Das Buch
Rye Mallett verdient sein Geld als Auftragspilot, er ist bekannt dafür, Tag und Nacht und bei ungünstigstem Wetter zu fliegen und keine Fragen zu stellen. Sein nächster Auftrag: Eine mysteriöse schwarze Kiste muss in eine völlig vom Nebel eingeschlossene Stadt in Georgia gebracht werden. Auf der Landebahn im Nirgendwo wartet Dr. Brynn O’Neal auf die wertvolle Fracht. Rye mischt sich für gewöhnlich nicht in die Geschäfte seiner Kunden ein – doch die rätselhafte Brynn übt eine unerklärliche Anziehungskraft auf ihn aus. Als den beiden klar wird, dass es Menschen gibt, die für den Inhalt der schwarzen Kiste über Leichen gehen würden, müssen sie einander vertrauen, um die Fracht und sich selbst zu schützen …
Die Autorin
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der »New York Times«-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Sandra Brown
Sein eisiges Herz
Thriller
Aus dem Amerikanischen
von Christoph Göhler
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JB · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25601-2
V001
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»Nein. Kommt nicht infrage.«
»Als ich angerufen habe, waren Sie noch zu jeder Schandtat bereit.«
»Da wusste ich das mit dem Wetter noch nicht. Das ist wie eine Wand, Dash.«
»Nebel ist keine Wand. Man kann hindurchfliegen, wussten Sie das? Genau wie durch Wolken. Oder hat man Ihnen das in Ihrer Online-Flugschule nicht beigebracht?«
Der junge Pilot verdrehte die Augen. »Atlanta wurde geschlossen. Geschlossen. Wie oft kommt so was vor? Es muss schlimm sein, sonst schließt man keinen Flughafen am Abend vor Thanksgiving. Seien Sie vernünftig.«
Dash presste die fleischige Hand auf sein Herz. »Ich bin vernünftig. Aus mir spricht nichts als die reine Vernunft. Mein Kunde andererseits … Dem ist es egal, ob der Flughafen geschlossen ist. Er will, dass dieses Ding hier« – er schlug mit der Hand auf die schwarze Eisenschatulle, die zwischen ihnen auf der Theke stand – »noch heute Nacht dort« – er deutete mehr oder weniger nach Süden – »ankommt. Und ich habe ihm pünktliche Lieferung garantiert.«
»Dann haben Sie eindeutig ein Problem mit Ihrer Customer Relationship.«
Er wurde Dash genannt, weil erstens die wenigen Menschen, die seinen wahren Namen gekannt hatten, ihn längst vergessen hatten und zweitens die ihm gehörende Charter- und Luftfrachtgesellschaft Dash-It-All hieß. Und bisher hatte er noch immer alles und jeden blitzschnell ans Ziel gebracht.
Dash war älter, als er je zugegeben hätte, und trug einen Bierbauch vor sich her, der dieselben Dienste leistete wie ein Kuhfänger an einem Auto: Er räumte so gut wie alles beiseite, was ihm im Weg war. Der Termindruck hatte Dashs Gesicht in einer dunklen Gewitterwolke erstarren lassen.
Doch so finster dieses Grollen auch aussah, bislang hatte es den Piloten nicht einschüchtern können, der auf keinen Fall von Columbus, Ohio, nach Atlanta fliegen wollte, wo vor den Feiertagen das Wetter den Reisenden einen Strich durch die Rechnung machte und ihre knapp bemessenen Termine und sorgsam ausgetüftelten Flugpläne torpedierte.
Und wenn man im Luftfrachtgeschäft war, mit Liefergarantie, torpedierte es auch das eigene Einkommen.
Frustriert kaute Dash auf seiner kalten Zigarre und schob sie zwischen den gelben Zähnen hin und her. Rauchen war auf dem Gelände des Flugplatzes nicht erlaubt. Seine Regeln. Aber auch seine Zigarren. Darum kaute er auf einer, wann immer ihm jemand unnötigen Ärger machte. So wie jetzt.
»Ein echter Flieger würde sich wegen dem bisschen Nebel nicht in die Hose machen«, sagte er.
Der Blick des Piloten sprach Bände.
Okay. Im Stillen musste Dash zugeben, dass es mehr als ein bisschen Nebel war. Es war ein Nebel, wie ihn kein lebendes Wesen je gesehen hatte. In den Städten und Dörfern entlang der Atlantikküste waren die Menschen unter einer dichten grauen Decke aufgewacht. Der Nebel hatte die Straßen unbefahrbar gemacht und das östliche Drittel der Vereinigten Staaten ins Chaos gestürzt. Bis jetzt machte er keine Anstalten, sich wieder zu verziehen.
Der Wetterkanal hatte Einschaltquoten wie noch nie. Meteorologen begeisterten sich über das Phänomen, das die einen als »biblisch« und die anderen als »epochal« beschrieben. Dash wusste nicht recht, was das bedeuten sollte, aber es klang übel. Für ihn persönlich bedeutete dieser verflixte Nebel vor allem einen Verdienstausfall.
Am Flughafen Hartsfield-Jackson und an anderen größeren Flughäfen in einer zweistelligen Anzahl von Bundesstaaten saßen Passagiermaschinen wie Frachtflugzeuge fest, und das ausgerechnet am Abend vor Thanksgiving, an dem praktisch jeder im Land von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort woandershin wollte. Dash hatte sich schon ausgerechnet, dass die Fluglinien bis Weihnachten brauchen würden, um das Chaos zu beheben, aber das sollte nicht seine Sorge sein.
Er hatte genug damit zu tun, seine eigenen Flugzeuge in der Luft zu halten und Sachen zu transportieren, die seine Kunden für gutes Geld in schnellstmöglicher Zeit transportiert haben wollten. Ein im Hangar nistender Vogel brachte ihm keinen Profit. Diesem Piloten mussten endlich ein Paar Eier wachsen, und zwar pronto, damit Dash die Zusage, die er seinem Kunden Dr. Lambert gegeben hatte, halten konnte und diese Kiste vor morgen früh nach Atlanta gelangte.
