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Buch

Alice Wyndham ist aus der verborgenen Parallelwelt Londons geflüchtet und versteckt sich in Irland. Denn ihre besonderen Fähigkeiten machen sie zur Gejagten: Sie besitzt die Magie der Nachtschwalben, wundersamer Vögel, die die Seele eines Menschen hüten. Ihre Gabe bedeutet Leben – und ist gleichzeitig mit einem tödlichen Vermächtnis verbunden. Alice konnte ihre beste Freundin Jen nicht davor schützen, und der dunkle Fluch stellt auch ihre Liebe zu dem Verbrecherjäger Crowley auf eine harte Probe. Alice gibt die Hoffnung nicht auf und kehrt in Londons magische Zwillingsstadt zurück. Dort will sie sich dem Haus Mielikki anschließen, um ihre Seelenmagie zu trainieren und mit ihrem dunklen Erbe zu brechen. Doch die Aufnahmeprüfung wird von schrecklichen Ereignissen überschattet, und Alice’ ganze Welt droht, ins Verderben zu stürzen. Um sie und alle, die sie liebt, zu retten, muss Alice nicht weniger besiegen als den Tod selbst …

Weitere Informationen zu Deborah Hewitt
sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin
finden Sie am Ende des Buches.

Deborah Hewitt

Soulbird
Das Geheimnis der Nacht

Band 2

Roman

Aus dem Englischen
von Anna Julia Strüh

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Rookery« bei Pan Books, an imprint of Pan Macmillan, a division of Macmillan Publishers International Limited.


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Deutsche Erstveröffentlichung März 2022

Copyright © Deborah Hewitt 2021

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München

Redaktion: Waltraud Horbas

KS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-25354-7
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Seb und Archie –
bis in alle Ewigkeit und darüber hinaus

Prolog

Doctor Burkes Schreibtisch glich einem Friedhof für zerbrochene Brillen. Kaputte Gestelle waren unter Ordnern begraben oder lagen neben leeren Tassen. Als er blind nach einer griff und sie aufsetzte, fiel ihm eins der Brillengläser in den Schoß. Seufzend spähte er durch das verbliebene Glas auf die Ergebnisse von Alice’ Bluttest.

Nach einem Moment öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, leckte sich aber nur den Daumen und blätterte um. Er war ein kleiner, aber robust wirkender alter Mann, schrumpelig wie etwas, das man zu lange in der Sonne hatte liegen lassen, mit weißen Haarbüscheln, die aus jeder Körperöffnung wuchsen.

Alice wandte sich ihrer Mutter zu und zog beim Anblick von Doctor Burkes ungewöhnlicher Wanddekoration verblüfft die Augenbrauen hoch. Hinter dem Kopf ihrer Mutter spielte ein Eichhörnchen Geige. Daneben saßen zwei Füchse in Latzhosen auf einem Miniaturtandem. Doch das alles war nichts im Vergleich zu der ausgestopften Eule mit Doktorhut, die vor einer winzigen Tafel hockte. Ihre riesigen, glasigen Augen starrten Alice verdrossen an, als wäre sie Spott gewohnt. Sämtliche Regale waren mit potthässlichen Tierpräparaten vollgestellt. Nicht gerade ein ermutigender Anblick in einer Arztpraxis.

Zum Glück wusste Doctor Burke nicht, dass sich ein lebendiges Tier direkt vor seiner Nase befand. Ein kleiner brauner Vogel saß auf seiner Schulter, doch er konnte ihn nicht sehen, denn Nachtschwalben waren nur für Aviaristen wie Alice sichtbar. Sie war eine von höchstens einem Dutzend Aviaristen auf der ganzen Welt.

Alice wandte sich von der makabren Ausstellung ab und betrachtete stattdessen die Nachtschwalbe des Arztes. In der finnischen Mythologie war sie als Sielulintu bekannt: ein mythischer Vogel, der die Seele bewacht. Jeder hatte einen, ob er sich dessen bewusst war oder nicht. Ihre Mutter, der menschliche Wirbelwind namens Patricia Wyndham, ahnte nichts von der Nachtschwalbe, die auf ihrem Knie hockte.

Kurz tauchte das Bild einer ausgestopften Nachtschwalbe vor Alice’ geistigem Auge auf, und ihre Lippen verzogen sich vor Abscheu. Doctor Burkes Seelenvogel war winzig. Über seinen Rücken zog sich ein verblasster kupferbrauner Streifen, und sein schlammfarbenes Gefieder wirkte unscheinbar, aber er sah ziemlich zerfleddert aus. Seine glänzend schwarzen Augen musterten Alice mit ernstem Blick.

