am besten leicht verdaulich (und unterhaltsam) präsentiert. Vielleicht liegt es am digitalen Zeitalter, an der nahezu unendlichen Verfügbarkeit von Wissen. Es ist nicht zu kritisieren, dass wir die Dinge gern verstehen wollen. Es ist gut, nicht alles einfach als selbstverständlich hinzunehmen.
Durch Fragen und Wissbegierde eignen sich Menschen Wissen an und verstehen Themen. Die Frage ist jedoch: Wo liegen die Grenzen dessen, was wir verstehen können? Oder gibt es sie gar nicht? Gibt es für alles eine nachvollziehbare Erklärung? Und: Muss es sie überhaupt geben?
Gehen wir einen gedanklichen Schritt zurück zur Frage nach dem Warum. Warum suchen wir nach dem Sinn? Vielleicht, weil wir das Gefühl haben, dass uns etwas fehlt? Dass unser Leben und unsere Gesellschaft »sinn-entleert« sind? Hätten wir Menschen das Gefühl, sinnvoll zu leben, müssten wir doch nicht nach dem Sinn suchen, oder?
Verständlich und wichtig sind solche Gedankenspiele allemal. Leben wir doch in einer Welt, in der immer mehr Menschen immer häufiger im Außen leben. Nicht im Draußen, der Natur, was schön und erstrebenswert wäre. Im Außen, also der Welt um sich herum, die zunehmend digitaler wird.
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Spätestens in der Mitte des Lebens sollte man wissen, was einem guttut. Und das im vorgegebenen Rahmen dann auch leben. Der inneren Stimme folgen, wo immer das geht. Liebe Menschen um sich haben. Vereinfachen und entrümpeln. Zeit haben für sich und für andere. Wissen, wofür man steht.
Immer neue abgesetzte Posts in den sozialen Medien, möglichst viele positive Kommentare, Daumen-hochs und anonyme Freunde. News über die Nachrichten-App, neue Videos vom abonnierten YouTube-Kanal, die Lieblingsserie auf Netflix. Dies alles (und noch viel mehr davon) bestimmt heute den Lebensalltag von Millionen Menschen.
Vielen ist die eigene Darstellung samt positiver Kommentierung in den sozialen Medien wichtiger als das, was sie gerade an wirklicher, greifbarer Welt umgibt. Ist es wirklich ein Wunder, dass uns der Sinn immer mehr abhandenkommt, wenn wir mit über den Bildschirm sausendem Blick permanent auf der Jagd nach etwas Neuem, Aufregendem sind?
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Forscher in aller Welt entdecken voll Staunen mehr und mehr, dass nicht einmal unsere Gene feststehen. Alles fließt und ist zu beeinflussen. Ob wir durch Meditation, Neugier oder Sport Impulse für ein gesünderes und erfüllteres Leben geben – unser Erbgut ist nicht in Stein gemeißelt. Geschichte geschieht nicht einfach, sie wird von uns geschrieben.
Wenn wir aus den digitalen Zeiten etwas lernen können, dann doch das: Gäbe es den Sinn da draußen im Netz, hätte er sich doch schon längst verbreitet. Und gäbe es die Bedienungsanleitung für ein glückliches Leben, wäre sie schon längst ein Welthit geworden. Sucht doch schließlich fast jeder Mensch danach. Insbesondere, je älter man wird. Und dies hat gute Gründe.
Auch wenn sie natürlich wie alle anderen »nur« Vierundzwanzig-Stunden-Tage zur Verfügung haben, haben Ältere vergleichsweise mehr Zeit für sich selbst beziehungsweise für die Dinge, die ihnen wichtig sind. Die Kinderbetreuung erfordert immer weniger Zeit, am Arbeitsplatz muss man vielleicht nicht mehr jeden Tag Überstunden machen. Das eigene Heim ist irgendwann so auch eingerichtet, wie man es haben will, und erfordert weniger Arbeit.
Das Älterwerden bringt also mehr Freiräume mit sich und ermöglicht es, den Blick von den früheren stressigen Kleinigkeiten des Alltags zu lösen. Hin zur eigenen Umwelt, in das Umfeld. Nicht umsonst interessieren sich beispielsweise ältere Männer oftmals für (welt-)politische Themen. Sicher kennen auch Sie etliche reifere Damen, die sich ehrenamtlich für andere (ihnen fremde) Menschen engagieren. Statt im Klein-Klein zu versinken, sich in Alltags-Details zu verheddern, können Menschen mit zunehmendem Alter auch das große Ganze besser überblicken. Interessieren sich verstärkt für andere, helfen oftmals mit, wenn Hilfe vonnöten ist.
