Cover

AMY GILES

Aus dem Englischen

von Isabel Abedi

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Für Pat, Maggie und Julia. Für immer.

Erstmals als cbt Taschenbuch April 2021

© 2018 by Amy Giles

© 2021 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel

»That Night« bei HarperTeen, einem Imprint von HarperCollins Publishers

Aus dem Englischen von Isabel Abedi

Textredaktion: Regine Teufel

Covergestaltung: Geviert/Nastassja Abel

Covermotive: Stocksy (Lumina, KOKI JOVANOVIC)

TP · Herstellung: UK

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-25502-2
V001

www.cbj-verlag.de

JESS

Es ist schon komisch, aber auf eine tragische, also eigentlich gar nicht so komische Art, was mir von jener Nacht in Erinnerung geblieben ist. Zum Beispiel, wie warm es für März war und wie Ethan unablässig darauf rumritt, warum das am Klimawandel lag, mit dem unsere Welt zu tun hatte. Wie in den Parkplatzecken schließlich auch die letzten dieser schmutzig grauen Schneehäufchen geschmolzen waren und als einzigen Beweis für ihre einst turmhohe Existenz ein paar Pfützen hinterlassen hatten. Wie Marissa Ethans Kapuzenpulli trug, weil sie behauptete, es wäre kalt, obwohl es warm war, und wie mir bei der Übergabe dieses Pullis klar wurde, dass mein Bruder und meine beste Freundin einander gernhatten.

Meine Welt fühlt sich noch immer an wie aus den Angeln gehoben, ohne sie.

Sogar das Wetter hat sich verschoben: Der späte März scheint zu glauben, er sei in diesem Jahr der Winter und nicht der Frühling. Während ich mir die Arme reibe, um warm zu werden, laufe ich in die Gegenrichtung der Schule und schieße die erste Stunde in den Wind. Vielleicht sogar die zweite gleich mit. An manchen Morgen dauert es ein bisschen länger, bis ich die Kurve kriege und bereit bin, mich einem weiteren Tag ohne sie zu stellen, selbst jetzt noch, nach einem Jahr.

Auf meinem Weg zum Strand komme ich an Häusern vorbei, die so dicht aneinandergedrängt sind, dass sich die Nachbarn durchs Fenster eine Dose Zucker weiterreichen und damit einem Tante-Emma-Laden Platz machen könnten. Queens schläft nie, aber die Morgenstimmung hat ihren ganz eigenen nervtötenden Soundtrack. Busse schieben sich schnaufend und stotternd durch die Mott Avenue, um die Leute zur Arbeit zu bringen oder sie nach ihrer Nachtschicht abzusetzen. Aus den Autos schmettern Hupkonzerte gegen Lieferwagen, die in zweiter Reihe parken, um ihre Waren abzuladen. Über den Dächern dröhnen im Minutentakt die vom JFK gestarteten Flugzeuge. Vor den Geschäften schieben die Ladenbesitzer mit knirschend metallischem Scheppern ihre schmiedeeisernen Sicherheitsgatter hoch. In Shu’s Fischladen lässt Shu seine kiloschweren Silberbrassen auf das frische Eis krachen. In der Luft bebt das Donnergrollen der vorbeiratternden U-Bahn.

Far Rockaway ist nicht cool wie Manhattan oder versnobt wie Nassau. Zweifellos gehört dieses Viertel zum Stadtbezirk Queens, aber dafür hat es Strände. Und sie machen diesen Ort in meinen Augen lebenswert; unsere Strände, die in der Sommersaison von Mai bis September die Tagestouristen anziehen. Aber uns gehören sie das ganze Jahr hindurch.

Ich biege rechts auf den Beach Channel Drive ab und laufe geradeaus, bis ich die Strandpromenade erreiche. Der morgendlichen Kälte hier bieten sonst nur hartgesottene Power-Walker und Sportler die Stirn. Der eisige Wind, der hier am Wasser so viel schärfer ist, trifft meine ungeschützte Haut wie Nadelstiche.

Ich setze mich in den Sand und beobachte, wie die kleinen Wellen der Dünung hereinrollen. Östlich von mir liegt die Atlantic Beach Bridge, über die wir immer gefahren sind, wenn wir zur Strandhütte von Marissas Familie wollten. So viele Sommertage haben Marissa, Ethan und ich dort verbracht. Jetzt nicht mehr.

Jeder einzelne, der jene Nacht im Balcony überlebt hat, kann eine Geschichte erzählen. Der Film war längst ausverkauft, als sie im Balcony ankamen. Sie waren auf der Toilette. Sie standen in der Warteschlange für ermäßigte Tickets.

Achtzehn Menschen würden ihre Geschichte nicht mehr erzählen können.

Die Leute denken, wir hätten Glück gehabt, weil wir überlebten, weil unsere Narben nicht sichtbar sind. Aber wir spüren sie, jeden Tag. Wir sind die wandelnden Verwundeten.

Bei Ethans Beerdigung kam unsere Nachbarin Mrs Alvarez zu uns rüber. Sie tupfte mit einem Taschentuch an ihrer Nase herum, während sie mir ihr Beileid aussprach. Achtung Spoiler: In Sachen Tod und Sterben hat niemals irgendwer eine magische Formel heraufbeschworen, um den Schmerz des Verlustes zu löschen. Manche Menschen machen ihn durch ihre Unbeholfenheit nur noch schlimmer. »Gott hat dich verschont. Seine Hand lag auf deinem Rücken, um dir den Weg zu weisen«, sagte Mrs Alvarez. Ihre Augen waren wässrig und rot gerändert vom Weinen. Aber ihr Glaube war unerschütterlich. In ihrer Stimme lag nicht mal der Hauch eines Zweifels.

Es war erst ein paar Tage her, und ich war noch wie betäubt, grub mir mit den Fingernägeln halbmondförmige Sicheln in die Handflächen, nur um sicherzugehen, dass ich in jener Nacht nicht auch gestorben war. Und es sollte noch ein paar weitere Tage dauern, bis mich der Verlust mit all seiner Wucht treffen würde. Wenn ich mir morgens nicht mehr mit Ethan den Wettlauf ins Bad liefern würde. Und später, wenn mein Handy totenstill sein würde, ohne das ständige Geklingel von Marissas Textnachrichten, nachdem ihre Eltern sie auf diese Privatschule in Colorado geschickt hatten.

Hätte Mrs Alvarez mir den Plan Gottes eine Woche später verkündet, wäre ich ausgerastet. »Echt jetzt? So tickt Gott also? Er wählt seine Lieblinge? Mich vor Ethan?«

Aber bei der Beerdigung stand ich noch immer unter Schock, also sagte ich nur: »Ich wollte gerade Süßigkeiten holen.«

Sno-Caps, um genau zu sein. Das ist wichtig, denn diese Schokobonbons waren für Marissa bestimmt. Sie hatte mich nicht eines Blickes gewürdigt, als sie mir den Fünfer in die Hand drückte. »Du weißt schon, was ich will.« Ja, ich wusste, was sie wollte – und was sie auf gar keinen Fall wollte. Ich kannte Marissa zu gut. Mir war sonnenklar, dass sie nicht mit mir zum Ticketstand kommen würde, weil sie lieber bei Ethan blieb. Mir war ebenfalls klar, dass Marissa als Siebenjährige nach einer Überdosis Sno-Caps gekotzt und seitdem keinen einzigen mehr gegessen hatte.

