Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis
4., überarbeitete und erweiterte Auflage
Anschrift des Verfassers:
Dr. Clemens Hausmann
Kardinal Schwarzenberg Akademie
Baderstraße 10
A-5620 Schwarzach/Pongau
Österreich
E-Mail: info@clemens-hausmann.at
Weitere Informationen unter: www.clemens-hausmann.at
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung des Autors oder des Verlages ist ausgeschlossen.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung, sind vorbehalten.
4. Auflage 2019
Copyright © 2005 Facultas Verlags- und Buchhandels AG
Facultas Verlag, Stolberggasse 26, 1050 Wien, Österreich
Lektorat: Katharina Schindl, Wien
Umschlagfoto: © Jacob Wackerhausen, istockphoto.com
Satz: Wandl Multimedia-Agentur
Druck: finidr
Printed in the EU
eISBN 978-3-99111-025-5
ISBN 978-3-7089-1871-6
Das vorliegende Buch behandelt jene Bereiche der Psychologie und Kommunikation, die für die Pflege von zentraler Bedeutung sind. Es ist gleichermaßen für die Ausbildung wie für die Praxis gedacht.
Als Lehrbuch orientiert es sich an den österreichischen Curricula für die Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege (Bachelor-Studium, Diplomausbildung, Pflegefachassistenz, Pflegeassistenz). Der Schwerpunkt liegt auf psychologischem Wissen und kommunikativen Fähigkeiten, die wissenschaftlich fundiert in ihrer praktischen Umsetzung dargestellt werden.
Als Handbuch für die Praxis enthält es konkrete Hinweise, Anregungen und Tipps für situationsgerechtes und psychologisch richtiges Handeln in den unterschiedlichsten pflegerischen Situationen.
Das Buch gliedert sich in vier Teile:
• Im ersten Teil werden die Grundlagen der Psychologie dargestellt, die für das Verständnis und die Unterstützung pflegebedürftiger Menschen wichtig sind. Zahlreiche Beispiele verdeutlichen den unmittelbaren Bezug zur pflegerischen Praxis.
• Der zweite Teil beschreibt die psychologische Seite von Krankheit und Behinderung. Die psychosoziale Unterstützung der Patienten und Bewohner bildet einen besonderen Schwerpunkt.
• Im dritten Teil wird die pflegerische Kommunikation in ihren vielfältigen Möglichkeiten besprochen. Spezielle Kapitel zu Aggression, Krisen, Notfällen, Konflikten und Mobbing vertiefen die Darstellung. Auf das wichtige Thema Praxisanleitung wird besonders eingegangen.
• Der vierte Teil widmet sich der Psychohygiene, die entscheidend für langfristige Berufszufriedenheit und psychische Stabilität ist. Stressmanagement, Helfer- und Burnout-Syndrom werden ebenso besprochen wie berufsbedingte Traumatisierungen und die Möglichkeiten des professionellen Umgangs mit beruflichen Belastungen.
Die dargestellten Theorien und Maßnahmen basieren auf dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnisse und praktischer Erfahrung (im Sinne von best practice und evidence based care). Personenbezogene Ausdrücke umfassen stets beide Geschlechter.
Für die 4. Auflage wurde der Text durchgehend aktualisiert sowie in vielen Abschnitten erweitert, insbesondere bezüglich neurobiologischer Grundlagen des Erlebens und Verhaltens, Entwicklungsaufgaben, Trauma und Notfall, Mobbinghandlungen und KIMA.
Clemens Hausmann, im Sommer 2019
Vorwort
Teil I
Grundlagen der Psychologie
1 Psychologie als Wissenschaft
1.1 Gegenstand und Fragestellungen der Psychologie
1.2 Der Beitrag der Psychologie zur Pflege
1.3 Psychologe – Psychiater – Psychotherapeut
1.4 Zusammenfassung
2 Neurobiologische Grundlagen des Erlebens und Verhaltens
2.1 Signalübertragung zwischen Nervenzellen
2.2 Großhirnrinde und limbisches System
2.3 Neuromodulatoren
2.4 Zusammenfassung
3 Andere Menschen wahrnehmen
3.1 Der Wahrnehmungsprozess
3.2 Eigenschaften der Wahrnehmung
3.3 Beeinflussung der Wahrnehmung
3.4 Soziale Wahrnehmung
3.5 Zusammenfassung
4 Gefühle – Die Farben des Seelenlebens
4.1 Gefühle als Reaktionen
4.2 Gefühle im Zusammenhang mit Krankheit
4.3 Urvertrauen und Selbstwertgefühl
4.4 Zusammenfassung
5 Was wir wirklich wollen – Bedürfnisse und Motivation
5.1 Die Bedürfnispyramide nach Maslow
5.2 Bedürfnisse bei Krankheit
5.3 Emotionale Bedürfnisse
5.4 Motivation
5.5 Reaktanz
5.6 Erlernte Hilflosigkeit
5.7 Zusammenfassung
6 Die Macht der Gedanken
6.1 Erwartungen, sich selbst erfüllende Prophezeiungen
6.2 Der Placebo-Effekt
6.3 Einstellungen zur Krankheit
6.4 Attributionen
6.5 Zusammenfassung
7 Lernen und Erinnern
7.1 Im Gedächtnis abspeichern
7.2 Nachahmen (Lernen am Modell)
7.3 Lernen durch Verstärkung
7.4 Klassisches Konditionieren
7.5 Generalisierung
7.6 Lerntipps
7.7 Tipps für die Prüfung
7.8 Zusammenfassung
8 Der Einfluss des Unbewussten
8.1 Veränderte Bewusstseinszustände
8.2 Das Unbewusste
8.3 Wirkungen des Unbewussten
8.4 Abwehrmechanismen
8.5 Zusammenfassung
9 Der Mensch als soziales Wesen
9.1 Soziales Handeln
9.2 Normen und Werte
9.3 Rolle und Rollenkonflikt
