Buch
Als der legendäre Polarforscher Robert F. Scott seine letzte Etappe zum Südpol antrat, ließ er sechs Teilnehmer der Expedition an der Basisstation zurück. George Murray Levick war einer von ihnen. Über Monate hinweg in einer Eishöhle überwinternd, gelang es ihm als Erstem, Adeliepinguine zu studieren. So unerhört und unfassbar erschien ihm das Sexualleben der Vögel, dass er seine Beobachtungen später verschlüsselt und nur in einer Auflage von hundert Exemplaren veröffentlichte. Sie gerieten in Vergessenheit – wie Levick selbst auch.
Hundert Jahre später stößt der Forscher Lloyd Spencer Davis auf Levicks Aufzeichnungen. In seinem Buch erzählt er dessen spektakuläre Überlebensgeschichte im ewigen Eis und würdigt Levicks akribische Studie über die Pinguine, deren Liebesleben dem unseren weit ähnlicher ist, als wir je dachten.
Autor
Der gebürtige Neuseeländer Lloyd Spencer Davis ist preisgekrönter Autor, Wissenschaftler, Fotograf und Filmemacher. Seit mehr als dreißig Jahren widmet er sich Pinguinen, auch in zahlreichen wissenschaftlichen und populären Veröffentlichungen. Er ist derzeit Inhaber des Stuart Chair in Science Communication an der University of Otago, an der er u. a. Creative Nonfiction Writing und Wissenschaftskommunikation lehrt.
Lloyd Spencer Davis
Das
geheime
Liebesleben
der
Pinguine
Ein vergessener Polarforscher,
ein aufregender Fund und
eine erstaunliche Erkenntnis
Aus dem Englischen
von Jürgen Neubauer
Deutsche Verlags-Anstalt
Die Originalausgabe ist 2019 unter dem Titel »A Polar Affair: Antarctica’s Forgotten Hero and the Secret Love Lives of Penguins« bei Pegasus Books, New York, erschienen.
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© 2019 by Lloyd Spencer Davis
© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
by Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN 978-3-641-25229-8
V001
www.dva.de
Für Wiebke,
die mein Lied mit mir singt
Inhalt
Prolog
TEIL EINS Der Lockruf des Eises
Homosexualität
EINS Viktorianische Werte
ZWEI Terra Australis
DREI Die drei Norweger
TEIL ZWEI Alle Wege führen nach Kap Adare
Scheidung
VIER Erste Beobachtungen
FÜNF Kindheitsträume
SECHS Vertane Chancen
SIEBEN Balz
ACHT Täuschung
NEUN Die Ostgruppe
TEIL DREI Kap Adare
Untreue
ZEHN Die Nordgruppe
ELF Die schlimmste Reise
ZWÖLF Pinguinforscher wider Willen
DREIZEHN Das Rennen beginnt
VIERZEHN Wettlauf
FÜNFZEHN Timing
TEIL VIER Nach Kap Adare
Vergewaltigung
SECHZEHN Rüpel
SIEBZEHN Wetter
ACHTZEHN Hunde
NEUNZEHN Winter
ZWANZIG Heimreise
TEIL FÜNF Nach der Antarktis
Prostitution
EINUNDZWANZIG Menschliche Abgründe
ZWEIUNDZWANZIG Nach dem Krieg
DREIUNDZWANZIG Endlich am Pol
Bildteil
Dank
Anmerkungen
Literatur
Prolog
13. Oktober 1911. Ein eisiger Tag, selbst für antarktische Verhältnisse. Von der schmalen Landzunge von Ridley Beach an Kap Adare erstreckt sich das Packeis bis zum Horizont. Eine öde weiße Fläche, eingehüllt in einen Schneesturm, der gegen die wolkenverhüllten Berge anrennt. Ein weniger anheimelnder Ort ist kaum vorstellbar. Doch als der Mann hinausspäht, erkennt er eine kleine schwarz-weiße Gestalt, einen Pinguin, der gegen den Wind gelehnt mühsam auf sein Ziel zuwatschelt. Diesen Strand. Zu dieser Jahreszeit. Ein guter Tag, um sich zu beweisen.