Während er sich also durch einen der Notausgänge ins Kino schmuggelte, kaufte ich für meine beste Freundin Süßigkeiten, von denen ihr schlecht werden würde, weil ich sauer auf sie war.

Und so wurde ich »verschont«.

LUCAS

Moms kühle Hand auf meiner Wange schreckt mich aus dem Schlaf.

»Zeit zum Aufwachen«, sagt sie, als wäre ich drei Jahre alt.

Ich schaue zur Uhr auf meinem Nachttisch. 6:58. Zwei Minuten bevor mein Alarm mich hätte wecken sollen.

Sie streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Ich hab dir ein Omelett gemacht. Beeil dich, bevor es kalt wird.«

Omeletts sind ungefährlich. Jedenfalls fällt mir weder ein Fertigdressing noch irgendeine artifizielle Gewürzmischung ein, mit der sie es versauen könnte. Für gewöhnlich ist das Frühstück in diesem Haus die einzige Mahlzeit, deren Geschmack nicht von künstlichen Aromastoffen gekillt wird.

Mom greift nach oben, um den surrenden Deckenventilator abzuschalten. Ich lasse ihn die ganze Nacht über an. Das helle Rauschen lässt mich besser schlafen – ohne es würde mich jedes Knarzen der Holzdielen, jedes Straßengeräusch mit einem Satz aus dem Bett jagen.

»Du hast ganz schön gehustet letzte Nacht.« Mom legt eine Hand auf meine Stirn und verweilt eine Sekunde. Dann tauscht sie ihre Hand gegen die Lippen.

»Ma!«

Sie legt ihre Hand auf meine Wange, um noch mal zu messen. »Du fühlst dich warm an.«

»Mir geht’s gut. Ich bin gerade aufgewacht.«

»Bist du sicher?«

»Total.«

Ihr Blick klebt an meinem Gesicht, auf der Suche nach den Spuren einer Krankheit, die nicht existiert. »Ich glaube, du bist trotzdem überfällig für einen Besuch bei Dr. Patel. Ist es nicht Zeit für dein jährliches Check-up?«

»Ich bin ziemlich sicher, dass noch kein Jahr vergangen ist.« Ich taste mich vor. Behutsam.

Geschäftig sammelt sie meine Schmutzwäsche vom Boden auf. »Ich ruf heute mal in der Praxis an. Nur um sicherzugehen.«

Ich setze mich im Bett auf und strecke mich.

»Hast du meine Nachricht gestern bekommen?«

Sie fischt einen Socken unter meinem Bett hervor. »Wegen deiner Schlüssel?«

»Ja. Hast du sie gesehen? Ich musste zum Boxclub laufen.«

Das bringt sie zum Lachen, während sie auf allen vieren unter meinem Bett nach weiteren Kleidungsstücken sucht.

Schon klar. Mich über das Laufen zum Boxclub zu beschweren, wenn ich jeden zweiten Morgen freiwillig aufstehe, um fünf Meilen zu joggen, klingt ziemlich daneben.

Ich schlage die Decke zurück und schwinge die Beine über die Bettkante. »Ich weiß einfach nicht, wo sie hin sind. Ich bin ziemlich sicher, dass ich sie ans Schlüsselbord gehängt habe.«

Sie rappelt sich wieder hoch und ordnet die schmutzigen Klamotten auf ihrem Arm, wiegt sie wie ein Baby. »Tja, sie werden sich wohl kaum selbstständig gemacht haben. Ich bin sicher, sie tauchen wieder auf.«

Nein, meine Socken werden sich gewiss nicht selbstständig gemacht haben, aber in der letzten Zeit haben die Abgründe meiner Mutter einen neuen Tiefpunkt erreicht, und mein Bauchgefühl signalisiert nichts Gutes.

Mom bleibt vor dem Fenster stehen. Vom Fenstergriff baumeln meine Boxhandschuhe herab. Sie zieht an einem von ihnen, um daran zu riechen. »Ich werf ein paar Trocknertücher rein«, sagt sie mit gerümpfter Nase. »Die sollten gegen den Schweißgeruch helfen.«

Sie geht Richtung Tür, wobei sie wie immer innehält, um für ein paar schmerzhafte Herzschläge zu lang auf das leere Bett zu starren, auf die Regalbretter mit seinen über die Jahre gesammelten Pokalen und Siegerschleifen, die sie noch immer pflichtbewusst Woche für Woche abstaubt. Der Schrein für ihren spektakulären Erstgeborenen. Schließlich senkt sie den Kopf und verlässt den Raum, bevor sie überwältigt wird von der gottverdammtesten Sache dieser Welt, die der Rossi-Familie passiert ist.

Manchmal vermisse ich die Dinge, die mich an Jason am meisten genervt haben.

»Zeit für den Morgenjoint, Bro« war einer seiner Wecksprüche, zu denen er mir seinen Hintern in mein verschlafenes Gesicht streckte. »Zieh ihn dir gut rein. Gestern gab’s Steaks mit Zwiebeln.« Er wedelte mit den Händen, sodass ich die Duftnote seiner Fürze in all ihrer Fülle genießen konnte.

Dass Jasons Zwiebelsteak-Fürze etwas waren, auf das ich einmal wehmütig zurückblicken würde, wäre mir im Leben nicht den Sinn gekommen.

Punkt sieben klingelt der Wecker. Ich schalte ihn aus. Der Geruch des Omeletts zieht zu meinem Zimmer hoch. Um ehrlich zu sein, er unterscheidet sich nicht wirklich vom Gestank nach Jasons Fürzen.

JESS

Sieht so aus, als würde ich die dritte Stunde auch noch sausen lassen. Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge und lasse die salzige Luft bis auf den Grund meiner Lungen sinken, bevor ich mich aus dem Staub mache. Ich gehe zurück zur Mott Avenue, um mir einen Job zu suchen. Heute kann die Schule warten.

Meine Babysitter-Dienste bei den Ponsetis werden nicht mehr gebraucht, seit ihre Mom dort wohnt, was richtig kacke ist, weil diese Familie einfach perfekt für mich war. Sie gingen ständig aus (ihr Sozialleben ist aktiver als meins); sie konnten nie einen Zwanziger wechseln, weshalb sie beim Bezahlen stets zu meinen Gunsten aufrundeten, und ihre Speisekammer war das reinste Schlaraffenland, prall gefüllt mit zuckrigen Köstlichkeiten. Sie hatten sogar Pop-Tarts. Pop-Tarts!