»Nun«, sagte Doctor Burke schließlich. »Etwas ungewöhnlich.«

»O Gott«, murmelte ihre Mutter. »Haben Sie schlechte Neuigkeiten? Ich wusste, wir hätten schon früher einen Termin ausmachen sollen.«

Er legte die Bluttestergebnisse weg und blickte zu Patricia Wyndham auf, der die Nervosität deutlich anzusehen war. Nach einer kurzen Pause wischte er ihre Ängste vom Tisch. »Kein Grund zur Sorge«, sagte er, und Patricia ließ sich erleichtert auf ihren Stuhl zurücksinken.

»Da sind wir aber froh«, sagte sie und wandte sich an Alice. »Nicht wahr?«

Alice ignorierte das beruhigende Lächeln des Arztes und beobachtete stattdessen seine Nachtschwalbe, die am ganzen Körper zitterte. Ihre Füße krallten sich in einem hektischen Rhythmus in seine Schulter und ließen wieder locker, und ihre Flügel bewegten sich rastlos – beides deutliche Anzeichen von Unbehagen. Alice’ Alarmglocken läuteten.

»Was genau meinen Sie mit ›etwas ungewöhnlich‹?«, fragte sie und sah dem Arzt fest in die Augen.

Doctor Burkes Blick schweifte erneut zu den Testergebnissen. »Nun«, sagte er sichtlich nervös, »Sie haben eine geringe Sauerstoffsättigung und eine leichte Anämie.«

»Ich sage dir schon seit Wochen, dass du zu blass bist«, rief ihre Mutter aufgebracht.

»Und der Test, den die Krankenschwester letztes Mal gemacht hat«, hakte Alice nach. »Der niedrige Blutdruck – hängt das zusammen?«

Doctor Burke zögerte und schob seine kaputte Brille höher. »Wenn Sie möchten, dass ich Sie an einen Facharzt überweise, ein Freund von mir arbeitet in dem großen Krankenhaus in Castlebar …«

»Nein«, entgegnete sie entschieden. »Danke, aber nein. Mir ist nur ein bisschen schwindlig. Das wird schon wieder.«

Sie hasste Krankenhäuser. Jedes Mal, wenn ihr der Geruch nach Desinfektionsmitteln in die Nase stieg, stürzten Erinnerungen an die Nacht, in der ihre beste Freundin von einem Auto angefahren worden war, auf sie ein. Diese Nacht hatte alles verändert. Noch Monate später hatte Alice geglaubt, Jen liege im Koma, und das sei ihre Schuld. Die grauenhafte Vorstellung, wie Jen in einem Krankenhausbett dahinvegetierte, hatte sie Tag und Nacht verfolgt. Doch das alles war nur eine Lüge gewesen. Eine List.

Doctor Burkes röchelndes Husten riss Alice aus ihren Gedanken. Sie war dankbar für die Ablenkung.

»Eisentabletten«, sagte er, steckte das Taschentuch, das er sich vor den Mund gehalten hatte, zurück in seine Anzugtasche und griff nach einem Stift. »Das lässt sich mit Eisentabletten leicht beheben.«

Er lächelte sie strahlend an, und sie warf erneut einen Blick auf seine Nachtschwalbe. Dem geübten Aviaristen zeigten Nachtschwalben, was sich in der Seele ihres Besitzers verbarg, offenbarten Gedanken und Gefühle, Einsichten und Lügen. Alice war noch nicht so bewandert darin, das Verhalten eines Vogels zu lesen, wie sie gehofft hatte, aber sie lernte schnell. Lügen machten Nachtschwalben unruhig.

»Eisentabletten und gute Landluft«, sagte Doctor Burke, »dann haben Sie nichts zu befürchten.« Doch die Flügel seiner Nachtschwalbe zitterten, während er sprach, und ihr Kopf ruckte aufgeregt hin und her.

Alice wurde flau im Magen. Manchmal wünschte sie, sie wäre kein Aviarist. Manche Lügen waren tröstlich.

Der Kofferraum krachte mit solcher Wucht zu, dass der Nissan Micra ins Wanken geriet.