Mit gemischten Gefühlen beobachtet der Mann den Pinguin. Er würde ja viel lieber einen Schlitten ziehen, als hier auf diesem kaum fußballfeldgroßen Strand festzusitzen, den er bald mit Tausenden dieser schwarz-weißen Wichte wird teilen müssen, die sich noch irgendwo da draußen in Schnee und Eis verbergen, aber schon zielstrebig in seine Richtung unterwegs sind. Seine Kleidung bewahrt ihn vor der Kälte, doch sein Gesicht ist ungeschützt. Selbst nach der langen Polarnacht ist er noch gebräunt und sieht so gar nicht aus wie ein Engländer. An diesem Abend nimmt er in seiner relativ warmen Hütte einen Füllfederhalter und eine blaue Kladde zur Hand und notiert: »13. Oktober: Erster Pinguin trifft ein.«1 Den Eintrag unterstreicht er mit seiner blauschwarzen Tinte. Mit diesem Satz beginnt die wissenschaftliche Erforschung der Pinguine.
14. Januar 1912. Ein eisiger Tag, selbst für antarktische Verhältnisse. Ein Zug von Männern, echte Kerle, lehnt sich gegen den Wind und zieht einen beladenen Schlitten durch die eisige Ödnis. Sie wollen sich beweisen. Ihr Ziel ist der Südpol. Ihr Schicksal. Ihre Pflicht. Als Engländer.
29. März 1912. Fast elf Wochen später. Von den fünf Männern, die zum Südpol aufgebrochen sind, sind nur noch drei übrig geblieben. Eng aneinander geschmiegt liegen sie in ihren Rentierschlafsäcken. Erbarmungslos rüttelt der Sturm an ihrem Zelt, das hereindringende Schneegestöber zerrt genauso an ihren Nerven wie das Heulen ihrer leeren Mägen. Nach draußen zu gehen würde einen schnellen Tod bedeuten, drinzubleiben einen langsamen. Der Engländer mit dem runden Gesicht nimmt einen Stift zur Hand. Er wirft einen Blick auf die reglosen Körper seiner Begleiter. Ob sie schon tot sind? Ein letztes Mal schreibt er in sein kleines schwarzes Tagebuch.
Wir werden bis zum Ende aushalten; freilich werden wir schwächer, und der Tod kann nicht mehr fern sein. Es ist ein Jammer, aber ich glaube nicht, dass ich noch weiter schreiben kann.2
Diese Worte machen den gescheiterten Polarforscher Robert Falcon Scott zum Nationalhelden und seinen Namen zum Inbegriff von Kühnheit und Durchhaltewillen in aussichtsloser Lage. Sein mit letzter Kraft hingekritzelter Nachsatz – Sorgt um Gottes willen für unsere Hinterbliebenen! – klingt eher so, als wolle er göttlichen Beistand auf seine Landsleute herabflehen, und nicht wie die letzte Bitte eines Sterbenden, man möge sich um seine Frau und seinen Sohn kümmern.
Als sein gefrorener Leichnam gefunden wurde, lag er zur Hälfte in seinem Schlafsack, einen Arm um seinen guten Freund, den Arzt Edward Wilson, gelegt, unter seiner Schulter das Tagebuch und ein Bleistift. Unter die letzte Eintragung hatte er seine krakelige Unterschrift gesetzt: R. Scott. Nicht Robert, nicht Robert Scott, sondern R. Scott. Steif und förmlich, ganz Brite, bis in den Tod.
An ebenjenem 29. März 1912 kriecht 350 Kilometer weiter nördlich unser anderer Engländer – Arzt und ebenfalls Angehöriger von Scotts Antarktisexpedition – in seinen Schlafsack. Zusammen mit fünf Gefährten wird der Pinguinforscher den Polarwinter in einer Höhle verbringen, die sie in eine Schneewehe gegraben haben. Er greift zu seinem Bleistift und notiert: »Den ganzen Tag Sturm.«3 Damit beginnt eines der unglaublichsten Abenteuer dieser an unglaublichen Abenteuern und eisigen Heldenschicksalen übervollen Antarktis. Es ist die Geschichte eines unbesungenen Helden von Robert Scotts Terra Nova-Expedition, des ersten Pinguinforschers der Welt, dessen Entdeckungen im Schatten von Scotts Tragödie in Vergessenheit gerieten.
Es ist die Geschichte von George Murray Levick.