In der Hoffnung, den jungen Flieger so zu beschämen, dass er seine Meinung änderte, musterte Dash ihn mit unverhohlener Verachtung. »Sie würden das locker schaffen, wenn Sie nur wollten. Haben Sie Angst vor dem Nebel oder eher vor Ihrer Mama, weil Sie morgen vielleicht nicht rechtzeitig zu Truthahn und Kürbiskuchen zurück sind?«
»Ich warte, bis sich der Nebel legt, Dash. Ende der Diskussion.«
Der Pilot war knapp dreißig. Selbst mitten in der Nacht war er glatt rasiert und trug ein gebügeltes weißes Hemd mit schwarzer Hose. So klar, wie seine Augen waren, hatte er garantiert nicht gegen die Bestimmungen zum Alkoholgenuss der Flugaufsicht verstoßen, die vor jedem Flug acht Stunden Abstinenz vorschrieb, und obendrein reichlich Schlaf gehabt.
Dash konnte aufgrund seiner jahrelangen Erfahrung Flieger jedes Kalibers einschätzen, von ehemaligen Kampfpiloten bis zu den Bauerntölpeln in ihren Sprühflugzeugen. Der hier fiel seiner Einschätzung nach unter die verklemmten Pedanten, die streng nach Vorschrift flogen und nicht mal Fluginstinkt entwickelten, wenn er sie in den Hintern biss. Dieser Mann befolgte strikt die Regeln. Alle Regeln. Immerzu. Ohne Ausnahme.
Dash hatte gute Lust, ihn zu erwürgen.
Doch er unterdrückte den Impuls und setzte neu an. »Sie dürfen die Beechcraft fliegen. Wurde frisch überholt, das gute Stück. Allerneueste Technik. Neue Sitze. Butterweich.«
Der Pilot ließ sich nicht erweichen. »Wenn das Wetter in Atlanta aufklart und der Flughafen wieder öffnet …«
»Bis dahin können noch Jahre vergehen!«, fiel ihm Dash erbost ins Wort. »Selbst wenn sie ihn in diesem Moment wieder öffnen würden, dauert es noch Stunden, bis sie den Rückstau abgearbeitet haben. Bis dahin sind Ihre Thunfischsandwiches durchgeweicht.« Der Kunde hatte sich bereit erklärt, eine Lunchbox für die »Crew« bereitzustellen. Sie war in einem hübschen weißen Pappkarton geliefert worden. Auch der Karton stand zwischen ihnen auf der Theke. Mit einem düsteren Unterton fügte Dash hinzu: »Sie sind durchgeweicht oder weg.«
Er blickte vielsagend auf die Couch am anderen Ende der Lobby. Der bloße Anblick des Sofas schmerzte in den Augen. Die türkis-beige karierten Polster waren klumpig, fadenscheinig, stellenweise speckig und übersät mit Flecken, deren Ursprung nicht einmal der liebe Gott kannte.
Aber all das war offenbar kein Thema für den Mann, der es sich darauf bequem gemacht hatte. Er lag auf dem Rücken, die Hände über dem Bauch gefaltet, hatte ein mehrere Jahre altes Flugmagazin über das Gesicht ausgebreitet und schlief.
Dash sah wieder den Piloten an. Immer noch halblaut erklärte er: »Hier kommen alle möglichen Gestalten durch, klar?«
»Ich werde meine Proviantbox nicht aus den Augen lassen, bis ich fliegen kann.«
Dash schnaufte ärgerlich. »Immerhin müssen Sie keinen Rodeobullen transportieren.«
Tatsächlich hatte er einst selbst so ein schnaubendes, fieses Vieh in einer DC-3 von Cheyenne nach Abilene geflogen. Das verfluchte Ding hatte den ganzen Flug über gebockt. Der Bulle, nicht das Flugzeug, das war zahm wie ein Lämmchen gewesen. 1985 war das gewesen, wenn er sich richtig erinnerte. Damals, als er noch jung und wild und dünn gewesen war. Na schön … dünner.
Der Gedanke an die guten alten Zeiten ließ ihn nostalgisch seufzen, bevor er sich wieder ins Wortgefecht stürzte. »Sie transportieren heute Nacht nichts als diese aufgemotzte Köderbox.«
»Der Flughafen ist geschlossen, Dash.«
»Der große schon. Aber …«
»Und jeder andere Flugplatz im Umkreis von zweihundert Meilen um Atlanta genauso.«
Dash verlegte die Zigarre von einem Mundwinkel in den anderen und hob dann kapitulierend die Hände. »Okay. Sie haben gewonnen. Ich lege was auf Ihren Anteil drauf.«
»Davon habe ich auch nichts, wenn ich tot bin.«
Dash biss das durchweichte Zigarrenende ab und spuckte den Brei in den Abfalleimer. »Sie werden schon nicht draufgehen.«
»Ganz recht. Weil ich nicht fliegen werde, bis sich der Nebel gelichtet hat und der Flughafen wieder geöffnet wurde. Das Flugzeug ist aufgetankt und wartet startbereit auf die Freigabe. Okay? Können wir es dabei lassen?« Er richtete sich auf. »Jetzt zur entscheidenden Frage. Ist der Popcornautomat immer noch kaputt?« Damit drehte ihm der Pilot den Rücken zu und folgte dem Geruch von verbrannten Maiskörnern in den Korridor, der zur Pilotenlounge führte.
Dashs Handy läutete. »Moment noch. Vielleicht ist das Ihre Freigabe.«
Der Pilot blieb stehen und drehte sich wieder um. Dash nahm den Anruf an. »Ja?« Der Anrufer nannte seinen Namen, und Dash deutete mit erhobenem Zeigefinger an, dass dies der erhoffte Anruf war. Es war sein Geschäftspartner, der den Transportflug über einen privaten Charterdienst auf dem Flughafen Hartsfield-Jackson ausgehandelt hatte.