»Vorsicht«, mahnte Alice. »Sonst verlierst du noch einen Finger.«

Ihre Mum grinste. »Das wäre es wert«, erwiderte sie mit Blick auf den mit einem Geschirrtuch bedeckten Teller in ihrer Hand. »Wart’s nur ab, bis du das probiert hast. Breda Murphys Treacle Bread. Anscheinend ist das ein irisches Geheimrezept. Breda will mir nicht verraten, wie man es macht, bevor ich nicht mindestens ein Jahrzehnt hier gelebt habe.«

Sie gingen die Auffahrt zu ihrem weiß getünchten Cottage hinauf und machten nur kurz halt, um den frisch gemähten Rasen zu bewundern.

»Ich fasse es nicht«, murmelte Patricia und ließ den Blick über den Garten schweifen. »Er will mir ein Schnippchen schlagen, indem er den Rasen mäht, bevor ich deswegen rumjammern kann.«

Die treffende Einschätzung der Situation brachte Alice zum Lachen.

»Na dann los«, sagte Patricia mit einem amüsierten Kopfschütteln. »Klopf du. Du bist musikalischer als ich.«

Die Eingangstür war verriegelt und mit mehr Schlössern versehen als Fort Knox. In diesem kuriosen kleinen Cottage gab es keinen Schlüssel unter der Fußmatte und keine offene Haustür. Wahrscheinlich war es das einzige Haus in County Mayo mit einer Alarmanlage, die mehr kostete als das Auto in der Einfahrt, und unter dem Efeu an den Wänden verbargen sich Überwachungskameras.

Sicherheitsvorkehrungen hatten für Alice höchste Priorität gehabt, als sie hergezogen waren. Zusätzlich zu den Schlössern und der Alarmanlage hatte sie darauf bestanden, ein geheimes Klopfzeichen zu vereinbaren, mit dem sie einander wissen ließen, dass sie die Tür gefahrlos öffnen konnten. Das war ein bisschen zu viel des Guten und mittlerweile eine Art Running Gag, aber niemand hatte vorgeschlagen, damit aufzuhören. Deshalb klopfte sie fast zwei Minuten lang den Takt von Greensleeves an die Tür, bevor sie endlich aufschwang.

»Ich habe gewartet, bis du zum Refrain kommst«, erklärte ihr Vater grinsend. »Aber du hast die zweite Strophe ausgelassen, und dann ist alles den Bach runtergegangen.«

Michael Wyndham war ein Schrank von einem Mann mit schütterem Haar, freundlichen Augen und einem Lächeln, das kaum je verblasste. »Und?«, fragte er. »Was hat der Arzt gesagt?«

Als Antwort hielt Alice die Packung Eisentabletten hoch. »Eine leichte Anämie. Er meinte, das wird wieder.«

Es hätte keinen Sinn, ihren Eltern zu erzählen, dass die Nachtschwalbe des Arztes seiner Aussage widersprochen hatte. Darüber würde sie später nachdenken.

»Wie ich sehe, warst du auch nicht untätig«, sagte Patricia und schloss die Tür hinter ihnen. Michael warf ihr einen selbstgefälligen Blick zu, und Alice sah zu, wie die beiden einander herausfordernd taxierten. Patricia war die kleinste, bemerkenswerteste Frau, die Alice kannte. Ein Meter fünfzig, wenn es hoch kam, mit einem grauen Bob und einer runden Brille auf ihrer Nasenspitze.

»Tee?«, fragte ihr Dad – wie fast immer gab er als Erster klein bei.

»Oh, gern. Und wenn wir fertig sind, kannst du noch das Stück Rasen an der Wand mähen, das du übersehen hast.«

Alice prustete vor Lachen, wurde jedoch von einem lauten Aufruhr im Flur abgelenkt. Trippelnde Pfoten hasteten auf sie zu und schlitterten in ihrer Eile über den Boden. Zwei weiße Fellknäuel, die aufgeregt um sie herumrannten und mit den Schwänzen wedelten: ihre Westies Bo und Ruby. Als sie sich hinkniete, stürzten sie sich auf sie, wanden sich in ihren Armen wie Aale, sprangen ihr ins Gesicht und leckten ihre Hände, während sie nur hilflos lachen konnte.

»Wir haben übrigens einen neuen Postboten«, sagte Patricia. »Hab ich dir das schon erzählt?«

Alice’ Lachen verstummte abrupt. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch richtete sie sich auf und schüttelte den Kopf.

»Wie sieht er aus?«, fragte sie zaghaft.

