Buch
Sancia ist eine Diebin – und zwar eine verdammt gute. Daher ist sie im ersten Moment auch begeistert, als sie ihre neueste Beute betrachtet: ein Schlüssel, der jedes Schloss öffnet. Doch dann wird ihr klar, was das bedeutet. Man wird sie jagen! Jedes der mächtigen Handelshäuser wird dieses Artefakt besitzen wollen. Denn die Magie des Schlüssels ist nicht nur alt und mächtig. Die Person, die sie kontrolliert, könnte die Welt verändern. Plötzlich ist Sancia auf der Flucht. Um zu überleben, muss sie nicht nur lernen, die wahre Macht des Artefakts zu beherrschen. Sie muss vor allem alte Feinde zu neuen Verbündeten machen …
Autor
Robert Jackson Bennett wurde bereits mehrfach für seine Fantasy-Romane ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Award, dem Shirley Jackson Award und dem Philip K. Dick Award. Außerdem war er Finalist beim World Fantasy Award, dem Locus Award, dem Hugo Award und bei dem British Fantasy Award. Neben den Kritikern und zahllosen Lesern gehörten auch die größten seiner Autorenkollegen zu seinen Fans, zum Beispiel Brandon Sanderson und Peter V. Brett. Robert Jackson Bennett lebt mit seiner Frau und seinen Söhnen in Austin, Texas.
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DIE DIEBIN
Deutsch von Ruggero Leò
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Foundryside (The Founders Trilogy 1)« bei Crown, New York.
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Copyright der Originalausgabe © 2018 by Robert Jackson Bennett
Published by arrangement with Robert Jackson Bennett
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25719-4
V001
www.blanvalet.de
I
Das Gemeinviertel
Alle Dinge haben einen Wert. Manchmal bezahlt man dafür mit Münzen. Ein andermal mit Zeit und Schweiß. Und ab und zu zahlt man auch mit Blut.
Die Menschheit scheint versessen darauf, die letztgenannte Währung zu nutzen. Und uns wird erst bewusst, wie viel wir davon ausgeben, wenn wir mit dem eigenen Blut zahlen.
– König Ermiedes Eupator, »Über die Eroberung«
Sancia Grado lag mit dem Gesicht im Schlamm, eingezwängt unter der Holzempore an der alten Steinwand, und gestand sich ein, dass der Abend nicht so gut verlief wie erhofft.
Dabei hatte er ganz annehmbar begonnen. Dank ihrer gefälschten Ausweise hatte sie es aufs Michiel-Gelände geschafft, und zwar mühelos – die Wachen an den ersten Toren hatten sie kaum eines Blickes gewürdigt.
Dann hatte sie den Abwassertunnel erreicht, und von da an war alles … weniger mühelos verlaufen. Zwar war ihr Plan tatsächlich aufgegangen – der Kanal hatte ihr ermöglicht, sich unter allen inneren Toren und Mauern hindurchzuschleichen, bis dicht an die Michiel-Gießerei –, doch hatten ihre Informanten versäumt zu erwähnen, dass es im Tunnel nicht nur von Tausendfüßlern und Schlammottern wimmelte, sondern es dort auch Scheiße im Überfluss gab, die von Menschen und Pferden stammte.
Das hatte Sancia zwar nicht gefallen, doch kam sie damit zurecht. Sie war nicht zum ersten Mal durch Unrat gekrochen, den Menschen hinterließen.
Durch einen Abwasserkanal zu robben führt jedoch leider dazu, dass man dabei einen starken Geruch annimmt. Während Sancia durch die Höfe der Gießerei schlich, hielt sie sich darum auf der windabgewandten Seite der Wachtposten. Als sie ans Nordtor gelangte, hatte aus der Ferne ein Wächter gerufen: »O mein Gott, was ist das für ein Gestank?«, woraufhin er pflichtbewusst nach der Ursache für den Geruch gesucht hatte, sehr zu Sancias Entsetzen.
