Cover

Das Buch

Glasgow, 1969. Ein brutaler Serienkiller versetzt die Stadt in Angst. Als die Behörden beschließen, die Öffentlichkeit in die Suche einzubeziehen, gerät die Lage vollends außer Kontrolle. Während die Bürger in Panik geraten, versinkt die Polizei in nutzlosen Hinweisen. Ein Hilferuf erreicht den talentierten Ermittler DI McCormack. Er soll die Ermittlungen wieder in geordnete Bahnen lenken. Doch die Beamten aus der Stadt stehen dem Neuankömmling aus den Highlands ablehnend gegenüber. Gegen alle Widerstände kämpft McCormack für die Wahrheit.

Der Autor

Liam McIlvanney stammt aus der schottischen Region Ayreshire. Er studierte in Glasgow und Oxford. Für seine Thriller wurde er mit zahlreichen Preisen geehrt. McIlvanney ist Professor für Schottland-Studien an der Universität von Otago, Neuseeland.

LIAM

McILVANNEY

Ein frommer Mörder

KRIMINALROMAN

Aus dem Englischen von Sabine Lohmann

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe THE QUAKER

erschien 2018 bei HarperCollins UK, London.

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Deutsche Erstausgabe 07/2021

Copyright © 2018 by Liam McIlvanney

Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Robert Brack

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design/Margit Memminger

unter Verwendung von Shutterstock.com

(Mr. Doomits, Florian Danilet)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-25091-1
V001

www.heyne.de

Für Caleb

Sicherlich wandelt er unter uns, unerkannt:Irgendein Barbier, Verkäufer, Paketbote …

Charles Simic, »Meister der Verwandlung«

Die Häuser sind alle unter dem Meer verschwunden.Die Tänzer sind alle unter dem Hügel verschwunden.

T.S. Eliot, »East Coker«

I

MÄNNER UND PAPIER

»Wir leiden unter zu vielen Vermutungen, Annahmen und Hypothesen.«

Arthur Conan Doyle, »Silberstern«

PROLOG

In jenem Winter hingen überall in der Stadt Plakate, mit dem grinsenden Gesicht eines jungen Mannes. Sein Porträt fand sich an Pinnwänden in Wartezimmern und Schaukästen in Bibliotheken. Jeder stellte sich etwas anderes unter diesem smarten blonden Kerl vor. Die Gerüchteküche brodelte. Der Quäker verkaufe Backwaren in Bilsland’s Bakery. Er sei Installateur von Gaszählern, er sei Schweißer bei der Fairfield’s oder Kellner im Old Bay Horse.

Manche meinten, es sei ein Yankee von einem der U-Boote am Holy Loch. Oder ein Russe von einem der Fangschiffe. Ein Stadtrat. Ein Gangleader der Milton Tongs. Ein Gemeindepfarrer. Ein Bahnschaffner, ein Kumpel des Massenmörders Peter Manuel. Er sei Manuels Halbbruder, hieß es, Manuels Zellengenosse, er habe Manuel damals geholfen, aus der Besserungsanstalt in Coventry zu türmen, oder aus Southport oder Beverley oder Hull. Es gab jede Menge Quäker-Witze, die man sich in Arbeitspausen erzählte, beim Kartenspiel, in der heimeligen Atmosphäre eines Pubs. Das Wort wurde mit dickem Filzstift an Bushaltestellen geschmiert, an die Mauern verlassener Mietskasernen gesprüht. Es strömte in Wellen durch die wogenden Menschenmengen auf den Tribünen von Ibrox und Celtic Park. QUÄKER 3, POLIZEI 0. Sein Name schlich sich bis in die Abzählreime, die Kinder auf der Straße beim Seilspringen oder Ballwerfen skandierten.

Überall hing dieses eine Plakat: WENN SIE IHN SEHEN, RUFEN SIE DIE POLIZEI. Er sah aus wie ein vager Bekannter, dessen Name einem auf der Zunge lag. Wenn man lange genug hinsah und dabei die Augen zukniff, verwandelte sich das Phantombild mit dem akkuraten Seitenscheitel in das Gesicht des Milchmanns, des Ex-Freundes der Schwester, des jungen Burschen, der einem im Blue Bird Café die Fish & Chips einpackte.

Es war ein fein geschnittenes Gesicht, gepflegt und beinahe hübsch. Für manche der älteren Stadtbewohner sah er aus wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ein ordentlicher junger Mann. Nicht wie diese Strauchdiebe heutzutage, die sich auf der Rückbank von Bussen fläzten, affektiert die langen Haare zurückstrichen und an ihren Ziegenbärtchen zupften.

Jacquilyn Keevins, das erste Opfer, wurde am 13. Mai 1968 getötet. Mit der eigenen Strumpfhose erwürgt und in einer dunklen Gasse in Battlefield zurückgelassen.

Der Ballsaal-Schlächter. Der mordlüsterne Tanzlokal-Romeo. Der Quäker war immer Gesprächsthema, wenn man es satthatte, über Fußball oder das Wetter zu reden. 1968 erlebte Glasgow den härtesten Winter seit Menschengedenken. Einen Tag nach Halloween, am ersten November, fegte ein Orkan durch die Stadt, raste durch die Schluchten der Mietskasernen, riss die Ziegel von den Dächern und warf Schornsteine um.

Am zweiten November ging Ann Ogilvie im Barrowland Ballroom tanzen und kam nicht mehr nach Hause. Zwei Tage später wurde ihre Leiche in einem Abbruchhaus in Bridgeton aufgefunden.

Den ganzen November über blieb das Wetter grauenhaft. Fußballbegegnungen mussten verschoben werden, die Liste der Nachholspiele wurde immer länger. Die Plakate, von Graupelschauern durchnässt, klebten gleich mehrfach nebeneinander an den Hauswänden, als würde der Quäker für ein öffentliches Amt kandidieren.

