Buch
Königin Sabran ist in ihrem eigenen Palast gefangen. Sie setzt alles daran zu entkommen, doch erst als die Magierin Ead vom Kloster des geheimen Baumes zurückkehrt und sie unterstützt, gelingt ihr die Flucht. Gemeinsam brechen sie auf, um das magische Schwert Ascalon aufzuspüren, die einzige Waffe, die den namenlosen Drachen töten kann. Doch in den verbotenen Wäldern finden sie nicht nur Hoffnung. Sabran muss auch erkennen, dass ihr ganzes Leben auf einer schrecklichen Lüge fußt. Hat sie überhaupt noch das Recht, sich Königin von Inys zu nennen?
Autorin
Samantha Shannon ist in Londons West End geboren und aufgewachsen. Mit zwölf Jahren begann sie zu schreiben, mit fünfzehn beendete sie ihren ersten Roman, der bislang jedoch unveröffentlicht blieb. Sie studierte Englische Sprache und Literatur in Oxford, wo sie 2013 ihren Abschluss machte. Die Werke der »New York Times«- und »Sunday Times«-Bestsellerautorin wurden bereits in 26 Sprachen übersetzt.
Der Orden des geheimen Baumes:
1. Die Magierin
2. Die Königin
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SAMANTHA SHANNON
DER ORDEN
DES
GEHEIMEN
BAUMES
DIE KÖNIGIN
Roman
Deutsch von Wolfgang Thon
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Priory of the Orange Tree (S. 405 – 804)« bei Bloomsbury, London.
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Samantha Shannon-Jones
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Penhaligon
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Sigrun Zühlke
Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft,
nach einer Originalvorlage von Bloomsbury Publishing Plc
Umschlagdesign: Ivan Belikov
Karten: © Emily Faccini
HK · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-25683-8
V001
www.penhaligon.de
ANMERKUNG DER AUTORIN
Die fiktiven Länder von Der Orden des geheimen Baumes sind von Ereignissen und Legenden aus verschiedenen Teilen der Welt inspiriert. Keines stellt eine wahrheitsgetreue Repräsentation irgendeines Landes oder einer Kultur zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte dar.
TEIL I –
Als Hexe zu leben
TEIL II –
Dein ist das Königinnentum
TEIL III –
Im Land der Drachen
TEIL IV –
Der Schlüssel zur Tiefe
Figuren der Geschichte
Glossar
Zeittafel
Danksagungen
Die Lorbeerbäume in unserem Land sind alle verdörrt,
und Meteore ängstigen die Fixsterne des Himmels.
WILLIAM SHAKESPEARE
Eine Glocke läutete voll und wohltönend jeden Morgen bei Tagesanbruch. Sobald sie sie hörten, räumten die Studierenden der Federinsel ihr Bettzeug zusammen und gingen ins Badehaus. Nach dem Waschen aßen sie gemeinsam, und dann, noch bevor die Ältesten erwachten, blieb ihnen eine Stunde Zeit für Gebet und Kontemplation. Diese Stunde des Tages liebte sie am meisten.
Sie kniete vor dem Standbild des Großen Kwiriki nieder. Wasser tröpfelte an den Wänden der unterirdischen Höhle herab und sammelte sich in einem Becken. Nur eine Laterne kämpfte gegen die Dunkelheit.
Dieses Standbild des Großen Ältesten war anders als jene, vor denen sie in Seiiki gebetet hatte. Es zeigte Teile der Gestalten, die er im Laufe seines Lebens angenommen hatte: das Geweih eines Hirsches, die Krallen eines Vogels und den Schwanz einer Schlange.
Es dauerte ein wenig, bevor Tané das Klacken eines eisernen Beines auf dem Felsen hörte. Sie erhob sich und sah den Gelehrten Ältesten Vara am Eingang der Grotte stehen.
»Gelehrige Tané.« Er senkte den Kopf. »Verzeiht mir, dass ich Eure Kontemplation störe.«
Sie verbeugte sich ihrerseits.
Der Scholar Vara wurde von den meisten Studierenden der Halle der Windfahne für einen Exzentriker gehalten: ein dünner Mann mit wettergegerbter brauner Haut und vielen Falten um die Augen, der stets ein Lächeln und ein freundliches Wort für sie hatte. Seine oberste Pflicht bestand darin, das Archiv zu führen und zu schützen, aber er wirkte auch als Heiler, wenn es notwendig war.
»Ich wäre geehrt, wenn Ihr mich heute Morgen im Archiv aufsuchen würdet«, sagte er. »Eure täglichen Pflichten wird jemand anderes übernehmen. Und bitte«, fügte er hinzu und zeigte dabei auf die Statue, »lasst Euch Zeit.«
Tané zögerte. »Es ist mir nicht erlaubt, das Archiv zu betreten.«
»Heute schon.«
Er war verschwunden, bevor sie reagieren konnte. Langsam kniete sie sich wieder hin.
Diese Höhle war der einzige Ort auf der Welt, an dem sie sich vollkommen vergessen konnte. Es war ein wabenartiges Labyrinth aus Grotten hinter einem Wasserfall, das sich die seiikinesischen Studierenden auf dieser Seite der Insel teilten.
Mit einer wedelnden Handbewegung löschte sie den Weihrauch und verbeugte sich vor der Statue. Deren Juwelenaugen schienen sie anzufunkeln.
Am Ende der Treppe trat sie ins Tageslicht hinaus. Der Himmel hatte die gelbliche Farbe ungebleichter Seide. Mit bloßen Füßen suchte sie sich vorsichtig den Weg über die Trittsteine.
Die Federinsel lag einsam und zerklüftet weit von allen anderen Orten entfernt. Ihre steilen Klippen und die stets präsenten Wolken boten jedem Schiff, das sich näher heranwagte, einen einschüchternden Anblick. Schlangen sonnten sich auf den steinigen Stränden. Diese Insel war Heimstatt von Menschen aus dem ganzen Osten – und die Ruhestätte der Knochen des Großen Kwiriki, der sich angeblich auf den Grund der Schlucht gebettet hatte, die die Insel teilte und »Der Pfad der Ältesten« genannt wurde. Man sagte auch, dass es seine Knochen seien, die für den Nebel verantwortlich waren, der diese Insel einhüllte. Denn ein Drache zog noch lange nach seinem Tod Wasser an. Es war auch der Grund, warum so oft Nebel über Seiiki lag.
Seiiki.