Schon seit Wochen war ich wieder neu auf Jobsuche.Im Waschsalon kam die Ansage, ich solle es nächsten Monat noch mal probieren. Bei Key Food, wo Ethan zu jobben anfing, nachdem Dad uns verlassen hatte, war angeblich keine Stelle frei. Die Frau im Klamottenladen, der DenimJeans in allen denkbaren Passformen und Waschungen an dürren Schaufensterpuppen zur Schau stellt, scannte mich von oben bis unten, bevor sie mir mit einem harschen Nein die Absage gab.

Es gibt eine letzte Ecke mit Geschäften, die ich noch nicht aufgesucht habe. Eingequetscht zwischen dem koreanischen Lebensmittelhändler und dem Comic-Buchladen liegt der internationale Supermarkt Food of all Nations.

Als ich eintrete, umhüllt mich der Duft von Gewürzen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Ich steuere auf eine Schachtel mit türkischem Honig zu und halte sie hoch, um sie genauer zu inspizieren. Ich weiß noch, dass es in den Chroniken von Narnia um diese Delikatesse ging. Für sie verriet Edmund seine Familie. Ich hatte den türkischen Honig noch nie zuvor gesehen, aber diese Dinger mussten etwas ziemlich Besonderes sein, wenn eine Schachtel davon zum Verrat einer Familie führen konnte.

»Kann ich Ihnen helfen?« Die Verkäuferin hinter dem Tresen richtet ihren Hidschab.

Ich stelle die Schachtel exakt so zurück, wie ich sie vorgefunden habe, und gehe zum Tresen. »Ich habe mich gefragt, ob Sie hier vielleicht jemanden einstellen möchten?«

Sie schürzt die Lippen. »Nein. Tut mir leid. Wir sind ein familiengeführtes Unternehmen.«

»Oh. Okay.« Ich versuche zu lächeln, aber die Wochen der Ablehnung ziehen meine Mundwinkel nach unten.

»Vielleicht versuchst du es mal bei Enzo’s«, schlägt sie vor. Ich zeige mit dem Daumen nach rechts. »Enzo’s Baumarkt?«

Nicht, dass hier irgendein anderer Enzo zu finden wäre; es ist nur so, dass mir Enzo schon als Kind eine Höllenangst eingejagt hat. Immer saß er auf dem Stuhl hinter dem Tresen. Er grunzte jeden an, ohne jemals zu lächeln. Jedes Mal, wenn wir dort etwas besorgen mussten, versteckte ich mich hinter Dads Rücken.

»Sucht Enzo’s Mitarbeiter?«, frage ich.

Sie nickt. »Frag nach Regina, Enzos Nichte. Sag ihr, Adab hat dich geschickt.«

Ich nicke zuversichtlich. Adab, Regina … Enzo … Das Schaudern verkneife ich mir. Ich schaff das.

Nachdem ich mich bei ihr bedankt habe, zeige ich auf den türkischen Honig. »Wenn ich etwas Geld verdient habe, dann komme ich darauf zurück.«

Sie lächelt und nickt. »Bis dahin reserviere ich dir eine Schachtel.«

Ich verlasse den Markt und atme ein paar Mal tief ein, bevor ich zu Enzo’s Baumarkt marschiere.

»Füll das Formular aus.«

»Regina« hat sich als Reggie Scarpulla entpuppt, eine Mitschülerin, die letztes Jahr ihr Abi gemacht hat. Sie schiebt mir ein Blatt Papier zu. Wir waren nicht befreundet oder so, aber ich weiß noch, wie sie auf der Mädchentoilette ihren Lippenstift nachgezogen hat.

Ich sitze auf einem der unbequemen orangefarbenen Plastikstühle neben einem Kaffeeautomaten und gegenüber der Bürotür und fülle das Formular aus.

Als ich fertig bin, führt mich Reggie in ihr Büro und schließt die Tür, sodass die stickig abgestandene Luft zwischen uns eingesperrt ist. Ein Schweißtropfen zeichnet eine kitzelnde Spur auf meiner Wirbelsäule.

»Jessica Nolan. Ich erinnere mich an dich.« Sie klopft mit dem Radiergummi auf der Tischplatte herum, während sie meine Einträge studiert. Taptaptaptaptaptaptap. Sie schaut zu mir hoch. »Letzten Monat bist du siebzehn geworden. Dann bist du in der Elften, stimmt’s?« Ich nicke. »Also kannst du erst nach Schulschluss.«

Ich nicke wieder. Räuspere mich. »Ja.«

»Und warum bist du jetzt nicht in der Schule?«

»Heute gehe ich später. Ich hab eine Entschuldigung.«

Den Teil mit der Entschuldigung schiebe ich hinterher, damit ich nicht als notorische Schulschwänzerin rüberkomme, auch wenn ich genau das bin. Ich erwähne nicht, dass ich die Entschuldigung selbst geschrieben und die Unterschrift meiner Mutter gefälscht habe.

Taptaptaptaptaptaptap.

Sie atmet aus. »Also, Jessica. Warum willst du hier arbeiten?«

»Oh. Warum?« Warum war ich nicht auf die Antwort dieser basalen Job-Interviewfrage vorbereitet?

Abwartend zieht Reggie ihre Augenbrauen hoch.

»Ich … ich brauche einfach nur dringend einen Job.« Ich fühle, wie mir das Blut in die Wangen schießt.

Dem überraschten Zurückzucken ihres Kopfes nach zu urteilen, hat ihr diese Antwort noch niemand geliefert. Reggie kratzt sich mit dem Radiergummi die Kopfhaut, dann nimmt sie die Tappgeräusche wieder auf. Sekunden verstreichen, während sie sich meine Antwort offenbar durch den Kopf gehen lässt.

»Ein paar Worte zu uns.« Ich nehme es als Zeichen, dass ich das Interview bis jetzt noch nicht komplett vergeigt habe. »Wir sind klein, aber winzig sind wir nicht. Letztes Jahr haben wir unser Sortiment erweitert. Alles, was die Großen bieten, gibt es jetzt auch bei uns. Sanitärzubehör, Heizen und Belüften, Elektro- und Malerbedarf …« Sie zählt alles an den Fingern ab, während ihr Blick zur geistigen Bestandsaufnahme über die Decke gleitet.

Schließlich atmet sie aus und legt ihre Handflächen auf die Tischplatte.

»Okay … also, wir wollen tatsächlich eine Stelle besetzen. Aber es ist keine klar definierte Stelle, verstehst du? Nicht Kundenservice oder Küchendesign.« Sie wirbelt mit ihren Fingern durch die Luft, als wäre Küchendesign das Faszinierendste, was einem in den Sinn kommen könnte. »Von allen, die hier arbeiten, wird erwartet, dass sie einspringen, ganz egal in welchem Bereich. Mit Ausnahme der Kasse. Ans Geld lässt mein Onkel niemanden ran.« Sie lacht und schaut nach unten auf meine Einträge, bevor sie vor sich hin flüstert: »Nicht mal mich.«

Sie schaut wieder hoch. »Zu den Aufgaben zählen das Entladen der Lkws und das Auffüllen der Regale. Bis zu 30 Kilo Gewicht musst du gestemmt kriegen.«

Ihr Blick wandert über meine Schultern, meine Arme, über alles, was sie von ihrer Position aus sehen kann. Ich weiß, was sie sieht, und ich weiß, dass es nicht der Rede wert ist. Ich wünschte, meine Klamotten wären weniger ausgeleiert und würden mein Fliegengewicht nicht so betonen.

