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Zum Buch

Montpellier, zu Beginn des Ersten Weltkriegs: Als der junge Palästinenser Midhat von Bord eines Dampfers aus Alexandria geht, ist das für ihn der Aufbruch in eine strahlende Zukunft. Begierig wirft er sich in sein Medizinstudium, saugt die französische Kultur auf, verliebt sich in die emanzipierte Jeannette. Doch in den vom Krieg aufgeschreckten bürgerlichen Salons bleibt Midhat ein Fremder – und muss lernen, wie zerbrechlich alles ist: aus Freunden werden Feinde, aus Liebe wird Verrat. Er flüchtet sich in das exzessive Treiben in Paris und von dort zurück in die väterliche Obhut nach Palästina. Doch auch aus seiner Heimat ist im Streben nach Unabhängigkeit mittlerweile ein Pulverfass geworden …

Virtuos erzählt Isabella Hammad vom Leben eines Grenzgängers und Wurzellosen. Es ist der bewegende Roman einer Liebe zwischen den Kulturen und das Epos einer Zeitenwende – von klassischer Brillanz und unerhörter Aktualität.

Zur Autorin

ISABELLA HAMMAD wuchs in London auf, lebt in London und New York. Ihre Erzählungen erschienen u. a. in The Paris Review und wurden mit dem Plimpton Prize for Fiction ausgezeichnet. Ihr Debütroman »Der Fremde in Paris« ist angelehnt an die Geschichte ihres eigenen Urgroßvaters. Der Roman wurde weltweit in 16 Länder verkauft und ist für den Observer eines der wichtigsten Debüts sowie für die New York Times einer der wichtigsten Romane 2019.

Isabella Hammad

Der Fremde AUS Paris

Roman

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Luchterhand

Für Teta Ghada

Personen

Die Familie Kamal

Hāddsch Taher Kamal, Textilhändler

Aziza Kamal, Hāddsch Tahers erste Frau, verstorben

Midhat Kamal, Sohn von Hāddsch Taher und Aziza

Umm Taher (Mahdiya) Kamal, Mutter von Hāddsch Taher, Midhats »Teta«

Laila, Hāddsch Tahers zweite Frau

Musbah Kamal, ältester Sohn von Hāddsch Taher und Laila

Nadim, Inshirah, Dunya, Nashat, weitere Kinder von Hāddsch Taher und Laila

Abu Jamil Kamal, Cousin von Hāddsch Taher, Teppichhändler

Umm Jamil Kamal, Frau von Abu Jamil

Jamil Kamal, Sohn von Abu Jamil und Umm Jamil, Cousin von Midhat

Wasfi Kamal, Cousin von Midhat

Tashin Kamal, Cousin von Midhat

Die Familie Molineu

Frédéric Molineu, Soziologe und Anthropologe an der Universität Montpellier

Ariane Molineu, geborene Passant, Frau von Frédéric, verstorben

Jeannette Molineu, Tochter von Frédéric und Ariane

Marian Molineu, Cousine von Frédéric, Schwester von Xavier

Xavier Molineu, Neffe von Frédéric, Bruder von Marian, Jurastudent

Paul Richer, Marians Verlobter

Weitere Personen in Frankreich

Sylvain Leclair, Freund der Molineus, Winzer

Laurent Toupin, Medizinstudent

Samuel Cogolati, Medizinstudent

Patrice Nolin, emeritierter Professor der Medizin

Carole und Marie-Thérèse, Töchter von Patrice Nolin

Georgine, Hausmädchen der Molineus

Luc Dimon, Winzer

Madame Crotteau, Gesellschafterin

Faruq al-Azmeh, Professor für Arabisch in Paris, ursprünglich aus Damaskus

Bassem Jarbawi, Raja Abd al-Rahman, Yusef Mansour, Omar und andere, Faruqs Pariser Freunde

Qadri Muhammed und Riyad Assali, Schulfreunde von Hani und Berater des Emirs Faisal

Die Familie Hammad

Hāddsch Hassan Hammad, Cousin von Nimr, Landeigentümer, Mitglied der Dezentralisierungs-Partei

Nazeeha Hammad, Frau von Hāddsch Hassan

Yasser Hammad, ältester Sohn von Nazeeha und Hāddsch Hassan

Hāddsch Nimr Hammad, Cousin von Hassan, Richter am Scharia-Gerichtshof und Gelehrter, 1918 Bürgermeister von Nablus

Widad Hammad, Frau von Hāddsch Nimr

Fatima Hammad, älteste Tochter von Widad und Hāddsch Nimr

Nuzha Hammad, zweite Tochter von Widad und Hāddsch Nimr

Burhan Hammad, jüngster Sohn von Widad und Hāddsch Nimr

Hāddsch Tawfiq Hammad, Onkel von Hāddsch Hassan und Hāddsch Nimr, Politiker

Die Familie Murad

Hani Murad, Absolvent der juristischen Fakultät in Paris

Basil Murad, entfernter Cousin Hanis, Bruder von Munir

Munir Murad, entfernter Cousin Hanis, Bruder von Basil

Fuad Murad, Hanis Onkel in Dschenin, Mitglied der Dezentralisierungs-Partei

Sahar Murad, Tochter von Fuad

Umm Sahar Murad, Frau von Fuad

Weitere Personen in Nablus

Hisham, Hāddsch Tahers Stellvertreter

Butrus, Schneider im Laden der Kamals

Umm Mahmoud, Hausmädchen der Familie Kamal

Adel Jawhari, junger Mann, früherer Schulfreund von Midhat

Abu Omar Jawhari, Onkel von Adel, 1919 Bürgermeister

Qais Karak, junger Mann

Hāddsch Abdallah Atwan, Eigentümer einer Seifenfabrik

Madame Atwan, Matriarchin der Familie Atwan

Eli Kahen, samaritanischer Schneider

Abu Salama, samaritanischer Hohepriester

Père Antoine, französischer Dominikaner-Priester und Gelehrter

Schwester Louise, Schwester Sarah, Schwester Marian und andere St. Josephsschwestern, in Nablus bekannt als »die Ebal-Mädchen«

Ayman Saba, verarmter christlicher Bauer

Hala Saba, Tochter Aymans

Glossar arabischer Begriffe und Wendungen auf S. 727

Erster Teil

1

Auf dem Dampfer von Alexandria nach Marseille gab es einen weiteren Araber, er hieß Faruq al-Azmeh. Am zweiten Tag der Reise steuerte er mittags auf Midhat zu, einen Teller mit Toast und eine Gebetskette aus Bernstein in den Händen. Er setzte sich, zupfte an den Aufschlägen seines Hemdes und erklärte ohne Umschweife, er sei auf dem Rückweg von Damaskus, um seine Tätigkeit als Sprachdozent an der Sorbonne wieder aufzunehmen. Er habe Paris bei Ausbruch des Krieges verlassen, wolle nach dem Wunder an der Marne aber unbedingt zurückkehren. Er hatte graue Augen und einen kantigen Kopf.