Die Luv-Halle stand in Kap Quill im Norden, während die Halle der Wetterfahne, die kleinere, wo Tané untergebracht worden war, hoch auf dem Rand eines lang erloschenen Vulkans thronte, umgeben von Wald. Unmittelbar dahinter lagen Eishöhlen, wo einst Lava geflossen war. Um zu den Mönchsklausen zu gelangen, musste man die Schlucht auf einer wackligen Hängebrücke überqueren.
Andere Siedlungen gab es hier nicht. Die Studierenden und Scholaren waren allein im endlosen Meer.
Dieses Kloster war eine Schatzkiste des Wissens. Jedes neue Stückchen Weisheit wurde durch das Verstehen des Vorausgehenden gewonnen. Geborgen in seinen riesigen Hallen hatte Tané erst alles über Feuer und Wasser gelernt. Feuer, das Element der geflügelten Dämonen, forderte ständigen Nachschub. Es war das Element von Krieg und Gier und Rachsucht – immer hungrig und niemals zufrieden.
Wasser brauchte weder Kohle noch Zunder für seine Existenz. Es vermochte selbst jede Form zu bilden. Es nährte Fleisch und Erde und verlangte im Gegenzug nichts dafür. Deshalb würden die Drachen des Ostens, die Herren von Regen, See und Meer, immer über die Feuerspeier triumphieren. Selbst wenn der Ozean die Welt verschlungen und die Menschheit hinweggespült hatte, würden sie noch fortbestehen.
Ein Fischreiher schnappte sich einen Bitterling aus dem Fluss. Der kalte Wind fuhr seufzend zwischen den Bäumen hindurch. Die Herbstdrachin würde sich schon bald zum Schlummern niederlegen, und im zwölften See würde der Winterdrache erwachen.
Als Tané auf den überdachten Laufsteg trat, der zum Kloster zurückführte, zog sie die Kapuze ihres Umhangs über ihr Haar, das sie vor ihrer Abreise aus Ginura so kurz geschnitten hatte, dass es nur bis zu ihren Schlüsselbeinen reichte. Miduchi Tané hatte lange Haare gehabt. Der Geist, zu dem sie geworden war, nicht.
Nach der Kontemplation fegte sie normalerweise den Boden, half, Früchte im Wald zu sammeln, die Gräber von Blättern zu befreien oder die Hühner zu füttern. Es gab keine Diener auf der Federinsel, also teilten sich die Studierenden die niederen Pflichten. Die jüngeren und kräftigen übernahmen die meisten davon. Es war sonderbar, dass der Älteste Vara sie gebeten hatte, ins Archiv zu kommen, wo die wichtigsten Dokumente aufbewahrt wurden.
Als sie auf der Federinsel angekommen war, war sie auf ihr Zimmer gegangen und hatte sich tagelang dort verkrochen. Sie hatte keinen Bissen gegessen und kein einziges Wort gesprochen. In Ginura hatte man ihr alle Waffen abgenommen, sodass sie sich jetzt nur innerlich zerreißen konnte. Sie wollte nur ihren Traum betrauern, bis sie nicht mehr atmete.
Es war der Älteste Vara, der so etwas wie einen Funken Leben in sie zurückgeschüttelt hatte. Als sie vor Hunger schon ganz schwach war, hatte er sie überredet, in die Sonne hinauszutreten. Dann hatte er ihr Blumen gezeigt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Am nächsten Tag hatte er eine Mahlzeit für sie zubereitet, und sie hatte ihn nicht enttäuschen wollen.
Die anderen Studierenden nannten sie den Geist der Halle der Wetterfahne. Sie aß und arbeitete und las wie die anderen, aber ihr Blick war immer in eine Welt gerichtet, in der Susa noch lebte.
Tané trat vom Laufsteg herunter und bog in Richtung Archiv ab. Normalerweise war es nur den Ältesten gestattet, es zu betreten. Als sie sich den Stufen näherte, erbebte die Federinsel. Sie warf sich zu Boden und legte schützend die Hände über ihren Kopf. Ein Schmerz durchzuckte sie, während das Erdbeben das Kloster erschütterte, und sie zischte leise.
Der Knoten in ihrer Seite war wie eine Messerspitze. Kalter Schmerz – der Biss von Eis auf nackter Haut, Erfrierungen in ihrem Inneren. Als qualvolle Schmerzen sie in Wellen durchströmten, schossen ihr die Tränen in die Augen.
Sie musste ohnmächtig geworden sein. Eine sanfte Stimme holte sie wieder in die Gegenwart zurück. »Tané.« Pergamentene Hände packten sie an den Armen. »Gelehrige Tané, könnt Ihr sprechen?«
Ja. Sie versuchte es, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Das Erdbeben hatte aufgehört, der Schmerz jedoch nicht. Der Älteste Vara hob sie in seine knochigen Arme. Es ergrimmte sie, hochgehoben zu werden wie ein Kind, aber der Schmerz war stärker, als sie ertragen konnte.
Er trug sie in den Hof hinter dem Archiv und legte sie neben dem Fischteich auf eine Bank. Ein Kessel stand an seinem Rand.
»Ich wollte Euch heute auf einen Spaziergang zu den Klippen mitnehmen«, sagte er. »Aber jetzt sehe ich, dass Ihr der Ruhe bedürft. Dann ein andermal.« Er schenkte ihnen beiden Tee ein. »Habt Ihr Schmerzen?«
Ihr Brustkorb schien mit Eis gefüllt zu sein. »Es ist eine alte Verletzung, aber es hat nichts zu bedeuten, Ältester Vara.« Ihre Stimme klang heiser. »Diese Erdbeben treten in letzter Zeit so häufig auf.«
»Ja. Es wirkt fast so, als wollte die Welt ihre Gestalt ändern, wie die Drachen von einst.«
Sie dachte an ihre Gespräche mit der großen Nayimathun. Während sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren, setzte sich der Älteste Vara neben sie.
»Ich habe Angst vor Erdbeben«, gestand er. »Als ich noch in Seiiki lebte, haben meine Mutter und ich uns in unserem kleinen Haus in Basai versteckt, wenn der Boden bebte, und wir haben uns Geschichten erzählt, um uns abzulenken.«
Tané versuchte zu lächeln. »Ich kann mich nicht erinnern, ob meine Mutter das ebenfalls getan hat.«
Während sie sprach, bewegte sich der Boden erneut.
»Nun«, erwiderte der Älteste Vara, »vielleicht kann ich Euch ja eine erzählen. Um die Tradition aufrechtzuerhalten.«
»Selbstverständlich.«
Er reichte ihr eine dampfende Schale. Tané nahm sie schweigend entgegen.