TEIL EINS
Der Lockruf des Eises
Homosexualität
Man kann durchaus den Eindruck bekommen, dass die Natur nicht nur blutige Zähne und Klauen hat, wie der englische Dichter Alfred Lord Tennyson sagt, sondern dass sie insgesamt eine reichlich blutrünstige Angelegenheit ist, zumal wenn es um die Fortpflanzung geht. Männchen bekämpfen einander bis aufs Blut, um sich mit so vielen Weibchen wie möglich zu paaren. Deshalb sind bei den Seeelefanten die Männchen so viel wuchtiger als die Weibchen, und deshalb tragen männliche Rothirsche Geweihe – so will es die Evolution, wie Charles Darwin sie beschreibt. »Das Überleben der Stärkeren« meint im Grunde nichts anderes als »das Überleben der Potentesten«, also derjenigen, die die meisten Nachkommen zeugen. So verstanden hat das »Überleben« recht wenig mit einem langen und zufriedenen Leben zu tun: Man überlebt in Form seiner Kinder und Kindeskinder. Heterosexualität, genauer gesagt die Paarung von Mann und Frau, ist daher keine Frage der sexuellen Orientierung, sondern sie ist das Wesen des Lebens an sich und zumindest unter uns Wirbeltieren der einzige Weg zur Fortpflanzung. Daher galt die Vereinigung von Angehörigen desselben Geschlechts lange Zeit als unnatürlich und angesichts der Mechanismen der natürlichen Auslese auch als unwahrscheinlich: Geschlechtsverkehr, der nicht der Zeugung von Nachkommen dient, wäre aus evolutionärer Sicht der Inbegriff einer gescheiterten Überlebensstrategie. Demzufolge wäre die Homosexualität nicht mehr als eine Marotte und eine Erfindung der menschlichen Gesellschaft, nicht der Biologie. Für einen Jungen, der im England des ausgehenden 19. Jahrhunderts aufwuchs, war Homosexualität eine unaussprechliche Perversion und sicherlich das Letzte, was man in der Natur erwarten würde. Doch im Laufe seines Lebens sollte George Murray Levick in der Natur so einiges entdecken, was er nicht erwartet hätte.
KAPITEL EINS
Viktorianische Werte
28. Oktober 1996. Ein freundlicher Tag für antarktische Verhältnisse. Der Himmel ist zur Hälfte mit Wolken bedeckt, doch die Sicht ist frei und auf der anderen Seite der Bucht sieht man die hohen Berge, die wie verlorene Kinder des Himalaja am Horizont sitzen. Es herrschen lauschige zehn Grad unter null, und der Nordwind ist zu schwach, um die dunkelblauen Wasserflächen zwischen dem Packeis zu kräuseln, das sich wie ein riesiges Puzzle bis zu den Bergen erstreckt.
Ich sitze zwischen den Adeliepinguinen* der Brutkolonie von Kap Bird auf der Ross-Insel. Mit dem Hubschrauber ist die Insel eine halbe Stunde von Kap Evans und der Hütte entfernt, von der aus Kapitän Robert Falcon Scott und seine Männer zu der gescheiterten Expedition aufbrachen, die sie als erste Menschen zum Südpol bringen sollte. Für mich bedeutet diese Reise keine Gefahr mehr für Leib und Leben; der größte Feind ist heute die Langeweile. Während meiner Schicht sitze ich zwei Stunden lang im Freien und behalte das Paarungsverhalten der Pinguine im Auge. Im Laufe unserer Beobachtungen schält sich heraus, dass die Pinguine ihrem beliebten Image nicht ganz gerecht werden und alles andere sind als die treusorgenden Partner, die einen Bund fürs ganze Leben eingehen. Inzwischen weiß ich, dass sie keineswegs das Paradebeispiel einer Kleinfamilie sind, als das sie in konservativen Kreisen gern dargestellt werden. Trotzdem bin ich nicht auf das vorbereitet, was ich nun sehen werde.
* Adeliepinguine wurden vom französischen Seefahrer und Polarforscher Jules Dumont d'Urville entdeckt, der die Vögel nach seiner Frau Adélie benannte. In der deutschsprachigen Literatur wurde der Akzent allerdings oft unterschlagen. In der zweiten Internationalen Pinguinkonferenz einigten sich die Vertreter der Zunft auf einheitliche Namen für die verschiedenen Pinguinarten. Seither tragen die Adeliepinguine auch offiziell keinen Akzent mehr im Namen.