9.4 Krankenrolle – Patientenrolle
9.5 Zusammenfassung
10 Die Entwicklung über die gesamte Lebensspanne
10.1 Entwicklungsaufgaben
10.2 Geburt und Bindungsverhalten
10.3 Kinder im Krankenhaus
10.4 Jugend und frühes Erwachsenenalter
10.5 Kritische Lebensereignisse und Entwicklungsregulation
10.6 Entwicklung im Alter
10.7 Zusammenfassung
Teil II
Krankheit und Behinderung
11 Krankheitserleben – Krankheitsverhalten
11.1 Das bio-psycho-soziale Modell von Gesundheit und Krankheit
11.2 Subjektive Krankheitstheorie des Patienten
11.3 Kognitive Dissonanz
11.4 Gesundheits- und Krankheitsverhalten
11.5 Gendermedizin
11.6 Zusammenfassung
12 Phasen des Krankheitsverlaufs aus psychologischer Sicht
12.1 Krankheitsbeginn
12.2 Diagnosestellung
12.3 Behandlungsphase
12.4 Rekonvaleszenz und Rehabilitation
12.5 Chronische Beschwerden und Krankheiten
12.6 Terminale Phase
12.7 Zusammenfassung
13 Krankheitsbewältigung
13.1 Psychische Belastungen durch Krankheit
13.2 Coping
13.3 Angemessenes Coping und Compliance
13.4 Resilienz und Ressourcen der Krankheitsbewältigung
13.5 Kohärenzerleben
13.6 Zusammenfassung
14 Beispiel: Chronische Krankheiten
14.1 Merkmale chronischer Krankheiten
14.2 Spezifische Belastungen und emotionale Folgen
14.3 Verleugnung und Krankheitsverhalten
14.4 Krankheitsbewältigung bei chronischen Krankheiten
14.5 Psychosoziale Unterstützung durch Pflegepersonen
14.6 Schmerz
14.7 Zusammenfassung
15 Beispiel: Psychoonkologie
15.1 Krankheitserleben bei Krebs
15.2 Krankheitsbewältigung bei Krebs
15.3 Psychoonkologische Betreuung
15.4 Psychoonkologie und Pflege
15.5 Das onkologische Team
15.6 Zusammenfassung
16 Beispiel: Psychotraumatologie
16.1 Psychische Traumatisierung
16.2 Psychische Traumafolgen und körperliche Störungen
16.3 Opfer von Verkehrsunfällen
16.4 Psychologische Stabilisierung
16.5 Psychosoziale Aufgaben von Pflegepersonen bei Traumapatienten
16.6 Unterstützung von Angehörigen nach einem Notfall
16.7 Kinder als Angehörige
16.8 Zusammenfassung
17 Psychologische Beratung und Behandlung
17.1 Was ist psychologische Behandlung?
17.2 Behandlungsschwerpunkte und Methoden
17.3 Unterstützung bei der Krankheitsbewältigung
17.4 Krisenintervention
17.5 Behandlung psychischer Störungen
17.6 Aufgaben der Pflegepersonen – Vermittlung psychologischer Unterstützung
17.7 Zusammenfassung
18 Psychosoziale Unterstützung
18.1 Die Bedeutung psychosozialer Unterstützung
18.2 Unterstützung durch Angehörige
18.3 Unterstützung durch Ärzte
18.4 Unterstützung durch Pflegepersonen
18.5 Unterstützung durch Psychologen
18.6 Seelsorger
18.7 Sozialarbeiter
18.8 Selbsthilfegruppen
18.9 Regression vermeiden
18.10 Zusammenfassung
19 Körperliche Behinderungen
19.1 Funktionale Gesundheit und Behinderung
19.2 Schädigung von Körperfunktionen und -strukturen
19.3 Beeinträchtigung von Aktivitäten und Teilhabe
19.4 Einfluss von Umweltfaktoren
19.5 Individuelle Bewältigung
19.6 Rehabilitation
19.7 Zusammenfassung
20 Geistige Behinderung
20.1 Formen und Ursachen geistiger Behinderung
20.2 Verhaltensauffälligkeiten
20.3 Betreuungseinrichtungen
20.4 Soziale Integration, Empowerment und Inklusion
20.5 Unterstützung der Angehörigen
20.6 Zusammenfassung
Teil III
Kommunikation in der Praxis
21 Grundlagen der Kommunikation
21.1 Kommunikation und Pflege
21.2 Verbal und nonverbal kommunizieren
21.3 Einflussfaktoren
21.4 Sachebene – Beziehungsebene
21.5 Die vier Seiten einer Nachricht
21.6 Zusammenfassung
22 Gesprächsführung
22.1 Gespräche als Pflegehandlung
22.2 Basiskompetenzen
22.3 Techniken der Gesprächsführung
22.4 Zusammenfassung
23 Spezielle Gesprächssituationen
23.1 Fragen stellen
23.2 Informieren
23.3 Motivieren
23.4 Beraten, Feedback geben
23.5 Am Telefon
23.6 Zusammenfassung
24 Spannungsgeladene Situationen
24.1 Es gibt keine „schwierigen“ Patienten
24.2 Verschiedene Sichtweisen – handlungsfähig bleiben
24.3 Selbstsicher auftreten
24.4 Ungerechtfertige Vorwürfe und Anschuldigungen
24.5 Aggressive Patienten
24.6 Sexuelle Belästigung
24.7 Neun Fallen im Gespräch
24.8 Zusammenfassung
25 Umgang mit Krisen
25.1 Arten von Krisen
25.2 Krisenanzeichen bei Patienten und Heimbewohnern
25.3 Krisenbewältigung
25.4 Krisengespräch
25.5 Suizidale Krise
25.6 Zusammenfassung
26 Kommunikation in Notfallsituationen
26.1 Notfall als psychischer Ausnahmezustand
26.2 Zeitliche Gliederung der Hilfe nach Notfällen
26.3 Ebenen der psychosozialen Notfallhilfe – Die Rolle von Pflegepersonen
26.4 Psychosoziale Akuthilfe – Grundregeln und erste Schritte
26.5 Suggestionen
26.6 Ablehnen der angebotenen Hilfe
26.7 Tipps für Angehörige und Freunde
26.8 Zusammenfassung
27 Konflikte im Team
27.1 Entstehung von Konflikten
27.2 Konfliktscheu – Streitlust
27.3 Konfliktfähig sein
27.4 Kooperation
27.5 Mögliche Lösungen
27.6 Eskalation eines Konflikts