»Baris.« Er seufzte. »Dort ist mein Leben.«

Diese Worte beflügelten die Phantasie des jungen Midhat Kamal. Er stellte sich Rampenlichter vor, die einen Tanzsaal voller Frauen beleuchteten. Er musterte Faruqs Kleidung, den graublauen Dreiteiler und die indigoblaue Krawatte mit der silbernen Nadel in Vogelgestalt. Ein schlichter Spazierstock aus dunklem Holz lehnte am Tisch.

»Ich will Medizin studieren«, sagte Midhat. »An der Universität Montpellier.«

»Bravo«, sagte Faruq.

Midhat lächelte, als er nach der Kaffeekanne griff. Auf einmal entspannten sich Muskeln, deren Verkrampfung ihm gar nicht bewusst gewesen war.

»Sie besuchen Frankreich zum ersten Mal«, sagte Faruq.

Midhat nickte stumm.

Fünf Tage waren vergangen, seit er in Nablus von seiner Großmutter Abschied genommen hatte und auf einem Maulesel nach Tulkarem geritten war. Von dort war er mit der Haifa-Bahn bis El Qantara gefahren und in den Zug nach Kairo gestiegen. Nach ein paar Tagen im Haus seines Vaters war er in Alexandria an Bord des Schiffes gegangen. Er hatte sich an die endlose Wasserfläche gewöhnt, von weißen Schaumkronen durchsetzt und silbern glitzernd im Sonnenlicht. Mittagessen gab es um eins, Tee um vier, Dinner um halb acht, und anfangs saß er allein da und beobachtete, wie die Europäer mit Messer und Gabel aßen. In einem vollen Raum entwickelte er die Angewohnheit, nach dem roten Schopf des Kapitäns Ausschau zu halten, ein Franzose namens Gorin, und nach dem Dinner sah er zu, wie dieser die Brücke, wo er dem Steuermann Anweisungen gab, betrat und wieder verließ.

Gestern hatte er sich dann einsam gefühlt. Urplötzlich. Als er am Bug saß und auf den Kapitän wartete, wurde ihm sein an der Bank lehnender Hinterkopf bewusst, ein Gefühl, das auf bizarre Art schmerzhaft war. Er spürte, wie seine Beine aus dem Becken ragten. Seine Nase, sonst unsichtbar, wuchs auf die doppelte Größe an und ragte ins Blickfeld. Seine ganze Gestalt war eine harte, schwere, wunde Last, sein Herz schlug rasend schnell. Er glaubte, das Gefühl werde verfliegen. Aber so war es nicht, und abends fand er die Gespräche mit dem Quartiermeister, den Stewards im Speisesaal und den anderen Passagieren überraschend mühsam. Sie merkten doch sicher, wie wund seine Haut war. Nachts drückte er immer wieder auf die Aufzugskrone seiner Taschenuhr und klappte den Deckel über dem weißen Zifferblatt auf. Das Ticken schläferte ihn ein. Dann erwachte er wieder, und wenn er im weiteren Verlauf der Nacht nach der Uhrzeit schaute, bildete er sich ein, in den langsam vorrückenden Zeigern die Regungen eines monströsen Geschöpfs erkennen zu können.

Deshalb lächelte er seinen neuen Freund nun erleichtert an. Er hatte das Gefühl, dass seine zuletzt harten Konturen etwas weicher wurden.

»Welche Vorstellung haben Sie?«, fragte Faruq.

»Wovon? Von Frankreich?«

»Vor meiner Ankunft hatte ich zig Bilder im Kopf. Manche erwiesen sich als zutreffend. Manche waren …« Er drückte die Lippen mit den Fingern zusammen und lächelte selbstironisch. »Perücken zum Beispiel waren eine fixe Idee von mir. Sie wissen schon, künstliche Haare. Ich kann nicht genau sagen, wie ich darauf gekommen war, vermutlich hatte ich eine alte Zeichnung gesehen.«

Midhat brummte, als würde er nachdenken, und schaute aus dem Fenster aufs Meer.

Sein Gymnasium in Konstantinopel hatte sich am französischen Lycée orientiert. Die Lehrbücher waren allesamt aus Frankreich importiert, genauso die Hälfte der Lehrer und die meisten Möbel. Die Schüler hatten auf Korbgeflechtstühlen mit Sprossenlehne gesessen, La poésie épique en Grèce gelesen und sich die Namen der Elemente in einer Mischung aus Französisch und Latein eingeprägt. Sie waren erst auf dem Flur wieder ins Türkische, Arabische oder Armenische verfallen. Wenn etwas zuerst auf Französisch formuliert worden war, blieb es dabei, sodass Midhat, um Beispiele zu nennen, seine inneren Organe als »le poumon« und »le coeur«, »le cerveau« und »l’encéphale« bezeichnete und auch die verschiedenen philosophischen Konzepte auf Französisch verinnerlicht hatte, etwa »l’altruisme« oder »la condition humaine«. Doch obwohl er fünf Jahre lang tief in alles Französische eingetaucht war, rang er um ein Bild Frankreichs, das sich von der Möblierung jenes Klassenraums löste, von dem aus man in den heißen türkischen Himmel blickte. Selbst jetzt, von diesem Dampfer aus betrachtet, lag die Provence in einem Nebel und hinter der Krümmung des Erdballs verborgen. Er sah wieder Faruq an.

»Ich habe keine Vorstellung von Frankreich.«

Er rechnete mit Faruqs Verachtung. Aber der zuckte nur die Schultern und senkte den Blick auf den Tisch.

»Waren Sie mal in Montpellier?«, fragte Midhat.

»Nein, ich kenne nur Paris. Die Universität ist natürlich berühmt für ihre medizinische Fakultät. Rabelais hat dort studiert, nicht wahr?«

»Ah, Sie haben Rabelais gelesen!«

Faruq lachte in sich hinein. »Nehmen Sie ein bisschen Marmelade, bevor ich alles verputzt habe.«

Nach dem Frühstück zog sich Faruq in seine Kabine zurück, und Midhat ging an Deck und setzte sich an den Bug. Er betrachtete das Meer und lauschte dem Gespräch einer Gruppe europäischer Amtsträger – Niederländer, Franzosen, Briten –, die sich auf der Bank nebenan laut unterhielten, zuerst über die Technik des Schiffes, danach über den deutschen Vorstoß auf Paris. Er verstand sie nur teilweise.

Unter Midhats Füßen knarrten Planken: Ein Kind tollte über das Deck. Im Hintergrund verglichen zwei junge Frauen Postkarten, der Wind spielte mit den Troddeln ihrer Sonnenschirme. Gestern beim Dinner hatten diese Mädchen ihre herrlichen Haare wie Hüte präsentiert, in Wellen gelegt und mit Juwelen geschmückt, die im Schein der Lüster glitzerten. Nach einer Weile wurde die Tür der Brücke geöffnet, und ein rothaariger Mann, Kapitän Gorin, erschien und ließ die Knöchel knacken. Ein uniformierter Amtsträger sprang von der Bank, um ihn anzusprechen, und als Gorin die Lippen bewegte – Midhat konnte seine Worte wegen des Windes nicht verstehen –, vertieften sich die Falten in seinem Gesicht. Gorin zündete sich eine Zigarette an, die er mit beiden Händen vor dem Wind schützte, löschte das Streichholz durch ein Schütteln und barg die Glut der Zigarette dann in der hohlen Hand. Der andere Mann verschwand, und Gorin lehnte an der Reling und rauchte. Seine Locken flatterten; sie schienen lose am Kopf befestigt zu sein. Er schnippte den Stummel über Bord und ging unter Deck.