»Ja, ja, er ist bereit. In den Startlöchern. Scharrt schon mit den Hufen«, ergänzte er und spießte dabei den Piloten mit seinem Blick auf. »Hä? Wohin umleiten?« Er lauschte eine halbe Minute, wobei die Falten auf seiner Stirn immer tiefer wurden. »Nein, ich glaube nicht, dass das Probleme bereitet.« Noch während er das sagte, war ihm klar, dass er log. »Kein PCL? Aber es ist bestimmt jemand da, der die Lichter einschaltet?«
Der Pilot zuckte zusammen. Ein PCL – ein vom Piloten kontrolliertes Befeuerungssystem – hätte es ihm ermöglicht, vom Cockpit aus die Lichter der Landebahn einzuschalten.
»Okay«, sagte Dash. »Schicken Sie mir die Einzelheiten per Mail. Alles klar.« Er legte auf und sagte zu dem Piloten: »Wir haben Glück. Es gibt einen Flugplatz in der Nähe einer Kleinstadt im Norden von Georgia. Dort wird der Kunde auf Sie warten. Er fährt jetzt mit dem Wagen aus Atlanta los. Es sind zwei, zweieinhalb Stunden Fahrt, aber er ist bereit …«
»Im Norden von Georgia? Im Gebirge?«
Dash wedelte wegwerfend mit der Hand. »Das ist kein Gebirge, höchstens ein Vorgebirge.«
»Gibt es einen Tower?«
»Nein. Aber die Landebahn ist absolut für den Flieger geeignet, wenn Sie, ähm, genau am Ende aufsetzen und es keine allzu starken Scherwinde gibt.« Er interpretierte die zweifelnde Miene seines Piloten richtig und schnippte mit den Fingern. »Ich habe eine bessere Idee.«
»Ich warte, bis Atlanta wieder öffnet.«
»Sie nehmen die 182.«
Der Pilot lachte laut los. »Diese Klapperkiste? Wohl kaum.«
Dash erdolchte ihn mit einem Blick. »Dieser Vogel ist schon geflogen, bevor Ihr Papa geboren wurde.«
Was definitiv das falsche Argument war, denn der Pilot lachte gleich wieder. »Meine Rede«, fügte er hinzu.
»Okay, sie ist nicht so jung und schick wie die Beechcraft, und sie hat schon einiges mitgemacht, aber sie ist zuverlässig, und sie ist hier, und Sie fliegen damit. Ich tanke sie auf, während Sie Ihren Flugplan einreichen. Der Ort heißt …«
»Moment noch, Dash. Ich habe zugesagt, die Beechcraft an einen Flughafen mit bemanntem Tower zu fliegen, und ich werde nicht auf gut Glück in dieser Nebelsuppe auf einem menschenleeren Flugplatz im Gebirge landen, wo ich mit starken Scherwinden rechnen kann. Und wo ich darauf hoffen muss, dass jemand da ist und die Landebahnbefeuerung einschaltet.« Er schüttelte den Kopf. »Das können Sie vergessen.«
»Ich zahle Ihnen das Dreifache.«
»Ich bin doch nicht verrückt. Tut mir leid, Sie werden Ihren Kunden vertrösten und ihm klarmachen müssen, dass kein Mensch diese Box noch heute Nacht zustellen kann, ganz gleich, was sich darin befindet. Er wird die Lieferung bekommen, sobald das Wetter besser wird. Ich habe ein Auge darauf und mache mich auf den Weg, sobald ich kann.«
»Wenn Sie mich jetzt hängen lassen, sind Sie bei mir Geschichte.«
»Glaube ich kaum. Dafür brauchen Sie zu dringend Piloten.« Er griff nach dem Karton mit den Sandwiches und durchquerte damit die Lobby in Richtung Korridor.
Dash fluchte halblaut. Er hatte es mit einer leeren Drohung probiert, und dieser aalglatte Hurensohn hatte ihn durchschaut. Er brauchte ständig Piloten für die verschiedensten Flugzeugkategorien, -klassen und -typen, die zu jeder Zeit in ein Cockpit klettern und losfliegen konnten.
Der hier war ein Arschloch, aber er war Junggeselle und darum flexibler als jemand mit Familie im Hintergrund. Und er war scharf darauf, Flugstunden zu sammeln, damit er irgendwann bei einer Passagierfluglinie anheuern konnte.
Um die Wahrheit zu sagen, hätte er vollkommen verrückt sein müssen, um unter diesen mehr als heiklen Bedingungen einen Provinzflugplatz anzusteuern. Und das war er nicht. Er war ein kühl kalkulierender Pilot, der kein unnötiges Risiko einging.
Dash brauchte ein ganz anderes Kaliber von Flieger.
Er sah auf das Sofa am anderen Ende der Lobby, wechselte die Zigarre wieder in den anderen Mundwinkel, zog die Hose unter den mächtigen Schmerbauch und holte tief Luft. »Ähm, Rye?«
Der Mann auf dem Sofa reagierte nicht.
»Rye«, wiederholte Dash lauter. »Bist du wach?« Die daliegende Gestalt regte sich nicht, aber Dash ließ sich davon nicht irritieren: »Ich habe einen Notfall. Total vermasselter Start in die Feiertagssaison, und du weißt, dass ich da mein halbes Jahresgeschäft mache. Dieses Weichei hat mich stehen lassen und …«
Dash hielt mitten im Satz inne, als Rye Mallett die alte Zeitschrift von seinem Gesicht hob. Er wälzte sich zur Seite und stellte die Füße auf den Boden. »Ich hab alles gehört.« Er stand auf, warf die Zeitschrift aufs Sofa und griff nach seiner Bomberjacke sowie der Pilotentasche. »Wohin soll’s gehen?«
Aus den Gründen, die der andere Pilot angeführt hatte, hatte Rye sich dafür entschieden, nicht die Beechcraft zu nehmen. Während Dash mit der Checkliste die Cessna 182 vor dem Abflug geprüft hatte, war Rye zu einem Computer in einem der Wartebereiche gegangen und hatte eine Website mit Luftbildern von vielen Flugplätzen aufgerufen.