Den ganzen Winter über schrieben die Leute an DCI George Cochrane und das Quäker-Team in der Marine Police Station. Jeden Morgen warteten stapelweise Briefe auf Cochranes Schreibtisch. Die Leute bezichtigten ihre Freunde und Nachbarn, Verwandte und Feinde. Die Namen des Quäkers waren schottischer, irischer, italienischer Herkunft. Manche Briefe waren anonym, manche unterschrieben. Im Dezember dann trafen derlei Bezichtigungen als Weihnachtskarten ein, mit festlich glitzernden Krippenszenen, auf deren Rückseite die Namen der angeblichen Mörder zornig in Großbuchstaben notiert waren. Die Beamten gingen allen Hinweisen nach, spürten die Denunzierten in allen Ecken der Stadt auf.

Die Stadt selbst war im Wandel begriffen, wurde zum Opfer der Abrissbirnen. Slumräumung. Sanierung. Ganze Straßenzüge verschwanden. Familien wurden auseinandergerissen. Manche zogen in die gesichtslosen Sozialbauten am Stadtrand, aber die meisten verschwanden. Sie landeten in den neuen Trabantenstädten an der Küste oder brachen nach Kanada oder den USA auf, schifften sich als Holzklasse-Passagiere nach Adelaide und Wellington ein. Neubeginn in der sonnigen Fremde, weit weg vom Ruß der alten Mietskasernen.

Für die, die dablieben, war es der Quäker-Winter. Vor dem blonden Seitenscheitel und dem schiefen Grinsen gab es kein Entrinnen. Die zahllosen Plakate hielten der Stadt ihr eigenes Zerrbild vor. Männer mit kurzen blonden Haaren, Männer mit überstehenden Vorderzähnen, Männer mit den schmalen, leicht sinnlichen Lippen des Phantombilds wurden in Pubs, Restaurants und in der U-Bahn misstrauisch beäugt. Von ihrer Evening Times aufsehend, wenn der Bus über ein Schlagloch rumpelte, merkten sie, wie sie angestarrt wurden. Um sie herum wurde ständig getuschelt, die Nachbarn verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Der Polizeichef ließ allen, die dem Phantombild ähnelten, Kärtchen ausstellen: Dem Träger dieser Karte wird hiermit bescheinigt, dass er nicht der Quäker ist.

Am 25. Januar, Burns Night, fegte ein neuer Orkan über die Stadt. Am Morgen danach wurde Nummer drei gefunden, in einem Hinterhof in Scotstoun, weggeworfen wie eine zerfledderte Gliederpuppe. Und schon gesellte sich Marion Mercers ahnungsloses Lächeln zu denen von Jacquilyn Keevins und Ann Ogilvie in den Schlagzeilen des Record, der Tribune, des Daily Express.

Jacquilyn Keevins. Ann Ogilvie. Marion Mercer.

Und dann, in den Wochen nach Marion Mercer, plötzlich nichts mehr. Die Morde, die eine ganze Stadt in Atem gehalten hatten, hörten einfach auf. Die Tage verstrichen, die Wochen wurden zu Monaten. Als es dann wärmer wurde, konnte sich kaum noch jemand an dieses winterliche Grauen erinnern. Die Hysterie verebbte. Die Schwaden verzogen sich. Plötzlich waren schon sechs Monate seit dem letzten Quäker-Mord vergangen. Kaum einer konnte sich vorstellen, dass er erneut zuschlagen könnte, das alles war Schnee von gestern. Und wieder standen die Leute Schlange vor den Tanzlokalen. Vor dem Plaza und dem Albert ließen die Türsteher ihre Muskeln spielen. Im Barrowland und im Majestic drängten sich die Frauen vor der Garderobe. Bandleader im blauen Smoking rissen Quäker-Witze, bevor sie sich für den nächsten Slow über das Mikrofon beugten. Die Universität schaffte die eigens für Studentinnen eingeführten Abendbusse wieder ab. Die Stadt kehrte zur Tagesordnung zurück und blickte nach vorn. Neuigkeiten aus aller Welt – Unruhen in Belfast, der Kennedy-Unfall in Chappaquiddick, der große Schritt für die Menschheit – verdrängten die Lokalnachrichten in Tribune und Record. Ein neues Jahrzehnt kündigte sich an, neues Geld, neue Hochhäuser im Stadtzentrum, Zitadellen aus Glas und Stahl. Der Quäker verschwand aus dem Bewusstsein der Stadt. Vielleicht war er ja gestorben, für irgendein anderes Verbrechen eingelocht worden, unbekannt verzogen, die Erinnerung an ihn war zu einem müden Raunen, zu einer halb vergessenen Melodie verkümmert.

Nur die hemdsärmeligen Männer von der Mordkommission in der Marine Police Station in Partick blieben am Ball. In ihrem fünf mal drei Meter großen Büro im Obergeschoss verfolgten sie den Quäker durch Aktenstapel voller Zeugenaussagen. Monatelang hatten diese Männer sich abgemüht, das Puzzle zusammenzusetzen, hatten im Schutt von Hinterhöfen nach Sinn und Motiv gesucht. Drei Lebensenden. Drei Leichen. Weggeworfen wie Müll. Ich dachte, es wär eine Schaufensterpuppe. Es sah aus wie ein Haufen Lumpen. Ein alter Mantel, eine alte Decke. Nie denkt man, dass es eine Leiche sein könnte. Eine Frau. Eine, die gerne liest, die ein Lieblingslied hat. Eine mit bitteren Geheimnissen, mit einem Ekzem hinterm Ohr.