Midhat beschloss, ihm zu folgen. Gorin verschwand gerade in der Luke, da ging Midhat an den lauten Europäern vorbei und schwang sich hinter dem Kapitän die Metalltreppe hinunter. Die erste Tür des Ganges öffnete sich zu einem Salon voller Menschen. In einer Ecke spielte ein Grammophon. Als er Ausschau nach Gorin hielt, begegnete er dem Blick Faruqs, der an einem Tisch saß, vor sich einen Bücherstapel.

»Schön, Sie zu sehen«, sagte Faruq. Er hatte sich umgezogen, trug nun einen dunklen Anzug und eine gelbe Krawatte mit grünen Sechsecken. »Die habe ich Ihnen mitgebracht. Mehr habe ich nicht dabei. Ein paar Gedichtbände … wieder mal Gedichte, diese sind tatsächlich recht gut … und Die drei Musketiere. Das ist die Basislektüre für jeden jungen Mann, der zum ersten Mal nach Frankreich reist.«

»Vielen Dank.«

»Ich hole uns etwas zu trinken, und dann üben wir Französisch. Whisky?«

Midhat nickte. Er setzte sich und griff, um seine Nervosität zu verbergen, nach Die drei Musketiere. Er schlug blind die Seite mit dem Vorwort des Autors auf.

Als ich in der königlichen Bibliothek für meine Biographie Ludwigs des XIV. recherchierte, stieß ich durch Zufall auf die Memoiren von M. D’Artagnan, gedruckt – wie die meisten Werke jener Epoche, deren Autoren …

Zwei Gläser, halb voll mit schwappender Flüssigkeit, glitten über den blank polierten Tisch.

»Santé. Also, ich möchte Ihnen einiges erklären. Sind Sie bereit?« Faruq lehnte sich auf der Bank zurück und zog, als er nach dem Drink griff, mit der anderen Hand die Gebetskette aus der Tasche. »Zunächst einmal die Französinnen. Sie finden das vielleicht komisch, aber man behandelt sie wie Königinnen. Man lässt sie stets als Erste einen Raum betreten. Prägen Sie sich das ein. Machen Sie sich darauf gefasst, dass Ihnen manches Unbehagen bereiten wird. Versuchen Sie, offen zu sein. Bleiben Sie Ihren Wurzeln treu, auf Französisch würde man sagen: Rester fidèle à vos racines, fhimet alay? Ich habe viele französische Freunde. Und spanische. Die Spanier gleichen den Arabern – die Franzosen sind anders. Die meisten sind Christen, denken Sie an Ihre christlichen Freunde in Nablus. Ich nehme an, Sie haben in Palästina französische Pilger kennengelernt oder wenigstens gesehen. Gibt es Missionare in Nablus?«

»Ja. Aber ich bin auch in Konstantinopel zur Schule gegangen. Ich kenne viele Christen.«

Faruq hörte nicht zu. »Nun, Sie sollten wissen, dass Missionare anders sind als ihre Landsleute daheim. Zunächst: Die Franzosen sind nicht besonders religiös. Erschrecken Sie also nicht, wenn sie sich küssen, Alkohol trinken und so fort.«

Midhat lachte, und Faruq sah ihn erstaunt an. Und weil Midhat beweisen wollte, dass er sich nicht erschrecken würde, trank er einen Schluck. Er hatte das Gefühl, Parfüm zu trinken; er schmeckte den Whisky in der Nase. Mit sechzehn hatte er im Schlafsaal seiner Schule heimlich Whisky gekostet. Er benetzte damals nur seine Zunge; der Junge, der die Flasche besorgt hatte, leerte sie mit seinem Komplizen, und als der Schuldirektor am nächsten Morgen ihren Alkoholatem witterte, bekamen die beiden Hiebe und wurden für drei Tage vom Unterricht suspendiert.

»Vieles werden Sie auch mögen. Die Denkweise und die Lebensweise sind sehr kultiviert. In dieser Hinsicht gibt es gewisse Parallelen zwischen Damaskus und Paris, finde ich.«

»Und Nablus«, ergänzte Midhat.

»Ja, Nablus ist schön.« Faruq nippte und atmete aus. »Bei wem wohnen Sie in Montpellier?«

»Im Haus von Doktor Molineu. Ein Akademiker.«

»Ein Akademiker! Aha. Das wird Ihnen gefallen.«

Midhat war es egal, dass Faruq zu wissen meinte, was ihm gefiel. Er fasste das als Zeichen der Verbundenheit auf. Er wollte allem zustimmen, was Faruq sagte.

Die restlichen vier Tage auf See verbrachte er damit, auf dem Oberdeck Faruqs Bücher zu lesen. Oder das Meer zu betrachten, während die Bücher offen in seinem Schoß lagen; wegen des Windes legte er eine Hand auf die Seiten und sprach gelegentlich einen Satz vor sich hin. Er hatte sich wieder entspannt, und seine Gedanken schweiften in Tagträume ab. Er schwelgte vor allem in drei Szenarien. Da war zunächst einmal eine Pariserin mit Schwanenhals, die sich in Jerusalem verirrt hatte und der er in perfektem Französisch den Weg nach al-Haram al-Scharif beschrieb. Ein Beobachter, meist ein Amtsträger aus Nablus, berichtete von diesem Vorfall, woraufhin Midhat als Mann von großer Güte und hoher Sprachbegabung gerühmt wurde. In der zweiten Phantasie sang er eine dal’ona – »ya tayrin taayir fis-sama’ al-aali; sallim al-hilu al-aziz al-ghali« –, was die Leute, die sein Fenster passierten und hörten, wie er die Kluft zwischen sich und der imaginären Geliebten beklagte, zu Tränen rührte. In der dritten Phantasie rettete er einen Passagier, der über Bord zu gehen drohte, indem er ihm mit der Eleganz eines Tänzers einen Arm um die Taille warf. Die Zuschauer applaudierten.

Diese Tagträume erhöhten sein Selbstvertrauen. Sie vermittelten ihm das Gefühl, sich geschmeidig durch sein Umfeld zu bewegen; sie schenkten ihm Sicherheit, wenn er einen Raum betrat. Er nahm in regelmäßigen Abständen eine Dosis dieser Träume zu sich, als wären sie eine Medizin, und tauchte Minuten später gestärkt und erfrischt daraus auf. Auf diese Weise gelang es ihm, seine Konturen etwas aufzuweichen – die ihn nun doch wieder beengten.