Aufmerksam hatte er das Luftbild des Howardville County Airfields studiert, sich dabei Notizen über die Geländebeschaffenheit und die Lage des Flugplatzes im Tal gemacht und zuletzt ein Foto ausgedruckt.
Er hatte bei der Flugsicherung, der Federal Aviation Administration, angerufen und einen Flugplan nach Instrumentenflugregeln durchgegeben. Er würde sich vom Start bis zur Landung auf seine Instrumente verlassen müssen. Das war an sich nicht außergewöhnlich, nur der Nebel war es.
Um Genaueres über die Wetterlage zu erfahren, und nicht von jemandem mit aufpoliertem Gebiss und betoniertem Haar in einem Fernsehstudio, hatte er sich in mehrere Flugblogs eingeloggt und nachgelesen, was die Kollegen so berichteten. Wie nicht anders zu erwarten, ging es an diesem Tag in fast allen geposteten Nachrichten um den Nebel und dessen Ausmaße. Die Piloten, die darin geflogen waren, warnten vor weiten Bereichen mit Sichtweite gleich null.
Auf einer dieser Seiten hatte Rye sich eingeloggt und nach Howardville gefragt, sodann gleich mehrere Reaktionen erhalten wie: Wenn du da heute Abend landen willst, dann sag uns gleich, was für Blumen du auf deinem Sarg haben willst. Oder: Nimm dich in Acht vor den Stromleitungen dort. Und falls du es bis zur Landebahn schaffst, dann mach dich auf was gefasst. Ein Waschbrett ist ein Dreck dagegen.
Ähnliche Posts folgten, Warnungen, gespickt mit Galgenhumor und den respektlosen Witzen, die weltweit von Fliegern ohne Uniform gemacht wurden. Letztendlich lief alles darauf hinaus, dass es nicht klug wäre, heute Abend Howardville anzufliegen.
Aber Rye bekam oft solche Warnungen, und er flog trotzdem.
Selbst Dash hatte untypisch besorgt gewirkt. Nur einmal hatte Rye den älteren Mann so sentimental erlebt, damals, als eines Tages ein dreibeiniges Kätzchen in den Hangar gehumpelt war. Das Tier war völlig ausgezehrt und flohgepeinigt gewesen. Es hatte fauchend jeden angefallen, der in seine Nähe kam. Aber Dash hatte es in sein Herz geschlossen und durchgefüttert, bis es schließlich kräftig genug gewesen war, um wieder von dannen zu humpeln. Was es eines Abends tat, ohne jemals wieder aufzutauchen. Als Rye sich danach erkundigt hatte, hatte Dash ihm bemerkenswert schroff beschieden: »Das undankbare Mistvieh ist abgehauen.«
Damals hatte Rye einen Blick auf Dashs weiche Seite erhascht, die er ansonsten gut verborgen hielt, so wie jetzt auch wieder, als Dash ihn auf das Rollfeld begleitete, wo die Cessna bereitstand wie ein treuer Ackergaul.
Dash bückte sich grunzend, entfernte die Bremsklötze und sagte, nachdem er kurz etwas über sein »verdammtes Knie« gebrummelt hatte: »Die Box habe ich dir auf den Co-Pilotensitz geschnallt.«
Rye nickte und wollte schon ins Cockpit klettern, als Dash mit einem Räuspern anzeigte, dass er noch nicht fertig war. Er nahm die Zigarre aus dem Mund und betrachtete die kalte Spitze. »Weißt du, Rye, ich würde dich ja nicht bitten, heute Nacht zu fliegen, aber die Feiertage stehen an und …«
»Das hast du schon gesagt.«
»Schön. Und außerdem bist du der beste Pilot für so einen Flug.«
»Wie wär’s mit einem Bonus statt der warmen Worte?«
»Außerdem«, fuhr Dash fort, ohne auf das Thema Bonus einzugehen, »bezweifle ich, dass es so schlimm ist, wie sie alle tun.«
»Das bezweifle ich auch. Wahrscheinlich ist es viel schlimmer.«
Dash nickte, als fürchtete er, dass Rye recht haben könnte. »Du brauchst nicht sofort zurückzufliegen, nachdem du die Lieferung zugestellt hast.«
»Du bist eine wahrhaft großherzige Seele, Dash.«
»Aber wenn du sie bis morgen Mittag zurückbringen könntest …«
»Sicher.«
»Ich weiß, das ist ziemlich knapp, aber du brauchst nicht viel Schlaf.«
Rye hatte sich darauf konditioniert, mit so wenig Schlaf wie möglich auszukommen, nicht nur weil er dadurch gegenüber den Flugregularien flexibler war – und Frachtfluglinien wussten Flexibilität bei ihren freien Piloten zu schätzen –, sondern auch weil ihm weniger Zeit zum Träumen blieb, je weniger er schlief.
Dash sagte gerade etwas über das Proviantpaket, das sich der Kollege unter den Nagel gerissen hatte. »Ich könnte diesem Geizkragen ein Sandwich abschwatzen, wenn du eins mitnehmen willst.«
»Ich kann Thunfisch nicht ausstehen.«
»Ich auch nicht. Vielleicht haben wir noch ein paar alte Donuts von heute Morgen übrig.«
Rye schüttelte den Kopf.
Dash klemmte die Zigarre wieder in seinen Mund. »Hör mal, Rye, bist du sicher, dass du …«
»Was soll das Händchenhalten, Dash? Willst du mir noch einen Abschiedskuss geben?«
Dash reagierte mit einer obszönen Bemerkung. Dann drehte er sich um und wackelte ins Gebäude zurück. Rye kletterte ins Cockpit, rief noch einmal bei der Flugsicherung an, die ihm die Freigabe erteilte, und hob nach einer kurzen Fahrt zur Startbahn ab.
Als er nur noch ein paar Flugmeilen von seinem Ziel entfernt war, erteilte ihm die FAA in Atlanta die Erlaubnis für den instrumentengelenkten Anflug. Rye erklärte dem Controller, dass er den Flugplan schließen würde, sobald er sicher am Boden war.