»Oh, er ist etwa neunzig«, antwortete Patricia. »Völlig harmlos. Ich habe ihn überprüft. Wir haben all deine Anweisungen genauestens befolgt.«

»Keinerlei Unachtsamkeit«, sagte Alice.

»Keinerlei Unachtsamkeit«, wiederholte Patricia und marschierte in die Küche, wo Michael immer lauter und beunruhigender mit den Tassen klapperte. Sie scheuchte ihn weg und füllte den Kessel.

Alice beobachtete die beiden mit sorgenvollem Gesicht. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass sie in Sicherheit waren. Sie hatten all ihre Freunde zurückgelassen, um nach Irland zu ziehen – auch Jens Eltern, die Parkers, die zwanzig Jahre lang ihre Nachbarn gewesen waren. Für kurze Zeit hatten sie in Dublin gewohnt, dann waren sie nach Glenhest gezogen, wo die Wahrscheinlichkeit, entdeckt zu werden, geringer war. Doch nicht nur ihre Eltern waren in Gefahr, sondern auch Alice selbst.

Seelen zu lesen und Lügen erkennen zu können war eine wundervolle Fähigkeit, aber die Nachteile konnten tödlich sein. Es gab Leute, die alles tun würden, um ihre Gabe zu kontrollieren, und andere würden alles tun, um sie zu vernichten. Alice war schon mehrfach mit einer solchen Gruppe aneinandergeraten, die von einem Regierungsagenten namens John Boleyn angeführt wurde. Sein Handlanger Vin Kelligan hatte schon einmal Jagd auf ihre Eltern gemacht, und sie würde kein Risiko eingehen, wenn ihr Leben auf dem Spiel stand – doch die traurige Wahrheit war, dass ihre Eltern ohne sie sicherer wären.

Also würde sie gehen. Schon bald. Ihr war eine Stelle als Forschungsassistentin in der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Goring University angeboten worden – in Londons magischer Zwillingsstadt, der Rookery. Ihr Umzug war nur aufgeschoben worden, bis sie das Ergebnis der Blutuntersuchung hatte. Patricia hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie ihre Tochter nicht gehen lassen würde, solange sie nicht kerngesund war. Die dunklen Ringe unter ihren Augen und ihre Atemprobleme bei ihren täglichen Spaziergängen durchs Dorf bereiteten ihren Eltern Sorgen.

»Willst du auch Treacle Bread?«, rief ihre Mutter ihr zu.

Alice sah zu, wie die Nachtschwalben ihrer Eltern durch die Küche flatterten, nie mehr als ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Sie waren perfekt im Einklang – das Ergebnis einer dreißigjährigen Ehe zwischen Seelenverwandten.

»Vielleicht später«, antwortete sie und spürte einen Stich im Herzen. Die Nachtschwalben ihrer Eltern zu beobachten erinnerte sie jedes Mal schmerzhaft daran, dass sie Crowleys Seelenvogel trotz ihrer Gabe nicht gesehen hatte, bis es zu spät war. Ihre Nachtschwalben waren nie im Einklang gewesen, weil Crowley nie ehrlich zu ihr gewesen war – sie hatte nicht einmal gewusst, wer er wirklich war.

Mit einem Kopfschütteln wandte Alice sich ab, doch bei der Bewegung wurde ihr schwindlig, und sie geriet ins Wanken. Halt suchend stützte sie sich an der Wand ab und kniff die Augen zu, bis der Schwindel nachließ. Die Abstände zwischen ihren Schwindelanfällen wurden immer kürzer. Tief ein- und ausatmend richtete sie sich auf, die Packung Eisentabletten immer noch fest umklammert. Bo und Ruby flankierten sie wie eine persönliche Leibgarde; irgendwie schienen sie immer zu wissen, wenn es ihr nicht gut ging.

Auf ihrem Bett lag ein Paket. Bei dem Anblick blieb sie wie angewurzelt stehen, dann schlich sie vorsichtig darauf zu wie auf eine Bombe, die jeden Moment hochgehen könnte. Auf dem Etikett standen ihr Name und ihre Adresse, aber außer ihrem neuen Arbeitgeber wusste nur eine einzige Person, wo sie wohnte: Crowley.

Alice’ Blick wanderte über die vertraute Handschrift; sie war genauso scharfkantig wie er. Plötzlich überkam sie eine heftige Nervosität. Er wollte, dass sie in die Rookery zurückkam, damit er alles wiedergutmachen konnte – er hatte ihr sogar die Stellenanzeige für den Job an der Universität geschickt, weil er wusste, dass sie einer solchen Chance nicht widerstehen könnte –, doch es war zu spät. Sie hatte ihm gesagt, dass er sie nicht noch einmal kontaktieren sollte, also warum schickte er ihr ein Paket?