Im Hafen von Marseille schüttelte Faruq Midhats Hand und drückte seinen Arm. »Viel Glück. Und Kopf hoch. Sie müssen mich in den Ferien unbedingt in Saint Germain besuchen.«

Der Zug nach Montpellier fuhr eine Stunde später. Die Nacht senkte sich auf eine an Palästina erinnernde Landschaft: zerklüftete Hügel, verdorrte Vegetation. Midhat schlief, den Kopf gegen die vibrierende Scheibe gelehnt, und kämpfte sich am Morgen benommen durch zwei weitere Kapitel von Die drei Musketiere, während die Hügel am Horizont eine wellige Linie bildeten, Regentropfen gegen die Scheibe prasselten und zitternd nach unten liefen. Nach dem Mittagessen schlief er wieder ein. Als der Ruf »Montpellier!« ertönte, war es Viertel vor fünf, und er stand auf und folgte den anderen Reisenden auf den Bahnsteig. Er war ausgelaugt und musste sich dringend waschen.

Die Vorderseite des Bahnhofs von Montpellier ähnelte der eines Tempels. Midhat schleppte seine Reisetruhe zwischen die Säulen und beobachtete die Passanten und Automobile, die sich über den Platz bewegten. Er wusste nicht, wie Doktor Molineu aussah. In den Briefen der Universität war er nicht beschrieben worden, und so kam jeder Mann in Frage, der gerade vorbeiging. Vielleicht die magere Person mit den langen Frackschößen, die Midhat neugierig betrachtete? Oder dieser ältere Herr, der mit seiner Brille eindeutig wie ein Gelehrter wirkte? Aber dann setzten alle ihren Weg fort, kamen nicht auf ihn zu, wie es sein Gastgeber getan hätte. Der Mann neben dem Fahrkartenschalter starrte ihn an, allerdings viel zu aufdringlich, und Midhat wich seinem Blick aus.

Die Menge vor dem Bahnhof lichtete sich, und ein Laternenanzünder trug seine Leiter zwischen die Pfähle. Ein Schwarm von Krankenschwestern eilte über den Platz zum Eingang eines gegenüberliegenden Gebäudes, wo jede ihren Regenschirm ausschüttelte. Die Glut einer Zigarette spiegelte sich in einer Pfütze und verschwand; dann ging jemand rechts an Midhat vorbei. Der Mann hatte einen buschigen blonden Schnurrbart und war eindeutig zu jung, um der Doktor zu sein – und als er näher herankam, bemerkte Midhat, dass er unfreundlich dreinschaute und die Augen, bekränzt von blonden Wimpern, nicht auf sein Gesicht richtete, sondern auf den Fez. Der Mann tippte gegen die Krempe seines eigenen flachen Hutes. Midhat erkannte darin die französische Respektbezeugung, eine Geste, die man im Vorbeigehen ausführte, im Gegensatz zum Ziehen des Hutes, mit dem man beweisen wollte, dass sich darunter nichts verbarg. Zugleich wurde er das dumpfe Gefühl nicht los, dass der blonde Mann ihn auf die fehlende Krempe an seinem Fez hinweisen wollte. Er runzelte die Stirn, und der Mann verschwand in einer Seitenstraße.

»Monsieur Kamal?«

Auf dem Bahnhofsvorplatz reckte eine junge Frau einen Arm. Kurze, braune Locken umgaben die Ohren unter ihrer Mütze. Als sie auf ihn zukam, bewegte sich die Querfalte ihres Rockes über ihrem Schoß.

Er zögerte. »Bonjour. Je m’appelle Midhat Kamal

Als die Frau lachte, bildeten sich Falten unter ihren Augen. »Et je m’appelle Jeannette Molineu

Jeannette Molineu hielt ihm eine bleiche Hand mit knochigen Fingern hin. Midhat ergriff sie; ihre Finger waren kalt. Es war sonderbar, dass er von einer Frau abgeholt wurde, aber dann fiel ihm ein, was Faruq über französische Frauen erzählt hatte, und er folgte Jeannette zu einem großen, grünen Automobil, das auf dem Bahnhofsvorplatz stand.

»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen«, sagte sie, öffnete die Tür und glitt auf den knarzenden Rücksitz. »Wie war die Reise?«

»Sie war … ich war tagelang unterwegs.«

Der Chauffeur fuhr schnell, und der Motor übertönte ihre Stimmen. Midhat sah durch das Fenster, wie sich die Stadt hob und senkte und in Gassen verästelte, auf deren Bürgersteigen Schwärme von Regenschirmen aufgeklappt oder geschlossen wurden. Sie bogen in eine schmale Straße ein, gesäumt von Häusern mit schwarzen Balkonen und Terrakotta-Dachziegeln. Das Automobil wurde langsamer.

»Diese Stadt«, sagte Midhat, »ähnelt Nablus. Die zwei Berge, die Gebäude aus Stein, die kleinen Straßen. Aber sie ist größer, und der Stein ist gelber.«

»Sie stammen aus Nablus?«

»Ja. Und Sie wurden hier geboren.«

»Nein«, sagte Jeannette lächelnd, »ich bin in Paris aufgewachsen. Mein Vater und ich sind vor etwa vier Jahren hierhergezogen, als er die Stelle an der Universität antrat. Und ich habe hier mein baccalauréat gemacht.«

»Doktor Molineu ist Ihr Vater?«

»Aber ja.«

»Ah. Und Ihr Mann?«

»Ich bin noch unverheiratet. Pisson, fährst du uns bitte durchs Zentrum? Dies ist die Rue de la Loge, die größte Einkaufsstraße. Und an ihrem Ende liegt der Place de la Comédie. Montpellier ist klein, Sie werden sich rasch zurechtfinden. Ich fürchte, man sieht nicht mehr viel, weil es schon so dunkel ist.«

Midhat warf einen Blick auf das Gesicht von Jeannette Molineu. Die Schatten zwischen den Straßenlaternen ließen ihre Augen groß und schwarz wirken, sie warfen unzählige Flecken auf ihre blasse Haut und verliehen der schmalen Oberlippe größere Fülle. Während der Fahrt wechselten Schatten und Licht, und wenn sie durch den grellen Laternenschein fuhren, kehrte sich der Effekt um.

Die Straße wurde breiter, ihre Ränder grasig. Pisson bog um eine Ecke, drosselte das Tempo vor zwei offenen Torflügeln und fuhr knirschend auf eine Auffahrt, auf die das Licht der Fenster eines großen Hauses fiel. Ein Hausmädchen knickste in der Tür, als Midhat von Jeannette in die Eingangshalle geführt wurde. Zwischen gerahmten Bildern waren elektrische Lampen montiert, und neben einer Treppe, die sich auf der rechten Seite nach oben schwang, hing ein großer Spiegel. Eine offene Tür enthüllte eine cremefarbene Tapete und die schwarze, glänzende Hüfte eines Klaviers; dann erschien ein grauhaariger Mann mit Hängebacken und figurbetontem Anzug.