»In der Zeit vor der Großen Trauer flog ein Feuerspeier in das Imperium der Zwölf Seen und riss die Perle aus dem Hals der Frühlingsdrachin, die Blumen und sanften Regen bringt. Die geflügelten Dämonen liebten nichts mehr, als gierig Schätze anzuhäufen, und kein Schatz ist kostbarer als eine Drachenperle. Obwohl die Frühlingsdrachin schwer verwundet war, verbot sie allen, den Dieb zu verfolgen, aus Angst, dass sie ebenfalls verwundet werden könnten. Ein Mädchen jedoch beschloss, trotzdem zu gehen. Sie war zwölf Jahre alt, klein und schnell, und so flink auf den Füßen, dass ihre Brüder sie Kleines Schattenmädchen nannten. Als nun die Frühlingsdrachin sich wegen ihrer verlorenen Perle grämte, überzog ein höchst unnatürlicher Winter das Land. Obwohl die Kälte ihre Haut verbrannte und sie keine Schuhe besaß, ging das Kleine Schattenmädchen zu dem Berg, wo der Feuerspeier seinen Schatz versteckt hatte. Während die Bestie auf der Jagd war, schlich sie sich in ihre Höhle und holte die Perle der Frühlingsdrachin zurück.«
Das musste eine wahrhaftig schwer wegzuschleppende Kostbarkeit gewesen sein. Die kleinste Drachenperle war immer noch so groß wie ein menschlicher Schädel.
»Doch der Feuerspeier kehrte genau in dem Moment zurück, als sie die Perle gerade aufgehoben hatte. Wütend schnappte er mit seinem mächtigen Kiefer nach der Diebin, die es gewagt hatte, in seinen Hort einzudringen, und riss ihr ein Stück Fleisch aus dem Schenkel. Das Mädchen sprang in den Fluss, und die Strömung trieb sie rasch von der Drachenhöhle fort. Sie entkam mit der Perle … Aber als sie sich aus dem Fluss zog, konnte sie niemanden finden, der ihre Wunde nähte und behandelte. Denn weil sie so stark blutete, fürchteten die Menschen, sie hätte die Rote Krankheit.«
Tané beobachtete den Ältesten Vara durch den Dampf, der von ihrem Tee aufstieg. »Was ist mit ihr geschehen?«
»Sie starb zu Füßen der Frühlingsdrachin. Und als die Blumen erneut blühten und die Sonne den Schnee schmolz, erklärte die Frühlingsdrachin, dass der Fluss, in dem das Kleine Schattenmädchen geschwommen war, ihr zu Ehren ihren Namen tragen sollte. Denn das Kind hatte ihr die Perle zurückgebracht, die ihr Ein und Alles war. Man sagt, der Geist des Mädchens wandle an den Ufern und schütze die Reisenden.«
Noch nie hatte Tané eine Geschichte gehört, in der eine gewöhnliche Person so viel Mut zeigte.
»Etliche finden diese Geschichte traurig. Andere dagegen halten sie für ein wunderschönes Beispiel von Selbstaufopferung«, fuhr der Älteste Vara fort.
Ein weiterer Stoß ließ den Boden erbeben, und etwas in Tané schien zu antworten. Sie versuchte, sich den Schmerz nicht anmerken zu lassen, doch der Älteste Vara hatte ein viel zu scharfes Auge.
»Tané«, sagte er. »Darf ich mir diese alte Verletzung ansehen?«
Tané hob ihre Tunika so weit hoch, dass er die Narbe sehen konnte. Im hellen Tageslicht trat sie deutlicher hervor als gewöhnlich.
»Darf ich?«, fragte der Älteste. Als sie nickte, berührte er die Narbe mit einem Finger und runzelte die Stirn. »Die Stelle ist geschwollen.«
Die Schwellung war so hart wie ein Stein. »Mein Lehrer sagte, es wäre geschehen, als ich noch ein Kind war«, erklärte Tané. »Bevor ich ins Haus des Lernens kam.«
»Du bist also niemals zu einem Heiler gegangen, um herauszufinden, ob man etwas dagegen tun könnte?«
Sie schüttelte den Kopf und bedeckte die Narbe wieder.
»Ich glaube, wir sollten diese alte Wunde wieder öffnen, Tané«, beschied der Älteste Vara. »Ich werde nach dem seiikinesischen Arzt schicken, der uns versorgt. Die meisten Geschwüre dieser Art sind harmlos, aber manchmal können sie den Körper von innen zerfressen. Wir wollen nicht, dass du sinnlos stirbst, Kind, wie das Kleine Schattenmädchen.«
»Ihr Tod war nicht sinnlos«, widersprach Tané mit leerem Blick. »Mit ihrem letzten Atemzug hat sie die Freude eines Drachen wiederhergestellt, und dadurch auch die Welt. Gibt es etwas Ehrenvolleres, wofür man sein Leben opfern könnte?«
Eine Karawane von vierzig Seelen zog durch die Wüste. Der Sand glitzerte im schwachen Licht des Sonnenuntergangs.
Eadaz uq-Nâra beobachtete, wie der Himmel sich tiefrot verfärbte. Ihre Haut war dunkel gebräunt, und ihr Haar, das sie bis zu den Schultern abgeschnitten hatte, wurde von einem weißen Pargh bedeckt.
Die Karawane, der sie sich am Palais der Tauben angeschlossen hatte, hatte mittlerweile die nördlichen Gebiete der Burlah erreicht – es war der Abschnitt der Wüste, der sich bis nach Rumelabar erstreckte. Die Burlah war die Domäne der Stämme der Nuram. Die Karawane war bereits etlichen Händlern aus diesen Stämmen begegnet, die ihnen Vorräte verkauft und sie gewarnt hatten, dass Wyrm sich aus dem Gebirge heruntergetraut hatten, zweifellos ermutigt von den Gerüchten, dass im Osten ein weiterer Erhabener Westlicher gesichtet worden war.
Ead hatte auf ihrem Weg nach Rauca in der Untergegangenen Stadt haltgemacht. Der Furchtberg, die Geburtsstätte der Lindwürmer, war genauso schrecklich gewesen, wie sie es erinnerte. Er ragte wie ein zerborstenes Schwert in den Himmel empor. Ein- oder zweimal, als sie zwischen verfallenen Säulen umhergegangen war, hatte sie das Aufleuchten von Schwingen auf seinem Gipfel bemerkt. Lindwürmer, die sich an der Krippe ihres Lebens sammelten.