Dann änderten die Zeitungen ihre Berichterstattung. Ermittler, denen man bislang Achtung gezollt hatte – George Cochrane in Regenmantel und Filzhut, bedächtig an seiner Pfeife ziehend wie ein Sherlock Holmes, den es ans Ufer des Clyde verschlagen hätte; Polizeichef Arthur Lennox in blauer Gala-Uniform, flankiert von einem Bild der Queen –, wurden mit einem Mal harsch kritisiert. Ein Anflug von schwarzem Humor schlich sich in die Berichterstattung. Die Presse lästerte über Ermittlungsbeamte, die wohl ihre Tanzkünste auffrischten, wenn sie sich unter die Gäste im Barrowland Ballroom mischten. Im Juli druckte die Tribune ein altes Foto vom Quäker-Team am Tatort von Jacquilyn Keevins Ermordung, wie sie auf Spurensuche in Dreierreihe die Carmichael Lane abschritten. Die Bildunterschrift dazu lautete Romeo, Foxtrott, Tango: das Marine-Formationstanz-Team.

JACQUILYN KEEVINS

Alle glauben, ich hätte mich umentschieden, und das hätte mich das Leben gekostet. Sie schütteln den Kopf über meine Unvernunft oder die Launen des Schicksals. Als wäre es so schlimm, sich mal anders zu entscheiden. Als hätte ich es besser wissen müssen. Aber ich hatte mich gar nicht anders entschieden. Ich hatte Mum und Dad gesagt, dass ich ins Majestic gehen würde – soweit hatten sie recht –, aber das hatte ich überhaupt nicht vorgehabt. Ich wollte eigentlich ins Barrowland.

Ich wollte ins Barrowland, um einen Mann zu treffen.

Die Schuhe, die ich mir letzten Samstag bei Frasers gekauft hatte, drückten an den Zehen, als ich den Berg hinunter zur Bushaltestelle ging. Ich trug ein smaragdgrünes Crêpe-Kleid, das ich leicht gekürzt hatte. Es war ärmellos, und das Satinfutter meines Mantels fühlte sich kühl auf den nackten Armen an. Ich merkte, wie mein Parfüm – Rive Gauche – sich im unteren Deck des Busses ausbreitete, und ich erinnere mich daran, dass die Schaffnerin eine Laufmasche hatte und dass ich dachte, sie hätte mal besser eine heile Strumpfhose als Reserve einstecken sollen.

Wieso hatte ich meine Eltern angelogen? Keine Ahnung. Vielleicht, um es spannender zu machen. Das heimliche Treffen, meine ich. Der Mann hieß William. Er war groß, hatte dichtes Haar, durch das er sich immer mit der Hand fuhr, und seine kräftigen schlanken Unterarme waren zu sehen, weil er sich die Ärmel hochgekrempelt hatte. Ich kannte ihn noch nicht lange. Er hatte etwas Zurückhaltendes an sich. Ich fragte mich, ob er womöglich verheiratet war, aber das war mir egal. Es war lange her, dass jemand mich zum Tanzen ausgeführt hatte. Der Junge war das Problem. Klein-Alasdair. Gerade sechs geworden. Es schreckt sie ab, wenn man ein Kind hat.

Am Glasgow Cross stieg ich aus, ging die Gallowgate entlang bis zum Barrowland und stellte mich in die Schlange unter dem rot und grün leuchtenden Neonschild. Nachdem ich den Mantel an der Garderobe abgegeben hatte, stieg ich die breite Treppe zum Saal hinauf. Das gefiel mir immer am besten, dieses Hinaufsteigen ins bunte Treiben, wenn die Musik lauter wurde und die tanzenden Paare sichtbar wurden. Die letzten Stufen rannte ich fast und tauchte in den Saal ein. Ich fühlte mich sicher, hier im Wechselspiel von Licht und Dunkel fühlte ich mich geborgen.

Ich holte mir ein Bitter Lemon an der Bar und setzte mich an einen Tisch, damit die Leute sehen konnten, dass ich auf jemanden wartete.

Ich zündete mir eine Zigarette an und sah auf die Uhr. William hatte sich schon eine Viertelstunde verspätet. Benny Hamlin and the Hi-Hats spielten gerade ›Boom Bang-a-Bang‹, und ich ärgerte mich, weil ich dazu gern getanzt hätte. Ich nahm mir noch eine Zigarette und sah zu, wie der Rauch zu den Sternschnuppen an der Decke aufstieg.

Um halb zehn musste ich mir eingestehen, dass er nicht mehr kommen würde. Mein Bitter Lemon war ausgetrunken, von meinen Zigaretten waren nur noch zwei übrig. Ich weiß noch, wie wütend ich war, den Tränen nah, gar nicht so sehr, weil er mich sitzengelassen hatte, sondern weil alles verdorben war, der Abend und das Kleid und die Musik und alles. Ich kramte nach meinem Lippenstift und wollte schon gehen, als ein Schatten auf meine Handtasche fiel. Ich blickte auf, und da stand er. Im Gegenlicht, weshalb ich sein Gesicht nicht richtig sehen konnte. Ich hatte vergessen, wie groß er war und wie gewählt er sich ausdrückte.

»Es tut mir leid, dass ich zu spät komme«, sagte er. »Darf ich Ihnen trotzdem Gesellschaft leisten?«

Das war die Art, wie er redete. Er bot mir eine Zigarette an und zündete sie mit einem hübschen goldenen Feuerzeug an, nahm selbst aber keine. Er rauchte nicht, hatte immer nur welche dabei, für Gelegenheiten wie diese.

Er spendierte mir noch ein Bitter Lemon und zog noch eine Schachtel Embassy Filter aus dem Automaten und hängte seinen Mantel über einen freien Stuhl. Er hatte einen schönen Wollschal, den er zusammenfaltete und auf den Stuhl neben sich legte. Er sah sehr gut aus mit seinem markanten Kinn, der geraden Nase und dem kurzen blonden Haar mit dem akkuraten Seitenscheitel. Er trug einen dezent gestreiften Schlips und einen braunen Nadelstreifenanzug. Stilvoll. Ich musste lächeln, als ich mich vorbeugte und seine Hand festhielt, während er mir Feuer gab.