»Bienvenue, bienvenue, Monsieur Kamal. Frédéric Molineu. Ich bin Ihr Gastgeber.«

»Guten Abend. Mein Name ist Midhat Kamal. Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Na, kommen Sie! Bonjour, mein Lieber, ich bin hocherfreut, wirklich – hocherfreut.«

Molineu schüttelte Midhat begeistert die Hand, umschloss sie kurz auch mit der anderen. Midhat wollte es ihm gleichtun, aber seine Finger waren schon wieder in die Freiheit entlassen worden. Sein Gastgeber breitete die Arme aus, eine Geste des Willkommens.

»Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause. Es ist uns eine Ehre, Sie zu Gast zu haben, und wir freuen uns darauf, Ihnen zu zeigen, wie wir leben. Aber zuerst ein Aperitif, bitte folgen Sie mir.«

Der Salon war in Blau gehalten, zwischen Polstersofas stand ein Tisch, bekrönt von einem Silbertablett mit vier Kristallgläsern. Glastüren führten auf eine Terrasse mit gusseisernem Tisch und Stühlen, dahinter lag ein halbdunkler Rasen.

»Ich merke, dass Sie zögern.« Doktor Molineu lüpfte die Hose über den Knien, als er sich setzte. »Aber das ist kein Alkohol. Man nennt das cordial. Absolut alkoholfrei. S’il vous plaît, Monsieur, asseyez-vous

Midhat nahm auf einem Sofa Platz und spürte sofort, wie erschöpft er war.

Jeannette fragte: »Wann kommt Marian?«

Nun, da Vater und Tochter nebeneinandersaßen, fielen Midhat die Ähnlichkeiten auf. Beide hatten einen direkten Blick. Das Kinn des Doktors war markant, Jeannettes hingegen fliehend und mit einem Grübchen geschmückt. Sie hatte die Mütze abgesetzt; ihre Locken kräuselten sich nur um die Ohren, oben waren ihre Haare platt gedrückt. Sie hatte feine Züge, und die Fältchen unter ihren Augen waren keineswegs ein Makel, sondern steigerten ihre Schönheit. Trotz ihrer Schlankheit hatte sie breite Schultern, aber dieser Eindruck entstand vielleicht, weil sie so krumm dasaß. Midhat senkte den Blick und presste den Daumen gegen den Stiel seines kalten Glases.

»Später, mein Liebling. Marian ist meine Nichte. Sie heiratet nächste Woche, Sie werden also eine französische Hochzeit erleben! Hochzeitszeremonien sind der eigentliche Schlüssel zum Verständnis einer Kultur. Wenn man eine Hochzeit miterlebt, versteht man die ganze Gesellschaft. Wie war die Reise?«

»Die Reise hat sehr lange gedauert. Deshalb bin ich müde. Das schmeckt wirklich köstlich.«

»Ihr Französisch ist hervorragend«, sagte Jeannette.

»Danke. Ich habe in Konstantinopel eine französische Schule besucht.«

»Ihre ersten Eindrücke würden mich sehr interessieren«, sagte der Doktor. »Hat Jeannette Ihnen die Stadt gezeigt?«

»Er ist müde, Papa. Wir sind durch die Innenstadt gefahren.«

»Die Stadt ist sehr schön«, sagte Midhat.

»Gut. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl hier. Montpellier ist nicht groß, und ich nehme an, Sie wollen zu Fuß zur Fakultät gehen, solange das Wetter gut ist. Pisson wird Ihnen während der ersten Tage beistehen. Und am Montag, je crois qu’il y a une affaire d’inscription, und dann, Sie wissen schon, tout va de l’avant

Dieser Redeschwall enthielt mehrere Worte, die Midhat nicht verstand. Er nickte.

»Das Gebäude ist wunderschön«, sagte Jeannette. »Die Fakultät. Es war mal ein Kloster, müssen Sie wissen.«

»Ah, merci«, sagte Midhat zu dem Hausmädchen, das mit der Karaffe neben ihn getreten war. »Bikfi – Verzeihung, das ist genug. Nein, das wusste ich nicht.«

Molineu lehnte sich zurück und sah zur Decke auf. Sein Gesicht war zerfurcht, das Haar von Weiß durchsetzt. Er war noch schlank, und wie unter der Hose zu erkennen war, hatte er muskulöse Beine. Er schnellte nach vorn, die Hände auf die Knie gelegt, seine Hacken schlugen auf den Fußboden.

»Großartig, dass Sie da sind. Ich fürchte, wir werden Sie mit Fragen bombardieren. Ich bin Sozialanthropologe. Ich brenne vor Neugier.«

Midhat verstand die letzte Formulierung nicht. Doch Molineu hatte die Fingerspitzen auf sein Herz gelegt, was Midhats Puls beschleunigte, weil er glaubte, Molineu hätte Herzprobleme und würde auf einen ärztlichen Rat hoffen.

»Ich muss noch viel lernen«, sagte er. »Ich stehe ganz am Anfang.«

»Selbstverständlich, selbstverständlich. Man lernt nie aus. Was uns betrifft, so stehen wir in vieler Hinsicht natürlich nicht mehr am Anfang.«

»Leben Sie in der Nähe von Jerusalem?«, fragte Jeannette.

Eine der Phantasien, in denen Midhat auf dem Schiff geschwelgt hatte, flammte in seinen Gedanken auf – er sah die erfundene Pariserin vor sich, die durch die Altstadt Jerusalems irrte. Er spürte ein heißes Prickeln im Nacken und sagte auf Französisch so schnell wie möglich: »Wir leben nördlich von Jerusalem. Fünf bis sechs Stunden entfernt. Der Weg ist nicht ungefährlich. Er führt durch Ain al-Haramija, einen Pass zwischen zwei Bergen. Und nach neun Uhr abends, jedenfalls so ungefähr, lauern dort Räuber.«

»Aina … wie lautet der Name?«, fragte Doktor Molineu.

»Ain al-Haramija, yaani, das bezeichnet den Ort, wo es Wasser gibt. Ich kenne die französische Bezeichnung nicht.«

»Das Meer?«

»Nein, im Boden.«

»Fluss? See?«

»Nein, im Boden. Das Wasser kommt von unten …«

»Eine Quelle?«

»Quelle, Quelle. Ain al-Haramija heißt ›Quelle der Räuber‹.«

Ein Klingeln ertönte, und Sekunden später trat Georgine, das Hausmädchen, in den Salon. »Mademoiselle Marian und Monsieur Paul Richer.«

Die junge Frau, die in der Tür stand, trug ein grünes Kleid und glänzende grüne Schuhe. Hinter ihr erschien ein Schopf roter Locken, und Midhat erkannte auf Anhieb Gorin, den Kapitän des Dampfers.

»Bonsoir, Kapitän«, sagte er.

Jeannette fuhr zu ihm herum, als der rothaarige Mann sagte: »Bonsoir.« Er erwiderte Midhats Nicken und streckte ihm die Hand hin. »Ich heiße Paul Richer. Ist mir ein Vergnügen.«

»Hallo«, sagte Marian.

»Marian ist unsere junge zukünftige Braut«, sagte Doktor Molineu.