Und auch das hat einen guten Grund: Sie wissen relativ gut, wer sie sind, sind im Leben etabliert, haben vieles erreicht. Haben sich eine Heimat geschaffen, sind verwurzelt. Diese Gewissheit ermöglicht es den Menschen, nicht nur auf sich selbst zu schauen. In jungen Jahren sind wir Menschen, qua Alter, permanent auf der Suche: nach einem Partner, Zuhause, Beruf, der richtigen Balance im Leben, nach dem Erreichen der eigenen Ziele. Wir müssen uns fragen, was wir wann wollen (und was nicht)? Wie wir erreichen, was wir wollen? Wir sind unsicher, worauf es ankommt und was verschwendete Liebesmühe ist. Es ist ein wenig wie ein Gang über eine riesige Eisfläche. Man weiß nie, welcher Schritt in welche Richtung der richtige ist, uns Halt gibt, Sicherheit verspricht. Und wo wir einbrechen und in die Tiefe stürzen.
All dies hat natürlich auch mit der fehlenden Erfahrung in jüngeren Jahren zu tun. Nicht nur mit dem Leben, sondern vor allem mit uns selbst. Wir wissen mit zwanzig eben oftmals noch nicht, wer wir sind. Es ist vollkommen normal, dass wir uns in jungen Jahren in unseren Fähigkeiten oder Möglichkeiten häufig über- oder unterschätzen. Dass wir nicht wissen, wie wir in welchen Situationen am besten reagieren. Woher sollen wir es auch wissen? Der Lebensbeginn lebt vom Wechselbad der Gefühle: von Selbstzweifeln ebenso wie vom frenetischen Sich-selbst-Feiern. Dies alles kostet Kraft und bringt zwangsläufig Enttäuschungen mit sich.
Je älter Menschen werden, desto eher pendeln sie sich in der eigenen Mitte ein, weil das Leben wie ein Puzzlespiel ist. Mit jedem neuen Tag, jeder neuen Erfahrung, Einsicht, kommen Teile hinzu, die das eigene Bild über das Leben, die Welt und das eigene Selbst erweitern. Spätestens mit sechzig weiß man recht gut, wer man ist, wie man »tickt«, was man will und was nicht, was einen nervt, wofür man steht, welche Werte einem wichtig sind und dergleichen mehr. Kurzum: Die Anstrengungen, das eigene Ich zu finden, besser mit sich klarzukommen, werden weniger, weil das Bild von einem Selbst mit den Jahren immer erkennbarer wird, sich immer mehr vervollständigt.
Spätestens im hohen Alter wissen wir dann, dass wir eine eigene Persönlichkeit sind, die gut ist, wie sie ist. Und selbst, wenn wir manchmal mit uns hadern, wissen wir uns so anzunehmen und zu akzeptieren, wie wir sind. Auch müssen wir uns nicht mehr ausprobieren wie als Jungspunde. Wir kennen unsere Grenzen, das eigene Innenleben, die Gefühlswelten und können den Situationen anders begegnen, die uns früher noch auf die Palme gebracht haben. Denken wir öfter einmal auch an unsere Großeltern und daran, wie wir sie wahrgenommen haben. Vielleicht erkennen wir in ihrer gelebten Ruhe und Gelassenheit auch eine Chance für uns selbst.
Kämpften wir früher noch krampfhaft um Anerkennung, Erfolge, unser Recht oder unsere Meinung, müssen wir im Alter nichts mehr erzwingen. Die Wettkämpfe überlassen wir gelassen den Jüngeren. Wir müssen uns nicht mehr beweisen. Vielleicht auch, weil wir dann wissen, wie das Leben funktioniert, worauf es wirklich ankommt und welche früheren unsinnigen Spinnereien (oder Träumereien) wir lieber sein lassen, was sie sind.