Es war ihr jedoch gelungen, unentdeckt zu bleiben, aber sie hatte sich auf dem Gelände in eine Sackgasse zurückziehen und unter dem verwitterten Holzpodest verstecken müssen, das früher vermutlich ein alter Wachtposten gewesen war. Rasch war ihr klar geworden, dass ihr dieses Versteck keine Fluchtmöglichkeit bot: In der Sackgasse gab es nichts außer der Empore, Sancia und dem Wächter.
Sie stierte auf die schlammigen Stiefel des Wächters, der schnüffelnd an der Empore vorbeischritt, wartete ab, bis er vorbei war, und steckte den Kopf hinaus.
Der Mann war groß, trug eine glänzende Stahlhaube, Schulterpanzer, Armschienen sowie einen Lederkürass, in den das Wahrzeichen der Michiel-Handelsgesellschaft geprägt war: die brennende Kerze im Fenster. Am alarmierendsten war, dass er ein Rapier am Gürtel trug.
Sancia beäugte die Waffe. Als sich der Mann entfernte, war ihr, als hörte sie ein Wispern im Kopf, ein fernes Säuseln. Sie hatte damit gerechnet, dass die Klinge skribiert war, und das leise Wispern bestätigte das. Ihr war klar, dass eine skribierte Klinge sie mühelos in zwei Hälften spalten konnte.
Verdammt dumm von mir, mich derart in die Enge treiben zu lassen, dachte sie und zog sich unter die Empore zurück. Dabei hat meine Mission gerade erst begonnen.
Sie musste es zur Fahrbahn schaffen, die schätzungsweise gerade mal siebzig Schritt entfernt lag, hinter der gegenüberliegenden Mauer. Je eher sie dort ankäme, desto besser.
Sie erwog ihre Möglichkeiten. Sie hätte auf den Mann schießen können, immerhin hatte sie ein kleines Bambusblasrohr und ein paar kleine, aber teure Pfeile dabei, die mit dem Gift des Dolorspinafischs beträufelt waren: eine tödliche Plage, die in den Tiefen des Ozeans lebte. Hinreichend verdünnt, schickte das Gift sein Opfer nur in einen tiefen Schlaf, aus dem es einige Stunden später mit fürchterlichen Kopfschmerzen erwachte.
Dummerweise trug der Wächter eine ziemlich gute Rüstung. Sancia würde einen perfekten Treffer landen müssen. Sie hätte ihn in die ungeschützte Achselhöhle schießen können, doch das Risiko, die Stelle zu verfehlen, war zu hoch.
Sie konnte auch versuchen, ihn zu töten. Sancia hatte ihr Stilett dabei und war gut im Anschleichen, zudem war sie für ihre geringe Körpergröße recht stark.
Allerdings taugte Sancia weit mehr zur Diebin denn zur Mörderin, und sie hatte es mit dem ausgebildeten Wachmann eines Handelshauses zu tun. Keine sonderlich guten Erfolgsaussichten.
Darüber hinaus war Sancia nicht zur Michiel-Gießerei gekommen, um Kehlen aufzuschlitzen, Gesichter einzuschlagen oder Schädel zu zertrümmern. Sie war hier, um ihren Auftrag zu erledigen.
Eine Stimme hallte durch die Gasse. »Ahoi, Niccolo! Was machst du so weit von deinem Posten entfernt?«
»Ich glaube, es ist schon wieder etwas im Abwasserkanal verendet. Hier stinkt’s nach Tod!«
»Oh, warte mal«, erwiderte die Stimme. Schritte näherten sich.
Ach verdammt, dachte Sancia. Jetzt sind es schon zwei.
Sie musste einen Ausweg finden, und zwar schnell.
Sie schaute zur Steinwand hinter sich und dachte nach. Dann seufzte sie, kroch hinüber und zögerte.
Sie wollte sich nicht jetzt schon verausgaben. Doch ihr blieb keine Wahl.
Sancia zog den linken Handschuh aus, drückte die Hand auf die dunklen Mauersteine, schloss die Augen und setzte ihr Talent ein.
Die Wand sprach zu ihr.
Sie erzählte ihr vom Rauch der Gießerei, von heißem Regen, kriechendem Moos und den leisen Schritten Tausender Ameisen, die im Laufe der Jahrzehnte über ihr fleckiges Gesicht gekrabbelt waren. Die Oberfläche der Mauer erblühte in Sancias Geist, und sie nahm jeden Riss, jeden Spalt, jeden Mörtelklecks und jeden verschmutzten Mauerstein wahr.