Die Musik war laut, man konnte sich kaum unterhalten, aber er fragte mich, wie mein Tag gewesen sei, und erzählte von seinem Job. Ich hörte gar nicht richtig zu, erfreute mich vor allem am Klang seiner Stimme. Glasgower Akzent, aber kultiviert, nicht wie diese Kerle, die mit dem Mund solche Geräusche machten, als würde Luft aus einem Ballon entweichen. Er war vollkommen anders. Viele der Männer im Barrowland waren harte Burschen oder hielten sich dafür, sie prügelten sich gern. Während meiner Nachtschichten bekam ich sie oft genug zu sehen, wenn sie mit ihren zerschlagenen Gesichtern in die Ambulanz kamen. Ich würde ja gern sagen, dass sie dermaßen zugerichtet gar nicht mehr schlau wirkten, aber in Wahrheit sahen sie noch genauso schlau – oder genauso beknackt – aus, wenn sie in ihren blutbesudelten Hemden dasaßen, mit stolzgeschwellter Brust, während sie sich ausmalten, wie sie vor ihren Kumpels damit angeben würden. William war anders, er wirkte älter, reifer, wie einer, der sich auskannte. Und ein guter Tänzer war er auch.

Wir gingen um halb elf die Gallowgate hinunter zu seinem Wagen. Im Licht der Straßenlampen wirkte er jünger als drinnen im Saal. Er war um die fünfundzwanzig, obwohl er auf älter machte. Immerhin war ich gut fünf Jahre älter als er, und das gefiel mir, es gab mir mehr Sicherheit.

Sein Wagen war ein schnittiger weißer Flitzer und sah ziemlich neu aus. Er hielt mir die Beifahrertür auf, während ich auf dem roten Ledersitz Platz nahm. Dann schloss er die Tür und ging hinüber zur Fahrerseite. Ich ließ mich gegen ihn fallen, wenn der Wagen eine Kurve nahm, und sah zu ihm auf, aber er blickte starr geradeaus und behielt die Hände am Lenkrad. Er sprach von der Umstellung aufs Dezimalsystem und setzte dabei eine so ernsthafte Miene auf, dass ich ihn, als er an einer roten Ampel hielt, in die Seite pikste, um ihn zum Lachen zu bringen. Es war ja nett, dass er so wohlerzogen war, aber er hätte es ruhig ein bisschen lockerer angehen können. Passieren würde sowieso nichts – ich hatte meine Tage –, aber man will ja trotzdem seinen Spaß haben, wenn man mal ausgeht.

Wir stiegen aus, und er führte mich in einen Hofeingang. Kaum standen wir im Dunkeln, war er wie verwandelt, als ob man einen Kippschalter betätigt hätte. Er packte mich an den Schultern und küsste mich so heftig, dass mein Kopf gegen die Mauer prallte. Wird auch Zeit, dachte ich. Dann waren seine Hände überall, und er fing an zu keuchen.

»Nicht hier«, sagte ich. »Komm weiter.«

Ich führte ihn den Hügel hinab in die Seitengasse hinterm Carmichael Place. Ich lachte vor mich hin, weil ich mich wieder wie fünfzehn fühlte. Hier waren wir früher nach dem Kino oder dem Kirchenkaffee mit Jungs hingegangen und hatten ein bisschen rumgemacht, bevor wir heimgingen. Ich war fünfzehn Jahre nicht mehr hier gewesen, aber es war alles noch wie früher, die gleichen Garagen und Gartentore.

In dem Hinterhof war es stockfinster. Der Boden war uneben, nichts als Grasbüschel und spitze Steine, und an einem davon blieb ich prompt mit dem Absatz hängen. Ich fiel gegen ihn und hielt mich an seinem Arm fest, und ich weiß noch, wie ich die ganze Zeit lachte, ich konnte nicht mehr aufhören zu lachen, es kam mir alles so komisch vor. Mein Mund stand weit offen, vor lauter Lachen blieb mir die Luft weg, und da schlug er mir seine Faust direkt ins Gesicht.

Zuerst wusste ich gar nicht, was passiert war. Ich dachte, ich sei ausgerutscht und gegen seine Schulter geprallt oder jemand wäre zwischen uns hindurchgerannt und hätte mich dabei angerempelt. Ich taumelte zurück, gegen ein schepperndes Garagentor. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, und als ich sie herabnahm, war sie dunkel verfärbt. Ich schaute auf und sah ihn mit erhobener Faust auf mich zukommen. Ich schrie, aber zuerst musste ich schlucken, und der Schrei klang irgendwie dünn und halbherzig, und er erstickte ihn mit einem weiteren Schlag, und es ruckte mehrmals, als würde ich über eine Treppe nach unten rutschen, und dann lag ich mit dem Gesicht auf dem Boden und starrte mit dem Auge, das noch sehen konnte, nach oben, und jetzt stand er über mir, zog sich den Schlips ab und nickte dabei mechanisch vor sich hin.

Das war alles. Jetzt sieht mein Vater aus, als ob er nie wieder lächeln könnte, als hätte er völlig vergessen, wie das überhaupt geht, und er ist plötzlich alt, alt, alt, zu einem Zwerg geschrumpft, sein Kragen ist zu weit, seine Jackenärmel sind zu lang, und meine Mutter wankt vollgepumpt mit Valium durch den Tag. Sie versuchen, Frohsinn zu verbreiten wegen Alasdair, aber das klappt nicht, darauf fällt ein Kind nicht herein. Der Junge weiß, dass etwas nicht stimmt, und natürlich denkt er, es sei seine Schuld.