Haben wir uns früher noch das eine oder andere Mal verbogen, uns den Anforderungen oder Meinungen anderer angepasst, uns verstellt, sind wir im Alter die, die wir sind. Mit allen unseren Ecken, Kanten, Macken und vielleicht sogar mit ein paar kleinen Neurosen (über die wir oft sogar selbst lachen, aber zu denen wir auf jeden Fall stehen können). Das Älterwerden hilft uns dabei, unser wahres Gesicht zu zeigen. Auch, weil wir irgendwann niemandem mehr irgendetwas beweisen müssen.
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Genialität lebt bei den Jungen. Die großen Innovationen, für die mancher viel zu spät den Nobelpreis bekommt, entstanden fast immer vor dem 40. Geburtstag. Geniale Alterswerke, die Neues in die Welt brachten, sind eher rar. Verzweifeln wir nicht daran, sondern stärken unsere Stärken: Weisheit, Überblick, Perspektivenreichtum und Gelassenheit.
Kapitel 6
Probier’s mal, mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit jagst du den Alltag und die Sorgen weg.«
Liest man diese Liedzeilen, wird man wie von selbst von Balu, dem Bären, in die Szene aus dem Dschungelbuch gezogen, in der er eines der wohl eingängigsten Filmlieder zum Besten gibt. Unwillkürlich singt oder summt man mit, bewegt vielleicht die Hüften im Takt und bekommt, ganz nebenbei, sogar gute Laune. Kein Wunder, steht Balu mit seinem Lied doch für etwas, das wir uns allzu oft am liebsten herbeizaubern würden: Leichtigkeit, Lockerheit, Gelassenheit.
Der bekannte Disney-Bär steht mit seiner Einstellung par excellence für ein sorgenfreies, beschwingtes Leben und eignet sich ideal als »bärenstarkes« Zielbild für uns alle. Wären wir öfters mit einer ähnlichen Gelassenheit unterwegs auf den Straßen des Lebens, fiele es uns leicht, die viel beschworene innere Ruhe zu finden und sie auch im stressigen Alltag zu bewahren. Wir behielten auch in brenzligen Situationen, die unseren Adrenalinpegel bis an seine Grenzen ausreizen, unsere Fassung und Haltung, wären positiv beherrscht, gefasst, umgeben von stoischer Ruhe. Keine so schlechte Vorstellung, oder?
Es lohnt sich also, bei dieser Station unserer Erkundungsreise durchs Alter ein kurzes Stück an der Seite von Balu zu verweilen und uns dem Thema Gelassenheit zu nähern. Das Schöne: Mit jedem weiteren Schritt verlassen wir somit unangenehme Gefühle wie Unruhe oder Stress, denn Gelassenheit lebt sozusagen auf der anderen Seite. Zusammen mit Ruhe und Harmonie fließt sie sinnbildlich wie Wasser durch einen ruhigen Seitenarm eines Flusses. Unaufgeregt, beruhigend und doch lebendig.
Wobei: Was rein positiv klingen mag, kann sich, wenn wir unserer Gelassenheit freien Lauf lassen, auch negativ auswirken: in Stumpfsinn, Trägheit oder Gleichgültigkeit. Daher lassen Sie uns, wenn wir gleich mit jedem Satz gelassener werden, die Welt um uns herum bitte nicht vergessen. Gelassenheit bedeutet nämlich nicht, sich von allem und jedem abzunabeln, eine »Mir doch egal«-Einstellung einzunehmen und sich nur noch für sich selbst zu interessieren. Abnabeln ist zwar ein gutes Stichwort, aber wir sollten uns lieber von den Dingen abnabeln, die uns hindern, glücklich zu sein. Welche dies sein können, erfahren Sie … gleich.
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Es hat etwas Beruhigendes, das eigene Testament zu schreiben, um Klarheit und Frieden zu schaffen für die Nachkommen. Es ist für diese einfacher, wenn sie wissen, wie man bestattet werden möchte. Blicken wir auf die Realität, dann verliert sie ein wenig an Schrecken. Das erlaubt uns ein Stück mehr Gelassenheit und innere Ruhe.
Lassen Sie uns vorher auf einen kleinen Seitenarm unseres »Gelassenheits-Flusses« blicken: das Verlangen nach Harmonie und emotionaler Stabilität. Der Wunsch nach beidem wird mit zunehmendem Alter immer ausgeprägter. Vielleicht haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht: Ältere Menschen suchen weder Ärger noch Stress – einige Unverbesserliche einmal ausgenommen. Je älter wir werden, desto eher wünschen wir uns ein harmonisches Miteinander, ruhige Lebenssituationen, inneren und äußeren Frieden.