»Viel Glück dabei.« Der Mann meinte es ernst.
Rye meldete sich ab und stellte die Frequenz des Flugplatzes ein. »Hier ist November neun sieben fünf drei sieben. Jemand zu Hause?«
In Ryes Ohren knisterte es, dann hörte er: »Ich bin hier. Brady White. Sind Sie Mallett?«
»Kommt sonst noch jemand rein?«
»Niemand ist so irre, das zu versuchen. Ich hoffe, Sie kriegen das hin, und sei es nur, damit ich Ihnen die Hand schütteln kann. Vielleicht treibe ich sogar ein Bier für Sie auf.«
»Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Ich bin im Instrumentenanflug, Entfernung zehn Meilen, Höhe viertausend Fuß, und gehe gleich das erste Mal in den Sinkflug. Schalten Sie schon mal die Lichter an.«
»Lichter sind an.«
»Sinke auf dreitausendzweihundert Fuß. Kann immer noch keinen Furz erkennen. Wie tief ist die Wolkendecke?«
»Sichtweite null bis zum Boden«, erklärte ihm Brady White.
»Noch mehr gute Nachrichten?«
Der Mann lachte. »Passen Sie auf, dass Sie beim letzten Sinkflug nicht bescheißen, ungefähr eine Viertelmeile vor der Startbahn stehen Strommasten.«
»Ja, die sind auf der Karte. Wie sieht es mit Seitenwind aus?«
Brady nannte Windrichtung und -geschwindigkeit. »Für unsere Verhältnisse eine leichte Brise, aber das hat auch Nachteile. Wenn der Wind stärker wäre, würde er den Nebel wegblasen.«
»Man kann nicht alles haben.« Rye behielt den Höhenmesser im Auge. Dann rief er sich den Namen auf den Frachtpapieren in Erinnerung und fragte: »Ist Dr. Lambert schon da?«
»Noch nicht, aber er soll bald eintreffen. Was transportieren Sie?«
Rye warf einen Blick auf die schwarze Kiste. »Keine Ahnung, hab nicht gefragt.«
»Bei dieser Eile muss es ein Herz sein oder so was.«
»Keine Ahnung, hab nicht gefragt. Ist mir auch egal.«
»Und wieso machen Sie das dann?«
»Weil ich davon lebe.«
Nach einer Sekunde sagte Brady: »Ich kann Ihren Motor hören. Sehen Sie die Landebahn schon?«
»Ich halte danach Ausschau.«
»Nervös?«
»Weswegen?«
Brady lachte leise. »Machen Sie zwei Bier draus.«
Auf der Frontscheibe sammelten sich die Wassertropfen zu zappeligen Rinnsalen. Dahinter war nichts zu erkennen als dichter Nebel. Wenn die Bedingungen so waren, wie Brady sie beschrieb, würde Rye die Befeuerung der Landebahn wohl erst wenige Meter darüber sehen können. Weshalb er froh war, dass er das kleinere Flugzeug gewählt hatte und sich keine Sorgen machen musste, dass die schwerere Beechcraft über die Landebahn hinausschoss und den Erdboden dahinter umpflügte. Außerdem hatte er ein geringeres Landegewicht, weil seine Treibstofftanks so gut wie leer waren.
Nein, nervös war er nicht. Er vertraute den Instrumenten und war zuversichtlich, dass er sicher aufsetzen würde. Die Bedingungen waren zwar übel, aber er hatte schon Schlimmeres erlebt.
Dennoch war er froh, dass der Flug zu Ende war, und hoffte, dass dieser Dr. Lambert möglichst bald auftauchen würde. Sobald der Doktor seine Lieferung abgezeichnet hatte, konnte Rye den Verkaufsautomaten plündern – vorausgesetzt, es gab einen auf Bradys Flugplatz –, und dann zum Schlafen hinten in sein Flugzeug krabbeln.
Dash hatte die beiden Passagiersitze ausbauen lassen, um Frachtraum zu gewinnen. Außerdem hatte er, um bei Übernachtflügen Hotelkosten zu sparen, einen Schlafsack ins Flugzeug gelegt. Er stank nach Schweiß und Männern. Niemand wusste, wie viele Piloten schon in den Schlafsack gefurzt hatten, aber heute Nacht würde Rye das nicht stören.
Das Nickerchen bei Dash-It-All hielt inzwischen nicht mehr vor. Schlafen war zwar nicht seine liebste Beschäftigung, aber er brauchte noch ein paar Stunden, bevor er morgen früh zurückflog.
Er nahm sich fest vor, darauf zu achten, dass Brady ihn nicht aus dem Gebäude ausschloss, wenn er nach Hause fuhr. Ansonsten konnte Rye nicht mehr auf die Toilette. Vorausgesetzt, es gab eine Toilette. Er war schon an Orten gelandet, wo …
Er sah etwas durch den Nebel flackern. »Okay, Brady. Ich glaube, ich kann die Befeuerung sehen. Ist das Bier schon kalt?«
Keine Antwort.
»Sind Sie eingenickt, Brady?«
Im nächsten Moment bohrte sich ein Laserstrahl durch die Frontscheibe und traf Rye genau in die Augen.
»Verfluchter Dreck!«
Instinktiv schirmte er die Augen mit der linken Hand ab. Mehrere Sekunden später erlosch das bohrende Licht. Aber der Schaden war schon angerichtet: Rye war in der kritischsten Phase des Landevorgangs geblendet worden.
All das schoss ihm während eines einzigen Herzschlags durch den Kopf.
Der Boden kam rasend schnell näher. Eine Bruchlandung war praktisch unausweichlich, genau wie der Tod.
Sein letzter Gedanke lautete: Wurde verflucht noch mal Zeit.
Pilotentraining, Reflexe und Überlebensinstinkt setzten ein. Obwohl Rye sich scheinbar gleichgültig mit dem fast sicheren Tod abgefunden hatte, spielte er automatisch nüchtern diverse Optionen durch und reagierte dann so, dass seine Chancen, die Bruchlandung unbeschadet zu überleben, möglichst gut standen.