Ein Pinguin nähert sich einem anderen. Beide machen eine Verbeugung, mit der sie normalerweise ein Weibchen anzulocken beginnen. Nur dass es sich in diesem Fall bei beiden Pinguinen um Männchen handelt. Trotzdem besteigt nun der eine Pinguin den anderen. Und als wäre das noch nicht verblüffend genug, tauschen die beiden anschließend die Rollen, und der Pinguin, der eben noch die weibliche Rolle eingenommen hat, besteigt nun den anderen und ergießt sein Sperma auf die Genitalien des unten liegenden, wie er dies normalerweise bei einem Weibchen tun würde.
Was ich da sehe, widerspricht allem, was man in Büchern, Dokumentarfilmen oder Fachartikeln erfährt. Dort werden Pinguine nämlich durchweg als brave und artige Knirpse dargestellt, die lebenslange Partnerschaften eingehen, weshalb sie uns als das große Vorbild für Ehe und Treue vorgehalten werden. An diesem Tag mache ich eine radikal neue Entdeckung über das Liebesleben der Pinguine.
Das glaubte ich zumindest.
Fünfzehn Jahre später. Douglas Russell, Direktor der Sammlung für Vogeleier und -nester im Natural History Museum von London, sitzt in der Bibliothek der Forschungsabteilung des Museums in Tring und sichtet einen Aktenkarton mit Nachdrucken. Er zieht ein dreiseitiges Manuskript heraus, das ihm noch nie aufgefallen ist. Oben auf jeder Seite steht der gestempelte Vermerk »Nicht zur Veröffentlichung«. Das Manuskript trägt den Titel »Sexualverhalten der Adeliepinguine« und wurde verfasst von einem Marinearzt namens G. Murray Levick, der Kapitän Robert Scott in die Antarktis begleitet hatte und sich neben seinen ärztlichen Pflichten auch als Zoologe und Fotograf betätigte.
Was Russell da zutage gefördert hat, ist offenbar das einzige noch vorhandene Exemplar eines Manuskripts, in dem Levick 1915 das Liebesleben der Pinguine beschrieb. Der Text war anscheinend schon druckfertig gewesen, dann aber aus unerfindlichen Gründen doch nicht veröffentlicht worden.
Robert Falcon Scotts letzte Antarktisfahrt, die Terra Nova-Expedition, galt nicht nur der Entdeckung des Südpols, sondern diente auch der Forschung. Nach der Rückkehr machten sich die Überlebenden daran, ihre Erkenntnisse zu veröffentlichen. Murray Levick, der auf Kap Adare die Adeliepinguine beobachtet hatte, schrieb ein Buch mit dem Titel Antarctic Penguins, das 1914 erschien. Es war das erste Buch über Pinguine.
Auf diesen Klassiker war ich schon 1977 gestoßen, als ich selbst in die Antarktis aufbrach, um die Adeliepinguine zu erforschen. Es war eines von drei Büchern über Pinguine, die ich damals mitnahm, neben Büchern von Henry David Thoreau und Walt Whitman. Der Autor hatte zwar einige grundlegende Beobachtungen zum Verhalten der Adeliepinguine gemacht, doch seine Beschreibung der Vögel erschien mir insgesamt recht antiquiert.
Während der nächsten 35 Jahre ging ich unbeschwert meinen Forschungen nach und »enthüllte« dabei die Wahrheit über das Liebesleben der Pinguine. Bis Douglas Russell eines Tages Levicks Aufsatz über das Sexualverhalten der Adeliepinguine in der Zeitschrift Polar Record zur Veröffentlichung brachte – fast ein Jahrhundert nachdem er geschrieben worden war.
Eines späten Abends sitze ich dann vor dem Computer in meinem Büro und lese Levicks Artikel. Das Gebäude ist verwaist, die Kollegen sind längst nach Hause gegangen. Ich sollte auch zu Hause sein, doch ich sitze gebannt auf meinem roten Kunstlederstuhl. In seinem Aufsatz schildert Levick eine sexuelle Perversion der Pinguine nach der anderen.