27.7 Ein klärendes Gespräch führen
27.8 Zusammenfassung
28 Mobbing
28.1 Mobbing in Gesundheitsberufen
28.2 Ursachen und Folgen
28.3 Der Verlauf von Mobbing
28.4 Mobbinghandlungen
28.5 Mobbingabwehr
28.6 Selbstbehauptung
28.7 Betroffenen Kollegen helfen
28.8 Führungsverhalten, Mobbingprävention
28.9 Zusammenfassung
29 Praxisanleitung
29.1 Aufgaben und Rahmenbedingungen der Praxisanleitung
29.2 Die ersten Tage
29.3 Feedback
29.4 Gespräch bei geringer Motivation
29.5 Zwischengespräch
29.6 Kritikgespräch
29.7 Beurteilung
29.8 Zusammenfassung
Teil IV
Auf sich selber achten – Psychohygiene
30 Umgang mit beruflichen Belastungen
30.1 Arbeitsbedingungen, Arbeitszufriedenheit
30.2 Die Grenzen der Belastbarkeit
30.3 Stress und seine Folgen
30.4 Stressmanagement
30.5 Schutzfaktoren und persönliche Ressourcen
30.6 Selbst das innere Gleichgewicht wahren
30.7 Zusammenfassung
31 Wenn es zu viel wird: Helfer- und Burnout-Syndrom
31.1 Angemessene Hilfe und Helfersyndrom
31.2 Burnout in helfenden Berufen
31.3 Ursachen und Risikofaktoren
31.4 Der Verlauf des Burnout-Syndroms
31.5 Maßnahmen gegen das Burnout-Syndrom
31.6 Burnout-Prävention
31.7 Das große Ganze: Beschleunigung, Entfremdung und Resonanz
31.8 Zusammenfassung
32 Professionelle Hilfe
32.1 Wann ist professionelle Hilfe notwendig?
32.2 Supervision
32.3 Coaching
32.4 Psychologische Stabilisierung nach kritischen Ereignissen – KIMA
32.5 Mediation
32.6 Zusammenfassung
Literatur
Index
Psychologie ist eine wesentliche Grundlage der Gesundheits- und Krankenpflege. Im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen unterstützt sie das Erkennen der psychischen Situation von Patienten, Heimbewohnern und Angehörigen. Sie ermöglicht das tiefergehende Verstehen von Einstellungen, Verhaltensweisen und Reaktionen. Damit bildet sie die Grundlage für angemessenes Handeln auch in psychologisch heiklen Situationen.
Die Psychologie behandelt Fragen, die uns Menschen von alters her bewegen: Was sind Gefühle und woher kommen sie? Welchen Einfluss haben unsere Gedanken und Erwartungen auf unser Leben? Warum bleiben manche Menschen unter Stress psychisch stabil und andere nicht? Warum verhalten wir uns in Gruppen manchmal anders, als wenn wir allein sind? Was bestimmt unsere seelische Entwicklung im Laufe der Jahre? Was genau sind psychische Störungen, und wie kann man sie behandeln?
In früheren Jahrhunderten galt Psychologie als „Lehre von der Seele“. Allerdings vermochte man die menschliche Seele weder näher zu definieren noch wissenschaftlich klar zu umschreiben. Der Begriff bezeichnet etwas „Inneres“ – zum Beispiel Gedanken und Gefühle -, das sich von körperlichen Prozessen unterscheidet, andererseits mit diesen auch eng verknüpft ist. Theologen spekulierten über die Bedingungen ihrer Unsterblichkeit, während Materialisten sie als eine Art Begleiterscheinung der „Körper-Maschine“ ansahen. Die jahrhundertelange Diskussion über Art und Beschaffenheit der Seele brachte letztlich kein befriedigendes Ergebnis (Lück/Guski-Leinwand 2014).
Die moderne Psychologie wird über ihren Gegenstandsbereich definiert):
Psychologie ist die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten.
Zum Erleben gehören Wahrnehmung, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Bedürfnisse, Erwartungen, die Inhalte des Bewusstseins und des Unbewussten.
Das Verhalten umfasst alle unsere Handlungen und Reaktionen – alles, was wir bewusst oder unbewusst tun, einzeln oder in der Gruppe, sowie alle Arten von verbaler und nonverbaler Kommunikation, d. h. alles, was wir der Umwelt mitteilen und wie wir das tun.
Direkt zugänglich ist uns dabei nur das eigene Erleben. Das Erleben anderer Menschen kann aber durch Beobachtung und begründete Vermutung erschlossen werden. Wie sich z. B. jemand fühlt, ob er sich freut oder traurig ist, können wir aufgrund des Gesichtsausdrucks, der Körperhaltung und Gestik usw. durchaus erschließen. Wie genau die Freude oder Traurigkeit aber beschaffen ist, welche spezielle und individuelle Tönung sie für die Person aufweist, wissen wir von außen nicht. Darüber kann nur die erlebende Person selbst Auskunft geben.
Die Psychologie ist eine grundsätzlich empirische Wissenschaft, d. h. ihre Erkenntnisse und Theorien werden auf der Grundlage überprüfbarer Tatsachen (empirischer Daten) gewonnen und formuliert. Ihre Ziele sind die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage des Erlebens und Verhaltens sowie, im Rahmen psychologischer Behandlung, deren Veränderung zur Verbesserung der Lebensqualität.
Beispiel
Frau R. ist 67 Jahre alt, Pensionistin, seit 6 Jahren Witwe und kinderlos. Sie wird wegen eines Darmverschlusses stationär aufgenommen und soll in zwei Tagen operiert werden. Auf die Pflegepersonen und den behandelnden Arzt wirkt sie „misstrauisch“ und „verschlossen“.