All diese Informationen schossen Sancia im selben Moment durch den Kopf, in dem sie die Wand berührte. Und in diesem plötzlichen Wissensschwall fand sie auch das, worauf sie gehofft hatte.
Lose Steine. Vier Stück, groß, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Und dahinter lag ein geschlossener, dunkler Raum, ungefähr einen Meter dreißig breit und hoch. Augenblicklich wusste sie, wo er sich befand, als hätte sie die Wand selbst gemauert.
Hinter der Wand ist ein Gebäude, dachte sie. Ein altes. Gut.
Sancia nahm die Hand von der Mauer. Zu ihrem Schrecken fing die große Narbe auf ihrer rechten Kopfseite an zu schmerzen.
Ein schlechtes Zeichen. Sie würde ihr Talent in dieser Nacht noch viel öfter einsetzen müssen.
Sie streifte sich wieder den Handschuh über und kroch zu den losen Steinen. Anscheinend hatte sich hier früher eine kleine Luke befunden, die man vor Jahren zugemauert hatte. Sie hielt inne und lauschte – die beiden Wächter liefen offenbar schnüffelnd durch die Gasse, um zu ergründen, woher der Gestank kam.
»Ich schwör’s bei Gott, Pietro«, sagte einer von ihnen, »das roch wie die Scheiße des Teufels!« Gemeinsam schritten die beiden die Gasse entlang.
Sancia packte den obersten losen Stein und zog ganz vorsichtig daran. Er gab nach und ließ sich ein Stück herausziehen.
Sie blickte zu den Wächtern zurück, die sich noch immer zankten.
Rasch und leise zog Sancia die schweren Steine aus der Wand und legte sie in den Schlamm, einen nach dem anderen. Dann spähte sie in den muffigen Raum dahinter.
Darin war es dunkel, doch als nun ein wenig Licht hineinfiel, sah sie viele winzige Augen in den Schatten und jede Menge kleiner Kothäufchen auf dem Steinboden.
Ratten, dachte sie. Und zwar viele.
Dagegen konnte sie nichts tun. Ohne einen Gedanken zu verschwenden, kroch sie in den engen, dunklen Raum.
Die Ratten gerieten in Panik und kletterten die Wände hoch, flüchteten in Risse und Spalten zwischen den Steinen. Einige flitzten über Sancia hinweg, manche versuchten sie zu beißen, doch Sancia trug, was sie als ihre »Diebeskluft« bezeichnete: einen selbstgemachten Aufzug mit Kapuze, der aus dicker grauer Wolle und altem schwarzem Leder bestand. Er bedeckte ihre ganze Haut und war recht schwer zu durchdringen.
Sie zwängte die Schultern durch das Einstiegsloch, schüttelte die Ratten ab oder schlug sie beiseite – doch dann erhob sich vor ihr ein größeres Tier auf die Hinterbeine, gut und gern zwei Pfund schwer, und fauchte sie bedrohlich an.
Sancias Faust fuhr herab und zermalmte den Schädel der Ratte auf dem Steinboden. Sie lauschte, ob die Wächter sie gehört hatten, und als sie zufrieden feststellte, dass dem nicht so war, schlug sie zur Sicherheit noch einmal auf die große Ratte ein. Dann kroch sie ganz in den Raum, griff vorsichtig nach draußen und schloss die Öffnung wieder mit den Mauersteinen.
Geht doch, dachte sie, schüttelte eine weitere Ratte ab und klopfte sich die Kothaufen von der Kleidung. Das lief gar nicht mal so schlecht.
Sie schaute sich um. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Finsternis. Anscheinend befand sie sich in einem Kaminofen, in dem die Arbeiter der Gießerei vor langer Zeit ihr Essen gekocht hatten. Der Kamin war mit Brettern vernagelt. Über ihr war der offene Schornstein – gleichwohl erkannte sie, dass jemand versucht hatte, auch die Kaminöffnung mit Brettern zu verschließen.