Ich bin sprachlos und verblüfft, aber auch aufgeregt. Mir wird klar, dass ich meine Laufbahn als Pinguinforscher vor allem darauf verwendet hatte, das wiederzuentdecken, was dieser Levick längst herausgefunden hatte. Es war, als wäre es George Murray Levick verwehrt worden, mit eigener Stimme zu sprechen, und als hätte er daher durch mich gesprochen. Nirgends wird das deutlicher als in den letzten beiden Sätzen seines Dokuments.
Einmal sah ich, wie sich ein Hahn und eine Henne paarten. Nachdem er geendet hatte und abgestiegen war, erwies sich die vermeintliche Henne als Hahn, und die Paarung wiederholte sich mit umgekehrten Rollen: Die ursprüngliche »Henne« bestieg nun den ursprünglichen Hahn, wodurch die Natur des Vorgangs erkennbar wurde.4
Es hätte derselbe Paarungsakt sein können, den ich an Kap Bird beobachtet und 83 Jahre nach Levick in einem vermeintlich neuen Forschungsartikel beschrieben hatte.
Ich packe die Armlehnen meines Bürostuhls und wirbele herum, um das Bücherregal hinter mir zu sichten. Die Bretter biegen sich unter den Büchern zur Pinguinforschung und alphabetisch nach Autoren sortierten Ordnern mit Fachartikeln. In diesem Regal müssen an die zweitausend wissenschaftliche Publikationen zu Pinguinen stehen, das geballte Wissen über diese einmaligen und charismatischen Vögel. Abgesehen von einigen beiläufigen Notizen der ersten Forscher wurde vor 1915 allerdings nichts Wesentliches über die Pinguine veröffentlicht. Auf dem untersten Regal reihen sich an die vierzig Bücher aneinander, darunter auch ein paar mit meinem Namen auf dem Umschlag. Irgendwo in der Mitte steht ein abgegriffenes Exemplar von Levicks Antarctic Penguins aus dem Jahr 1914. Es ist die mit Abstand älteste Veröffentlichung in meinem Regal.
George Murray Levick – oder Murray Levick, das war ihm lieber – ist zweifelsohne der Vater der Pinguinforschung: Er war der Erste, der die Vögel mit den Mitteln der Wissenschaft beobachtete. Alles andere in meinem Regal kommt nach ihm. Doch der Artikel aus dem Jahr 1915, den ich gerade gelesen habe und der erst 2012 veröffentlicht wurde, ist alles andere als antiquiert und beweist, dass dieser Mann Dinge über Pinguine herausgefunden hatte, auf die wir Übrigen in diesem Regal erst im Laufe der nächsten hundert Jahre kommen sollten.
In einer Mischung aus Euphorie und Verblüffung wirbele ich in meinem Schreibtischstuhl herum und versuche, das zu verarbeiten. Ich bremse und betrachte mein Spiegelbild in einem dunklen Fenster. Besonders meine weißen Haare stechen mir ins Auge. Dreieinhalb Jahrzehnte lang war ich überzeugt, Pionierarbeit zu leisten und als Erster die Wahrheit über das Liebesleben der Pinguine zu enthüllen. In Wirklichkeit bin ich offenbar nur in die Fußstapfen eines anderen getreten, auch wenn diese Fußstapfen durch Zeit, Zensur oder was auch immer verweht worden waren.
Als mir klar wird, dass Levick wie ein Geist vor mir her gewandelt ist, weiß ich, dass ich diesen Mann kennenlernen muss. Warum hat man ihn daran gehindert, die Wahrheit über die Pinguine publik zu machen? Wer hat das getan und warum? Oder hat er etwa selbst die Entscheidung getroffen, seine Erkenntnisse nicht zu veröffentlichen? In seinen Erläuterungen zu dem Artikel schreibt Douglas Russell, es gebe Hinweise darauf, dass Levick selbst an der Unterschlagung seiner Entdeckungen beteiligt gewesen könnte. Die schlüpfrigsten Stellen seiner Feldforschung habe er in einer Geheimschrift aus griechischen Buchstaben in seinem Notizbuch festgehalten. Aber warum?
Das will ich herausfinden. Levick ist mir ein Rätsel. Ich kenne ihn zwar als Autor dieses Klassikers über die Adeliepinguine, doch ansonsten weiß ich nichts über ihn. Ein kurzer Blick ins Internet zeigt mir, dass ihn auch sonst niemand zu kennen scheint. Die Zahl der Suchergebnisse ist überschaubar.