Beschreibung des Verhaltens:
Obwohl sie völlig mobil ist, hält sich Frau R. den ganzen Tag in ihrem Zimmer auf. Von sich aus beginnt sie kein Gespräch, weder mit dem Krankenhauspersonal noch mit den Mitpatienten. Wenn sie angesprochen oder etwas gefragt wird, antwortet sie knapp und kurz angebunden. Dabei fixiert sie ihr Gegenüber mit ihrem Blick. Als sie einmal von einer Nichte besucht wird, spricht sie mit ihr leise und hastig, aber so, dass niemand anderer das Gespräch mitverfolgen kann.
Erklärung:
Frau R. lebt seit dem Tod ihres Mannes allein und hält außer zu einigen Verwandten keine sozialen Kontakte. Die vielen verschiedenen Menschen im Krankenhaus stellen für sie eine erhebliche Belastung dar, auf die sie mit Rückzug reagiert. Darüber hinaus ist ihr Mann vor 6 Jahren in ebendiesem Krankenhaus an Krebs gestorben. Die Erinnerungen an die Ärzte und das Pflegepersonal, die ihrem sterbenden Mann nicht mehr helfen konnten, sind noch immer schlimm für sie. Zugleich hat sie insgeheim Angst, dass es ihr nun selber so ergehen könnte wie ihrem Mann.
Vorhersage und Veränderung:
An die vielen neuen Bezugspersonen wird sich Frau R. nach und nach gewöhnen. Das Pflegepersonal kann sie dabei unterstützen, indem sie Pflegepersonen betreuen, zu denen sie leichter einen Bezug herstellen kann, etwa weil sie aus derselben Gegend stammen wie sie oder indem man gezielt ihre Interessen und Bedürfnisse anspricht.
Die Erinnerungen an den Tod ihres Mannes werden für Frau R. so lange eine Rolle spielen, wie sie ihre jetzige Situation mit der ihres Mannes gleichsetzt. Ein klinischer Psychologe kann ihr helfen, ihren jetzigen Krankenhausaufenthalt von dem ihres Mannes gedanklich zu trennen und die beiden Ereignisse unabhängig voneinander zu sehen. Dadurch wird sie frei, sich auf ihre eigene Genesung zu konzentrieren.
Psychologische Fragen spielen während des gesamten Pflegeprozesses eine wichtige Rolle. Gesprächsführung und Kommunikation sowie Beratung und psychosoziale Betreuung gehören zu den Kernkompetenzen der Gesundheits- und Krankenpflege. Dabei sind vor allem folgende Punkte bedeutsam:
• Das Verständnis für Patienten in ihrer jeweils besonderen Situation wird durch klinisch-psychologisches Wissen gefördert. Es ermöglicht die fundierte Beschreibung und Erklärung von psychischen Veränderungen und Verhaltensauffälligkeiten (z. B. Angst, Kontrollbedürfnis, sozialer Rückzug, Aggression).
• Im Gespräch kann besser auf Patienten eingegangen werden. Es ist leichter möglich, wichtige Informationen zu gewinnen und zu geben, bestimmte Themen anzusprechen (z. B. Gefühle) und Fehler oder Fallen in der Gesprächsführung zu vermeiden (z. B. bei gereizten Patienten). Die Motivation der Patienten und die Zusammenarbeit mit den behandelnden Ärzten und Pflegepersonen kann gezielt verbessert werden.
• Die Kooperation im Team wird durch psychologisches Wissen vertieft. Schwierige Situationen, Stress und Konflikte können frühzeitig erkannt und konstruktiv geklärt werden.
• Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit werden Psychologen aufgrund des klinisch-psychologischen Wissens rechtzeitig informiert und in die Behandlung einbezogen. Psychologen geben ihrerseits Hinweise für die weitere Kommunikation und Betreuung.
• Die Psychohygiene der Pflegenden wird gefördert durch Selbstreflexion, Stress- und Konfliktmanagement. Der aktive Umgang mit den vielfältigen beruflichen Belastungen beugt innerer Erschöpfung und dem emotionalen Ausbrennen vor.
„Du brauchst ja einen Psychiater!“ – Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die sogenannten „Psycho-Berufe“ – Psychologe, Psychiater und Psychotherapeut – immer wieder miteinander verwechselt. Zu allen drei Berufen gehören die Diagnose von psychischen Leidenszuständen und die Behandlung psychischer Störungen. Daneben bestehen auch wichtige Unterschiede.
Grundausbildung ist das Universitätsstudium der Psychologie (Bachelor und Master). Das berufliche Spektrum eines Psychologen ist sehr breit und umfasst u. a. folgende Arbeitsbereiche: Krankenhäuser, Behinderteneinrichtungen, Heime und Schulen, psychosoziale Beratungsstellen, Erwachsenenbildung, Personalwesen, Wirtschaft, Werbung und Forschung sowie die freie Praxis.
Spezialisierungen für den klinischen und den Gesundheitsbereich sind in Österreich eigens gesetzlich geregelt (Psychologengesetz 2013):
• Ein klinischer Psychologe hat nach Ende des Studiums eine mehrjährige postgraduelle Ausbildung absolviert. Zu den Aufgabengebieten zählen die klinisch-psychologische Diagnostik bei körperlich kranken und psychisch beeinträchtigten Personen, die Erstellung von psychologischen Befunden und Gutachten sowie die klinisch-psychologische Beratung und Behandlung. Diese umfasst die Unterstützung bei der Bewältigung körperlicher Krankheiten (z. B. Krebs) ebenso wie die fokussierte, ziel- und lösungsorientierte Behandlung von psychischen Störungen und Leidenszuständen (z. B. Depression, Angststörungen, Burnout) und die Begleitung in Krisensituationen.