Im Schatten des Berges lagen die Reste der einstmals prachtvollen Stadt Gulthaga. Das wenige, was noch auf der Oberfläche zu sehen war, verbarg die ungeheure Struktur unter der Erde. Irgendwo in ihrem Bauch hatte Jannart utt Zeedeur bei seiner Suche nach Wissen sein Ende gefunden.
Ead hatte mit dem Gedanken gespielt, ihm zu folgen und zu versuchen, mehr über diesen Langschweifigen Stern herauszufinden, den Kometen, der die Welt im Gleichgewicht hielt. Sie hatte die Ruinen nach Zeichen dafür abgesucht, welchen Weg er sich durch die Asche gebahnt hatte. Nach etlichen Stunden der Suche war sie kurz davor gewesen aufzugeben, als sie einen Tunnel erblickte. Er war kaum breit genug, um hineinzukriechen. Ein Steinschlag hatte ihn verschüttet.
Es würde nicht viel Sinn haben weiterzuforschen. Sie verstand zwar kein Gulthaganisch, aber Truydes Prophezeiung ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.
Sie hatte gedacht, ihre Rückkehr in den Süden würde ihr wieder Leben einflößen. Und tatsächlich hatte sich ihr erster Schritt in die Wüste des Rastlosen Traumes wie eine Wiedergeburt angefühlt. Sie hatte Margrets Hengst sicher im Harmur Pass untergebracht und war allein zu Fuß durch die Dünen nach Rauca gegangen. Als sie die Stadt wiedersah, hatte das ihre Kräfte wiederbelebt, aber schon bald waren sie von den Stürmen weggepeitscht worden, die von der Burlah herunterfegten.
Ihre Haut hatte den Kuss der Wüste vergessen. Inzwischen war sie nur noch eine sandbedeckte Reisende und ihre Erinnerungen eine Fata Morgana. Manchmal glaubte sie fast, dass sie nie kostbare Seide und Juwelen am Hof dieser westlichen Königin getragen hatte. Dass sie niemals Ead Duryan gewesen war.
Ein Skorpion huschte hinter ihrem Kamel vorbei. Die anderen Reisenden sangen, um sich die Zeit zu vertreiben. Ead hörte schweigend zu. Es war schon ein halbes Leben her, seit sie jemanden auf Ersyri hatte singen hören.
Hoch in einer Zypresse
saß einsam ein Vögelein,
und rief nach einer Partnerin
Tanze, tanze, es sang,
auf den Dünen heute Nacht
Komm, komm, mein Liebes, zu mir
dann fliege ich mit dir.
Rumelabar war noch so weit entfernt. Im Winter dauerte es Wochen, bis eine Karawane die Burlah durchquert hatte, wenn die bitterkalten Nächte genauso schnell töten konnten wie die glühende Sonne. Sie fragte sich, ob Chassar die Nachricht von ihrer Abreise aus Inys erhalten hatte. Es würde weitreichende diplomatische Folgen für die Ersyr haben.
»Ein Sturm zieht auf!«, rief der Karawanenführer. »Wir reiten zum Lager der Nuram!«
Die Nachricht wurde durch die ganze Karawane weitergegeben. Ead packte frustriert die Zügel fester. Sie hatte keine Zeit zu verschwenden, während ein Sturm aus der Burlah durch die Wüste fegte.
»Eadaz.«
Sie drehte sich in ihrem Sattel herum. Ein anderes Kamel hatte sich neben ihres geschoben. Ragab war ein grauhaariger Postreiter, der mit einem ganzen Sack von Briefen nach Süden wollte.
»Ein Sandsturm.« Seine tiefe Stimme klang erschöpft. »Ich glaube, diese Reise endet niemals.«
Ead ritt gern mit Ragab. Er wusste viele interessante Geschichten von seinen Reisen zu erzählen und behauptete, die Wüste schon hundertmal durchquert zu haben. Er hatte sogar den Angriff eines Basilisken auf sein Dorf überlebt. Die Bestie hatte seine Familie abgeschlachtet, ihm ein Auge genommen und zahllose Narben auf seinem Körper hinterlassen. Die anderen Reisenden begegneten ihm mit Mitleid.
Aber sie sahen auch Ead mitleidig an. Sie hatte sie miteinander flüstern gehört, sie wäre ein ruheloser Geist in der Gestalt einer Frau, gefangen zwischen den Welten. Nur Ragab hatte es gewagt, sich ihr zu nähern.
»Ich hatte vergessen, wie abweisend die Burlah sein kann«, erwiderte Ead. »Wie trostlos.«
»Hast du sie schon einmal durchquert?«
»Zweimal.«
»Wenn du sie so oft durchmessen hast wie ich, dann wirst du die Schönheit in dieser Trostlosigkeit erkennen«, sagte er. »Obwohl mir von allen Wüsten in der Ersyr die Wüste des Rastlosen Traums immer die liebste ist. Meine Lieblingsgeschichte als Kind war immer die, wie sie zu ihrem Namen gekommen ist.«
»Das ist eine sehr traurige Geschichte.«
»Ich finde sie wunderschön. Es ist eine Geschichte über die Liebe.«
Ead griff nach ihrer Wasserflasche am Sattel. »Es ist schon lange her, seit ich sie das letzte Mal gehört habe.« Sie zog den Stopfen heraus. »Vielleicht hast du ja Lust, sie mir noch einmal zu erzählen?«
»Wenn du das möchtest«, willigte Ragab ein. »Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«
Sie ließ Ragab aus ihrer Flasche trinken, bevor sie selbst einige Schlucke nahm. Er räusperte sich.