Oft haben wir diese wirklich bewundernswerte Eigenschaft selbst auf Familienfeiern erlebt: bei unseren Eltern und Großeltern. Wenn sich die Kinder, also wir, untereinander einmal gestritten oder sehr kontrovers und lautstark diskutiert haben, waren es die Älteren, die beruhigend auf uns alle einwirkten, bevor etwas eskalieren konnte. Oftmals sogar mit einer so wunderbar friedvollen Stimmlage, dass man gar nicht anders konnte, als einzulenken. Mehr noch: Unsere Eltern und Großeltern waren stets bemüht, dass es jedem von uns gut ging, dass jede/r versorgt war, und dass untereinander Harmonie herrschte, eine angenehme Atmosphäre. Rückblickend könnten wir sie fast unsere »Friedensstifter« nennen, »Harmoniewächter« oder »Liebesbewahrer«, was wir, je älter wir selbst geworden sind, gar nicht hoch genug schätzen können.
Das Auf und Ab im mittleren Alter (ungefähr zwischen dreißig und fünfzig) möge sich im weiteren Verlauf des Lebens doch bitte beruhigen, so der Wunsch vieler Menschen. Der mitreißende Strom darf gern zu einem ruhigen Fluss werden. Verständlich. Und vielerorts auch ersichtlich. Zum Beispiel sind Menschen jenseits der sechzig oftmals gutmütiger und ruhiger, sie gehen auch entspannter mit schwierigen Situationen um, können gut vermitteln und moderieren.
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Lernen wir lächeln. Lernen wir loszulassen. Lernen wir, die Dinge so hinzunehmen, wie sie eben sind. Genießen und kultivieren wir die Altersmilde. Sie macht die Welt ebenso viel schöner wie die untergehende Sonne den Himmel.
Zauberei oder Normalität? Einfluss auf die wachsende Fähigkeit zur Gelassenheit haben drei grundlegende Motive, die in den unterschiedlichen Lebensphasen einen großen Einfluss auf das Handeln von uns Menschen haben:
Das Streben nach Macht und Einfluss (Entscheiden und steuern)
Das Erbringen von Leistung (Im Wettkampf bestehen und Ziele erreichen)
Der Wunsch nach zwischenmenschlichen Beziehungen (Liebe und Resonanz erfahren)
Es ist nicht leicht, vor allem über die ersten beiden Motive zu schreiben, ohne dabei in Wertungen zu verfallen. Daher versuchen wir es über die zweiseitige Medaille und das Wissen darum, dass alles von Natur aus erst einmal nur »ist«. Die Interpretation, ob gut oder schlecht, obliegt allein unserer Betrachtungsweise.
Daher ist das Streben nach Macht und Einfluss per se nichts Schlechtes. Unser Staat beispielsweise benötigt Menschen, die Dinge entscheiden und unser Land steuern wollen. Jedes Unternehmen ebenso. Und selbst in einer Familie tut es ab und an ganz gut, wenn ein Mitglied das Heft des Handelns in die Hand nimmt. Wer den eigenen Einfluss für andere, gute Zwecke nutzt, erbringt unschätzbare Werte für unsere Gesellschaft.
Gleiches gilt für das Erbringen von Leistung, den Kampf um ein zu erreichendes Ziel. Es kann unheimlich erfüllend sein, ein Spiel zu gewinnen, die selbst gesetzte Zeitmarke beim Laufen zu unterbieten oder den ersten Preis beim Zeichenwettbewerb zu erhalten. Nicht wenige von uns sind das, was sie heute sind, weil sie sich Ziele gesetzt, gekämpft und gewonnen haben.
Jeder (Wett-)Kampf kann auch Schattenseiten mit sich bringen. Wer immer nur auf sich selbst fokussiert ist, nur versucht, die eigenen Ziele zu erreichen, kann das Wohl anderer aus dem Blick verlieren. Wer immer entscheiden und recht haben will, kann schneller einsam werden, als ihm lieb ist. Wie gut, dass beides, das Streben nach Macht und der »Zwang« zur Leistungserbringung nachlässt, je älter wir werden.