»Ich schaffe 30 Kilo«, verspreche ich.

»Das hier ein extreeem glanzloser Job, Jessica. Es wird der Tag kommen, an dem ich dir sage, du musst das verstopfte Klo freikriegen. Du wirst nicht GLAU-ben, welche Geschenke manche Kunden uns da drin hinterlassen.« Sie verdreht die Augen bis zur Decke.

Es kostet Kraft, meinen Ekel zu verbergen. »Ist okay. Ich krieg das hin.«

Mir ist klar, dass sie versucht, mich abzuschrecken. Aber meine Angst, den Job nicht zu kriegen, übersteigt die Angst, genommen zu werden. Reggies nachdenklicher Blick heftet sich auf die flackernden Leuchtstoffröhren. Ich zähle jede einzelne qualvolle Schweigesekunde.

»Dein Bruder war im Balcony, stimmt’s?«

Mehr Worte braucht es nicht. Jeder in unserem Viertel weiß, was dahintersteckt.

»Yep«, sage ich. »Genau wie ich.«

»Oh, das wusste ich nicht. Ich bin nicht hingegangen, zu diesen ganzen …« Sie fuchtelt mit der Hand durch die Luft »... Feierlichkeiten.« Ihr Gesicht verzieht sich, als hinterließe der Ausdruck einen schlechten Geschmack in ihrem Mund.

Ich weiß exakt, was sie meint. Das Pflanzen eines Baumes, die gespendete Bank, das Benefiz-Softball-Spiel. Lauter wohlgemeinte Aktionen, um die Menschen, die in jener Nacht gestorben sind, zu ehren; aber schlussendlich hat jeder Einzelne von ihnen aus uns Überlebenden und Familienangehörigen eine öffentliche Freakshow gemacht – zu Leuten, mit denen du in einer Million Jahren nicht tauschen würdest. Trotzdem. Diese »Feierlichkeiten« waren für uns, nicht für sie.

»Ich konnte nicht«, fügt Reggie hinzu. Ich hab nur seinen Namen auf der Liste entdeckt.« Sie erhebt sich vom Stuhl. »Warte hier.«

Sie lässt die Tür offen, Gott sei Dank. So kommt wenigstens ein bisschen Luft hier rein, aber ich schwitze immer noch. In der Ecke steht ein Ventilator, der Stecker ist draußen. Ich würde ihn ums Verrecken gern einstöpseln, aber in meiner Vorstellung lässt er all die Papiere von Reggies Schreibtisch in die Höhe und durch ihr Büro flattern wie aufgescheuchte Seemöwen.

Ich ziehe mir das T-Shirt von der Haut weg und fächle ein bisschen Luft rein, bevor sich der Schweißgeruch im Stoff festbeißt.

Vorsicht Brustschweiß! In meinem Kopf ertönt Marissas Stimme. Sie bringt mich zum Lachen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was sie alles vom Stapel lassen würde, wenn sie mich hier sehen könnte – bei der Bewerbung um einen Job, bei dem ich Lastwagen entladen muss.

Vergiss nicht, dir auf dem Heimweg einen Sackhalter zuzulegen, uahhhahahahaha!

Große Rostflecken haben sich in Reggies Metalltisch festgebissen. Mein Blick fällt auf die Rückseite eines Bilderrahmens.

Dreh um! Lass sehen! Marissa befiehlt und ich gehorche.

Es ist Reggie mit einem großen, extrem muskulösen Typen. Er kommt mir bekannt vor. Ich kann förmlich spüren, wie sich Marissa über meine Schulter beugt. Wow, sieht der gut aus!

Die beiden sind am Strand, lächeln in die Kamera, eng umschlungen, ihre Arme knackbraun von der Sonne. Neben Reggie kommt er mir vor wie Paul Bunyan, der sagenhafte Holzfäller. Er sieht aus, als würde es ihn nicht den Hauch einer Anstrengung kosten, sie in seiner Umarmung zu zerdrücken.

Und GIGANTISCH! Der Typ ist die reinste Betonburg!

Reggie kommt zurück ins Zimmer, und ich hab das Bild noch in der Hand.

Ertappt!

Mit einer panischen Bewegung stelle ich den Rahmen zurück auf seinen Platz.

»Tut mir leid.« Ich könnte vor Scham in Flammen aufgehen.

»Schon okay«, sagt sie, aber ihr Blick ist finster, defensiv. Ich hab eine Grenze überschritten, ziemlich dumm bei einem Bewerbungsgespräch.

Sie atmet aus, als könnte sie ihre Verstimmung damit wegpusten. »Er war mein Verlobter.«

War. Jetzt ist mir klar, wie ihr Kommentar zu den Feierlichkeiten gemeint war.

»Er war auch im Balcony. Jason Rossi.«

Deshalb kam er mir so bekannt vor.Als ich eingeschult wurde, war Jason Rossi in der Abschlussklasse. Homecoming-King. Star-Quarterback. Marissa und ich sind zu sämtlichen Footballturnieren gegangen, nur um ihn spielen zu sehen, obwohl uns die Schule komplett am Arsch vorbeiging, und Football erst recht. So legendär war er.

Reggie reißt ihren Blick vom Bilderrahmen los. Auch ihr schmerzerfüllter Ausdruck ist mir vertraut. Niemand aus Rockaway ist komplett immun.

»Sein Bruder ist ein Mitschüler von mir«, sage ich.

Sie greift nach ihrem Bleistift und fängt wieder mit dem Getappe an. Ihre Stimmung ist umgeschlagen, die Erwähnung von Jasons Bruder Lucas hat ihren Tonfall aufgeheitert. »Ihr beiden kennt euch? Lucas arbeitet auch hier.«

Ich lehne mich im Stuhl zurück, als er in meinem Kopf Gestalt annimmt. Ein Zwölftklässler. Ebenfalls gebaut wie eine Betonburg. »Leg dich nicht mit Lucas an«, lautet eine der goldenen Regeln an unserer Schule.

Und ziemlich gut aussehend ist Lucas auch. Vielleicht wird dieser Job hier am Ende doch nicht so übel.

Reggie lässt ihren Bleistift auf die Tischplatte fallen. »Wir zahlen elf Dollar die Stunde. Die Schichten ändern sich von Woche zu Woche, je nachdem, wie viel zu tun ist. Hast du damit ein Problem?«

Ich schüttle den Kopf. Kein Problem.

»Okay, wenn du nächsten Montag loslegen willst …« Sie wirft einen Blick auf den Wandkalender. »3. April? Dann komm gleich nach der Schule.«

Ich lächle und bin geradezu aberwitzig stolz, dass ich diesen höchstwahrscheinlich ziemlich lausigen Job ergattert habe.

»Klingt super.«

Keinen Plan. Bin noch nicht so weit. Frag Siri.