• Ein Gesundheitspsychologe arbeitet präventiv im Sinne der Gesundheitsförderung und Krankheitsverhütung. Die gesundheitspsychologischen Maßnahmen beziehen sich u. a. auf Gesundheits- und Risikoverhalten (Ernährung, Bewegung, Rauchen) sowie auf die Analyse und Beratung von Betrieben und Organisationen in Bezug auf gesundheitsbezogene Rahmenbedingungen, Vorsorge und Rehabilitation (z. B. Arbeitsplatzanalyse, Stressmanagement, betriebliche Gesundheitsförderung).
Ein Psychiater ist Facharzt für Psychiatrie. Er arbeitet zumeist in psychiatrischen Kliniken bzw. Stationen und/oder in freier Praxis. Psychiatrische Patienten weisen oft schwere psychische Störungen auf (z. B. Schizophrenie, bipolare Störung), die häufig mittels Medikamenten (Psychopharmaka) behandelt werden. Daneben kommen auch psychotherapeutische Methoden zum Einsatz (therapeutische Gespräche, Gruppentherapie u. a.). In modernen multimodalen Behandlungsansätzen werden möglichst alle Lebensbereiche des Patienten berücksichtigt (Schneider et al. 2012).
Ein Psychotherapeut ist Spezialist für die Behandlung von psychischen Störungen. Um in Österreich tätig sein zu dürfen, muss ein Psychotherapeut zunächst eine Grundausbildung in einem gesetzlich definierten psychosozialen Beruf absolvieren (die meisten Psychotherapeuten sind Psychologen oder Ärzte). Daran schließt sich eine vier- bis sechsjährige Spezialausbildung nach einer speziellen psychotherapeutischen Methode an. Ein Psychotherapeut arbeitet meist in einer psychosozialen Betreuungseinrichtung und/oder in freier Praxis, oft in Kooperation mit Ärzten und Psychologen (zur Diagnostik, medizinischen Behandlung etc.). Die am häufigsten angewandten psychotherapeutischen Methoden in Österreich sind Systemische Familientherapie (21 %), Verhaltenstherapie (10 %) und Personenzentrierte Psychotherapie (9 %) (psyonline.at 2018).
Aktuell sind in Österreich rund 10.700 klinische Psychologen und 9.600 Psychotherapeuten (BMFG, Stand Februar 2019) sowie rund 1.500 Fachärzte für Psychiatrie tätig.
Psychologie ist die Wissenschaft vom menschlichen Erleben und Verhalten. Ihre Ziele sind die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage des Erlebens und Verhaltens sowie, im Rahmen psychologischer Behandlung, deren Veränderung zur Verbesserung der Lebensqualität. Der Beitrag der Psychologie zur Pflege betrifft Verständnis für den Patienten, Gesprächsführung und Motivation, Kooperation im Team, interdisziplinäre Zusammenarbeit und Psychohygiene. Das berufliche Spektrum eines Psychologen ist sehr umfangreich. Es unterscheidet sich in wichtigen Punkten von dem eines Psychiaters und eines Psychotherapeuten.
Biologische Prozesse beeinflussen auf vielfältige Weise das Erleben und Verhalten. Gleichzeitig steuern psychische Prozesse verschiedenste Körperfunktionen mit. Das betrifft insbesondere den Bereich von Gesundheit und Krankheit (Schandry 2016).
Das menschliche Gehirn ist jenes Organ, in dem Informationen über die Außenwelt und den Körper gesammelt, verarbeitet und gespeichert werden. Im Gehirn laufen alle höheren geistigen Prozesse ab, die wir als Bewusstsein, Denken, Gefühle, Bedürfnisse, Wissen etc. erleben und die unser persönlichstes Inneres ausmachen. Das Gehirn steuert und koordiniert weiters Körperfunktionen und Muskelaktivitäten und bestimmt so unser Verhalten, von einfachen Reaktionsmustern bis zu hoch spezialisierten Handlungen. Aus neurobiologischer Sicht bringt „das Gehirn die Seele hervor“ (Roth/Strüber 2014, S. 43).
Nervenzellen (Neuronen) bilden die Grundeinheiten des Nervensystems. Das Gehirn besteht aus 60 bis 100 Milliarden Neuronen; davon entfallen allein auf die Großhirnrinde rund 15 Milliarden. Die Nervenzellen nehmen Reize (Informationen) auf, verarbeiten sie und leiten sie an andere Zellen weiter. Sie sind in ausgedehnten und stark überlappenden neuronalen Netzwerken (nicht nur in eng umgrenzten „Zentren“) organisiert.
Größe und Form der Nervenzellen sind sehr unterschiedlich, jedoch weisen alle den gleichen Grundplan auf: Sie bestehen aus einem Zellkörper (Soma) und Fortsätzen an diesem Zellkörper: einem mehr oder weniger langen Axon (Neuriten) und meist mehreren Dendriten mit kleinen knollenförmigen Endknöpfchen (Synapsen). Die Signalübertragung zwischen den Neuronen läuft in folgenden Schritten ab (siehe Abb. 1):
1. Ein Nervenimpuls erreicht als elektrisches Signal die Synapse und muss, um an die nächste Nervenzelle weitergeleitet zu werden, den sogenannten synaptischen Spalt, den Abstand zwischen zwei Neuronen, überwinden. Das geschieht chemisch, durch Neurotransmitter. Diese werden in den synaptischen Spalt ausgeschüttet.
2. Die Neurotransmitter binden sich an die Rezeptoren der postsynaptischen Zelle und können dort ein elektrisches Signal auslösen, das dann in der neuen Zelle weiterverarbeitet wird. Sie können aber auch hemmend wirken und Impulse in der postsynaptischen Zelle unterbinden. Die Art der Wirkung hängt u. a. von der chemischen Bauweise der Transmitter und der Rezeptoren ab.
3. Nach der Rezeption werden die Neurotransmitter entweder zersetzt oder wandern zurück in die Synapse.
Die einwandfreie Signalübertragung innerhalb und zwischen den Nervenzellen bildet die Grundlage der Wahrnehmung, der kognitiven und emotionalen Verarbeitung sowie der Verhaltenssteuerung. Störungen dieser biochemischen Prozesse können dramatische Folgen für das Erleben und Verhalten haben.