Sie nahm ihr Umfeld in Augenschein. Der Schornstein war recht schmal. Genau wie Sancia. Und sie war gut darin, sich durch enge Schächte zu winden.
Mit einem Grunzen sprang sie hoch, verkeilte sich mit Schultern und Füßen in der Öffnung und begann, den Schornstein hochzuklettern, Zentimeter um Zentimeter. Sie war schon fast halb oben, als sie unter sich ein Klirren vernahm.
Sie erstarrte und blickte hinunter. Ein dumpfer Schlag erklang, gefolgt von einem Knall, dann fiel Licht in den Ofen unter ihr.
Die Stahlhaube eines Wächters tauchte auf. Der Mann beäugte das verlassene Rattennest und rief: »Uh! Sieht aus, als hätten es sich die Ratten hier gemütlich gemacht. Daher muss auch der Gestank kommen.«
Sancia schaute auf den Wächter hinab. Sobald er den Blick hob, würde er sie entdecken.
Der Mann besah sich die große tote Ratte. Sancia bemühte sich nach Kräften, nicht zu schwitzen, damit keine Tropfen auf seinen Helm fielen.
»Dreckige Viecher«, murrte die Wache. Dann zog er den Kopf zurück.
Sancia wartete, nach wie vor erstarrt – sie konnte die beiden unten reden hören. Dann entfernten sich ihre Stimmen langsam.
Sie stieß einen Seufzer aus. Das ist ganz schön riskant, nur um zu einem verfluchten Frachtwagen zu gelangen.
Sie erreichte die Schornsteinöffnung und hielt inne. Die Bretter gaben widerstandslos nach, als sie dagegen drückte. Sancia kletterte aufs Dach des Gebäudes, legte sich auf den Bauch und sah sich um.
Zu ihrer Überraschung befand sich die Karrenfahrbahn gleich vor dem Gebäude – Sancia war genau da, wo sie sein musste. Sie beobachtete, wie ein Karren den verschlammten Weg bis zum Ladedock hinabfuhr, das sie als hellen Lichtfleck auf dem dunklen Gießereigelände wahrnahm. Am Dock herrschte reges Treiben. Die Gießerei ragte über dem Ladedock auf, ein großer, beinahe fensterloser Ziegelbau, dessen sechs dicke Schornsteine Rauch in den Nachthimmel spien.
Sie robbte zum Dachrand, zog erneut den Handschuh aus und legte die bloße Hand auf die Fassade. Die Wand erblühte in ihrem Geist, jeder schiefe Stein, jeder Moosklumpen – und jeder Vorsprung oder Spalt, an dem sie beim Klettern Halt finden würde.
Sie ließ sich über den Rand des Daches hinab und begann mit dem Abstieg. Ihr Kopf pochte, ihre Hände schmerzten, und sie war völlig verdreckt. Ich hab noch nicht einmal die erste Etappe erreicht und bin schon fast aus eigener Schuld gestorben.
»Zwanzigtausend«, wisperte sie und setzte den Abstieg fort. »Zwanzigtausend Duvoten.« Wahrlich ein fürstlicher Lohn. Für zwanzigtausend Duvoten war Sancia bereit, eine Menge zu erdulden und viel Blut zu opfern. Sogar mehr, als sie hatte.
Die Sohlen ihrer Stiefel berührten den Boden, und sie rannte los.
Die Fahrbahn der Frachtkarren war kaum beleuchtet, das Ladedock voraus indes erstrahlte im Licht von Feuerkörben und skribierten Laternen. Selbst zu dieser Stunde wimmelte es von hin und her rennenden Arbeitern, die die aufgereihten Karren vor dem Dock entluden. Eine Handvoll Wachen sah ihnen dabei gelangweilt zu.
Sancia drückte sich an die Wand und schlich näher. Ein Rumpeln erklang, sie erstarrte, wandte den Kopf ab und presste sich noch fester an die Wand.
Ein weiterer großer Karren donnerte die Fahrbahn entlang und bespritzte sie mit grauem Schlamm. Als er vorbeigerollt war, blinzelte sie sich den Dreck aus den Augen und sah ihm nach. Der Karren schien aus eigener Kraft zu fahren: Weder zog ihn ein Pferd noch ein Esel oder irgendein anderes Tier.