Verantwortlich hierfür sind vor allem zwei Faktoren. Beide scheinen dem Ausspruch des thüringischen Theologen und Philosophen Meister Eckhart entsprungen zu sein: »Man muss erst lassen können, um gelassen zu sein.«
Wortklauberei oder Wortwahrheit? Finden wir’s einfach heraus und widmen wir uns den zwei Faktoren für Gelassenheit, also der Frage, was wir sein lassen könnten, um dadurch vielleicht gelassener zu werden.
Die Ich-Bezogenheit
Wenn wir der festen Überzeugung sind, über die einzig wahre Meinung zu verfügen, im Recht zu sein und es besser zu wissen als alle anderen, dann führt dies mit absoluter Sicherheit nicht zu einem gelassenen Grundgefühl. Denn gelassen können wir nur dann sein, wenn wir offen sind, andere und anderes zulassen.
Zu unserem Glück werden wir mit den Jahren milder, können Dinge lockerer sehen und ordnen sie anders ein als früher. Ebenso regen wir uns, einige Ausnahmen wieder ausgenommen, weniger auf und sind mehr dazu in der Lage, uns für andere zu interessieren und nicht nur für uns selbst.
Ältere Menschen suchen häufiger das Einende, das verbindende Argument, als das Trennende. Wenn wir anderen auch mal den Vorzug lassen können, mit ihrer Meinung, ihren Taten, sind wir der Glück bringenden Gelassenheit bereits eine Stufe näher gekommen.
Sich nicht mehr beweisen müssen
Kennen Sie Menschen, die sich benehmen, als würden sie permanent gefilmt werden? Die sich auffallend präsentieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen? Die andauernd beweisen müssen, wie leistungsstark, attraktiv, clever und/oder erfolgreich sie sind? Bestimmt, oder? Aber wie alt sind diese Menschen? Wie viele »Alte« kennen Sie, die sich andauernd beweisen wollen?
Wahrscheinlich wenige, wenn überhaupt. Das hat gute Gründe. Ist es doch ein großer Vorteil des Alters, auf vieles zurückblicken zu können, das man bereits erreicht hat. Diese inneren Beweise der eigenen Bestätigung reichen vielen Menschen und führen dazu, den Laufsteg der persönlichen Eitelkeiten anderen zu überlassen; den Jüngeren.
Sich nicht mehr aufs Äußere reduzieren lassen
Wundervollerweise sieht man den meisten Menschen an, dass sie älter werden. So wie Kenner bei einem sehr guten Wein die Reife herausschmecken können, ist sie bei uns Menschen meist bereits äußerlich ersichtlich. Dies mag man gut oder schlecht finden: Es ist. Und wie auch immer es ist: Für die Vielzahl »der« Alten spielen Äußerlichkeiten keine gewichtige Rolle mehr. Dies heißt nicht, dass man sich automatisch gehen lässt, je älter man wird. Ganz im Gegenteil.
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Ein Unternehmen, das es nicht gibt, aber das es geben sollte: Der Kunde schließt mit dieser Firma mit dreißig oder vierzig einen Vertrag ab, in dem geregelt wird, dass die Firma weitaus später im Leben ungefragt Rat gibt, wann der Kunde aufhören sollte mit dem, was er tut. Die Reputation so mancher Sportler, Politiker oder Entertainer, die sie auf den letzten Metern des beruflichen Laufes gefährdeten, weil sie nicht rechtzeitig aufhören konnten, wäre dadurch vielleicht gerettet worden. Jede und jeder von uns sollte sorgsam darauf achten, wann der richtige Zeitpunkt zum Aufhören gekommen ist, und sich rechtzeitig neue, geeignetere Tätigkeitsfelder fürs Alter suchen.
Sicher kennen Sie viele »Alte«, die, ganz salopp gesagt, flotte Hüpfer sind. Viele Ältere kleiden sich mit gelassener Freude und Hingabe und lassen den Stress, den sie sich in jungen Jahren hinsichtlich Körper und Kleidung gemacht haben, einfach außen vor.
Sei es die neunundsiebzigjährige Nachbarin, die jeden Morgen – ganz gleich, was der Wettergott auf die Erde schickt – vor allen anderen wach und im Garten ihres großen Hofes aktiv ist. Sie gießt, pflanzt, baut ihr Gemüse an, versorgt unzählige Vögel und Katzen und repariert sogar das meiste selbst an ihrem über einhundert Jahre alten Geburtshaus. Oder die Frau über achtzig drei Straßen weiter, die sich so bunt und modisch schick kleidet, als würde sie für eine Modezeitschrift modeln. Ihrer jugendlichen Freude beizuwohnen, die sie stets im Gesicht trägt wie ihre auffallenden Outfits an ihrem aufrecht-trainierten Körper, ist selbst für uns Jüngere ein wahrer Jungbrunnen.