Was haben sie sich für Sorgen gemacht, Mum und Dad, als ich in Deutschland war. Was konnte einem in so einem Land nicht alles zustoßen. Sie waren so froh, als ich wieder heimkam, zurück in die Wohnung in Langside Place, zurück zu den durchnummerierten Bussen und den kleinen Ladenzeilen, den Straßen, wo nichts Schlimmes passieren konnte. Es fällt ihnen schwer, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. In Deutschland wäre ich besser aufgehoben gewesen, in dem engen Army-Quartier in Bad Godesberg, wo ich im Regen zum NAAFI-Laden trampte.

Es gibt Dinge, die wir in Erinnerung behalten müssen. Ich erzähle sie Alasdair, wenn ich schwerelos neben ihm auf dem schmalen Bett liege und mir wünsche, ich könnte seine Haut riechen. Ich träufle sie ihm ins Ohr, während er schläft, und wenn seine Augenlider flattern – seine durchscheinenden Lider mit den roten Äderchen und den langen blonden Wimpern –, dann dringen die Worte zu ihm durch. Ich erzähle meinem Jungen von ihm selbst. Wie er sich vor dem Kohlenmann mit der Lederschürze und dem schwarzen Gesicht fürchtete. Wie er mit meinem Haar spielte, es sich um die Finger wand, wenn ich ihm einen Gutenachtkuss gab. Das tat er immer, wenn er müde war. Er saß auf meinem Schoß, gegen meine Brust gelehnt, reckte sein Ärmchen und griff mir ins Haar. Nun wird er es vergessen. Es ist keiner mehr da, der ihn daran erinnert. Oder daran, dass er die Monkees mochte. Oder dass er »Lalla!« rief, wenn ein Laster vorbeifuhr, und Hubschrauber »Huppatupptupp« nannte. Meine Eltern werden sich nicht daran erinnern. Sie lieben ihn, doch an diese Dinge erinnern sie sich nicht, und es ist traurig, dass sie für immer verloren sind.

Kann es denn etwas Wichtigeres geben? Etwas Wichtigeres als Vergeltung und die Überführung des Täters? Die Leute glauben, wir Mordopfer seien von Hass zerfressen, dürsteten nach Rache, fänden keine Ruhe, bis unser Mörder gefasst ist. Mir ist das egal. Wenn einer in Barlinnie gehängt oder fünfzehn Jahre in Peterhead weggesperrt wird: Hilft das Alasdair, besser zu schlafen? Gibt es mir meinen Geruchssinn zurück?

Eine Weile dachte ich, ich wäre anders als die anderen. Besser. Weniger tadelnswert. Ich war die Erste. Ich konnte nicht wissen, dass es ihn gab. Aber die anderen, die Zweite und die Dritte: Als sie die Treppe hinaufstiegen zur Musik, ins Licht und den Sternschnuppen entgegen, da wussten sie es. Sie wussten, dass ein Mann in diesem Saal eine Frau abgeschleppt und ermordet hatte. Aber sie gingen trotzdem hin.

Und dann merkte ich, wie sehr ich mir etwas vormachte. Auch ich hatte die ganze Zeit gewusst, dass er da war. Wie wir alle.

1

Detective Inspector Duncan McCormack hatte sich an einem Schreibtisch in der leeren Mordkommission niedergelassen. Die Nachtschicht war um sieben gegangen; die Tagschicht würde nicht vor acht anfangen.

McCormack war früh dran, aus Prinzip. Wenn man vorhat, eine Gruppe von Kollegen zur Rechenschaft zu ziehen, sollte man besser pünktlich sein. Man sollte ihnen so viel Respekt wie möglich entgegenbringen.

Er zündete sich eine Zigarette an. So früh am Tag herrschte in der Mordkommission kirchliche Stille. Er hatte das Licht nicht angemacht, und die Morgensonne warf einen weichen Glanz auf die Hauben der Schreibmaschinen, die Glasaschenbecher und die grauen Metallbäuche der Papierkörbe. Es war der übliche schäbige Büroraum, mit seinem Sammelsurium von zerkratzten Schreibtischen und nicht dazu passenden Stühlen und tristen graubraunen Aktenschränken, aber für McCormack hatten solche Räume etwas Magisches. Rätsel wurden hier gelöst. Morde aufgedeckt. Leben, die durcheinandergeraten waren, konnten manchmal – mit viel Arbeit und Geschicklichkeit und der nötigen Portion Glück – wieder zurechtgerückt werden.

Glück, dachte er. Glück war kein Wort, das man mit dem Quäker-Fall in Verbindung brachte. Nichts an diesem Fall hatte mit Glück zu tun.

Er stand auf und ging hinüber zu der einen Wand, die frei von Aktenschränken war. Hier hingen Karten, auf denen die Tatorte mit farbigen Pinnnadeln markiert waren. Außerdem Fotos von drei Frauen, die üblichen Vorher-/Nachher-Bilder. Man konnte nicht von den ahnungslos lächelnden Gesichtern zu den Aufnahmen der Leichen wechseln, ohne dass es einem den Magen umdrehte. Ohne dass man sich persönlich schuldig fühlte.

Vor einem der lächelnden Gesichter verharrte er, um sich seine Mitschuld einzugestehen. Diesen Fall hatte er selbst bearbeitet, den ersten, Jacquilyn Keevins. In Southside, im Frühling des vorigen Jahres. Ein Fall, bei dem alles schiefgelaufen war. Fehlinformationen. Pfusch. Schlampige Anleitung. Nach nur zwei Wochen hatten sie die Ermittlungen eingestellt. Dann kamen Ann Ogilvie in Bridgeton und Marion Mercer in Scotstoun. Von da an wussten sie, dass sie es mit einem Serienkiller zu tun hatten. Von da an wurde eine Legende daraus, mit all den Schauergeschichten und Gerüchten. Eine ganze Stadt wurde in den Bann dieses arroganten, aus der Bibel zitierenden Würgers gezogen, den die Presse den Quäker nannte.