Crowley hatte ihre Angst ausgenutzt, als sie geglaubt hatte, Jen liege im Koma und ihre Nachtschwalbe sei verschwunden. Er hatte ihr eine Möglichkeit angeboten, ihre Freundin zu retten und ihren Seelenvogel zurückzuholen. Doch Jen hatte nie im Koma gelegen – es war ihm die ganze Zeit um eine andere Frau gegangen, die bewusstlos im Krankenhaus lag: Estelle Boleyn, Crowleys Schwester. Er hatte sie mit einer List dazu gebracht, Estelles Nachtschwalbe zu retten – doch letzten Endes waren sie beide gescheitert. Estelle lag immer noch im Koma, und Jen war tot.

Er hatte versucht, es ihr zu erklären, und beharrlich behauptet, er habe geglaubt, dass Jen dasselbe Schicksal erlitten hätte wie seine Schwester und dass Alice als Aviaristin ihre Seelenvögel ausfindig machen und beide Frauen retten könnte. Doch in seiner Verzweiflung hatte er mit der Scharade weitergemacht, als er erfuhr, dass Jen wohlauf war. Bis zuletzt hatte er beteuert, dass es eine Notlüge war und er nichts Böses beabsichtigt hatte. Aus Liebe zu seiner Schwester war er im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen gegangen, und sie hätte das Gleiche für Jen getan. Doch seine Lügen wogen zu schwer. Selbst sein Name war eine Lüge. In Wahrheit hieß er Louis Boleyn und war der Sohn von Sir John Boleyn, dem Anführer der Beaks; dem Mann, der erbarmungslos danach strebte, die Rookery und Alice zu vernichten, der Jens Entführung angeordnet hatte, damit Alice für ihn arbeitete – wegen dieses Mannes klopften sie jedes Mal Greensleeves an die Tür, wenn sie nach Hause kamen. Und dennoch … angesichts ihrer eigenen sonderbaren Situation konnte sie es Crowley kaum verdenken, dass er die Identität seines Vaters geheim gehalten hatte.

Alice riss das Paket auf und starrte den Inhalt verdutzt an: ein halbes Dutzend Ausgaben vom Rookery Herald und ein Bewerbungsformular. Warum Crowley ihr die Zeitungen geschickt hatte, wurde ihr sofort klar. Hastig klemmte sie sich alle sechs unter den Arm, trug sie in den Garten und lud sie unter dem Vogelbeerbaum in der Ecke ab. Im Sommer saß sie oft hier und malte, weil die Äste des Baums ihr Schatten spendeten.

Jetzt setzte sie sich im Schneidersitz auf die Wiese und nahm den ersten Rookery Herald zur Hand. Die Zeitung hatte ein großes Format, und auf jeder Seite drängten sich Artikel mit sensationsgierigen Schlagzeilen wie: »Mitglied von Haus Ilmarinen leugnet Brandstiftung! Behauptet, Feuer sei auf einen Sambuca-Unfall zurückzuführen!«, »Chancellor Litmanen erwägt, nationalen Feiertag nach sich selbst zu benennen« und »Versuch, eine Wasserfall-Attraktion in der Themse zu installieren, endet in einer Katastrophe!« Zwischen den Artikeln prangten Werbungen für Oxo Chocolate und Lauriston’s langlebige Kerzen. Alice sah sie von vorne bis hinten genau durch, dann nahm sie die nächste Zeitung und inspizierte sie ebenso gründlich. Ein Artikel über einen Nekromanten, der verhaftet worden war, weil er auf Beerdigungen aufgekreuzt war, um die verbitterten Botschaften der Verstorbenen zu übermitteln, ließ sie verblüfft innehalten. Es war seltsam, Geschichten aus einer anderen Welt zu lesen – einer Welt der Magie –, während ihre Eltern über das Rasenmähen stritten.

Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr. Ein winziger, spitzer Schnabel, rasiermesserscharfe Krallen und elegante Schwingen glitten vorüber. Alice’ Nachtschwalbe. Sie legte die Flügel an und stieß im Sturzflug herab, fing sich jedoch im letzten Moment, wobei sie theatralisch den Kopf zurückwarf. Alice seufzte. »Hast du nichts Besseres zu tun?«

Nachtschwalben hatten eine wichtige Funktion: die Seele ihres Besitzers zu schützen. Sie brachten die Seele bei der Geburt in den Körper und bewachten sie ein Leben lang. Wenn ihr Besitzer starb, kehrte die Nachtschwalbe mit der Seele ins Sulka-Moor zurück, das Totenreich. Doch Alice’ Nachtschwalbe war anders. Sie beschützte nicht ihre Seele, sie beschützte andere vor ihrer Seele. Eine Lektion, die sie auf schmerzhafte Art gelernt hatte, als sie beinahe die Stadt zerstört hätte. Ihre Nachtschwalbe war kein Wächter, sie war ein Gefängniswärter.

In diesem Moment schwang das Küchenfenster auf und riss Alice aus ihren düsteren Gedanken.

»Du hast deinen Tee vergessen«, rief ihre Mutter. »Soll ich ihn dir bringen?«

Alice schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich komme gleich. Zur Not stelle ich ihn kurz in die Mikrowelle.«

Ihre Mutter wirkte entsetzt. »Ich habe hoffentlich keine Barbarin großgezogen«, erwiderte sie und zog das Fenster wieder zu.

Alice sah ihr mit liebevollem Blick nach. Die Wyndhams hatten sie großgezogen und liebten sie über alles. Sie waren ihre Eltern im wahrsten Sinne des Wortes – doch sie hatten nicht dieselben Gene. Was sie miteinander teilten, war so viel wichtiger, doch in den letzten Monaten hatte sich Alice eine ständige Erinnerung an ihre Andersartigkeit angeeignet: ihren außergewöhnlichen Seelenvogel.

Normalerweise konnten Aviaristen ihre eigene Nachtschwalbe erst kurz vor ihrem Tod sehen, doch da Alice mit dem Tod bestens vertraut war, besaß sie die seltene Fähigkeit, die ihre jederzeit sehen zu können – und was sie sah, war unvergleichlich.

Für gewöhnlich waren Nachtschwalben braun, doch ihre war schneeweiß. Ihr Seelenvogel war eine unablässige Mahnung, dass sie auf die schlimmste Art besonders war.

Nur zwei andere hatten jemals weiße Nachtschwalben gehabt – und beide waren Fürsten des Todes, die Lintuvahti. Alice hatte den derzeitigen Todesfürsten, einen jungen Mann mit schneeweißen Haaren, zweimal getroffen. Sein Vorgänger, der seinen Posten als Herrscher über das Sulka-Moor aufgegeben hatte, war ihr leiblicher Vater, Tuoni. Jemand hatte einst zu Alice gesagt, sie sei aus Tod gemacht. Und das war sie – wortwörtlich.

Das bleiche Gefieder von Alice’ Nachtschwalbe leuchtete im Sonnenlicht, und ihre Flügel schlugen kraftvoll, während sie in all ihrer Pracht um Alice’ Kopf herumflog. Diese Selbstdarstellerin … Wie üblich ignorierte Alice sie.

Den Kopf leicht geneigt, sodass der Vogel aus ihrem Sichtfeld verschwand, blätterte sie die Zeitungen weiter durch. Sie suchte nach etwas ganz Bestimmtem und hoffte, sie würde es nicht finden. Nachdem sie den dicht gedruckten Text eine Weile studiert hatte, stieß sie auf einen Begriff, der ihr Herz schneller schlagen ließ: Marble Arch.

Mit zitternden Fingern umklammerte sie die Seite und fing an zu lesen. Gasleck sorgt für Chaos am Marble Arch! Nachdem es gestern Abend Berichte über ein gefährliches Leck gegeben hatte, evakuierten die Bow Street Runner den Bereich um den Marble Arch und verursachten eine Menge Ärger für die Anwohner und Geschäftsinhaber, die ihre Läden vorzeitig schließen mussten. Heute früh kam die Entwarnung. Ein Sprecher von Radiance Utilities warf den Runnern vor, übertrieben auf den Vorfall reagiert zu haben, der sich inzwischen als falscher Alarm herausgestellt hat: »Das harte Vorgehen der Runner wirft einen Schatten auf unseren guten Ruf. Es ist ein Skandal, dass sie unseren Aufruf, die Ermittlungen in aller Ruhe durchzuführen, missachtet haben. Wir können Ihnen versichern, dass Sicherheit und Effizienz für uns nach wie vor an erster Stelle stehen.«