»Es war einmal ein König, der von seinem Volk sehr geliebt wurde. Von seinem Palast aus blauem Glas in Rauca aus regierte er das Land. Seine Braut, die Schmetterlingskönigin, die er mehr geliebt hatte als alles andere in der Welt, war jung gestorben, und er trauerte schrecklich um sie. Seine Beamten regierten das Land, während er in seinem selbst errichteten Gefängnis schmachtete, umgeben von Reichtum, den er zutiefst verachtete. Weder Juwelen noch Münzen konnten ihm die Frau zurückkaufen, die er verloren hatte. Schon bald nannte man ihn den Melancholischen König. Nach einem Jahr erhob er sich zum ersten Mal von seiner Bettstatt, um den roten Mond zu betrachten. Als er aus seinem Fenster nach unten blickte … Wahrhaftig! Er traute seinen Augen nicht! Dort stand seine Königin, in dem Palastgarten, gekleidet in dieselben Gewänder, die sie am Tag ihrer Hochzeit getragen hatte. Sie rief ihm zu, er möge ihr in der Wüste Gesellschaft leisten. Ihre Augen lachten, und sie hatte die Rose dabei, die er ihr bei ihrem ersten Treffen geschenkt hatte. Der König dachte, er würde träumen. Also verließ er den Palast, ging durch die Stadt und in die Wüste hinaus – ohne Nahrung oder Wasser, ohne eine Robe und sogar ohne seine Schuhe. Er ging und ging, folgte dem Schatten in der Ferne. Selbst als die Kälte über seine Haut strich, als er vor Durst immer schwächer wurde und die leichenfressenden Dämonen seinen Spuren folgten, ging er weiter und sagte sich unablässig: Ich träume nur. Ich träume nur. Er folgte seiner großen Liebe in dem Wissen, dass er sie erreichen würde und dass er eine weitere Nacht mit ihr verbringen würde – nur eine Nacht, wenigstens in seinem Traum. Bevor er wieder allein in seinem Bett aufwachte.«
Ead erinnerte sich an den letzten Teil der Geschichte, und ein Schauer überlief sie.
»Leider«, fuhr Ragab fort, »träumte der Melancholische König nicht, sondern folgte tatsächlich einer Fata Morgana. Die Wüste hatte ihm einen Streich gespielt. Er starb in ihr, und seine Knochen wurden vom Sand überdeckt. So kam diese Wüste zu ihrem Namen.« Er tätschelte sein Kamel, als es schnaubte. »Liebe und Furcht stellen sonderbare Dinge mit unseren Seelen an. Sie bringen uns Träume, Träume, die uns salzigen Schweiß auf die Haut treiben und uns nach Luft ringen lassen, als würden wir sterben – diese Träume nennen wir rastlose Träume. Und nur der Geruch einer Rose kann sie vertreiben.«
Ead bekam eine Gänsehaut, als sie sich an eine andere, hinter einem Kissen versteckte Rose erinnerte.
Die Karawane erreichte das Lager gerade, als der Sandsturm losbrach. Die Reisenden wurden eilig in ein großes Zelt geführt, wo sich Ead neben Ragab auf die Kissen setzte. Die Nuram, die Gäste liebten, teilten ihren Käse und ihr gesalzenes Brot mit ihnen. Sie ließen auch eine Wasserpfeife herumgehen, die Ead jedoch ablehnte. Ragab dagegen nahm das Angebot nur zu gern an.
»Niemand von uns wird heute ruhig schlafen.« Er blies eine parfümierte Rauchwolke aus. »Nachdem der Sturm vorbei ist, sollten wir die Oase Gaudaya in drei Tagen erreichen, schätze ich. Und dann liegt die lange Straße vor uns.«
Ead warf einen Blick zum Mond.
»Wie lange dauern diese Stürme an?«, fragte sie Ragab.
Der Postreiter schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen. Es kann Minuten oder auch Stunden dauern, manchmal sogar noch länger.«
Ead teilte einen Fladen Brot, während eine Frau der Nuram ihnen einen süßen rosafarbenen Tee eingoss. Selbst die Wüste verschwor sich gegen sie. Sie brannte darauf, die Karawane zu verlassen und endlich zu Chassar weiterreiten zu können, solange es auch dauern mochte. Aber sie war nicht der Melancholische König. Die Furcht würde sie nicht dazu bringen, ihren gesunden Menschenverstand zu verlieren. Sie war nicht genug von sich eingenommen, um zu glauben, die Burlah allein durchqueren zu können.
Während die anderen Reisenden der Geschichte des Blauglas-Diebes von Drayasta lauschten, klopfte sie sich den Sand aus der Kleidung und kaute einen weichen Zweig, um ihre Zähne zu reinigen. Dann suchte sie sich einen Schlafplatz hinter einem Vorhang.
Die Nuram schliefen oft unter den Sternen, aber wenn ein Sandsturm um sie herum tobte, zogen sie sich in ihre dicht geschlossenen Zelte zurück. Allmählich verschwanden die Nomaden und ihre Gäste, und die Öllampen wurden gelöscht.
Ead zog sich eine gewebte Decke über den Körper. Die Dunkelheit hüllte sie ein, und sie träumte, wieder bei Sabran zu sein. Ihr Körper schmerzte vor Sehnsucht nach ihrer Berührung. Dann hatte Die Mutter Erbarmen, und sie glitt in einen traumlosen Schlaf.
Ein dumpfer Schlag weckte sie.
Sie riss die Augen auf. Das Zelt um sie herum wackelte, aber in dem Tumult hörte sie draußen etwas. Etwas mit festem, sicherem Schritt. Sie zog einen Dolch aus ihrem Rucksack und trat in die Wüstennacht hinaus.
Sand fegte durch das Lager. Ead hielt sich ihren Pargh vor den Mund. Als sie die Silhouette sah, hob sie den Dolch, in der Überzeugung, es wäre ein Wyrmeling – doch dann trat die Kreatur in all ihrer Pracht durch den Sandsturm der Burlah.
Ead lächelte.
*
Parspa war die letzte lebende Hawiz. Weiß bis auf die bronzefarbenen Spitzen ihrer Schwingen, konnten diese Vögel so groß werden wie Lindwürmer, die sich mit ihnen gepaart hatten, um die Basilisken zu erschaffen. Chassar, der eine Vorliebe für Vögel besaß, hatte Parspa gefunden, als sie noch in ihrem Ei war, und sie zur Priorei gebracht. Jetzt hörte sie nur auf ihn. Ead sammelte ihre Habseligkeiten zusammen, stieg auf den Rücken des Vogels, und schon bald hatten sie das Lager hinter sich gelassen.
Sie flüchteten vor der aufgehenden Sonne. Ead wusste, dass sie ihrem Ziel näher kamen, als die ersten Salzzedern aus dem Sand aufragten. Und plötzlich befanden sie sich über der Domäne von Lasia.
Ihr Geburtsland bestand aus roten Wüsten und zerklüfteten Felsgipfeln, aus verborgenen Höhlen und donnernden Wasserfällen, aus goldenen Stränden, an denen schäumend die Halassa-See leckte. Zum größten Teil jedoch war es ein trockenes Land, wie die Ersyr. Doch im Gegensatz dazu war Lasia von riesigen Strömen durchzogen, deren Ufer fruchtbar und grün waren. Als Ead auf die Ebene unter sich blickte, begann ihr Heimweh endlich zu schwinden. Ganz gleich, wie viel sie von der Welt auch sehen würde, immer würde dies hier für sie der schönste Ort sein.