Sicherlich gibt es noch viele weitere schöne Beispiele für mehr Gelassenheit. Manche davon finden Sie versteckt in anderen Kapiteln dieses Buches. Andere vielleicht direkt neben sich, wenn Sie sich einmal in Ruhe umschauen. Für was auch immer Sie sich entscheiden mögen: Zwei Faktoren helfen Ihnen dabei, das Älterwerden gelassener anzugehen.
Der sinkende Hormonspiegel
Die ersten fünfzig Prozent Gelassenheit regelt unser Körper für uns, indem er unseren Testosteronspiegel mit steigendem Lebensalter stetig herunterfährt. Weniger Stress und Aggressionspotenzial sind die hilfreichen Folgen. Gut für unseren Blutdruck, unser Herz und unsere Umgebung.
Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit
ArbeitnehmerInnen, die kurz vor dem Renteneintritt stehen, wissen es: Es macht keinen Sinn (mehr), sich über irgendwelche Dinge am Arbeitsplatz aufzuregen, sich an was auch immer aufzureiben. Warum? Weil die Arbeitszeit bald vorbei ist.
Eine sehr ähnliche Erkenntnis ereilt uns alle irgendwann (hoffentlich lange nach dem Renteneintritt): Wer weiß, dass er in nicht allzu ferner Zukunft sterben wird, der fängt keine vermeidbaren Kämpfe mehr an, streitet sich nicht über Belanglosigkeiten, verschwendet keine kostbare Energie und Lebenszeit für Unsinniges. Je näher wir der eigenen Endlichkeit kommen, desto höher sind unsere Chancen auf dieses wunderbare Gelassenheits-Gefühl.
Wenn Sie sich in einer sternenklaren Nacht einmal in den Garten oder vor die Haustür stellen und in den Himmel blicken, können Sie bereits in jüngeren Jahren einen Vorgeschmack hierfür erlangen. Versuchen Sie einfach, die Sterne zu zählen. Irgendwann wird Sie die Erkenntnis ereilen, dass um uns herum Unendlichkeit herrscht und wir nur ein minimaler, kaum wahrnehmbarer Teil des Universums sind. Dieses Bewusstsein soll Sie aber nicht deprimieren, eher ermuntern.
Sicherlich werden Astrophysiker noch in Tausenden von Jahren, so es unsere schöne Welt dann noch gibt, damit beschäftigt sein, die Anzahl der Sterne zu ermitteln. Es wird ihnen wahrscheinlich nicht gelingen. Und dieses Wissen können wir uns zunutze machen, wenn wir gelassen älter werden wollen.
Es ist unvernünftig und unmöglich, Unverfügbares haben und Unverrückbares ändern zu wollen, wie zum Beispiel den eigenen Tod.
Lassen wir die stressenden Gedanken einfach los und lassen wir uns ein auf das, was uns erwartet. Dann wird sich Gelassenheit einstellen. Zwar werden wir alle mit unterschiedlichen Anlagen geboren, der eine kommt bereits nervös zur Welt, während eine andere schon als Baby nichts aus der Ruhe bringen konnte. Wir alle können jedoch gelassener und damit glücklicher werden, wenn wir es zulassen. Das Älterwerden ist eine wundervolle Hilfe hierbei. Balu mag es gewusst haben, endete doch sein Lied mit folgenden Zeilen:
»Denn mit Gemütlichkeit kommt auch das Glück zu dir.
Es kommt zu dir!«
Kapitel 1
Lange, gesund und glücklich leben. Wer wünscht es sich nicht?
Der römische Philosoph Cicero konstatierte schon vor mehr als zweitausend Jahren: »Alle wünschen sich, alt zu werden, doch niemand wünscht, alt zu sein.« Recht hatte er. Was nützt uns allen ein möglichst hohes Alter, wenn wir es in Krankheit und Unglück verbringen müssen? Geprägt voll Gesundheit und Glück soll unser Lebensabend sein. Doch, und auch das wusste Cicero bereits, dieser Lebenstraum geht nicht automatisch in Erfüllung. Er bedingt etwas. Doch was genau? Wie lautet es, das Rezept des glücklichen Alterns?