Murray Levick wurde 1876 in der nordenglischen Stadt Newcastle upon Tyne geboren, studierte Medizin und meldete sich zum Marinedienst – so viel finde ich heraus. Er begleitete Scott auf seiner Terra Nova-Expedition und überwinterte als Angehöriger der Nordgruppe auf Inexpressible Island in einer Schneehöhle. Er diente im Ersten Weltkrieg, machte sich danach einen Namen als Arzt und gründete eine Gesellschaft mit dem Namen Public Schools Exploring Society zur Förderung des Entdeckertums an Privatschulen. 1956 starb er.
Auf der Heimfahrt überlege ich mir, wie ich meiner Lebensgefährtin erkläre, dass ich zu spät zum Abendessen komme. Dabei habe ich einen Einfall. Wenn ich mich schon als Detektiv betätigen und die wahre Geschichte von Murray Levick herausfinden will, dann sollte ich ganz am Anfang beginnen. Wie es der Zufall so will, fliege ich in einigen Tagen nach England, und dort könnte ich doch einen Abstecher in den Norden machen. Wenn ich mehr über Levick in Erfahrung bringen will, dann wäre Newcastle der beste Ausgangspunkt.
Murray Levick war ein Kind des viktorianischen Zeitalters. Er kam am 3. Juli 1876 in Newcastle upon Tyne zur Welt, mitten in der Regierungszeit von Königin Victoria, und wuchs in einer Gesellschaft auf, für die eine strenge moralische Erziehung genauso zur kindlichen Entwicklung gehörte wie die zweiten Zähne. Mit einem Unterschied: Während die Zähne ausfallen konnten, war ein solcher Lapsus bei der Moral nicht akzeptabel. Dazu gehörte unter anderem, dass Geschlechtsverkehr das Vorrecht heterosexueller Paare war, vorausgesetzt, sie hatten den Segen der Kirche.
Das war allerdings nicht immer so. Die nordenglische Stadt Newcastle hat nicht nur einen Ruf als trostlose und kohlegeschwärzte Industriestadt, sondern sie hat auch ihre ganz eigene Geschichte der Ausschweifungen. Siebenhundert Jahre lang war Newcastle die Kohlehauptstadt Englands und der Kesselraum der industriellen Revolution, doch davor hatte die Stadt noch einen ganz anderen »schmutzigen« Ruf.
Auf den ersten Blick präsentiert sich Newcastle als auf Hochglanz polierte, ultramoderne Stadt, die sich in die Windungen des Tyne schmiegt. Ihr neues Wahrzeichen ist ein architektonisches Gedicht, die Millennium Bridge, deren eindrucksvolle Bögen die beiden Flussufer miteinander verbinden. Auch mein Hotel war sehr modern und bot einen hübschen Ausblick auf den Fluss. Hinter der modernen Fassade werden allerdings die alten Wurzeln sichtbar, und ein Herz, das seit fast zwei Jahrtausenden schlägt.
Die Römer errichteten ein Kastell und eine kleine Siedlung am Nordufer des Flusses Tyne, der damals den Hadrianswall nach Osten abschloss. Die Siedlung nannten sie Pons Aelius, nach dem Familiengeschlecht von Kaiser Hadrian, der im Jahr 122 nach Britannien gekommen war und den Bau einer Mauer angeordnet hatte. Anfang des 5. Jahrhunderts machten die Römer den Laden dicht, sie verließen die Insel und überließen die Stadt zuerst den Angelsachsen, die sie Monkchester nannten, dann den Dänen und schließlich den Normannen. Robert Curthose, der älteste Sohn von Wilhelm dem Eroberer, gab der Stadt schließlich ihren heutigen Namen: Im Jahr 1080 errichtete er eine neue Festung, und seither heißt die Stadt New Castle.