Wetten, du hast nicht gewusst, dass ihre Lieblingsfarbe grün ist?

So genial bin ich.

Schmatzeschön!

Ich hab wieder mal in meinen und Marissas alten Textnachrichten gelesen. Ich könnte stundenlang scrollen und wäre noch immer nicht durch. Sie zerreißen mir das Herz, und trotzdem halten mich diese Marissa-Energiespritzen am Leben, so wie die Sauerstoffmasken im Flugzeug, wenn in der Kabine der Luftdruck sinkt.

Ich hab seit Monaten nichts von Marissa gehört. Die Boulder Academy, wie sich die Privatschule für Kinder und Jugendliche mit sozialen und emotionalen Herausforderungen nennt, erlaubt weder Handys noch irgendeinen anderen Zugang zur Außenwelt. Mrs Connell hat mir erklärt, sie habe ein Mal pro Woche eine familientherapeutische Skype-Sitzung mit Marissa, aber teilnehmen dürfen nur die unmittelbaren Angehörigen. Praktisch zur Familie zu gehören, zählt am Ende also doch nicht so, wie es mal geklungen hat.

Viele Kids haben sich von jener Nacht nie erholt. Marissa ist eins von ihnen. Die Schule ließ Seelsorger kommen, um dem Rest von uns beizustehen. Die Schulflure waren voll von Leuten, die sich umklammerten oder sich an einer Schulter ausweinten. Ich hatte meine Schulter zum Ausweinen verloren.

Ich drücke an dem harten, erbsengroßen Knubbel in meinem Ohrläppchen herum. Das zweite Piercing, das ich zuwachsen lassen musste, nachdem es sich entzündet hat. Marissa meinte, ich sollte die Nadel in den hellen Teil der Flamme halten, das würde sie sterilisieren. Was es nicht tat.

Gerade als ich mein Bioheft aus dem Schließfach ziehen will, ertönt am anderen Ende des Flurs das Gekicher von Sarah Orchtera und Andrew Sarrow. Sie sind erst seit einem Jahr zusammen und hatten nach rund vier Wochen ihr erstes Mal, was in der ganzen Schule die Runde machte.

Ein kleines Lehrstück zu den Risiken des Ruhms: Was ich tue oder nicht tue oder mit wem ich es tue oder nicht tue, interessiert in Wahrheit keine Sau.

»Nein, bitte, klär mich auf. Was würde ich nicht verstehen?« Andrew breitet beide Arme aus. Er trägt zu viel Haargel in seinen dicken Locken. Sie sehen gleichzeitig fettig und knusprig aus, was eigentlich nur dann eine gute Kombi abgibt, wenn du eine Frühlingsrolle bist.

Sarah verdreht die Augen und gibt ihm keine Antwort. Als sie sich ein Schulbuch aus dem Schließfach holen will, greift Andrew nach ihrem Handgelenk.

»Ich rede mit dir!«

Ein paar Köpfe drehen sich neugierig zu den beiden um.

»Lass mich los!«, kreischt sie und windet ihr Handgelenk aus seiner Faust. Er knallt seine Hände gegen beide Seiten des Schließfachs und sperrt Sarah zwischen seinen Armen ein. Ein Oh-Shit-Gemurmel ertönt, aber niemand tut was. Außer einer Person.

Lucas Rossi stürzt auf die beiden zu, packt Andrew am Kragen und zerrt ihn so heftig von Sarah weg, dass Andrew einen guten Meter weiter auf dem Boden landet.

»Sie hat gesagt, du sollst sie loslassen.«

Andrew reckt den Hals und starrt zu Lucas hoch. Seine Wut hat sich so blitzartig in Angst verwandelt, dass ich mich schon auf die Pfütze unter seinen Füßen gefasst mache.

Lucas ist wahrscheinlich der größte Typ der ganzen Schule. Alles an ihm, von den Zehen bis zur Nasenspitze, scheint 70 Prozent erweitert, um mit seinen gigantischen Maßen mitzuhalten.

»Das ist nicht dein Problem«, sagt Andrew. Es ist kein Angriff, sondern eine Feststellung. Er klingt kein Stück mehr so dreist wie vorhin, als er seine Freundin drangsaliert hat.

»Ich mache es zu meinem Problem.«

Andrew ergibt sich mit erhobenen Händen und tritt den Rückzug an. Er wirft einen letzten Blick auf Sarah. »Wir sprechen später.«

»Viel später«, fügt Lucas hinzu.

Er dreht sich um, und im Weggehen begegnen sich unsere Blicke in der Menge. Er schaut mir in die Augen, nicht länger als einen Herzschlag, aber lang genug, um mir das Gefühl zu geben, dass er mich in irgendeinem inneren Notizbuch abspeichert. Auf meinen Wangen breitet sich ein Lächeln aus. Meine Hand erhebt sich zum Gruß. Ich meine, bald sind wir schließlich Arbeitskollegen. Ich öffne meinen Mund, um es ihm zu sagen.

»Hey …«

Lucas’ wütender Ausdruck verwandelt sich in leichte Panik. Wegen mir?

Ich breche den Gruß ab und tu so, als wollte ich mir lediglich das Haar hinters Ohr streichen. Aber er geht schon weiter, hastet den Flur entlang, weg von mir.

Das Kribbeln in meinen Fingerspitzen. Mittlerweile ist es mir total vertraut. Alles schnürt sich zusammen: der Flur, meine Klamotten, meine Kehle. Ich rase zum Klo neben der Cafeteria. Mit einem bisschen Glück werden Domie oder Charmaine dort sein, mit ihrem Geheimvorrat an Gras. Ein paar Züge werden mir da durchhelfen. Das tun sie jedes Mal.

LUCAS

Vor der siebten Stunde treffe ich Pete an seinem Schließfach. »Ich geh heut früher«, sage ich und schultere meinen Rucksack.

»Wie kommt’s?«

Ehe ich etwas erwidern kann, kommt Gwen Welsh angeschossen, drängt sich zwischen uns und kitzelt Pete unter den Achseln. Er krümmt sich mit einem Quietschen und kichert, als Gwen wieder wegflitzt. Dann zeigt er ihr hinterher. »Wenn du am wenigsten damit rechnest … kannst du damit rechnen.«

»Was bitte war das denn?«, frage ich.

»Ein Kitzelwettkampf«, sagt er, als wäre es das Offensichtlichste auf der Welt.

»Zwischen dir und Gwen?«

Gwen zählt nicht zu den Leuten, mit denen wir normalerweise abhängen, aber nach dieser Kitzelattacke würde man’s nicht ahnen. Sie hat’s echt drauf.

Pete zieht ein Sweatshirt aus seinem Schließfach und schnüffelt dran. Mit einem Würgen schmeißt er es wieder rein. »Zwischen der ganzen Schule.«

»Kein Mädchen ist je zu mir gekommen und hat mich gekitzelt.« Unfassbar – es macht mich eifersüchtig, dass Pete gerade unter den Achseln gekitzelt wurde.