Schon bald flog Parspa über die Ruinen von Yikala hinweg. Ead und Jondu waren als Kinder dort oft plündern gewesen, ganz versessen auf Tand aus der Zeit Der Mutter.
Parspa schwenkte ab zum Talkessel von Lasian. Durch den uralten riesigen Wald dort unten zog sich wie eine Lebensader der Fluss Minara, der auch die Priorei speiste. Als die Sonne aufgegangen war, flog Parspa über die Baumwipfel dahin. Ihr Schatten huschte über das dichte Blätterdach.
Schließlich ließ sich der Vogel nach unten sinken und landete auf einer der wenigen Lichtungen in diesem Wald. Ead glitt von ihrem Rücken.
»Danke, meine Freundin«, sagte sie auf Selinyi. »Von hier aus weiß ich den Weg.«
Parspa flog vollkommen geräuschlos davon.
Ead ging zwischen den Bäumen weiter und fühlte sich so klein wie eines ihrer Blätter. Würgefeigen schlängelten sich die mächtigen Stämme empor. Eads erschöpfte Füße schienen den Weg von selbst zu finden, auch wenn ihre Erinnerung nicht mehr weiterwusste. Der Eingang zur Höhle war in der Nähe, bewacht von mächtigen Schutzzaubern, versteckt im undurchdringlichsten Dickicht. Die Höhle würde sie tief unter den Boden führen, in das Labyrinth der geheimen Hallen.
Etwas flüsterte in ihrem Blut, und sie drehte sich um. Eine Frau stand in einem Flecken Sonnenlicht, sie war hochschwanger.
»Nairuj«, sagte Ead.
»Eadaz«, antwortete die Frau. »Willkommen zu Hause.«
*
Lichtstrahlen drangen durch die Bogengitterfenster. Ead wurde gewahr, dass sie im Bett lag und ihr Kopf auf Seidenkissen ruhte. Die Sohlen ihrer Füße brannten nach so vielen Tagen auf Reisen.
Als sie ein dumpfes Brüllen hörte, setzte sie sich ruckartig auf. Keuchend tastete sie nach einer Waffe.
»Eadaz.« Die schwieligen Hände, die sich auf ihre legten, erschreckten sie. »Eadaz, bleib ruhig.«
Sie starrte in das bärtige Gesicht vor sich. Dunkle Augen, deren äußere Winkel sich nach oben schwangen, genau wie ihre.
»Chassar«, flüsterte sie. »Chassar, ist das hier …?«
»Ja.« Er lächelte. »Du bist zu Hause, meine Kleine.«
Sie drückte ihr Gesicht an seine Brust. Die Feuchtigkeit auf ihren Wimpern tränkte seine Robe.
»Du hast einen langen Weg hinter dir.« Seine Hand strich über ihr Haar, das voller Sand war. »Hättest du geschrieben, bevor du Ascalon verlassen hast, hätte ich dir Parspa sehr viel früher schicken können.«
Ead packte seinen Arm. »Ich hatte keine Zeit! Chassar«, fuhr sie eindringlich fort, »ich muss Euch etwas sagen. Sabran ist in Gefahr. Ich glaube, die Herzöge der Spiritualität wollen sich ihres Throns bemächtigen …!«
»Nichts, was in Inys geschieht, spielt jetzt noch eine Rolle. Die Priorin wird bald mit dir sprechen.«
Dann schlief sie wieder ein. Als sie erwachte, hatte der Himmel die Farbe von erlöschender Glut. In Lasia war es fast das ganze Jahr über warm, aber der abendliche Wind war kühl. Sie stand auf und zog sich eine Brokatrobe über, bevor sie auf den Balkon trat. Dann sah sie ihn.
Den Orangenbaum.
Er erhob sich aus der Mitte des Talkessels, größer und schöner, als sie ihn in Inys geträumt hatte. Weiße Blüten überzogen seine Zweige und das Gras. Um ihn herum lag das Tal des Blutes, in dem Die Mutter den Namenlosen Einen vertrieben hatte. Ead atmete aus.
Sie war zu Hause.
Die unterirdischen Kammern mündeten in dieses Tal. Nur diese Räume, die Sonnenzimmer, gewährten das Privileg, es zu überblicken. Die Priorin hatte sie geehrt, indem sie ihr gestattete, in einem dieser Zimmer zu ruhen. Für gewöhnlich waren sie für Gebete und Geburten reserviert.
Ein 3000 Fuß hoher Wasserfall donnerte von hoch oben hinab. Das war das Brüllen, das sie gehört hatte. Siyāti uq-Nâra hatte diesen Wasserfall Galians Jammern genannt, um seine Feigheit zu verspotten. Tief unter ihr rauschte der Fluss Minara durch das Tal und tränkte die Wurzeln des Baumes.
Ihr Blick strich über das Labyrinth aus Zweigen. Hier und da hingen rötlich glänzende Früchte. Bei diesem Anblick wurde ihr Mund trocken. Kein Wasser hätte den Durst stillen können, den sie jetzt verspürte.
Als sie in das Gemach zurückkehrte, blieb sie stehen und legte ihre Stirn gegen den kühlen rosafarbenen Stein der Türfassung.
Zu Hause.
Als sie ein leises Grollen hörte, sträubten sich ihre Nackenhaare, und sie drehte sich herum. Ein voll ausgewachsener Ichneumon stand in der Tür.
»Aralaq?«
»Eadaz.« Seine tiefe Stimme klang rasselnd wie Kiesel, die aneinanderschlagen. »Du warst noch ein Junges, als ich dich das letzte Mal gesehen habe.«
Sie konnte kaum glauben, wie groß er war. Er hatte einmal auf ihren Schoß gepasst, so winzig war er gewesen. Jetzt war er gewaltig, einen ganzen Kopf größer als sie und mit einem mächtigen Brustkorb. »Du auch.« Sie entspannte sich und lächelte. »Hast du mich den ganzen Tag bewacht?«
»Drei Tage.«
Ihr Lächeln verflog. »Drei«, murmelte sie. »Dann muss ich erschöpfter gewesen sein, als ich dachte.«
»Du musstest zu lange ohne den Orangenbaum leben.«
Aralaq tappte an ihre Seite und stieß seine Nase gegen ihre Hand. Ead lachte, als er mit seiner rauen Zunge über ihr Gesicht fuhr. In ihrer Erinnerung war er noch ein quietschendes Fellbündel, mit riesigen Augen und neugierig herumschnüffelnd, das über seinen eigenen langen Schwanz fiel.