Wen es nicht verwundert, dass sich Murray Levick gehalten sah, das Sexualverhalten der Pinguine in Geheimschrift zu schildern, den könnte ein Blick in die Geschichtsbücher stutzig machen. Wilhelm der Eroberer, aufgrund seiner außerehelichen Herkunft auch bekannt unter dem Namen Wilhelm der Bastard, war Herzog der Normandie, als er im Jahr 1066 England eroberte und der erste normannische Herrscher der Insel wurde. Auch sein Sohn Robert hinterließ ganze Scharen von unehelichen Kindern, legte weite Teile Frankreichs in Schutt und Asche und lag unentwegt mit seinem Vater und seinen beiden Brüdern im Clinch. Allerdings zoffte man sich nicht wie in normalen Familien üblich, sondern ging mit ganzen Armeen aufeinander los. In einer Schlacht brachte Robert seinem Vater sogar eine schwere Verwundung bei. Als Wilhelm schließlich nach einer weiteren Schlacht starb, folgte ihm Robert als Herzog der Normandie nach. Den Thron von England bestiegen allerdings seine jüngeren Brüder, erst Wilhelm Rufus und nach dessen Ableben Heinrich der Gelehrte. Der verärgerte Robert führte einige erfolglose Aufstände gegen seine Brüder an. Nach vierzig Jahren der Raubzüge und Plünderungen wurde der inzwischen etwa sechzigjährige Robert von Heinrichs Männern gefangen genommen und verbrachte das letzte Viertel seines Lebens im Kerker.
Neben den Ausschweifungen, Brudermorden und sonstigen Greueltaten früherer menschlicher Gesellschaften nimmt sich das Verhalten der Pinguine ausgesprochen harmlos aus. Doch die viktorianischen Werte, in deren Licht Levick erzogen worden war, machten es ihm offenbar unmöglich, Masturbation oder Homosexualität auch nur zu erwähnen, egal ob beim Menschen oder bei Pinguinen.
In den 140 Jahren, die seit Murray Levicks Geburt vergangen sind, ist das Pendel in Newcastle wieder in die andere Richtung ausgeschlagen. Robert Curthose würde sich heute hier bestimmt wohler fühlen als der Viktorianer Levick.
Der Abend bricht bereits herein, als ich mich auf den Weg hinunter zum Tyne mache. Die geschwungene Millennium Bridge leuchtet in subtilem Magenta, während am anderen Flussufer offenbar die gesamte Kohle von Newcastle verfeuert wird, um das moderne und ähnlich geschwungene neue Kunstmuseum anzustrahlen. Menschen sind in Massen unterwegs, doch ich stelle fest, dass die meisten Spaziergänger auf der Brücke mir entgegenkommen. In den Kneipen an meinem Ufer drängen sich die Männer und Frauen wie die Pinguine zu Beginn der Balzzeit, offenbar genauso paarungsbereit wie die Vögel, die Levick und ich erforscht haben.
Ich betrete die Bar Pitcher & Piano, die ganz modern in Glas und Aluminium gehalten ist. Ein junger Mann in Jeans, dessen T-Shirt kaum seinen Bierbauch bedeckt, rempelt mich an; offenbar hatte er nur Augen für eine junge Frau, deren rosa Kleid so kurz ist, dass es als Unterhemdchen durchgehen könnte. In dieser und drei anderen Kneipen schiebe ich mich zwischen Bierbäuchen und Kleidchen hindurch, und wenn es die Lautstärke der Musik zulässt, unterhalte ich mich mit einigen dieser Einheimischen. Den Namen Murray Levick hat allerdings keiner von ihnen gehört.
Währenddessen mache ich mir meine Gedanken über einige merkwürdige Widersprüche. Seit ein anderer viktorianischer Gentleman, ein gewisser Charles Darwin, das Phänomen der geschlechtlichen Auslese beschrieben hat, geht man eigentlich davon aus, dass Arten, deren männliche und weibliche Vertreter einander sehr ähnlich sehen, in Monogamie leben. Arten, bei denen sich Männchen und Weibchen stark unterscheiden – so wie hier, wo Bärte und Busen, Bäuche und Kleidchen nur die sichtbarsten der zahlreichen Geschlechterunterschiede sind –, leben dagegen in Polygamie, und erfolgreiche Männchen haben mehrere Partnerinnen. Doch ungeachtet dieser augenfälligen Unterschiede zwischen Mann und Frau verlangen unsere gesellschaftlichen Werte, zumal wenn sie religiöser Herkunft sind, Ehe und Monogamie. Und umgekehrt lassen Levicks und meine Beobachtungen vermuten, dass Pinguine, für Karikaturisten geradezu der Inbegriff der Gleichförmigkeit, genauso wenig monogam sind wie diese Einwohner von Newcastle.