Wofür ihm nur wenige Millisekunden Zeit blieben.
Instinktiv zog er den Steuerhebel zurück und damit die Nase des Flugzeugs nach oben, gleichzeitig nahm er das Gas zurück, um die Geschwindigkeit zu drosseln, allerdings nicht so stark, dass die Maschine absacken würde.
Wenn er nach einem kurzen Aufsetzen auf der Landebahn durchstarten und danach in der Luft bleiben konnte, bis sein Blickfeld wieder aufgeklart war, konnte er mit etwas Glück noch eine Schleife fliegen und dann einen neuen Landeversuch wagen.
Und das wollte er um jeden Preis schaffen, nur damit er Brady White erwürgen konnte.
Aber unter ihm war keine weite Fläche. Falls er über die Landebahn hinausschoss und die Maschine nicht rechtzeitig hochziehen konnte, würde er die Baumwipfel streifen. Falls er hoch genug war und die Bäume überflog, musste er immer noch den Hügeln dahinter ausweichen, und er traute sich nicht länger zu, abschätzen zu können, wie weit entfernt sie waren. Er flog ausschließlich nach Gefühl durch den Nebel und die vor seinen Augen explodierenden lila und gelben Flecken.
Der wahrscheinlichste Ausgang: Er hatte nicht den Hauch einer Chance. Die Armaturen konnte er hinter den vor seinen Augen tanzenden Lichtpunkten nicht ablesen. Ohne Instrumente war seine räumliche Orientierung nichts mehr wert. Vielleicht flog er die Kiste geradewegs in den Busen von Mutter Erde.
Und dann erblickte er voraus und leicht backbord einen helleren Nebelfleck, der sich zu einem Leuchten intensivierte und sich dann in zwei eng nebeneinanderstehende Lichtkegel aufteilte. Sah nach Scheinwerfern aus. Ein Parkplatz? Nein, die Straße. Die Straße, die ihm auf dem Luftbild des Flugplatzes aufgefallen war. Auf jeden Fall lieferten ihm die Scheinwerfer einen Anhaltspunkt dafür, wie nah der Boden war.
Keine Zeit, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Er setzte zu einer ganz leichten Linkskurve an und richtete die Maschine auf die beiden Lichtstrahlen aus.
Steig hoch genug, dass du über die Scheinwerfer wegfliegst.
Immer locker, nicht nervös werden.
Die Maschine segelte über die Scheinwerfer hinweg, blieb noch ein, zwei Sekunden in der Luft und krachte dann auf den Boden. Im nächsten Moment sprang sie wieder auf. Als sie zum zweiten Mal aufsetzte, kam sie nur auf dem linken Hinter- sowie dem Vorderrad auf. Dann knickte das rechte Fahrgestell ein. Das Flugzeug kippte nach Steuerbord ab, der rechte Flügel neigte sich nach unten, touchierte den Boden und riss das Flugzeug rechtsrum, ohne dass Rye irgendetwas dagegen unternehmen konnte.
Instinktiv wollte er mit aller Kraft auf die Bremse steigen, doch wenn die Räder abgerissen oder auch nur schwer beschädigt worden waren, war mit Sicherheit auch die Hydraulik defekt und die Bremse damit nutzlos.
Das Flugzeug schlitterte von der Straße in den Wald hinein. Ein Ast prallte gegen die Frontscheibe. Das Plexiglas splitterte nicht, zersprang aber in ein Spinnennetz von Rissen, das ihm endgültig die Sicht nahm.
Dann der Aufprall.
Die Cessna traf so heftig auf ein Hindernis, dass die Nase eingedrückt wurde und das Heck mit einem Ruck vom Boden abhob, ehe es wieder aufsetzte. Ryes Zähne knallten aufeinander, und er biss sich auf die Zunge.
Seine Nerven lagen blank, aber er war immer noch klar genug im Kopf, um zu begreifen, dass er sich auf terra firma befand, so unglaublich das auch schien. Das Flugzeug stand nicht in Flammen. Er war noch am Leben. Noch während er diesen Gedanken fasste, tastete er nach dem Hauptschalter für die Flugzeugelektrik und legte alle elektronischen Systeme still, bevor er den Tankwahlschalter am Boden zwischen den Sitzen schloss.
Danach ließ er sich ein paar Sekunden Zeit, bis er wieder zu Atem gekommen war, sein Herz halbwegs normal schlug und er im Geist eine Checkliste von wahrscheinlichen Verletzungen durchgegangen war. Allmählich verblassten auch die lila und gelben Punkte vor seinen Augen. Er konnte wieder etwas erkennen. Er hatte keine schlimmen Schmerzen, nur das Steuerhorn drückte ihm auf den Brustkorb, weil es bei dem Aufprall mitsamt der Instrumententafel nach hinten geschoben worden war.
Das Flugzeug war so alt, dass es nicht über einen Schulter-, sondern nur über einen Bauchgurt verfügte. Er löste umständlich den Verschluss und konnte sich schließlich befreien. Die Tür links von ihm schien unbeschädigt. Er entriegelte sie und drückte sie auf. Kalte, feuchte Luft drang ins Cockpit, und er nahm einen tiefen Atemzug.
Er musste mehrmals ansetzen und mit zusammengebissenen Zähnen alle Kräfte mobilisieren, doch irgendwann hatte er sich unter dem Steuerhorn hervor- und aus seinem Sitz gezwängt und es ins Freie geschafft. Die Pilotentasche lag, unter der Instrumententafel eingeklemmt, vor dem Co-Pilotensitz auf dem Boden. Nach einiger Anstrengung bekam er den Ledergurt zu fassen und konnte die Tasche herauszerren. Er holte sie aus dem Cockpit und ließ sie auf den Boden fallen.
Damit blieb nur noch die schwarze Box übrig.