Eine der Schwestern hatte ihn verwaist in der Ersyr gefunden und ihn in die Priorei mitgenommen. Dort wurden Ead und Jondu mit seiner Pflege beauftragt. Sie hatten ihn mit Milch und Brocken von Schlangenfleisch gefüttert.
»Du solltest baden.« Aralaq leckte an ihren Fingern. »Du riechst wie ein Kamel.«
»Vielen Dank«, erwiderte Ead etwas indigniert. »Du dünstest auch ein recht strenges Aroma aus, weißt du?«
Sie nahm die Öllampe von ihrem Nachttisch und folgte ihm.
Er führte sie durch die Korridore und etliche Treppen hinauf. Sie kamen an zwei lasianischen Männern vorbei, Söhne von Siyāti, die den Schwestern aufwarteten. Beide senkten die Köpfe, als Ead an ihnen vorbeiging.
Als sie das Badehaus erreichten, stupste Aralaq sie an der Hüfte an.
»Geh weiter. Ein Diener wird dich anschließend zur Priorin bringen.« Er sah sie mit seinen goldenen Augen ernst an. »Sei vorsichtig in ihrer Gegenwart, Tochter von Zâla.«
Sein Schwanz schwang hin und her, als er sie verließ. Sie sah ihm nach, bevor sie durch die Tür in einen von Kerzen erleuchteten Raum trat.
Dieses Badehaus war wie die Sonnenzimmer zur Priorei offen. Ein Wind ließ den Dampf auf der Oberfläche des Wassers tanzen wie Sprühnebel auf dem Meer. Ead stellte die Öllampe auf den Boden, entledigte sich ihrer Robe und trat in das Becken. Mit jedem Schritt, den sie tiefer hineinging, spülte das Wasser mehr Sand, Schmutz und Schweiß ab, glättete ihre Haut und erfrischte sie.
Sie wusch sich mit Ascheseife, und nachdem sie sich den Sand aus dem Haar gespült hatte, entspannte sie ihre reisemüden Knochen in der Hitze.
Sei vorsichtig.
Ein Ichneumon äußerte niemals leichtfertig eine Warnung. Die Priorin wollte bestimmt wissen, warum sie so sehr darauf beharrt hatte, in Inys zu bleiben.
Du musst immer bei mir bleiben, Ead Duryan.
»Schwester.«
Sie drehte den Kopf zu der Stimme herum. Einer der Söhne von Siyāti stand in der Tür.
»Die Priorin bittet Euch, ihr beim Abendmahl Gesellschaft zu leisten«, sagte er. »Eure Gewänder liegen bereit.«
»Danke.«
In ihrem Gemach ließ sie sich Zeit beim Ankleiden. Die Gewänder, die man ihr zurechtgelegt hatte, waren nicht formell, aber sie entsprachen ihrem neuen Rang als Postulantin. Als sie nach Inys gegangen war, war sie noch Novizin gewesen, aber jetzt hatte sie einen bedeutsamen Auftrag für die Priorei erfolgreich ausgeführt. Dadurch war sie qualifiziert, in den Stand einer Roten Jungfer erhoben zu werden. Und nur die Priorin konnte darüber entscheiden, ob sie dieser Ehre würdig war.
Das erste Kleidungsstück war ein Oberteil aus Meerseide, das wie gesponnenes Gold glänzte und sie bis zum Nabel bedeckte. Dann kam ein bestickter weißer Rock. Sie legte ein Glasband um das Handgelenk ihrer Schwerthand und eine Kette aus Holzperlen um ihren Hals. Sie ließ ihr Haar offen und feucht.
Diese neue Priorin hatte sie nicht mehr gesehen, seit sie siebzehn Jahre alt gewesen war. Als sie sich etwas Wein einschenkte, um ihre Nerven zu beruhigen, fiel ihr Blick auf ihr Spiegelbild in der flachen Klinge ihres Tischmessers.
Volle Lippen. Augen wie Eichenhonig und dicht darüber gerade Brauen. Ihre Nase war schlank an der Wurzel und verbreiterte sich zum Ende hin. All das hatte sie schon gesehen. Doch jetzt erkannte sie zum ersten Mal, wie ihre Fraulichkeit sie verändert hatte. Ihre Wangenknochen waren prominenter, der Babyspeck war verschwunden. Sie wirkte fast ein wenig hager, die Folge der Art von Hunger, die nur Krieger der Priorei verstanden.
Sie sah wie die Frau aus, die sie in ihren jungen Jahren hatte werden wollen. Wie aus Stein gemeißelt.
»Seid Ihr bereit, Schwester?«
Der Mann war wieder da. Ead glättete den Rock.
»Ja«, sagte sie. »Führe mich zu ihr.«
*
Als Cleolind Onjenyu den Orden vom geheimen Baum gegründet hatte, hatte sie ihr Leben als Prinzessin des Südens aufgegeben und war mit ihren Zofen im Tal des Blutes verschwunden. Sie hatten ihren Zufluchtsort aus Trotz gegenüber Galian so genannt. Als er kam, hatten die Ritter der Inseln von Inysca ihre Treueschwüre in Gebäuden geleistet, die man Priorei nannte. Und Galian hatte geplant, die erste südliche Priorei in Yikala zu begründen.
Ich werde eine andere Priorei gründen, hatte Cleolind gesagt, und kein gieriger Ritter soll ihre Gärten besudeln.
Die Mutter selbst war die erste Priorin gewesen. Die zweite war Siyāti uq-Nâra, von der viele Brüder und Schwestern der Priorei abzustammen behaupteten, Ead eingeschlossen. Nach dem Tod einer Priorin wählten die Roten Jungfern die nächste.
Die Priorin saß mit Chassar an einem Tisch. Als sie Ead sah, stand sie auf und nahm ihre Hände.
»Geliebte Tochter.« Sie küsste sie auf die Wange. »Willkommen zurück in Lasia.«
Ead erwiderte den Gruß. »Möge die Flamme Der Mutter dich nähren, Priorin.«
»Und dich ebenfalls.«
Die ältere Frau betrachtete sie mit ihren haselnussbraunen Augen und registrierte die Veränderungen, bevor sie sich wieder setzte.