»Die würden ja auch ’ne Trittleiter brauchen, um an deine Achsel-Etage zu kommen.«

Tja. Vielleicht sind es ja nicht nur meine Achseln, die mich unerreichbar machen. Vielleicht verbreite ich irgendeine Aura von »Betreten verboten«.

Wohin ich auch schaue, alle um mich herum machen mit ihrem Leben weiter. Vor einem Jahr war dieser Ort hier ein Kriegsgebiet. Weinende Menschen, nonstop, überall. Einfach nur an einem Schließfach vorbeilaufen konnte ein Auslöser sein. Bei mir ist es die Sporthalle. Der Trophäenschrank. Daran vorbeizugehen, zerstört mich. Ihre Namen … mein Familienname … graviert auf Medaillen, Pokalen. Fotos von meinem Dad, Star-Footballspieler in den späten 80ern. Dann Jason, vor nur ein paar Jahren. Sie beide haben Geschichte geschrieben an dieser Schule.

Mittlerweile haben die Leute sich erholt. Im letzten Jahr war der Abschlussball abgeblasen worden, sodass sich dieses Jahr jeder doppelt darauf freuen kann.

Egal, wo ich hinschaue, in jeder Ecke ist irgendein Antrag am Laufen. Am anderen Ende des Flurs jongliert Jim Barnes mit fünf Leuchtbällen vor Grace McCurdys Schließfach, an dessen Tür ein großes Plakat prangt:

WAS IST MAGISCHER,

ALS MIT FÜNF BÄLLEN ZU JONGLIEREN?

MIT DIR AUF EINEM BALL ZU TANZEN!

Ich hab gehört, dass Aisha Malik ein Vermögen damit macht, Antragsideen zu entwickeln; für jede einzelne kassiert sie fünfzehn Dollar.

Pete klopft mir auf die Schulter. »Hey. Ich soll dich was fragen.«

»Was?«

Pete zuckt mit den Achseln. »Molly Krane will wissen, ob du mit ihr zum Ball gehen würdest, wenn sie dir einen Antrag macht.«

Molly. Langes braunes Haar, blaue Augen. Klug, humorvoll, hübsch.

Ich zucke zusammen, als könnte Pete den bedauernden Ausdruck in meinem Gesicht an Molly weiterleiten. »Nee, sorry. Ich geh nicht zum Ball.«

Nicht für jeden geht schon jetzt das Leben weiter. Definitiv nicht für mich.

Ich denke an Ethans Schwester, die mir heute Morgen zugewinkt hat. Ein schönes Mädchen lächelt dir zu, schickt dir einen Gruß, und du haust ab? Super, Lucas. Echt super.

Es ist nicht so, als hätte ich mir keinen Kopf gemacht. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, hätte ich wenigstens genickt oder Hi gesagt, bevor ich mich aus dem Staub gemacht hätte. Aber jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, gibt es irgendwas anderes, was mich an jene Nacht erinnert. Und manchmal gibt es einfach zu viel davon an einem Tag. Jess Nolan kam leider genau in dem Augenblick, in dem ich meine tägliche Höchstquote bereits erreicht hatte.

Pete nickt verständnisvoll. »Ja, klar, hab ich mir schon gedacht.« Er dreht sich um und nimmt das Wirtschaftsbuch aus seinem Schließfach. »Also, was hast du jetzt vor?«

In meiner Jeanstasche vibriert mein Handy. Es ist Mom, ich weiß es, bevor ich nachschaue.

»Meine Mom hat einen Arzttermin für mich gemacht. Sie hat den ersten freien Termin genommen.«

»Bist du krank?« Pete rückt nicht gerade unmerklich von mir ab.

»Nein. Aber sie glaubt, ich wäre krank … alsooooo …«

»Yep.«

»Yep.«

Er kapiert es. Schon in der Sandkiste war Pete mein engster Freund.

Seit jener Nacht verhalten sich alle anders mir gegenüber. Nur Pete blieb derselbe, darauf konnte ich zählen. Nie hat er versucht, mir irgendwelche Infos zu entlocken oder mich dazu zu bringen, über meine Gefühle zu reden … das war der Job von Dr. Engels. Pete war kein Helikopterfreund, der sichergehen wollte, dass ich in keine neuen Löcher stürzte … das war der Job meiner Mutter. Pete kreuzte einfach auf, manchmal nur, um mit mir im Auto durch die Gegend zu düsen, ziellos, die Musik zu trommelfellgefährdender Dezibelstärke aufgedreht.

Pete war sogar derjenige, der mich zum Boxclub brachte. »Lass mich ausreden«, sagte er, nachdem er den Vorschlag gemacht hatte. »Ich hab was über diese …« Seine Finger krallten sich um das Lenkrad, als er versuchte, sich verständlich zu machen. »… diese sogenannte PTBS gelesen, okay? Da ist dieser Boxer, der den Irak überlebt hat, aber mit den Folgen seiner traumatischen Erfahrungen nicht klarkam. Tagsüber trug er diese fette Wut mit sich rum, diese ganze Panik. Nachts konnte er nicht schlafen, jedes kleinste Geräusch jagte ihn aus dem Bett. Er sagte, das Boxen hätte ihm geholfen, damit klarzukommen.«

Ebensogut hätte Pete da gerade mich beschreiben können.

»Du hast darüber gelesen?« Ich war echt geplättet, so was aus Petes Mund zu hören. Meine Mom, klar. Aber nicht Pete.

Ich hatte ihn beim Kümmern ertappt, das verriet mir die leichte Pinkfärbung seiner Ohren, aber er lachte darüber hinweg. »Bist halt mein bester Bro.«

Ich schnaubte, aber ließ es gut sein. »Yeah, okay, klar. Warum nicht?«

Die Box-Akademie, die Pete auf dem Seatgirt Boulevard entdeckt hatte, war von der heftigsten Sorte. Wir standen kaum in der Tür, als uns der Gestank nach ungewaschenen Socken und billigem Aftershave entgegenschlug. Pete nahm kein Blatt vor den Mund.

»Ziemlicher Arschgeruch hier drin«, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand. »Arsch bespritzt mit Eau de Toilette.«

Die Wände waren zugepflastert mit Postern von vergangenen und anstehenden Wettkämpfen und gerahmten Fotos von Weltgewichtmeistern und Siegern der Golden-Gloves-Turniere.

Einen von ihnen erkannte ich; Sergey Aminev, er war unser lokaler Boxchampion. Der Club war voll von wild entschlossenen, konzentrierten Gesichtern. Im Ring hielt ein Trainer ein paar überdimensionale Handpratzen in die Höhe, die ein Mädchen, gut durchtrainiert und schweißglänzend, mit blitzartigen Faustschlägen attackierte, während der Trainer seine Arme nach oben und unten, nach rechts und links bewegte. Die beiden waren völlig im Einklang, als wären sie im Geiste miteinander verschmolzen.

Ein paar Typen schlugen unermüdlich auf den Boxsack und den Punchingball ein. In einer Ecke sprang ein Betonklotz von Typ in einer solchen Lichtgeschwindigkeit Seil, dass das verschwommene Teil wie eine optische Täuschung durch die Luft sauste und peitschte.