Zu diesem Zeitpunkt richtete sich das Quäker-Team in der alten Marine Station ein, der Polizeidienststelle, die dem Mercer-Tatort am nächsten war. Dort blieben sie dann, während die Wochen zu Monaten wurden und der Mann aus dem Barrowland Ballroom einfach nicht zu fassen war.

Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatten sie jetzt auch noch Detective Inspector Duncan McCormack am Hals. Vorübergehend vom Sondereinsatzkommando hierher versetzt, war McCormack damit betraut, die Ermittlungen im Quäker-Fall zu überprüfen, seine Schlüsse daraus zu ziehen und entsprechende Empfehlungen abzugeben. Jeder wusste, was das bedeutet hatte. Er sollte alles wieder auf einen vernünftigen Maßstab reduzieren, bevor noch mehr Geld verschwendet wurde. Hol uns raus aus dem Schlamassel, den wir angerichtet haben.

McCormack wandte sich von den Fotos an der Wand ab, als das Telefon klingelte. Ein durchdringendes, blechernes Schrillen, das die Stille im Raum zerriss. Er sah zur Tür, als erwarte er, dass jemand hereinstürzte, um den Anruf entgegenzunehmen, und griff dann zögernd und missgelaunt zum Hörer.

»Mordkommission. McCormack.«

Er kam sich vor wie ein Butler in einem Theaterstück. Am anderen Ende war ein leises Räuspern zu hören, die Andeutung eines Lachens, dann ein kurzes Schlucken, als jemand zum Sprechen ansetzte. »Immer noch keine Fortschritte, was?«

»Wie bitte?«

»Keine Fortschritte bei den Ermittlungen gegen diesen Kerl. Nach all der Zeit.«

Die Stimme klang einheimisch. Glasgow. Kultiviert. Um die fünfzig, befand McCormack. Mindestens.

»Können Sie mir Ihren Namen nennen, Sir?«

»Ihr hattet ein ganzes Jahr. Über ein Jahr. Nachlässig nennt man so was. Schludrig, sogar.«

»Sir, haben Sie Informationen, die Sie uns mitteilen möchten?«

»Mitteilen?« Wieder das leise Lachen. »Allerdings hab ich was mitzuteilen, mein Guter. Nämlich den Namen des Mannes, der’s getan hat. Na, ist das was?«

»Dann raus damit.«

»Michael Ferris. Michael Ferris ist der Saukerl, den ihr sucht. F-E-R-R-I-S, 12 Dollar Terrace, Maryhill. Haben Sie das notiert?«

»Danke für Ihre Hilfe.«

McCormack legte auf, drehte sich um und bemerkte eine Gestalt im Türrahmen, breite Schultern, die das Licht blockierten. Ein blonder Strubbelkopf. Goldie hieß der Kollege. McCormack hatte ihn gleich als Großmaul abgehakt. Einer, der viel Wind machte. Außerdem kam es ihm vor, als würde er ihn von irgendwoher kennen.

»Hallo, hab Sie gar nicht reinkommen hören.«

Goldie wippte vor und zurück. »Michael Ferris?«

»Woher wissen Sie das?«

Goldie zuckte die Schultern. »Immer derselbe Bekloppte. Ruft alle drei bis vier Tage an.«

»Na dann.« McCormack nickte, lächelte sein schiefes Lächeln. »He, ich glaube, wir haben uns noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Duncan McCormack.«

»Sie denken wohl, wir kennen Ihren Namen nicht?« Goldie schien die ausgestreckte Hand nicht zu sehen. »Sie denken wohl, wir wissen nicht, wer Sie sind?«

»Soll ich das als Kompliment auffassen?«

»Noch näher werden Sie hier bestimmt nicht an ein Kompliment rankommen, Freundchen.«

»Versteh schon. Die ganze Sache ist total verfahren. Aber wir wollen hier doch eigentlich alle das Gleiche, oder?«

»Ach wirklich?« Goldie kaute auf der Unterlippe. Die Hände in den Manteltaschen warf er sich in die Brust. »Was wollen Sie denn? Verbrecher jagen? Ganz normale Polizeiarbeit machen? Ich hatte eher den Eindruck, dass es Ihnen um was ganz anderes geht.«

Man konnte sich provozieren lassen, dachte McCormack. Oder tief durchatmen, den Job durchziehen, den Bericht schreiben und die ganze Scheiße hinter sich lassen. Sich die Visage dieses Blödmanns für später merken. Und es ihm irgendwann mal heimzahlen.

»Ich will, was wir alle wollen.«

»Gut. Mein Fehler«, sagte Goldie. »Ich dachte, Sie sind hier, um uns auszuspionieren.«

McCormack lächelte verkniffen. Kennen Sie James Kane?, hätte er am liebsten gefragt. James Arthur Kane, der Mann, der in Dennistoun für John McGlashan das Zepter schwang? Der Mann, der jetzt in Peterhead für zwölf Jahre hinter Gittern sitzt? Der James Kane? Den habe ich in den Knast gebracht. Durch meine Polizeiarbeit. Er ist der Vierte von McGlashans Jungs, die ich letztes Jahr festgenagelt habe, während ihr euch hier in eurer miesen Mordkommission die Ärsche breitgesessen habt. Papiere abgeheftet. Bunte Nadeln in eine Pinnwand gesteckt.

Aber er sagte nichts, und jetzt lächelte Goldie. »Sie sind noch nicht draufgekommen, was?«

McCormack versuchte, nicht so gereizt zu klingen, wie er sich fühlte. »Worauf denn?«

»Woher Sie mich kennen? Meine Güte. Wir haben den ersten Fall zusammen bearbeitet. Jacquilyn Keevins.«

»Ach so. Ja, natürlich.«

Es stimmte. Wie hatte er das nur vergessen können? McCormack verfluchte sich für seine Blödheit. Es war, als gäbe seine Gedächtnislücke Goldie recht. In diesem Raum gab es nur einen, der dort hingehörte.