Um Stellungnahme gebeten, erklärte Kommandant Risdon lediglich: »Die Runner nehmen jede Bedrohung ernst und werden weiterhin für die Sicherheit in dieser Stadt sorgen.«

Unterdessen konnten wir in Erfahrung bringen, dass der Tod einer unbekannten Außenweltlerin, die in London auf der anderen Seite des Marble Arch gefunden wurde, nicht mit dem Gasleck in Zusammenhang steht und nun Sache der London Metropolitan Police ist. Jetzt möchten wir unsere Leser fragen: Gehören Sie zu denen, die unter der Überreaktion der Runner zu leiden hatten? Oder sind Sie Opfer anderer Fehler der Institution geworden, die behauptet, uns zu beschützen? Rufen Sie unsere Hotline an, erzählen Sie uns Ihre Geschichte!

Alice schluckte schwer. In jener Nacht war die Welt, wie sie sie kannte, untergegangen. Jen war von John Boleyns Männern entführt worden, und Alice hatte versucht, sie mithilfe der Runner zu retten. Das Gasleck war nur ein Vorwand gewesen, um die Gegend um den Marble Arch zu evakuieren.

Schaudernd überflog Alice den Artikel noch einmal, fand jedoch nicht den geringsten Hinweis auf den Albtraum, der in jener Nacht Wirklichkeit geworden war. Jen war nur ein Bauernopfer gewesen. Eigentlich hatte Sir John Boleyn es auf Alice abgesehen, weil er ihre wahre Identität herausgefunden hatte und die Wahrheit über ihre tödliche Seele kannte – dass sie, wenn sie freigelassen wurde, alles Leben in der Rookery auslöschen würde.

Alice blickte zu ihrer Nachtschwalbe auf. Eine pulsierende, hell leuchtende Schnur war an das Bein des Vogels gebunden und wand sich um Alice’ Handgelenk. Der Lichtstrang verband sie mit ihrer Nachtschwalbe – mit ihrer Seele –, doch in jener schrecklichen Nacht hatte John Boleyn das Band durchtrennt. Ihre Nachtschwalbe war davongeflogen, und ohne ihren Wärter war ihre Seele entkommen und hätte beinahe die gesamte Rookery vernichtet. Reuben Risdon, der Kommandant der Runner, hatte Jen die Kehle durchgeschnitten, um die Stadt zu retten. Er hatte ihre beste Freundin auf dem Altar des Marble Arch geopfert und Jens Blut benutzt, um Alice’ Seele daran zu hindern, in die Rookery einzudringen – wie das Lammblut an den Türen der Ägypter zum Schutz vor der zehnten Plage.

Zittrig atmete Alice ein und fuhr mit dem Finger die Worte gegen Ende des Artikels nach: der Tod einer unbekannten Außenweltlerin. Jen war gestorben, um die Stadt zu retten, und sie kannten nicht einmal ihren Namen. Alice Wyndham wurde auch mit keinem Wort erwähnt – anscheinend war ihre Anonymität gewahrt worden. Vielleicht hatte Crowley eine Abmachung mit Risdon getroffen, um sie aus der Sache herauszuhalten; oder vielleicht war das Risdons Versuch, wenigstens einen kleinen Teil seiner Schuld an Jens Tod wiedergutzumachen.

Alice schob die Zeitung weg und lehnte sich mit geschlossenen Augen an den Baum. Crowley hatte die Zeitungen geschickt, um ihr zu beweisen, dass sie gefahrlos zurückkehren konnte, und dass niemand außerhalb ihres kleinen Freundeskreises wusste, wer oder was sie war. Doch sie selbst wusste es.

»Hier, bitte«, erklang eine schroffe Stimme.

Alice’ Augen öffneten sich schlagartig. Ihr Dad beugte sich mit einem Teller Treacle Bread und einer Tasse Tee zu ihr herunter. »Wenn du das Brot nicht bald probierst, gerät Patricia noch völlig außer sich. Selbst wenn es dir nicht schmeckt, wirst du ihr sagen, dass es das Beste ist, was du je gegessen hast.«

Lächelnd nahm Alice die Gaben entgegen. »Verstanden. Danke.«

»Die weht bei dem Wind im Nu weg, wenn du nicht aufpasst«, sagte er, bückte sich nach einer Zeitung, die über den Rasen driftete, und reichte sie ihr, bevor er ins Haus zurückging.