Die gute Botschaft vorweg: Die Chancen auf ein langes, gesundes und glückliches Leben stehen heutzutage besser denn jemals zuvor. Vor allem, wenn wir es mit den Umständen vergleichen, die Cicero zu seiner Zeit vorfand. Und das, obwohl es auf unserer Welt zweifellos noch große Probleme, wie beispielsweise Armut, Krieg oder Umweltzerstörung, zu lösen gilt. Trotz allem verfügen wir über die bestmöglichen Voraussetzungen seit Menschenbestehen.
So lässt uns das Statistische Bundesamt regelmäßig schwarz auf weiß wissen, dass wir zusehends länger leben. Während Menschen, die um das neunzehnte Jahrhundert herum geboren wurden, nur knappe vierzig Jahre auf Erden verweilen durften, konnte man als 1930 Geborene/r im Durchschnitt bereit seinen sechzigsten Geburtstag feiern. Heute geborene Kinder dürfen sich sogar über noch mehr Lebenszeit freuen (Jungen auf etwas mehr als achtundsiebzig Jahre, Mädchen etwas mehr als dreiundachtzig Jahre). Irgendwann werden Neugeborene vielleicht im Durchschnitt alle ihren hundertsten Geburtstag feiern. Ein immer längeres Leben ist für uns scheinbar keine Traumvorstellung, sondern wird immer mehr zur gelebten Wirklichkeit.
Zwar werden wir wohl – zumindest nach dem heutigen wissenschaftlichen Stand der Dinge – niemals ewig leben, aber der Verlauf der Menschheitsgeschichte gibt uns Mut, dass wir unsere Lebenserwartung zukünftig weiter steigern können. Wenn …, aber dazu kommen wir gleich.
Vorher müssen wir klären, wie es um unsere Gesundheit und unser Glücksempfinden bestellt ist. Gehen beide unseren länger werdenden Lebensweg im Gleichklang mit uns bis ins hohe Alter? Was brächte es uns, wenn wir zwar immer älter, aber dabei immer kränker und immobiler werden würden?
Betrachten wir nur die medizinischen Möglichkeiten, die uns, zumindest in der westlichen Welt, mittlerweile zur Verfügung stehen. Beweisen sie doch auf eindrucksvolle Art und Weise, wie gesegnet wir heute sind – auch, wenn wir es manchmal vielleicht anders wahrnehmen.
Mussten unsere Groß- oder Urgroßeltern noch unter manch (damals) unheilbarer Krankheit oder jahrelangen Schmerzen leiden, weil die damals verfügbaren Mittel keine Linderung oder Heilung ermöglichten, sind wir heute Nutznießer von den Ergebnissen intensiver jahrzehntelanger Forschungsarbeiten, neu entwickelter Heilverfahren sowie revolutionärer Medikamente.
Hinzu kommen das stetig wachsende Wissen über alle relevanten Facetten unserer Gesundheit und das Zusammenspiel von Körper, Geist, Seele und Umwelt sowie innovative Verfahren zur Lösung der noch letzten unheilbaren Krankheiten und vieles mehr. Wir können gesundheitlich aus dem Vollen schöpfen. Welch wundervolle Voraussetzungen, finden Sie nicht?
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An jeder Ecke des Lebens wartet die Chance, festgefahrene Meinungen über Bord zu werfen und sich neu und unbefangen einem Menschen oder einer Situation zuzuwenden. Nutzen wir sie so oft wie möglich und verlassen die eingetretenen Pfade!
Zudem ist unser Alltag durch den technischen Fortschritt über die Jahrzehnte immer einfacher, bequemer und somit gesundheitsförderlicher geworden. Hiermit sind weniger Treppenlift, Rollator und Co. gemeint, wobei auch sie für manche Menschen eine Erleichterung bedeuten. Vielmehr geht es um die kaum aufzählbaren technischen Errungenschaften, die für uns mittlerweile schon so normal geworden sind, die aber dennoch einen Anteil daran haben, dass wir keinen Raubbau an uns treiben müssen.
Man denke nur an den Komfort des Wäschewaschens (früher nur möglich mit harter Arbeit am Fluss, heute lassen wir geräuschlose Waschmaschinen und Trockner für uns arbeiten) oder auch die maschinelle Hilfe bei anderen körperlich anstrengenden Arbeiten.