Eine Glocke ertönte, und auf einen Schlag kamen all die Geräusche und Aktionen zum Stillstand.

Ein älterer Typ in einem grauen Trainingsanzug, passend zu seinen grauen Haaren und dem grauen Ziegenbart, lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, ein Bein vors andere geschlagen. Das Jokergrinsen in seinem Gesicht sah aus, als wäre es ihm in die Visage getackert.

»Sucht ihr jemanden?«

Eingeschüchtert von allem, was dieser Mann und dieser Ort hier ausstrahlten, drehte ich mich Hilfe suchend zu Pete.

»Ähm …« Ich rieb mir die Mundwinkel, dann den Kiefer. »Ich hatte überlegt, ob ich vielleicht mit Boxen anfange?«

Das Jokergrinsen breitete sich aus; Grübchen bildeten sich auf beiden Seiten des penibel rasierten Ziegenbarts.

»Mit Boxen anfangen?« Er schleuderte mir die Worte zurück ins Gesicht. Meine Wangen fühlten sich an wie kurz vor der Kernschmelze. »Das hier ist kein Zumbakurs, Kleiner.«

Ich griff Pete am Arm. »Komm, lass uns abhauen.« Aber Pete zwang den Blick dieses Typen nieder und zeigte mit dem Finger himmelwärts, zu meinem Kopf.

»Schau ihn dir an. Glaubst du ernsthaft, der ist für Zumba geschaffen?«

Der Typ strich sich mit den Fingern durch den Bart. »Soviel ich weiß, ist Zumba für alle. Zumindest behauptet das meine Schwiegermutter. Es hilft ihr gegen die rheumatoide Arthritis.«

Er verarschte mich, das verrieten nicht nur die Lachfältchen um seine Augen.

»Pass auf«, sagte ich. »Ich bin hergekommen, weil … ich gehört habe, dass es mir helfen könnte, das ist alles.«

»Dir helfen, womit?«

»Ach, vergiss es.« Ich klappte den Mund zu. Ich würde mich nicht weiter rechtfertigen. Mit jedem Wort, das ich bis jetzt von mir gegeben hatte, fühlte ich mich wie ein kompletter Idiot.

Die Glocke ertönte, und auf einen Schlag geriet alles wieder in Bewegung, das Peitschen des Sprungseils, die dumpfen Schläge der Boxhandschuhe auf dem Boxsack, das Gedribbel des Punchingballs.

Pete stieß empört die Luft aus. »Er war im Balcony, okay? Er schleppt Zeug mit sich rum. Ich bin derjenige, der ihn überredet hat, das hier zu probieren.«

Das Jokergrinsen entpuppte sich als nicht so festgetackert, wie ich gedacht hatte; mit einem Schlag verschwand es aus dem Gesicht des Typen. Seine ohnehin schon bleiche Haut wurde so grau wie sein Ziegenbärtchen. Er kratzte sich am Nacken, dann sah er zu mir hoch. »Tut mir echt leid.« Mit einer kompletten Kehrtwende streckte er mir die Hand entgegen. »Leo. Leo Springer. Das hier ist mein Boxclub. Und du bist?«

»Lucas.«

»Lucas? Lucas wer?«

»Rossi.«

Er musterte mich von oben bis unten, und ich konnte förmlich hören, wie es bei ihm klick machte.

Typen wie Leo glauben, sie wüssten alles über die Rossi-Familie, besonders über Jason. Was aus ihm hätte werden sollen, die Hoffnung, die so viele Menschen aus Rockaway gehegt hatten, dass er weitermachte, dass er berühmt wurde, dass sein Name in aller Munde sein würde, für jeden von ihnen. So wie Sergey Aminev es geschafft hatte.

Aber dann war der Augenblick vorbei, und Leo hatte sich wieder im Griff.

»Läufst du, Lucas?«

»Nicht wirklich«, sagte ich.

»Dann wirst du damit anfangen.« Er winkte mir, ihm zu folgen. »Mach dich fit für fünf Meilen.«

»Fünf Meilen?«

Leo hielt inne und funkelte mich an. »Du riskierst schon jetzt ’ne dicke Lippe?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein … ähm … und wie oft?«

»Jeden Tag, wenn du das hier ernsthaft willst. Alles klar?«

Ich nickte. Ich wollte es. Ernsthaft. Oder doch nicht? Plötzlich war ich unsicher. Ich meine … fünf Meilen!

Leo gab mir ein Sprungseil. »Gib mir nur ein paar Minuten, damit ich einschätzen kann, wie wir starten.« Ich stolperte über das Seil, über meine eigenen Füße, ehe ich auch nur die Chance hatte, es durch die Luft sausen und peitschen zu lassen.

Leo nahm mir das Seil aus der Hand. »Okay, hier fangen wir bei null an. Alles gut. Das kriegst du hin. Rechtsausleger oder Linksausleger?«

Ich versuchte, mich zu erinnern, welches was war.

»Ähmm …?«

Er erklärte es mir, langsam, als wäre ich schwer von Begriff … was ich definitiv war. »Boxt du mit der rechten oder der linken Hand?« Zur Demonstration hob er eine Faust, dann die andere.

Ich boxe nicht, wollte ich sagen, aber mit dieser Antwort würde ich hier nicht landen. »Rechts.« Ich hielt meine rechte Hand hoch.

Er verschränkte die Arme. »Zeig mir deine Normalhaltung.«

Ich hob beide Fäuste vor mein Gesicht; er schüttelte den Kopf.

»Du bist Rechtshänder – beim Boxen also Linksausleger. Für deine Grundstellung setzt du den linken Fuß vor und hebst die linke Faust.« Er machte es vor. »Die linke ist deine Führhand, damit täuschst du an, damit deine rechte, also die Schlaghand, kräftig vorschießen kann.«

Ich versuchte, die Haltung einzunehmen, die in meiner Vorstellung die richtige war. Erneutes Kopfschütteln von Leo. »Dreh deine Schulter, sodass sie auf den Gegner zeigt. Beine schulterbreit auseinander. Nicht so steif, beug die Knie ein bisschen, linken Fuß nach vorn, in Richtung deines Gegners. Kinn runter. Augen hoch. Okay, halten.«

Ich kam mir dämlich vor, aber ich hielt meine Stellung, während er zurücktrat und die Augen zusammenkniff. Als meine Ellbogen nach unten glitten, schnellte Leos Hand hoch und hielt – zack – nur kurz vor dem Schlag in mein Gesicht inne. Ich zuckte zusammen. »Fallen die Hände, fällt der Mann. Immer die Hände oben halten.«

Während ich noch in meiner Haltung verharrte, klatschte er mir mit dem Handrücken gegen den Bauch. Darauf war ich nicht vorbereitet, aber diesmal gelang es mir, nicht zusammenzuzucken. »Nicht schlecht. Aber wir wollen ihn so hart wie einen Packen Ziegelsteine.«

Wieder verschränkte er seine Arme vor der Brust. »Du bist offensichtlich ein starker Bursche, aber wenn du Boxer werden willst, wirst du für mich bluten müssen.« Er nickte einmal mit dem Kopf. »Millionen-Dollar-Frage. Warum bist du hier?«

Bäm! Seine Frage landete zielgenau in der sumpfigen Grube, die in meinem Innersten herumgluckerte. Es war dieselbe Frage, die auch mich seit jener Nacht nicht losließ.