Gedankenverloren sah Alice ihm nach und zuckte zusammen, als ihre Nachtschwalbe über ihren Kopf schoss, so aerodynamisch wie eine Pistolenkugel. Sie warf dem Störenfried einen bösen Blick zu. Der kleine Vogel belästigte sie schon seit Wochen. Alice wusste genau, was er wollte: einen Namen. Aber er war kein Haustier, und wenn sie ihm einen Namen gab, würde sie ihm auch eine eigene Identität geben, sodass sie ihn nicht mehr ignorieren konnte.

»Deine prahlerischen Vorführungen grenzen an Selbstherrlichkeit«, teilte sie ihm mit. »Und ehrlich gesagt denke ich, das ist unter deiner Würde – immerhin bist du der Wächter meiner Seele.«

Die Nachtschwalbe warf ihr einen schuldbewussten Blick zu und verschwand.

Mit einem zufriedenen Nicken nahm Alice das Bewerbungsformular zur Hand, das Crowley ihr geschickt hatte. Das Baumsymbol auf dem Briefkopf stand für Haus Mielikki: eine Gemeinschaft von Leuten mit speziellen magischen Fähigkeiten. Ohne nachzudenken, grub Alice ihre Fingerspitzen ins Gras, bis sie auf Erde stießen. Eine prickelnde Wärme durchströmte ihre Handfläche und brachte sie zum Vibrieren, als wäre etwas unter ihrer Haut gefangen – die Magie wie ein Juckreiz, der nur durch Kratzen gelindert werden konnte. Alice atmete langsam aus, und das Gras raschelte, als sie den Druck verstärkte. In Sekundenschnelle sprossen zwischen ihren Fingern ein halbes Dutzend Gänseblümchen hervor, deren winzige Blütenblätter sich im Wind bewegten.

Die Mitglieder von Haus Mielikki hatten Macht über Pflanzen und Tiere. Alice’ Blick fiel erneut auf das Formular. Sie hatte sowieso vorgehabt, sich um eine Mitgliedschaft zu bewerben, auch ohne Crowleys Drängeln. Als sie in die Rookery gekommen war, hatte Crowley sie ermahnt, sich darauf zu konzentrieren, ihre Fähigkeiten als Aviarist zu meistern und sich nicht von ihrem Talent für Naturmagie ablenken zu lassen. Er hatte gesagt, dem könne sie später noch nachgehen, wenn sie es wollte – und in Irland hatte sie genau das getan. War dieses Formular ein weiteres Friedensangebot?

Alice seufzte schwer. Der Wunsch, ihre anderen Talente zu erforschen, war nicht der einzige Grund, warum sie sich bewerben wollte. Haus Mielikki beizutreten würde ihr auch helfen, ihre beängstigende Herkunft zu verleugnen. Die Magie von Haus Mielikki war die Magie des Lebens. Alles, wofür es stand, war das genaue Gegenteil ihres wahren Wesens, das ihre Nachtschwalbe widerspiegelte: Tod.

Mit der Zeit hatte sie eine seltsame, widerwillige Bindung zu ihrem Seelenvogel aufgebaut, doch manchmal konnte sie den Anblick seines bleichen Gefieders immer noch kaum ertragen: eine weiße Nachtschwalbe für die Tochter des Todes. Doch sie wusste, dass sie mehr sein könnte, und das würde sie beweisen.

Plötzlich flog die Hintertür des Cottage auf, und Alice zuckte erschrocken zusammen, ihre Finger verkrampften sich im Gras. Zwei weiße Schemen schossen fröhlich bellend aus der Küche, und Alice entspannte sich. Wachsam zu bleiben zahlte sich aus, aber ständig mit Gefahr zu rechnen, war ermüdend.

Während Bo und Ruby sich auf den Stapel Zeitungen stürzten und sie überall auf der Wiese verteilten, sah Alice zu Boden. Zwischen ihren Fingern begannen die frisch aufgeblühten Gänseblümchen bereits zu welken. Ihre Blüten wurden schwarz und trieben davon, und die mattgelben Köpfe fielen in sich zusammen. Innerhalb weniger Sekunden waren sie alle verrottet.

Entmutigt starrte Alice sie an, und eine heftige Übelkeit stieg in ihr auf. Über ihr tauchte ihre Nachtschwalbe wieder auf, wild mit den Flügeln flatternd, doch Alice wandte den Blick nicht von den toten Gänseblümchen im Gras ab.

Ich kann mehr sein.