Murray Levick wurde als Sohn des Ingenieurs George Levick und seiner Frau Jeannie geboren. Er hatte zwei ältere Schwestern, Ruby und Lorna. Als er zur Welt kam, lebte die Familie in Whitworth Place 12. Wie sein Geburtshaus ausgesehen haben mag, ist schwer zu sagen, denn es wurde abgerissen, und an seiner Stelle stehen heute Reihenhäuser aus Backstein, wie sie für das moderne Newcastle typisch zu sein scheinen. Bei dem Versuch, ihrer gemeineren Vergangenheit zu entkommen, haben die Einwohner der Stadt offenbar eine Fassade geschaffen, die so schal wie flach ist – von der Brücke einmal abgesehen.
In meiner Naivität habe ich angenommen, in Newcastle ein Denkmal für Levick zu finden oder zumindest einen Hinweis auf seine Herkunft. Doch in der ganzen Stadt finde ich nicht einmal eine Gedenktafel mit seinem Namen. Es ist wie ein Tatort, an dem alle Spuren gründlich beseitigt wurden.
Ich muss an anderer Stelle ansetzen und meine Suche nach Murray Levick anders aufziehen. An mindestens einem Ort muss er auf jeden Fall Spuren hinterlassen habe. Also besuche ich den Direktor der Sammlung für Vogeleier und -nester des Natural History Museum in Tring.
Ein weiterer Grund führt mich in die Vogelsammlung des Museums: Wenn mir der Stammbaum der Levicks schon keine Aufschlüsse gibt, komme ich vielleicht mit dem der Pinguine weiter. Von den rund neuntausend heute lebenden Vogelarten** gehören gerade einmal neunzehn zur Familie der Pinguine. Bei den Exemplaren in Sammlungen wie der von Tring handelt es sich aber nicht einfach um ausgestopfte Vertreter ihrer Art, sie erzählen vielmehr eine Geschichte vom Kontakt mit dem Menschen.
** Diese Zahl basiert auf morphologischen Analysen; Genanalysen lassen vermuten, dass es in Wirklichkeit doppelt so viele Vogelarten geben könnte.
Pinguine kommen ausschließlich auf der Südhalbkugel vor. Die Einwohner Südafrikas und Südamerikas kannten sie vermutlich schon seit vielen Jahrtausenden, doch sie haben keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Unsere ersten Beschreibungen stammen daher von den europäischen Entdeckern, die sich weit in den Süden vorwagten: Vasco da Gama, der 1497 das Kap der Guten Hoffnung umschiffte, und Ferdinand Magellan, der bei seiner Weltumseglung 1520 die Küste Patagoniens passierte. Die Pinguine, die diese Seefahrer sahen, tragen schwarze Streifen auf ihrer weißen Brust und werden zur Gattung der Brillenpinguine gezählt. Sie leben weiter nördlich als alle anderen Pinguine. Die Galapagospinguine, die ebenfalls zu dieser Gattung zählen, leben sogar am Äquator. Die Brillenpinguine sind also denkbar weit von den Adelie- und Kaiserpinguinen entfernt, die Levick während der Terra Nova-Expedition beobachtete.
Die Antarktis hatte keine menschlichen Bewohner. Die Adelie- und Kaiserpinguine konnten also erst entdeckt werden, als Menschen in der Lage waren, so weit nach Süden vorzudringen. Das war erst im 19. Jahrhundert der Fall, und zwar während der Regierungszeit von Königin Viktoria, die von 1837 bis 1901 auf dem Thron des Britischen Weltreichs saß. Damals war es üblich, auf Entdeckungsfahrten Naturforscher mitzunehmen, deren Aufgabe darin bestand, Exemplare sämtlicher neuer Tiere und Pflanzen zu sammeln, auf die man unterwegs unweigerlich stieß. Diese Exemplare wurden präpariert, beschrieben und eingeordnet, um dann in Museen wie dem von Tring ausgestellt zu werden.
Ein viktorianisches Museum für viktorianische Entdeckungen, eingerichtet von Menschen mit viktorianischem Weltbild – gab es einen besseren Ort, um mich nach antarktischen Pinguinen und meinem Murray Levick umzusehen?