Während sich alle setzten, starrte Midhat das wettergegerbte Gesicht des Mannes an, den er als Kapitän Gorin kannte. Er glaubte, Fieber zu haben. Das Hausmädchen brachte zusätzliche Gläser für den Likör, und die Müdigkeit überkam ihn in Schüben; er trotze ihr, indem er ein Bein, einen Arm, einen Fuß bewegte, alles, um präsent zu sein, hier auf diesem Sofa, in diesem blauen Salon.

»Unfassbar, dass es bald so weit ist, liebe Marian«, sagte Jeannette.

»Dies ist unser junger Gast aus dem Proche-Orient«, sagte der Doktor, »Monsieur Kamal, der hier Medizin studieren will. Er ist gerade erst angekommen. Wir dürfen wohl vermuten, dass er sich gerade etwas désorienté fühlt.«

»Papa.«

»Vraiment!«, sagte der Mann, der Kapitän Gorin war oder auch nicht. »Woher stammen Sie?«

»Aus Nablus. Das liegt nördlich von Jerusalem und südlich von Damaskus.«

»Magnificent

»Er will Arzt werden«, sagte Jeannette.

Midhat verdrehte den Oberkörper. Diese Haltung hielt ihn wach. Außerdem konnte er so das Gesicht von Paul Richer erneut in Augenschein nehmen.

Dabei wurde ihm klar, dass es doch nicht Kapitän Gorin war. Weder der rötliche Backenbart noch die braun gebrannten Wangen kamen ihm bekannt vor. Dies war ein Fremder namens Paul Richer, und das Lächeln, das seine Lippen umspielte, verriet, dass er den forschenden Blick Midhats bemerkte. Als Midhat dies bewusst wurde, durchfuhr ihn ein ebenso heftiger Ruck wie bei seinem ersten Irrtum, und er wurde von einem säuerlich schmeckenden Unbehagen erfüllt.

»Monsieur Midhat«, sagte Jeannette. »Sie sind sicher sehr müde. Möchten Sie zu Bett gehen? Georgine, vielleicht will Monsieur Midhat wissen, wo sein Schlafzimmer ist? Er wirkt … die Reise hat ihn sicher stark ermüdet.«

Und so führte man Midhat an diesem 20. Oktober des Jahres 1914, kurz vor neunzehn Uhr, in ein Eckzimmer im Obergeschoss des Hauses der Molineus in Montpellier. Durch das Fenster sah man den dämmerigen Garten und ganz hinten einen hohen Baum. Das Zimmer hatte eine gelb gestreifte Tapete, und gegenüber des Bettes, neben dem Kamin, stand ein Holzstuhl vor einem Tisch, darauf eine Vase mit Lilien, deren orangener Blütenstaub auf den glänzenden Lack rieselte. Seine Reisetruhe stand neben dem Kleiderschrank. Er zog die Schuhe aus und sank auf das Bett.

Auf dem Rücken liegend, dachte er wieder an den unten sitzenden Fremden namens Paul Richer und versuchte, sich den Kapitän vor Augen zu führen. Rote Locken, Wangenfalten. Alle anderen Details blieben verschwommen. Er spürte immer noch das Schwanken des Meeres. Die Bilder dessen, was er an diesem Tag erlebt hatte, ballten sich hinter seinen Augenlidern: morgens der Anblick der französischen Küste, die in der blauen Ferne auftauchte; die Passagiere, die vom Frühstück aufstanden und sich vor den Fenstern versammelten; der Hafen von Marseille, das Gedränge vor den Fallreeps, die Automobile, die Pfiffe; Jeannette, die mit ausgestreckter Hand auf ihn zukam; die abendliche Stadt, aus dem Automobil gesehen; der Likör, der Salon, das Schlafzimmer, die Decke. Er merkte, dass er die Augen geschlossen hatte, und öffnete sie wieder.

Die Farben waren verblasst. Er lag auf der Seite, der Fußboden vor dem Fenster schimmerte im Mondschein. Im Dunkeln wirkte das Schlafzimmer geräumig. Midhat versank in einem Halbschlaf, richtete sich dann aber auf; er fror plötzlich. Jacke ausziehen, Hosenträger abstreifen, Hemd aufknöpfen. Und dann ein Flüstern, ein Klappern – nicht von einem Menschen, sondern von zwei Objekten, die einander streiften. Er starrte die Tür an und bemerkte, wie sie vom Luftzug aufgedrückt wurde. Sie war nicht richtig zu gewesen.

Er stand auf und drückte die Klinke. Die Tür schwang lautlos auf. Da war der Flur des Obergeschosses. Grau und leer. Die Luft hier war kühler. Der Rand des Läufers, der die Treppe bedeckte, war leicht nach oben gebogen. Darüber schwang sich das Geländer nach unten. Und am anderen Ende des Flurs, wo noch tieferes Dunkel herrschte, stand eine Lampe neben einer geschlossenen Tür.

Er wich zurück. Er drückte die Tür zu, bis er den Riegel einrasten hörte, und schlüpfte unter das kalte Laken. Er sah zur dunklen Zimmerdecke auf und schloss die Augen. Das Bettzeug war nach kurzer Zeit so warm wie seine Haut, und er konnte sich vorstellen, wieder in Nablus zu sein. Die Erinnerung an eine Zeit, als er im Schlaf gewandelt war, keimte in ihm auf, damals war er etwa vierzehn gewesen. Als ihn der Gebetsruf weckte, fand er sich im Bett neben seiner Großmutter wieder, seiner Teta, die einen Arm um seine Taille gelegt hatte. Er wollte sich verwirrt und beschämt aufrichten und setzte einen Fuß auf die kalten Fliesen – bis Teta ihm über das Haar strich. Du hast im Schlaf geredet, sagte sie. Nur keine Sorge, habibi, schlaf wieder ein, habibi.

2

In der Endphase des Osmanischen Reiches wurde die Zeitrechnung zum Problem. Offiziell begann das Jahr im März, wenn die Steuereintreiber die Fellachen heimsuchten. Die Christen hielten sich jedoch an den gregorianischen Kalender, der im Januar begann und Schaltjahre sowie diverse Abweichungen für Feiertage vorsah; und während die Juden ihren Kalender nach historischen Zyklen ausrichteten, blieben die Muslime bei ihrem Mondkalender und kamen bei dem Wechsel der Jahreszeiten irgendwann aus dem Takt.

In Midhats Kindheit folgte ganz Nablus, auch der nicht-muslimische Teil der Bevölkerung, dem Mondkalender, hielt also trotz des europäischen Uhrturms, den Sultan Abdülhamid hatte erbauen lassen, an der arabischen Zeitrechnung fest. Die Muslime glaubten, der Allmächtige habe das Universum so erschaffen, dass die menschlichen Zeitmesser, dem Uhrwerk der Welt gehorchend, täglich bei Sonnenuntergang auf zwölf Uhr gestellt werden müssten. Wenn die Dunkelheit anbrach und die Muezzine zum Maghrib riefen, konnte man deshalb überall in Nablus sehen, wie wohlhabende Bürger ihre Uhr zückten, die Krone mit den Fingernägeln herauszogen und die Zeiger auf zwölf stellten, bevor sie zur Moschee eilten, vorausgesetzt, sie hatten Lust dazu.