Mita Yedanya, die ehemalige Munguna, wie die mutmaßliche Nachfolgerin genannt wurde, musste jetzt in ihrem fünften Jahrzehnt sein und war gebaut wie ein Breitschwert. Sie hatte breite Schultern und einen langen Körper. Wie Ead war sie von lasianischer und Ersyri-Abstammung, und ihre Haut war so dunkel wie vom Meerwasser getränkter Sand. In ihrem schwarzen mit silbernen Strähnen durchzogenen Haar steckte eine Holznadel.
Sarsun zwitscherte einen Gruß von seiner Stange. Chassar hatte bereits eine halbe Portion Yogush mit geschmortem Lamm verzehrt. Er hielt mit dem Essen inne und lächelte sie an. Ead setzte sich neben ihn, und ein Sohn von Siyāti stellte eine Schüssel mit Erdbirneneintopf vor sie hin.
Schalen mit Speisen wurden herumgereicht. Weißer Käse, in Honig getauchte Datteln, Palmäpfel und Aprikosen, heißes Fladenbrot mit Kichererbsenpüree, Reis mit Zwiebeln und Eiertomaten, Fisch, dampfende Muscheln, rote aufgeschnittene und gewürzte Kochbananen. Speisen, nach denen sie sich fast ein Jahrzehnt lang gesehnt hatte.
»Ein Mädchen hat uns verlassen, und eine Frau ist zurückgekehrt«, sagte die Priorin jetzt, während der Sohn von Siyāti Ead so viele Speisen auf den Teller häufte, wie darauf passten. »Ich dränge dich nicht gern, aber wir müssen die Umstände erfahren, unter denen du Inys verlassen hast. Chassar hat mir gesagt, du wurdest verbannt.«
»Ich bin geflüchtet, um einer Verhaftung zu entgehen.«
»Was ist geschehen, Tochter?«
Ead bediente sich aus einem Krug mit Dattelpalmenwein, um etwas Zeit zum Nachdenken herauszuschinden.
Sie begann mit Truyde utt Zeedeur und ihrer Affäre mit dem Pagen. Dann schilderte sie, wie Triam Sulyard nach Osten gesegelt war, erzählte ihnen von der Tafel von Rumelabar und der Theorie, die Truyde dazu entwickelt hatte. Eine Geschichte von kosmischer Balance – von Feuer und Sternen.
»Das könnte von Bedeutung sein, Priorin«, warf Chassar nachdenklich ein. »Es gibt Zeiten des Überflusses, wenn der Baum reichlich Früchte trägt – und in einer solchen Epoche befinden wir uns. Und es gibt Perioden, wo die Früchte knapper werden. Es hat zwei solcher Zeiten des Mangels gegeben, eine davon direkt nach dem Zeitalter der Trauer. Diese Theorie eines kosmischen Gleichgewichts könnte das durchaus erklären.«
Die Priorin schien darüber nachzudenken, äußerte ihre Meinung jedoch nicht.
»Fahre fort, Eadaz«, sagte sie stattdessen.
Ead gehorchte. Sie erzählte ihnen von der Hochzeit, dem Mord, dem Kind und dem Verlust. Sie schilderte die Herzöge der Spiritualität und berichtete, welche Absichten Karr ihr bezüglich Sabrans unterstellt hatte.
Allerdings ließ sie einiges aus.
»Jetzt kann sie nicht mehr empfangen, und die Legitimität ihrer Regentschaft ist bedroht. Mindestens eine Person im Palast, dieser sogenannte Mundschenk, hat versucht, sie zu ermorden oder zumindest einzuschüchtern«, schloss Ead ihren Bericht. »Wir müssen mehr Schwestern dorthin senden, sonst werden die Herzöge der Spiritualität versuchen, ihren Thron zu usurpieren. Da sie jetzt ihr Geheimnis kennen, ist sie ihrer Willkür ausgeliefert. Sie könnten dieses Wissen nutzen, um sie zu erpressen, oder sie einfach vom Thron stoßen.«
»Was einen Bürgerkrieg zur Folge hätte.« Die Priorin schürzte die Lippen. »Ich habe unserer letzten Priorin gesagt, dass so etwas früher oder später passieren würde, aber sie wollte nichts davon wissen.« Sie schnitt ein Stück von ihrer Zuckermelonenscheibe ab. »Wir werden uns nicht mehr in die Angelegenheiten der Inysh einmischen.«
Ead glaubte, sich verhört zu haben.
»Priorin«, sagte sie, »darf ich fragen, was Ihr damit meint?«
»Ich meine genau das, was ich gesagt habe. Dass die Priorei sich nicht länger in die Angelegenheiten von Inys einmischt.«
Bestürzt sah Ead Chassar an, der jedoch plötzlich vollkommen auf seine Mahlzeit konzentriert zu sein schien.
»Priorin …« Ead musste sich anstrengen, ihre Stimme zu kontrollieren. »Ihr könnt doch nicht beabsichtigen, das Tugendtum diesem unsicheren Schicksal einfach auszuliefern?«
Sie bekam keine Antwort.
»Wenn es allgemein bekannt wird, dass Sabran kein Kind mehr empfangen kann, keine Tochter, wird das nicht nur zu einem Bürgerkrieg in Inys führen, sondern das ganze Tugendtum wird von einem sehr gefährlichen Schisma gespalten werden. Die Herzöge der Spiritualität werden ihre eigenen Fraktionen hinter sich scharen. Möglicherweise mischen sich sogar die Provinzfürsten in diesen Kampf um den Thron ein. Die Propheten des Untergangs werden durch die Städte ziehen, und inmitten dieses Chaos wird Fýredel die Macht an sich reißen!«
Sie betete still, in ihrem Herzen.
Die Nacht verstummte. Und dann, ganz langsam, als würde sie im Wasser versinken, schwebte eine goldene Frucht von hoch oben herab.
Sie fing sie mit beiden Händen auf. Mit einem schluchzenden Seufzer grub sie die Zähne in das Fruchtfleisch.
Ein Gefühl, als würde sie sterben und wiedergeboren, durchströmte sie. Das Blut des Baums lief ihr über die Zunge und linderte das Brennen in ihrer Kehle. Ihre Adern verwandelten sich in flüssiges Gold. Ebenso schnell, wie die Frucht ein Feuer erstickte, entfachte sie ein anderes, ein Feuer, das durch ihr ganzes Wesen loderte. Und die Hitze brach sie auf wie den Lehm, aus dem sie letztlich bestand. Ihr Leib schrie in die Welt hinaus.
Und die Welt um sie herum antwortete.