Goldie tippte sich an die Brust. »Und ich arbeite immer noch dran. Ich und die anderen. Was machen Sie?«

»Ich mache meinen Job. Polizeiarbeit. Genau wie Sie.«

»Nee, Inspector. Wirklich nicht.« Goldie grinste hämisch, sein feistes Gesicht drückte Verachtung aus. »Sehen Sie, Sie können nicht gleichzeitig der Zuträger für die da oben sein und gute Polizeiarbeit machen. Und wissen Sie, warum? Weil gute Polizeiarbeit nicht alleine gemacht wird. Man braucht seine Nachbarn dazu, die einem helfen. Und wer will Ihnen schon helfen?«

Er verwendete das Wort »Nachbarn« im Sinne des örtlichen Polizeijargons, wo es Partner bedeutete, Kollegen auf dem Revier. McCormack sah zu, wie Goldie Zigaretten und Feuerzeug aus der Manteltasche holte und sie auf den Schreibtisch warf. Dabei pfiff er leise vor sich hin, und scheiß drauf, entschied McCormack, jetzt reichte es wirklich.

»Kennen Sie einen Typen namens James Kane?«, fragte er.

»Ja ja, schon klar.« Goldie hängte seinen Regenmantel an die Garderobe. »Sie haben einen von Glashs Handlangern eingelocht. Und das macht Sie zu einem Überflieger? Ihrer Meinung nach vielleicht. Meiner Meinung nach muss man jeden Tag von Neuem antreten. Polizist sein. Es sich immer wieder verdienen.«

McCormack schüttelte den Kopf. Polizist sein. Was zum Teufel willst du mir darüber erzählen? Er hob den Finger, wollte zornig etwas entgegnen, als eilige Schritte im Flur zu hören waren.

»Was ist denn hier los?« Der Boss, DCI George Cochrane, stand auf der Schwelle, lang und dünn und beinahe jungenhaft in seinem eng gegürteten Kammgarnmantel. Er starrte die beiden Streithähne an. »Was zum Teufel geht hier vor, DS Goldie?«

»Freundschaftliche Auseinandersetzung, Sir.« Goldie lächelte, ohne die Augen von McCormack abzuwenden. »Wir sind hier doch alle Freunde.«

»Gut. Dann sorgen Sie dafür, dass es so bleibt.« Geschäftig eilte Cochrane weiter, zu seinem eigenen Büro, in das Kirscharoma seines Pfeifentabaks gehüllt. An der gestreiften Glastür hielt er inne. »Übrigens, Goldie? Kommende Woche machen wir noch ein paar Gegenüberstellungen mit Nancy Scullion. Schauen Sie doch heute Abend noch mal bei ihr vorbei ja? Fragen Sie nach, wann sie Zeit hat.«

»Sir.«

Goldie setzte sich an seinen Schreibtisch. McCormack trat an eins der hohen Fenster, hakte es auf und schob es hoch. Ein Windhauch wehte den Geruch des Flusses herein; der Clyde floss ein Stück weiter südlich mit dem Kelvin zusammen. Nancy Scullion. Er hatte den Namen hier schon oft gehört. Wenn die Mordkommission ein Kult war, dann war Nancy Scullion seine Hohepriesterin, das Delphische Orakel der Marine Police Station. Die Schwester des dritten Opfers hatte den Abend des 25. Januar im Barrowland Ballroom verbracht, zusammen mit ihrer Schwester und dem Mörder. Hatte zwischen ihnen im Taxi gesessen, auf dem Weg zurück nach Scotstoun, wo die Schwestern nur wenige Straßen voneinander entfernt wohnten. Nancy war betrunken gewesen, mit Gin und Piccolos abgefüllt, aber sie hatte gehört, wie er sich lang und breit über Wohnwagenferien in Irvine ausließ, über das Aufwachsen bei Pflegeeltern, und wie er mit Bibelzitaten um sich warf.

Nancys Beschreibung war das Evangelium. Für die Männer, die hier saßen, waren ihre Worte wie in Stein gemeißelt. Bis ins kleinste Detail zerlegten und untersuchten sie ihre Beschreibung eines korrekt gekleideten Mannes, mit kurzem blondem Haar und Regenmantel, galanten Umgangsformen und leicht reizbarem Temperament. Gute Manieren, redegewandt. Ganz was anderes als die sonstigen East-End-Proleten. Ein Golfspieler, jawohl, dessen Cousin kürzlich mit nur einem Schlag eingelocht hatte. Höflich, aber resolut, ein Mann mit klaren Prinzipien, der den Geschäftsführer rief, wenn der Zigarettenautomat klemmte, und ihn zwang, Nancy das Geld zu erstatten. Ein Mann, der im Taxi nach Scotstoun düster von sündhaftem Treiben sprach. Der behauptete, die Silvesternacht betend zu verbringen, während der Rest der Welt dem Alkohol und der Lüsternheit frönte.

McCormack kannte das alles. Nach kaum einer Woche kannte er sämtliche Einzelheiten, als wäre er die ganze Zeit schon dabei gewesen.

Brauner Nadelstreifenanzug, schräg gestreifter Schlips. Breites Uhrarmband. Embassy Filter. Überstehende Vorderzähne. Wildleder-Boots. Sündenpfuhle. Ehebrecherinnen. Einlochen.