Warum bin ich hier? Warum ich und nicht Jason?

»Ich hab doch gesagt …«, stotterte ich.

»Nah. Ernsthaft. Was wird dich um fünf Uhr morgens aus dem Bett steigen lassen, um zu laufen?« Er tippte sich gegen die Schläfe. »Was treibt dich an, wenn du glaubst, dass nichts mehr geht?«

Ich hatte keine Antwort.

»Du kannst jeden hier fragen, und jeder wird dir was anderes sagen.« Er zählte die Beispiele an den Fingern ab. »Geld, Ruhm, Fitness.« Dann streckte er mir die Hand entgegen, als wäre sie eine mögliche Antwort, die ich mir ausleihen könnte, wenn ich wollte.

»Ladies!«, rief der Glatzkopf am Punchball aus. Er grinste breit.

»Ha. Hättest du gern«, konterte Leo.

Er zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Honors Stiefvater hat ihm eingetrichtert, er würde es nie zu was bringen. Jedes Mal, wenn er in den Ring steigt, will er sich damit also etwas beweisen. Ich bin jemand.« Leo rammte sich den Daumen in die Brust.

Ich holte tief Luft, sog diesen ganzen Gestank in mich ein und wartete darauf, dass er mich rauswarf, weil ich noch kein inneres Ziel parat hatte.

»Komm mit.« Also doch kein Rauswurf. Er drehte sich um und sah zu Pete. »Was ist mit dir?«

Pete schüttelte panisch den Kopf.

Leo hob die Hand. »Gut. Dann warte hier.«

Ich folgte Leo in sein zugemülltes Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, zog ein Blatt Papier hervor und begann zu schreiben. »Ich notier dir ein paar Übungen, mit denen legst du dann gleich los. Alles klar? Wie alt bist du?«

»Siebzehn«, sagte ich. Und fügte hinzu: »Im Januar werde ich achtzehn.«

»Gutes Anfänger-Alter«, sagte er, ohne mit dem Schreiben innezuhalten.

Aus einem Stapel Papier zog er ein neues Blatt hervor und schob es mir zu. »Lass das hier unterschreiben.«

»Was ist das?« Ich schaute auf das Formular.

»Die Einwilligung deiner Eltern.«

»O fuck.«

Leo sah zu mir hoch. »Gibt’s ein Problem?«

Ich seufzte. »Brauch ich das wirklich?«

»Yep. Bis du achtzehn wirst.« Er reichte mir noch eine Liste mit Übungen. »Komm Samstagmorgen mit dem unterschriebenen Formular und einer Kreditkarte zurück, dann machen wir dich startklar.«

Pete hatte an der Tür auf mich gewartet. Bevor wir gingen, ließ ich meinen Blick ein letztes Mal durch die Halle schweifen. Meine Fäuste zogen sich zusammen, als hätten meine Muskeln diese Erinnerung gespeichert. Es war, als hätte ich das hier schon mal getan oder als wäre es schon immer meine Bestimmung gewesen.

totale Konzentration. In meinen Armen juckte es. Das

Als mein Vater an diesem Abend nach Hause kam, überredete ich ihn, die Einwilligung zu unterschreiben. Er hielt mir den Rücken frei und überzeugte Mom. Ich glaube, beide dachten, ich würde nach ein paar Wochen wieder aufgeben, so wie Football und davor Fußball und davor Tee-Ball, diese Kindermischung aus Baseball und Softball. Und ich versprach ihnen, dass ich nur trainieren würde. Keine Wettkämpfe.

Am Samstagmorgen ging ich für meine erste Session in den Boxclub. Leo zeigte mir, wie ich meine Hände bandagieren musste, um sie zu schützen. Ich besorgte mir ein paar Leihhandschuhe, die innen noch feucht vom Schweiß eines anderen waren. Leo ging die Grundschläge mit mir durch … Jab, Crosspunch, Haken und Aufwärtshaken. Er beobachtete meine Bewegungen mit Argusaugen, ernsthaft, abschätzend.

Dann klatschte er in die Hände. »Okay. Legen wir los.«

Mein Workout dauerte eine Stunde. Fünfzehn Minuten Seilspringen und Schattenboxen – gegen einen unsichtbaren Partner –, acht Dreiminutenrunden am Sandsack, eine Viertelstunde Core-Training mit 60 Sekunden Pause zwischen den Einheiten.

Als wir durch waren, gab mir Leo einen Hieb in den Bauch. Diesmal war ich bereit und spannte die Bauchmuskeln an. »Schmerzen die Hände?«, fragte er. Ich nickte. »Sind die Schultern wund?« Ich nickte wieder und gab mir Mühe, nicht vor aller Augen loszukotzen. »Steh’n die Bauchmuskeln in Flammen?« Mehr Kopfnicken. »Hast du das Gefühl, du musst kotzen? Gut. Ab nach Hause mit dir. Montag kommst du wieder. Dann wiederholen wir das Ganze.«

Die Leihhandschuhe hinterließen einen Restgestank auf meinen Fingern, als hätte ich mir die Hände stundenlang unter die Achseln geklemmt. Ich kaufte mir meine eigenen. Ich wusste jetzt schon, dass ich sie oft nutzen würde.

Leo nahm mich unter seine Fittiche. Ich bilde mir gern ein, dass er es tat, weil er mein Potenzial sah. Aber ich weiß, es lag in erster Linie daran, dass ich eins dieser armen Kids war, mit denen seit jener Nacht alle Mitleid hatten. Trotzdem ließ er nicht mit sich spaßen. Wenn ich nicht genau das tun würde, was er mir befahl, würde er mich fallen lassen.

Also stand ich früh auf und lief jeden zweiten Morgen vor der Schule meine Runde. Ich übte meine Zwei-, Drei-, Vier-, Fünf-Boxkombinationen am Sandsack des Boxclubs. Mit Kenny, einem der Trainer als Sparringspartner, lernte ich im Pratzentraining, meine richtige Kampfdistanz zu finden und meine Arme voll auszustrecken.

Im Lauf der letzten neun Monate sind mir die Geräusche im Boxclub ans Herz gewachsen: das vorhersehbare Schrillen der elektronischen Glocke – alle drei Minuten an, eine Minute aus zum Entspannen –, das Peitschen des Sprungseils, das monotone Dribbeln des Gummiballs, das schwere Plumpsen des Sandsacks. Das sind die Geräusche, die die Schüsse und Schreie übertönen, deren Echo noch immer in meinem Kopf lebt.

Mein Telefon klingelt wieder.

Ich komme.

»Muss los«, sage ich zu Pete und mach mich auf den Weg nach draußen, bevor meine Mutter ausrastet.