Halluzinationen sind Scheinwahrnehmungen von Objekten oder Ereignissen, die objektiv nicht da sind. Die betroffene Person hält sie jedochüfür völlig real. Sie hört sich ihre beunruhigenden Erlebnisse zu erklären. Daraus können komplizierte, unverrückbare Gedankengebäude entstehen, die für andere Menschen nicht nachvollziehbar sind. Denkstörungen äußern sich in zerfahrenen und zusammenhanglosen Gedanken, unlogischen Verknüpfungen und willkürlichen Sprüngen. Bei Ich-Störungen verschwimmen die Grenzen zwischen dem Ich und der Umwelt (Depersonalisation: die eigenen Gedanken, Gefühle oder Körperteile werden als unwirklich erlebt; Derealisation: die Umwelt erscheint unwirklich und andersartig; Gedankeneingebung, Gedankenentzug: die eigenen Gedanken scheinen von außen gesteuert). Bei Schizophrenie treten diese Symptome oft gemeinsam auf.
In früheren Zeiten stand man diesen und anderen psychotischen Symptomen weitgehend hilflos gegenüber. Die Geschichte der Psychiatrie zeugt von den fortgesetzten Versuchen, mit ihnen irgendwie zurande zu kommen (Brückner 2010). In der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden jedoch Wirkstoffe entdeckt, die diese Symptome zum Verschwinden bringen. Die Psychopharmaka, die heute zur Behandlung von Schizophrenie und anderen psychotischen Störungen verwendet werden, wirken auf den gestörten Mechanismus der Signalübertragung und bringen ihn sozusagen wieder in geordnete Bahnen. Allerdings wirken sie nur symptomatisch, d. h., sie bringen die Störungsbilder zwar zum Verschwinden, heilen aber nicht die damit verbundene Grundstörung (etwa Schizophrenie). Deshalb müssen die Medikamente oft über einen sehr langen Zeitraum eingenommen werden.
Die Neurotransmittersysteme können auch künstlich durch verschiedene psychoaktive Drogen beeinflusst und vorübergehend verändert werden. So bewirken Haschisch und LSD oft Wahrnehmungssteigerungen und Halluzinationen, Heroin und Morphium Euphorie und Schmerzstillung, Kokain und Ecstasy Antriebssteigerung usw. Die Wirkstoffe jeder dieser Drogen spricht bestimmte Neurotransmitter-Rezeptoren an. Aufgrund ihrer chemischen Ähnlichkeit mit Neurotransmittern werden sie von den Rezeptoren irrtümlich „akzeptiert“ und lösen so dieselben Wirkungen aus.
Die Transmittersysteme gewöhnen sich jedoch meist rasch an die künstliche Zufuhr von Wirkstoffen und reduzieren den körpereigenen Einsatz der Neurotransmitter. Dies führt z. B. bei Heroin zur körperlichen Abhängigkeit von der Droge, die dann nicht mehr des schnellen Glücksgefühls wegen gebraucht wird, sondern um die normale, alltägliche Funktionsweise des Nervensystems aufrechtzuerhalten.
Das Gehirn steht an der Spitze des menschlichen Nervensystems, was Größe, Dichte und Komplexität der Neuronen und ihrer Verknüpfung betrifft. Es sammelt, verarbeitet und speichert Informationen über die Außenwelt und den Körper. Es ist jenes Organ, in dem alle höheren geistigen Prozesse ablaufen, die wir als Bewusstsein, Denken, Gefühle, Bedürfnisse, Wissen etc. erleben und die unser persönlichstes Inneres ausmachen. Das Gehirn steuert und koordiniert weiters Körperfunktionen und Muskelaktivitäten und bestimmt so unser Verhalten, von einfachen Reaktionsmustern bis zu hoch spezialisierten Handlungen.
Die verschiedenen Hirnregionen sind auf komplexe Weise miteinander verknüpft. Ihr Zusammenspiel ist die Grundlage von fundamentalen psychischen Prozessen wie z. B. Wahrnehmung, Denken, Lernen und emotionalen Reaktionen.
Höhere geistige Prozesse sind in der Großhirnrinde (dem Cortex) lokalisiert. Bestimmte Teile sind hauptsächlich für spezifische Kontroll- und Koordinierungsfunktionen zuständig, z. B. für visuelle Wahrnehmung, Wortgedächtnis oder situationsgerechtes Handeln. Man nennt sie Rindenfelder oder primäre Zentren. Wenn eine solche Cortexregion zerstört wird (z. B. durch einen Unfall oder einen Schlaganfall), können andere Regionen die ausgefallenen Funktionen übernehmen. Dieser Prozess wird im Rahmen der Rehabilitation gezielt angeregt.
Beispiel: Schädigung des präfrontalen Cortex
Der Stirnlappen der Großhirnrinde (präfrontaler Cortex) ist u. a. für die räumlichzeitliche Einordnung von Wahrnehmungen und die Planung und Vorbereitung von angemessenen Handlungen zuständig. Schädigungen im präfrontalen Cortex können dazu führen, dass Patienten sich nicht mehr flexibel auf neue Situationen oder Probleme einstellen können, während Alltagsroutinen (Haushalt, gewöhnlicher Einkauf) keine Probleme darstellen. Zugleich kann die Impulskontrolle vermindert sein („Ich will alles, sofort“), verbunden mit Selbstüberschätzung und Aggressivität im Umgang mit anderen Menschen. Auch Antriebslosigkeit, gedrückte Stimmung und Sprachverarmung können auftreten. (Man nennt diese Symptomgruppen auch Pseudodemenz, Pseudopsychopathie, Pseudodepression).
Das limbische System besteht aus einer Reihe kleiner Strukturen unterhalb der Großhirnrinde sowie des Zwischenhirns. Seine zentrale Funktion ist es, Ereignisse und Verhaltensweisen als angenehm bzw. unangenehm zu bewerten und abzuspeichern. Damit ist das limbische System die neuronale Grundlage für Gefühle, Motivation und Gedächtnisprozesse.