Als Kleinkind schlief Midhat im Winter für gewöhnlich neben seiner Teta, Umm Taher. Als er fünf war, zogen sie in ein Viertel außerhalb der alten Stadtmauern, tauschten ein Haus mit gemeinsamem Hof und runden Zimmern gegen ein modernes Haus am Fuße des Berges Garizim ein, das mehr Privatsphäre bot. Aus dem Fenster seines neuen Schlafzimmers beobachtete er den Wechsel der Jahreszeiten vor dem Hintergrund der fernen, schneebedeckten Gipfel des Dschabal al-Scheich.

Am Tag, als Hāddsch Taher, Midhats Vater, kundtat, sich ein zweites Mal verloben zu wollen, behauptete Teta, einen Monat zuvor die Kutsche auf dem Berg gesehen zu haben. Tetas Prophezeiungen waren nicht besonders hilfreich, da sie anfangs nicht verstand, was sie zu bedeuten hatten, und im Nachhinein, wenn sie die Klarheit erreicht hatte, unter ebendieser litt. Sie hatte zum Beispiel den Tod ihres Mannes vorhergesehen.

»Ich hatte die Vision eines Sarges auf einem blauen Teppich. Ich sah die Kante des Sarges auf einem blauen Teppich. Ich war im Haus meiner Mutter, und dann, als sie den Sarg aus Jaffa brachten und vor meinen Füßen absetzten, sah ich es noch einmal. Mein Auge, dieses Auge, senkte den Blick, und ich sah die Kante des Sarges und darunter den Teppich.«

Hāddsch Tahers erste Ehe, die mit Midhats Mutter, war von Teta eingefädelt worden. Das Mädchen stammte aus einer angesehenen Familie in Dschenin, und Taher hatte sie geliebt.

»Deine Mutter hatte grüne Augen. Ihr Gesicht war fast flach, etwa so …« – sie zog ihre Wangen mit den Fingern straff – »… wallah, wie bei einem kleinen Jungen.«

Sollte Teta geahnt haben, dass das Mädchen an Tuberkulose sterben würde, dann hatte sie das für sich behalten. Midhat war damals zwei. Sein Vater hielt sich in Ägypten auf. Das Haus war voller klagender Frauen, und während sie die Tote auf dem Esszimmertisch wuschen, brachte die Haushälterin Griesgebäck in den Flur, das Midhat in den Fäusten zerdrückte, um das süße, klebrige Zeug danach von seinen Handflächen zu lecken. Als sein Vater in der Tür erschien, schrie Teta auf und hielt sich an der Tischkante fest, als würde sie gleich umkippen.

Hāddsch Taher blieb nicht lange in Nablus. Sein Bekleidungsgeschäft in Kairo wuchs schnell und forderte seine Aufmerksamkeit, und obwohl er neues Personal für den Laden in der Muski-Straße sowie weitere junge Männer eingestellt hatte, die im Golan Seide einkauften, vergaß er nie die Lektion seines Vaters, der ihm eingeschärft hatte, wie wichtig es für das Geschäftsleben war, Kontakte zu pflegen. Und weil der Name »Al-Kamal« in Kairo fast sprichwörtlich für besonders hochwertige Kleidung war, konnte Hāddsch Tamer Kamal seine Geschäfte nicht aus der Ferne führen. Er konnte sich auch nicht auf unbekannte Vertreter verlassen, die die Seide bei den Händlern besorgten. Er musste sowohl regelmäßig dort sein, wo die Stoffe gehandelt wurden, als auch persönlich in den Norden reisen, um Nachschub zu kaufen. Die neuen Vertreter dienten nur dazu, den Umsatz zu kontrollieren. Dieses unermüdliche Engagement war kraftraubend, lohnte sich aber: Die Kunden blieben treu und die Händler ehrlich. Außerdem boten die Reisen eine gewisse Abwechslung; er konnte in Nablus Zwischenstation machen, im dortigen Laden bei Hisham vorbeischauen, seinem Stellvertreter, und einen Abend mit seiner Mutter und seinem jungen Sohn verbringen, bevor er in die Muski-Straße nach Kairo zurückkehrte, um die Buchhaltung zu prüfen. Als er nach der Beerdigung seiner Frau wieder in Kairo eintraf, wäre er am liebsten umgehend zu einer neuen Reise aufgebrochen, aber die Arbeit erlaubte keine Trauer. Die Ferien rückten näher, der Umsatz war gestiegen, und er musste in Kairo bleiben, um den Laden zu führen.

Die Morgen verbrachte Hāddsch Taher am Sandelholztisch im Hinterzimmer mit der Buchführung. Nachmittags mischte er sich unter die Kunden. Er hatte dieses Regiment über Jahre entwickelt, und der Rhythmus war so präzise, dass er an mehr als einem Tag der Woche in genau jenem Moment von einem seiner Assistenten mit einem Klopfen zum Mittagessen gerufen wurde, in dem er die letzte Summe im Buch notierte. Diese zeitliche Ökonomie gefiel ihm, das Gefühl, von einer Aktivität zur nächsten überzugehen, ohne eine Sekunde zu verlieren.

Kurz nach dem Tod seiner Frau geriet dieser Arbeitsrhythmus durcheinander. Diverse Kairoer Geschäftsmänner, die Wind von seinem Verlust bekommen hatten, begannen, ihn vormittags aufzusuchen, sodass sich die Zeit, die er der Buchhaltung widmete, ärgerlicherweise bis in den Nachmittag ausdehnte. An jedem zweiten Tag klopfte ein anderer Mann an die Tür, trat ein und pries mit stolzgeschwellter Brust die Vorzüge seiner Tochter. Hāddsch Taher bedankte sich stets, lehnte jedoch ab. Nach einigen Wochen zeigten die Störungen aber eine gewisse Wirkung, und seine höflichen Ablehnungen verwandelten sich in mürrische Zusagen. Auch die Schmeicheleien begannen zu wirken, und er nahm die Einladungen höflicher an. Denn er hatte begriffen, dass er es verdient hatte, noch einmal zu heiraten, vor allem, eine gute Partie zu machen. Aufgrund seines geschäftlichen Gespürs war sich Hāddsch Taher über die Schwankungen der Mode und der Gunst der Kunden im Klaren und wusste, dass er momentan ein wohlhabender Kaufmann war, berühmt unter den Damen, und dass er klug beraten wäre, sich dies zunutze zu machen.