Das war die Litanei, und diese Männer hier taten ihr Möglichstes. Jeder in dieser Einheit war all diesen Hinweisen quer durch die ganze Stadt gefolgt. In hundert Friseursalons hatten die Ermittler Kunden in den Frisierspiegeln zugenickt, während der Friseur seine Schere in der Brusttasche verschwinden ließ, um sich das Phantombild anzuschauen. Bei eigens einberufenen Golfclub-Meetings hatten sie die Blazerknöpfe wie blanke Münzen schimmern sehen, während die Mitglieder sich das laminierte Foto weiterreichten. Sie hatten das Bild allen Schneidern in der Renfield Street und der Hope Street gezeigt. Sie waren in die Kirchen und Versammlungsräume sämtlicher Konfessionen gegangen, hatten mit Priestern, Laienpredigern und Pfarrern gesprochen. Sie hatten Zahnarztpraxen besucht und die Erlaubnis eingeholt, Patientenakten einzusehen.

Und nichts davon hatte irgendetwas gebracht.

Der Mann mit den kurzen Haaren und den vorstehenden Zähnen, der fesche Tänzer in den Desert-Boots, dessen Cousin mit nur einem Schlag eingelocht hatte, der religiöse Eiferer, der im Taxi die Bibel zitierte, der Mann, der Jacquilyn Keevins und Ann Ogilvie und Marion Mercer vergewaltigt und ermordet hatte – er war und blieb ein Phantom.

Und während jetzt langsam die Tagschicht hereingetrudelt kam, ihre Fedoras an den Hutständer hängte, die blauen Regenmäntel auszog, empfand McCormack fast so etwas wie Mitleid. Dies war ihr Vorzeigefall, der Anschub zur großen Karriere, und er hatte sich als Rohrkrepierer erwiesen.

Ein metallischer Geruch hing im Raum, zusätzlich zu dem Schweiß- und Zigarettendunst. Es roch nach Verlegenheit, entschied McCormack. Es ärgerte sie, ihre Unzulänglichkeit und Verwirrung einem Außenseiter offenbaren zu müssen, diesem Schnüffler für die Obermuftis von der St Andrew’s Street. Aber es war noch mehr als das. Sie waren einfach beleidigt. All die Mühe, die ganze Detailarbeit, die zahllosen eingegangenen Hinweise. Diese ganze Litanei von Zähnen und Schlipsen und alttestamentarischen Verwünschungen.

Jeder Einzelne in dieser Einheit hatte schon Festnahmen aufgrund von weit geringerem Spurenmaterial vorgenommen. Was war diesmal also schiefgelaufen? Wie hatten sie dermaßen versagen können? Das waren die Fragen, die im Raum standen, und DCI Cochrane schien sie zu spüren, als er seine Rothmanns im Aschenbecher ausdrückte und mit der flachen Hand gegen die Seite eines Aktenschranks schlug, damit Ruhe einkehrte.

Wir waren nicht gründlich genug, mahnte er. Wir sind nicht systematisch vorgegangen. Wir haben gleich beim ersten Mal was übersehen, und das müssen wir berichtigen.

Auf dem Aktenschrank lag ein Stapel brauner Kartonmappen, mindestens zwei Dutzend. Cochrane drehte sich um, packte den ganzen Stapel mit beiden Armen und beugte sich vor, um ihn auf den nächststehenden Schreibtisch fallen zu lassen.

»Das sind die Männer, die wir nach Fall eins und zwei vernommen haben. Nach Keevins und Ogilvie. Männer mit einem Strafregister. Sexualtäter. Wir haben sie vielleicht zu schnell ausgeschlossen. Ich will, dass Sie jeden einzelnen von diesen Individuen noch mal vorladen. Mal sehen, was Nancy Scullion zu ihnen einfällt.«

McCormack fing Goldies skeptischen Blick auf. Goldie schüttelte den Kopf und sah weg.

Cochrane klatschte zweimal in die Hände, rieb sie hektisch. »Auf geht’s. Teilen Sie die unter sich auf, und legen Sie los.«

Die Männer schlurften vor, und jeder klaubte drei oder vier Akten vom Stapel, um sie zu seinem Schreibtisch zu tragen.

Nach zehn Minuten ging Goldie pinkeln, und McCormack näherte sich wie zufällig seinem Schreibtisch, fing an, die Akten durchzublättern. Einen Kandidaten zog er heraus. Einen tristen Zeitgenossen namens Robert Kilgour, zweiundvierzig Jahre alt, dessen Fuchsgesicht ihm vage bekannt vorkam. Kilgour war ’67 aus Peterhead entlassen worden, wo er zwei Jahre wegen schwerer sexueller Nötigung verbüßt hatte, begangen in der Mill Street, im East End von Glasgow, etwa eine Meile südöstlich vom Barrowland Ballroom. Er war nach dem ersten Mord befragt worden, und McCormack selbst hatte ihn in seiner Absteige in Cowcaddens vernommen. Ja, jetzt erinnerte er sich, und da war ja auch das Protokoll, auf seiner guten alten Underwood getippt. Kilgour hatte ein solides Alibi gehabt. In der Mordnacht hatte er Freunde in Ayrshire besucht und in Kilmarnock übernachtet, weshalb sie ihn recht schnell aussortiert hatten. Sonst stand nicht viel mehr in der Akte, nur eine Liste seiner Aufenthaltsorte. Er hatte sich in den letzten achtzehn Monaten ziemlich herumgetrieben. Gegenwärtig wohnte er in Shettleston in einer abbruchreifen Mietskaserne.

Goldie kam zurück, blieb vor dem Schreibtisch stehen und stemmte die Hände in die Hüften. McCormack sah auf. »Wenn Sie zu diesem Burschen hier kommen« – er tippte auf die Kilgour-Akte –, »dann lassen Sie es mich wissen. Ich möchte dabei sein.«

Goldie schaute auf die Akte hinab, dann wieder zu McCormack. Dann zog er sich lautstark seinen Stuhl zurecht, ließ sich darauffallen, rutschte näher an den Schreibtisch.

»Wenn’s Ihnen Spaß macht«, knurrte er.