Unbeeindruckt sah Sancia die Fahrbahn hinauf. Es wäre eine Schande, dachte sie, wenn ich mich durch Abwasser und einen Haufen Ratten gekämpft hätte, nur um wie ein Straßenköter von einem Karren überrollt zu werden.
Sie huschte weiter, näherte sich den Frachtkarren und besah sie sich. Einige wurden von Pferden gezogen, die meisten jedoch nicht. Sie kamen aus ganz Tevanne hierher – von den Kanälen, von anderen Gießereien oder vom Hafen. Und am meisten interessierte sich Sancia in dieser Nacht für den Hafen.
Sie duckte sich unter die Rampe des Ladedocks und schlich zu den aufgereihten Karren. Als sie sich ihnen näherte, hörte sie ihr Wispern in ihrem Geist.
Gemurmel. Geschnatter. Gedämpfte Stimmen. Nicht von den Pferdekarren – die sprachen nicht zu ihr –, nur die skribierten.
Ihr Blick fiel auf die Räder des Karrens vor ihr, und da sah sie es.
Die Innenseiten der großen Holzräder waren mit einer Art mattem, durchgehendem Text beschriftet, der aus silbrigem, glänzendem Metall zu bestehen schien – »Sigillums« oder »Sigillen«, wie Tevannes Elite diese Zeichen nannte. Aber die meisten nannten sie schlicht »Skriben«.
Zwar war Sancia nicht im Skribieren geschult, doch gehörte es in Tevanne zum Allgemeinwissen, wie skribierte Karren funktionierten: Die Befehle, die man auf die Räder schrieb, überzeugten diese davon, auf abschüssigem Gelände zu fahren, und da die Räder das wirklich glaubten, fühlten sie sich dazu verpflichtet, bergab zu rollen – selbst, wenn der Karren gar keinen Hügel hinabrumpelte, sondern über eine völlig ebene (wenn auch stark verschlammte) Fahrbahn am Kanal fuhr.
Der Fahrer saß im Inneren und bediente die Steuerung, die den Rädern Anweisungen gaben wie »Oh, wir sind jetzt auf einem steilen Hügel, dreht euch besser schneller« oder »Moment, nein, der Hügel flacht ab, lasst uns das Tempo drosseln« oder »Hier sind keine Hügel mehr, also haltet einfach an«. Und die Räder, völlig im Bann der Skriben, gehorchten freudig, wodurch man weder Pferde, Esel, Ziegen noch irgendwelche anderen stumpfsinnigen Kreaturen benötigte, die die Menschen durch die Gegend schleppten.
So funktionierten Skriben: Sie waren Anweisungen, die man auf geistlose Objekte schrieb, um sie dazu zu bringen, der Realität auf bestimmte Weise nicht länger zu gehorchen.
Sancia hatte Geschichten darüber gehört, dass man die Räder der ersten skribierten Karren nicht ordentlich kalibriert hatte. In einer dieser Geschichten hatten die Vorderräder gedacht, es würde in ihrer Richtung bergab gehen, während die Hinterräder glaubten, dies wäre in ihrer Richtung der Fall, wodurch der Karren zerborsten war. Andere Räder hatten ihre Karren in phänomenalem Tempo durch die Straßen Tevannes rollen lassen, was für jede Menge Chaos, Zerstörung und sogar Tote gesorgt hatte.
Und das bedeutete, dass es – obwohl skribierte Karrenräder eine sehr fortschrittliche Erfindung waren – nicht die klügste Idee war, seinen Abend in ihrer Nähe zu verbringen.
Sancia kroch zu einem Rad. Sie erschauderte, als die Skriben immer lauter in ihren Ohren wisperten. Das war womöglich ihr seltsamstes Talent – sie hatte noch nie jemanden getroffen, der Skriben hören konnte –, aber es war erträglich.
Sie ignorierte die Stimmen, schob ihren rechten Zeige- und Mittelfinger durch die Schlitze im Handschuh, hielt die Fingerspitzen in die feuchte Luft, dann berührte sie das Karrenrad mit den Fingern und fragte es, was es wusste.