Die Emotionen reichen von elementaren Affekten (Wut, Zorn, Freude, Trauer) und damit verbundenen Reaktionsweisen (Flucht, Aggression, Erstarren) über konditionierte Reaktionen (siehe Kap. 7) bis zu komplexen Gefühlen und Motiven (z. B. in Bezug auf Eltern, Partner, Arbeit). Dazu zählen auch die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen (Empathie), zur Abwägung von Risiken und möglichen Folgen einer Handlung und zur Impulskontrolle. Auch Merken und Lernen – die Speicherung einer Wahrnehmung oder eines Erlebnisses im Langzeitgedächtnis -stehen mit dem limbischen System in Verbindung. Wir merken uns Dinge umso leichter, je stärkere Gefühle wir damit verknüpfen.
Eine psychische Traumatisierung (z. B. durch einen Unfall oder ein Gewaltverbrechen) kann zu neurophysiologischen Veränderungen führen. Das limbische System ist bei extremer Stressbelastung überfordert, die äußerst intensiven sensorischen Informationen können räumlich, zeitlich und biografisch nicht mehr zugeordnet werden. Sie bleiben unverknüpft und entziehen sich der bewussten Verarbeitung, Bewertung und Kontrolle. Viele Betroffene befinden sich danach in einer Art Dauererregung bzw. einem anhaltenden Alarmzustand. Kleinste Irritationen und harmlose Wahrnehmungen können zu heftigen Reaktionen führen. Im Zuge einer Traumatherapie lernt der Betroffene, die einzelnen Eindrücke in Worte zu fassen und miteinander in Beziehung zu setzen. Neurophysiologisch werden die Trauma-Erinnerungen mit den anderen Lebenserfahrungen verknüpft, das limbische System lernt die emotionalen Reaktionen wieder angemessen zu steuern (Hausmann 2016).
Neurotransmitter bewirken innerhalb von Millisekunden den Informationsaustausch zwischen Synapsen und angrenzenden Nervenzellen. Diese Wirkung wird von weiteren neurochemischen Substanzen, den sogenannten Neuromodulatoren, verändert (moduliert).
• Dopamin lässt bestimmte Reize besonders attraktiv erscheinen und erzeugt eine Belohnungserwartung; es ist das neurochemische Motivationssystem. Bei Dopaminmangel erscheinen wichtige Ziele nicht mehr attraktiv oder sogar unerreichbar; Apathie und Hoffnungslosigkeit sind die Folge.
• Serotonin hemmt u. a. die Bereitschaft zu Aggression sowie zu schnellen, ungeplanten, riskanten Handlungen. Es ist das neurochemische „Brems- und Beruhigungssystem“, das uns abwarten und überlegen lässt. Bei Mangel an Serotonin erscheint die Welt bedrohlicher und gefährlicher. Ängstlichkeit und Depression, aber auch Impulsivität und reaktive Aggression und Gewalt können die Folge sein.
• Endogene Opioide fördern das Wohlgefühl und lindern körperlichen Schmerz. Sie sind das körpereigene Belohnungssystem, wenn ein Ziel erreicht ist. Störungen im Opioidhaushalt können zu stärkerer Schmerzempfindlichkeit sowie zu größerer Empfindlichkeit gegenüber sozialer Ablehnung führen. Der verstärkte Drang nach intensiver positiver Erfahrung (sensation seeking) kann die Grundlage für Drogensucht werden.
• Oxytocin erhöht die Fähigkeit, emotionale und soziale Signale zu erkennen; es fördert die Bereitschaft sich auf andere Menschen einzulassen sowie Vertrauen und elterliche Fürsorge. Frühkindliche Vernachlässigung beeinträchtigt jedoch die Entwicklung des Oxytocinsystems. Zusammen mit einer bestimmten genetischen Disposition kann das zu schweren Bindungs- und Persönlichkeitsstörungen führen (Roth/Strüber 2014).
Das Gehirn ist jenes Organ, das „die Seele hervorbringt“. Die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen ist die Voraussetzung für rasche Informationsverarbeitung und zielgerichtetes Handeln. Störungen im Neurotransmitterhaushalt können u. a. zu Schizophrenie und anderen psychotischen Störungen führen. Verschiedene Areale der Großhirnrinde sind zuständig für Wahrnehmung, Motorik, Denken und überlegtes Handeln. Schädigungen können zentrale psychische Funktionen beeinflussen. Das limbische System ist die neuronale Grundlage für Gefühle, Motivation und Gedächtnisprozesse. Ein psychisches Trauma kann zu neurophysiologischen Veränderungen führen. Neuromodulatoren steuern u. a. Motivation, Beruhigung, Belohnung und soziales Bindungsverhalten.
Die Wahrnehmung versorgt uns mit Informationen über die Umwelt und den eigenen Körper. Sie macht uns Gegenstände, Ereignisse und körperliche Zustände erfahrbar: Was wir nicht – direkt oder indirekt – wahrnehmen können, existiert scheinbar nicht. Die Wahrnehmung ermöglicht es, sich in der Welt zu orientieren und gezielt zu bewegen. Zugleich bildet sie die Voraussetzung für viele nachfolgende psychische Prozesse wie Gedanken, Gefühle, Lernen usw. (Spering/Schmidt 2017).
Die physikalische Welt, in der wir uns bewegen, besteht aus Atomen und Molekülen, elektromagnetischen und mechanischen Schwingungen. Der Prozess der Wahrnehmung macht sie psychisch erlebbar. Dies geschieht jedoch nicht im Sinne eines simplen Abbildes, in dem die äußere Wirklichkeit quasi eins zu eins in das Bewusstsein projiziert würde. Der Wahrnehmungsprozess ist eine Folge von Umwandlungen, in denen schrittweise ein Bild der Wirklichkeit konstruiert wird (siehe Abb. 2).