Laut den Vorschriften der FAA durfte ein Pilot nach einer Bruchlandung lediglich seine Pilotentasche aus dem Flugzeug nehmen. Alles andere musste an Ort und Stelle bleiben, bis der Unfallbericht bei der FAA eingegangen war und entschieden war, ob der Vorfall vor Ort untersucht werden musste.
Aber weil er wusste, wie dringend seine Fracht erwartet wurde, löste er den Gurt, mit dem die Box auf dem Sitz gehalten wurde, und zog sie zu sich her. Er richtete sich wieder auf, schloss von außen die Tür und sprang auf den Boden, wie er es im Lauf vieler Jahre schon zehntausendmal getan hatte.
Nur dass diesmal seine Knie nachgaben. Er kippte um, landete im Dreck und war gottfroh, dass niemand in der Nähe war, der seine Lumpenpuppen-Darbietung mitbekommen hatte. Offenbar nahm ihn die Bruchlandung stärker mit, als er gedacht hatte.
Er setzte sich auf, senkte den Kopf zwischen die angezogenen Knie und konzentrierte sich darauf, langsam und gleichmäßig zu atmen. So blieb er sitzen, bis die Feuchtigkeit aus dem Boden in seine Jeans sickerte.
Schließlich hob er den Kopf und schlug die Augen auf. Er war in Nebel und Dunkelheit gehüllt, aber sein Blick war frei. Keine tanzenden Punkte mehr. Er konnte die beiden Finger erkennen, die er vor seine Augen hielt.
Erst in diesem Moment begriff er, dass er bei dem Aufprall nach vorn geschleudert worden war und sich den Kopf angeschlagen hatte. Behutsam erkundete er mit den Fingerspitzen seinen Kopf und ertastete dabei unter seinem Haaransatz eine Beule, die aber nicht allzu schlimm sein konnte. Sein Blick war zwar verschwommen, doch ihm war nicht übel, und ohnmächtig war er auch nicht geworden, darum war ihm wohl eine Gehirnerschütterung erspart geblieben. Er baute nur langsam das eingeschossene Adrenalin ab, das war alles.
Er ließ den Hinterkopf gegen den Flugzeugrumpf sinken und wischte mit dem Handrücken über seine Stirn. Seine Hand war schweißnass, als er sie wieder wegnahm, gleichzeitig bibberte er in seiner Bomberjacke.
Aber auch das machte ihm nicht allzu viele Sorgen. Das Zittern ließ sich bestimmt mit einer Handbreit Bourbon kurieren.
Nachdem er zu diesem Schluss gekommen war, zog er die Pilotentasche zu sich her und öffnete den Reißverschluss. Nach kurzem Suchen hatte er die Taschenlampe entdeckt und schaltete sie ein. Die schwarze Box immer noch in der Armbeuge, den Gurt der Tasche über der anderen Schulter, zog er sich am Flugzeugrumpf hoch und richtete sich auf, um sein Gleichgewichtsgefühl zu testen.
Er war nicht in Topform, aber er war okay. Er duckte sich unter der Tragfläche durch und arbeitete sich zur Nase des Flugzeugs vor. Der dämliche Baum, in den er gerauscht war, war mit Sicherheit der größte in ganz Georgia. Mit der Taschenlampe nahm er die Beschädigungen am Flugzeug in Augenschein.
Er konnte genug erkennen, um sicher zu sein, dass Dash stinksauer sein würde.
Er setzte sich wieder auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und zog sein Mobiltelefon aus der Jackentasche. Als er erkannte, dass das Display zersplittert war und das Handy nicht ansprang, durchwühlte er seine Pilotentasche nach dem Ersatzhandy. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er es zuletzt benutzt oder aufgeladen hatte, und tatsächlich muckste es nicht einmal. Er musste Atlanta Center informieren, dass er nicht mehr in der Luft war, aber er konnte dort erst Bescheid geben, wenn er ein funktionierendes Telefon hatte.
Unter einer Litanei von Flüchen schaute er sich um, sah aber nichts als Nebel und noch mehr Nebel. Der Taschenlampenstrahl war stark, aber statt die Nebelschwaden zu durchschneiden, reflektierte er ihn und ließ ihn nur noch undurchdringlicher erscheinen. Rye schaltete die Lampe aus, um Batterie zu sparen. Im Dunkeln sitzend, überdachte er seine Lage.
Am klügsten war es, sitzen zu bleiben, vielleicht ein Nickerchen zu machen und abzuwarten, bis sich der Nebel lichtete.
Aber die Wut war stärker als jede Klugheit. Er wollte Brady White an den Kragen und ihm die Seele aus dem Leib prügeln. Er hatte so viel damit zu tun gehabt, die Katastrophe abzuwenden, dass er erst jetzt Zeit fand, sich darüber zu wundern, warum ihn dieser Idiot erst ganz freundlich zur Landebahn lotste, um ihn dann mit einem gottverdammten Laserstrahl zu blenden. Und es brauchte einen mächtigen Laserstrahl, um den Nebel zu durchdringen und ihm derart die Sicht zu nehmen.
Brady White hatte einen sympathischen Eindruck gemacht und so gewirkt, als hätte er Hochachtung vor Rye. Nicht wie jemand, der es auf ihn abgesehen hatte. Und wieso sollte er es auf ihn abgesehen haben, wenn sie sich noch nie begegnet waren?
Aber wer außer Brady White hatte überhaupt gewusst, dass Rye hier landen würde? Dr. Lambert. Der war aber noch nicht eingetroffen, und selbst wenn – warum sollte er teures Geld zahlen, damit seine Fracht noch heute Nacht hierher geliefert wurde, und dann das Flugzeug sabotieren? Das ergab keinen Sinn.
Dass Brady White ihn geblendet hatte, ergab genauso wenig Sinn, aber das würde Rye schon klären, und dann würde er Brady eine Lektion in Flugsicherheit erteilen, die er bis an sein Lebensende nicht vergessen sollte. Schmerz und Reue würden sich bei Brady White die Waage halten.