Er hatte in Ägypten keine Familie, also auch keine weiblichen Verwandten, welche die Bewerberinnen hätten prüfen können. Er konnte natürlich seine Mutter bitten, aber in Anbetracht ihrer anhaltenden Trauer um seine erste Frau entschied er sich dagegen. Stattdessen engagierte er eine Freundin namens Rabab, eine leichtlebige Tänzerin, mit der er nach ihren Auftritten in Zamalek oft geschlafen hatte. Gegen ein bescheidenes Honorar willigte Rabab ein, die angepriesenen Mädchen unter die Lupe zu nehmen und sich diskret nach dem Ruf der Familien zu erkundigen. Eine Woche verstrich, und am Donnerstagabend erwischte Hāddsch Taher Rabab hinter der Bühne, wo sie sich gerade in ein Gewand hüllte. Sie lächelte schmallippig, als sie ihm eine Liste überreichte, die sie auf der Rückseite einer Speisekarte notiert hatte. Diese habe eine reiche Familie, sagte sie, aber die Mutter sei eine Sau. Diese sei eine von vier Schwestern, nur leider die reizloseste. Eine Schande; ihre zwei älteren Schwestern seien sehr hübsch. Diese sei nicht reich, doch ihre Familie sei nett. Beliebt und bekannt. Hübsch? Irgendwie schon, aber zu kleine Zähne. Diese sei Koptin. Problematisch. Diese sei eindeutig die Schönste von allen …

»Wie heißt sie?«, fragte Taher.

»Laila. Die Familie ist … wohlhabend, aber nicht stinkreich.«

»Und ihre Mutter?«

»Angenehme Person. Außerdem attraktiv.«

Er fackelte nicht lange. Er schrieb an Lailas Vater, und innerhalb kurzer Zeit war der Eintrag im Buch organisiert und das Hochzeitsdatum festgelegt. Erst dann sprach er seiner Mutter die Einladung zur Zeremonie aus, bei der sie weder in die Freudengesänge einstimmte noch tanzte.

Laila hatte dichtes Haar und einen schlanken Hals, und sie fand naturgemäß keinen Gefallen an ihrem Stiefsohn. Sie lehnte jede Form von Berührung ab und löste, wann immer es ihr möglich war, die Finger Midhats vom Daumen ihres Gatten. Da sie in der Nähe ihrer eigenen Familie bleiben wollte, wurden die Besuche Hāddsch Tahers in Nablus seltener. Er schickte jetzt meist einen Vertreter, um nach dem Laden dort schauen zu lassen, und steuerte stattdessen den Golan an, womit Midhat für zunehmend längere Phasen mit Teta auf dem Berg Garizim allein war.

Aus dieser Zeit stammten Midhats früheste Erinnerungen. Sein Vater wurde zu einem großen Knie, zu einer Stimme hinten im Raum. Teta war ein Busenpolster, nach Rosenwasser und Veilchen duftend. Laila war eine knochige Wand. Seine Mutter ein weiches Nichts.

Je seltener Taher und Laila nach Nablus kamen, desto üppiger blühten in den Klassenräumen die Gerüchte. Midhats Cousin Jamil, der in dem Haus unterhalb ihres eigenen wohnte, kam zu Ohren, Hāddsch Taher sei so reich, weil er in seinem Kairoer Garten Kostbarkeiten aus der Pharaonenzeit entdeckt habe.

Teta musste schallend lachen. Sie saß in der Tür und reparierte etwas. »Die unglücklichsten Menschen sind die neidischen Menschen, vergesst das nie, Jungs.«

Trotzdem grollte Teta Tahers neuer Frau, wenn die beiden nach Nablus kamen. Taher zerbiss Kürbiskerne, und Midhat stand da und betrachtete das große Knie, das wippte, wenn sein Vater nach der Schale griff. Er hatte einen Fuß auf den Oberschenkel des anderen Beines gelegt, und Midhat gefiel die quadratische Öffnung, die so entstand, und weil er damals den starken Drang hatte, Dinge in Löcher zu stopfen, sehnte er sich danach, unter dem väterlichen Bein hindurchzukrabbeln und sich in dieser menschlichen Öffnung aufzurichten. Dann schlug sein Vater die Beine übereinander, und der große, baumelnde Schuh mit dem glänzenden Oberleder wurde zum perfekten Schaukelsitz. Laila saß daneben und ließ ihn nicht aus den Augen.

Eine Erinnerung an seinen Vater überlagerte alle anderen. Midhat wusste später nicht mehr, wie alt er damals gewesen war – sechs oder sieben –, aber das Bild stieg gerade durch diese Ungewissheit zum Mythos auf und nahm in seinen Gedanken ungebührlich viel Raum ein.

In seiner Erinnerung graut der Morgen über dem Berg Garizim, und auf der Anrichte fällt die Blechklappe des Brotkastens zu. Zwei Reisetaschen stehen neben der Tür. Und da ist Baba, er trägt den Fez und einen Reisemantel aus brauner Wolle, wünscht flüsternd einen guten Morgen und bückt sich, um Midhat einen Kuss zu geben. Sein Atem ist warm und süß, und unter seinem Schnurrbart sind zwei geschwollene, rote Poren zu erkennen. Midhat sieht von der Tür aus zu, wie sein Vater die Reisetaschen links und rechts am Sattel befestigt. Baba schwingt sich aufs Pferd, und bevor er losreitet, hält er kurz inne, um seinen Sohn zu betrachten. Der feuchte Hauch des Morgens hängt als bläulicher Dunst über den fernen Olivenbäumen, und Hāddsch Taher, Abu Midhat, reitet bergab in den Nebel.

Im Frühling kam dann ein Brief mit der Neuigkeit, dass Laila schwanger sei. Teta klatschte in die Hände, und die Damen erschienen, um sie zu beglückwünschen. Danach vergingen Monate ohne einen Brief oder ein Telegramm. Der Sommer öffnete seine Tore, und die Hitze ergoss sich vom Himmel. Die Ziegel des Hauses wurden grau wie Asche. Pflanzen wurden gelb und verdorrten. Der Samum sorgte wiederholt für erstickenden Staub und ließ in Nablus vier Quellen versiegen. Als es endlich wieder regnete, goss es in Sturzbächen.

H, komm mit.«

Im Büro ließen die Spalten zwischen den Lamellen der Jalousie das letzte Tageslicht ein. Midhat sah zu, wie sein Vater vor dem Hintergrund der blassen Lichtstreifen über den Tisch griff, und hörte eine Schublade knarren. Sein Vater kehrte mit einer Hand voll Seide zurück; darin glänzte etwas. Ein goldenes Rund. Er polierte die Gravur mit der Seide.

»Die ist für dich, Midhat.«

Die Uhr war schwer und kühl. Midhat klappte den Deckel auf. Über dem reich verzierten, emaillierten Zifferblatt lagen drei winzige Zeiger. Einer kreiste am Rand und wies auf arabische Zeichen.

Sein Vater zückte ein Taschenmesser. »So öffnet man die Rückseite.«

Er schob die Klinge in den Schlitz, und die Rückseite der Uhr schwang an unsichtbaren Scharnieren auf. Im Inneren gab es mehrere Zahnräder, befestigt mit silbernen Schräubchen, alle reglos, bis auf zwei: Eines kreiste manisch und trieb ein kleineres Rädchen an, das sich in regelmäßigen Intervallen drehte. Das kleinere Rädchen klickte. Klick, Klick, Klick.

»Vielen Dank, Vater, danke.«

»Möge Gott dich behüten, habibi. Pass gut auf sie auf.«