Die in diesem Prozess gewonnenen Wahrnehmungen sind die Grundlage für weiterführende Einschätzungen, Bewertungen und Urteile (z. B. gefährlich/harmlos, angenehm/unangenehm, sympathisch/unsympathisch). Im Alltagsleben gehen Wahrnehmung und Beurteilung oft sehr schnell ineinander über. Die Verwechslung von Wahrnehmungen und Bewertung ist eine Quelle unzähliger Missverständnisse und Fehldeutungen.
Beispiel
In die Ambulanz eines Krankenhauses kommt ein Mann um die 50, mit verschmutztem Anzug und ungepflegtem Haar. Er geht schwankend, mit der Hand greift er immer wieder ins Leere. Seine Aussprache ist verwaschen, der Atem riecht säuerlich. Er wird für einen Betrunkenen oder Obdachlosen gehalten. Andere Wartende rücken von ihm ab. Auch das Pflegepersonal verhält sich zunächst sehr distanziert. Der untersuchende Arzt diagnostiziert einen Schlaganfall.
In sozialen Berufen und speziell in der Pflege und Betreuung hilfsbedürftiger Menschen ist eine genaue Wahrnehmung (von Veränderungen, Verhaltensauffälligkeiten etc.) besonders wichtig. Nur durch eine klare Trennung zwischen Wahrnehmung und Interpretation ist eine weitgehend vorurteilsfreie Betreuung möglich.
Wahrnehmung ist kein passives „Aufnehmen“, sondern ein Konstruktionsprozess. Wir nehmen die Welt so wahr, wie wir sie wahrzunehmen gewohnt sind bzw. wie es uns leicht fällt, sie wahrzunehmen und zu verarbeiten.
Der Wahrnehmungsprozess ist durch drei grundlegende Eigenschaften gekennzeichnet: Subjektivität, Selektivität und Tendenz zur Vereinfachung.
Jede Wahrnehmung ist subjektiv, d. h., ein und derselbe Reiz wird von verschiedenen Personen unterschiedlich wahrgenommen. Auch ein und dieselbe Person kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten einen konstanten Reiz verschieden wahrnehmen. Gründe dafür sind u. a. verschiedene Intensitätsschwellen, ab denen Reize überhaupt wahrgenommen werden können, sowie subjektive Bezugspunkte, von denen aus verglichen wird, ob ein Gegenstand leicht oder schwer, groß oder klein, hell oder dunkel ist.
Beispiel
Die Praktikantin Renate soll Herrn G. baden. Sie lässt Wasser in die Wanne und prüft mit ihrer Hand die Temperatur, bis ihr das Wasser warm genug erscheint. Kurz vorher hat sie Medikamente in den Stationskühlschrank eingelagert, weshalb sie kalte Hände hat. Herr G. kommt direkt aus dem warmen Bett. Er steigt nur zögernd in die Wanne: Ihm ist das Wasser zu kalt.
Von allen Reizen, die wir wahrnehmen könnten, wählen wir (bzw. unsere Sinne) nur einen Bruchteil aus. Der Wahrnehmungsapparat filtert die Informationen aus der Umwelt und dem Körper und lässt nur einen Bruchteil in das Bewusstsein passieren. Dieser Filterprozess ist die Grundlage von Aufmerksamkeit und Konzentration und somit entscheidend für Denken, Lernen und schnelles Reagieren.
• Aufmerksamkeit wird wie ein Scheinwerfer auf die momentan wichtigen Dinge und Sachverhalte gelenkt. Dadurch werden sie besonders deutlich wahrgenommen. Die unwichtigen treten kaum ins Bewusstsein. Zum Beispiel ändert sich die Schmerzintensität je nachdem, ob man die Aufmerksamkeit auf die betroffene Körperregion oder auf etwas ganz anderes richtet.
• Konzentration ist die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit längere Zeit auf einen Gegenstand oder ein Thema zu richten. Bei schwierigen Arbeiten ist diese Fähigkeit ebenso wichtig wie beim Lernen für eine Prüfung. Sie kann durch verschiedene Lerntechniken geübt werden (siehe Kap. 7.6).
Die vielen verschiedenen Einzeleindrücke und Beobachtungen werden zu einem Gesamtbild zusammengefügt, das in sich möglichst geschlossen und „griffig“ ist. Das führt zu einer Vereinfachung der wahrgenommenen Information. Komplizierte Zusammenhänge werden umstrukturiert und zurechtgebogen, sodass sie ein möglichst einfaches, gut erkennbares Muster ergeben. Diese Tendenz ist in unserem Wahrnehmungsapparat angelegt. Sie führt dazu, dass wir manchmal Dinge wahrnehmen, die eigentlich gar nicht da sind (siehe Abb. 3).
Bei Pflegeanamnesen werden die Informationen, die der Patient über seinen Körper, seine Lebensumstände, Bedürfnisse und Gewohnheiten gibt, in verschiedenen Kategorien zusammengefasst und abgekürzt festgehalten.
Beispiel
Ein Patient berichtet im Anamnesegespräch von seinen Schwierigkeiten beim Telefonieren und dass er sich schämt, wenn er mehrmals nachfragen muss, was der Gesprächspartner gesagt hat. In der Pflegeplanung steht vereinfachend „Beeinträchtigung der Kommunikation und der sozialen Kontakte“.
Auch ärztliche oder psychologische Diagnosen stellen eine Vereinfachung dar: Auffälligkeiten werden als Symptome erkannt und klassifiziert, die Symptome bestimmten Störungsbildern zugeordnet. Bei Vorliegen genügender relevanter Symptome wird eine Diagnose gestellt. Diese Vereinfachungen erlauben es uns, gezielt und effektiv zu handeln.
Der Wahrnehmungsprozess kann durch eine Reihe von Faktoren erheblich beeinflusst werden:
• Wissen: Je mehr man über eine bestimmte Sache weiß, desto mehr nimmt man davon wahr. Je genauer beispielsweise eine Pflegeperson über die psychische Seite von Alter und Krankheit Bescheid weiß, desto mehr Gefühlsäußerungen eines Patienten nimmt sie wahr; je mehr sie über die Folgen von Dauerstress weiß, desto früher erkennt sie die Symptome bei sich und kann frühzeitig darauf reagieren.