In Gedanken schon bei seiner Strafaktion, sah er sich um und versuchte sich zu orientieren. Wenn er erst wieder auf der Straße war, würde er bestimmt zum Flugplatz finden. Er hoffte nur, dass er sich nicht die Knochen brach oder einen Abhang hinunterrutschte, während er sich durchs Unterholz schlug. Trotzdem war es am besten, wenn er sich auf den Weg machte.
Er schulterte seine Tasche und wollte gerade aufstehen, als er aus dem Augenwinkel ein diffuses Licht bemerkte, das durch den Wald schwenkte.
Er brauchte Bradyboy also gar nicht zu suchen. Brady kam zu ihm. Wie ein Brandstifter, der das angezündete Haus in Flammen aufgehen sehen will, wollte dieser kranke Trottel sich an seinem Zerstörungswerk erfreuen, das er angerichtet hatte.
Tja, Brady White hatte keine Ahnung, worauf er sich da eingelassen hatte.
Schnell und möglichst leise duckte sich Rye hinter den Baumstamm, wo man ihn nicht sah. Ohne den Blick von dem verschwommenen Lichtkreis zu nehmen, der durch den Nebel tanzte, schob er eine Hand in seine Pilotentasche und öffnete den Reißverschluss des Innenfachs, in dem er seine kleine Glock aufbewahrte. Er schob eine Kugel in die Kammer und deckte dabei den Schlitten mit der flachen Hand ab, um das Klicken zu dämpfen.
Hinter dem Baum kauernd, beobachtete er, wie sich eine dunkle Gestalt aus dem Nebel schälte. Whites Taschenlampe brachte nicht viel. Tatsächlich sah der Strahl eher gelb und kränklich aus, aber bei einem Schwenk erfasste er das Flugzeugheck, schwenkte dann kurz zurück und kam auf der Flugzeugkennung zu liegen. Die Gestalt erstarrte mitten in der Bewegung, einen Fuß noch in der Luft.
Rye rührte sich ebenso wenig und wagte kaum zu atmen. Er hörte den Sekundenzeiger seiner Armbanduhr ticken. Nach zehn Sekunden senkte der Typ den Fuß wieder und näherte sich dem Flugzeug weiter, nun aber viel zögerlicher. Er ließ den Lichtstrahl über den Flugzeugrumpf gleiten und richtete ihn schließlich auf den eingedrückten Propeller und die Schnauze der Maschine.
Immer noch vorsichtig wagte er sich weiter vor. Im Nebel war die Gestalt nur schwer auszumachen, doch Rye erkannte immerhin, dass Brady von Kopf bis Fuß in dunkle Sachen gekleidet war und sich eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte.
Ryes erster Impuls war, sich auf ihn zu stürzen, aber irgendwie genoss er das zögerliche Vorgehen des Mannes. Wer setzte schon absichtlich aus sicherer Entfernung und vom Boden aus einen Piloten am Steuer außer Gefecht? Nur ein absoluter Feigling. Ryes Blut kochte. Seine Hand schloss sich fester um den Griff der kleinen Glock, aber er wollte erst noch abwarten und beobachten, was der hintertriebene Hurensohn als Nächstes unternehmen würde.
Die Gestalt erreichte die Tragfläche, ging mit eingezogenem Kopf darunter durch und leuchtete als Nächstes mit der Taschenlampe in das Fenster auf der Pilotenseite. Der Lichtstrahl war zu schwach und traf zu schräg auf die Scheibe, als dass der Mann etwas im Cockpit erkennen konnte. Sekundenlang schien er mit sich zu ringen, dann kletterte er am Flugzeug hoch, bis er die Verriegelung zu fassen bekam und die Tür aufziehen konnte.
So wie Rye es sah, hatte er einen leblosen Körper hinter dem Steuerhorn erwartet, denn er reagierte offenkundig erschrocken und leuchtete mit der Taschenlampe im Cockpit herum. Rye sah den Strahl hinter der gesprungenen Frontscheibe herumzucken.
Der Mann richtete sich wieder auf, sah sich flüchtig um und kletterte schließlich wieder herunter, bevor er in die Richtung ging, aus der er gekommen war. Diesmal schlug er ein ganz und gar nicht zögerliches Tempo an, tatsächlich schien er es verflucht eilig zu haben.
»Da hast du dich geschnitten.« Rye sprang hinter dem Baum hervor und griff an.
Der Aufprall war so hart, dass ihm selbst kurz die Luft wegblieb, doch er wusste, dass sein Gegner noch viel härter getroffen worden war, und das war ungeheuer befriedigend.
Die Taschenlampe fiel zu Boden und landete ein paar Schritte von ihnen entfernt. White streckte die Hand danach aus, doch Rye schlang seine Arme fest um den unter ihm liegenden Widersacher, klemmte dabei die Arme des Mannes fest, indem er sich rittlings auf ihn kniete und mehr oder weniger auf dessen Hintern zu sitzen kam.
»Was hast du denn, du blöder Wichser? Hast du erwartet, meine blutige Leiche im Pilotensitz hängen zu sehen? Tja, Überraschung.«
Er drehte seinen Gegner auf den Rücken und packte dessen Hände, ohne dass seine Rechte dabei die Neun-Millimeter losgelassen hätte. Wieder zwang er die Arme des Mannes an dessen Körper und presste sie rücksichtslos auf den felsigen Untergrund.
So wütend wie noch nie in seinem Leben knurrte er: »Ich will bloß wissen, was diese Scheiße …«
Er verstummte, als er erkannte, dass die Augen, die ihn von unten anfunkelten, zu einem weichen, glatten Gesicht und einem dichten Kranz dunkler, welliger Haare gehörten. »Wer zum Teufel sind Sie?«
»Ihre Kundin.«
Rye zuckte überrascht zurück und senkte den Blick auf den Brustkorb dicht unter seinem Gesicht, der sich unruhig hob und senkte … und zweifelsfrei weiblich war. »Dr. Lambert? Ich hätte einen Mann erwartet.«
»Tja, Überraschung.«
Dann rammte sie ihm ihr Knie in die Eier.