Und ähnlich wie die Mauer in der Gasse antwortete das Rad. Es erzählte ihr von Asche, Stein, Flammen, Funken und Eisen.
Das ist der falsche, dachte Sancia. Der Karren kam vermutlich von einer Gießerei, und an Gießereien war sie heute nicht interessiert.
Sie spähte hinter dem Karren hervor, vergewisserte sich, dass die Wachen sie nicht gesehen hatten, und huschte die Reihe entlang zum nächsten Vehikel.
Sie berührte auch dort ein Karrenrad mit den Fingerspitzen und fragte es, was es wusste.
Das Rad sprach von weichem Lehmboden, vom sauren Geruch nach Mist und vom Duft gemähter Pflanzen.
Ein Bauernhof, vielleicht. Nein, dieser Karren ist es auch nicht.
Sie huschte zum nächsten Fahrzeug – diesmal zu einem guten alten Pferdekarren –, berührte ein Rad und fragte es, was es wusste.
Das Rad erzählte von Asche, Feuer, Hitze und den zischenden Funken schmelzenden Erzes.
Der hier kommt von einer anderen Gießerei, dachte sie. Hoffentlich hat sich Sarks Informant nicht geirrt. Denn wenn alle Karren hier von Gießereien oder Bauernhöfen kommen, ist der ganze Plan schon jetzt zum Scheitern verurteilt.
Das Pferd schnaubte missbilligend, als Sancia zum nächsten Karren schlich. Sie war nun am vorletzten in der Reihe angekommen, daher gingen ihr allmählich die Optionen aus.
Sie streckte die Hand aus, berührte eins der Räder und fragte es, was es wusste.
Dieses Rad erzählte von Kies, Salz, Seetang, dem Duft der Ozeangischt und nassen Holzspanten, die über den Wellen schaukelten …
Sancia nickte erleichtert. Das ist er.
Sie griff in eine Tasche und zog ein seltsam aussehendes Objekt heraus: ein kleines Bronzeblech mit vielen Skriben. Dann holte sie auch ein Töpfchen mit Teer hervor, bestrich die Rückseite des Blechs damit und klebte es an die Unterseite des Karrens.
Sie hielt inne und dachte daran, was ihr Schwarzmarktkontakt ihr gesagt hatte. »Kleb das Leitblech an das Objekt, das du verfolgen willst, und sieh zu, dass es gut hält. Du willst nicht, dass es abfällt.«
»Aber … was passiert, wenn es auf der Straße oder woanders abfällt?«, hatte Sancia gefragt.
»Tja, dann stirbst du. Wahrscheinlich ziemlich grausam.«
Sancia drückte das Blech noch fester an. Bring mich nicht um, verrogelt noch mal, dachte sie und funkelte das Blech finster an. Dieser Auftrag ist ohnehin gefährlich genug.
Dann huschte sie zwischen den anderen Karren hindurch, zurück zur Fahrbahn und den Höfen der Gießerei.
Diesmal war sie vorsichtiger und hielt sich penibel auf der windabgewandten Seite der Wachen. Rasch erreichte sie den Abwassertunnel. Jetzt müsste sie nur noch durchs stinkende Wasser zurückstapfen und zum Hafen.
Dorthin würde auch der Karren fahren, den sie manipuliert hatte. Seine Räder hatten von der Meeresgischt, von Kies und salziger Luft gesprochen – Dinge, die ein Karren nur vom Hafen kennen konnte. Hoffentlich würde er ihr auf das streng bewachte Gelände helfen.
Denn irgendwo im Hafen gab es einen Tresor. Und ein unvorstellbar reicher Kunde hatte Sancia damit beauftragt, einen bestimmten Gegenstand daraus zu stehlen, für eine undenkbar hohe Geldsumme.
Sancia verdingte sich gern als Diebin. Sie war gut darin. Doch nach dem heutigen Abend würde sie vielleicht nie wieder stehlen müssen.
»Zwanzigtausend«, murmelte sie. »Zwanzigtausend. Zwanzigtausend herrliche, herrliche Duvoten.«
Sie ließ sich in das Kanalrohr hinab.