Buch
Martin Juncker ist einer der besten Mordermittler Dänemarks, glücklich verheiratet, Vater von zwei Kindern. Aber als er einen verhängnisvollen Fehler begeht, wird Juncker in die verschlafene Provinzstadt Sandsted versetzt. Dort soll er eine kleine Polizeistation leiten und sich gleichzeitig um seinen dementen Vater kümmern. Alles nicht weiter dramatisch, doch dann landet ein spektakulärer Mordfall auf seinem Schreibtisch. Ein Mann wird brutal erschlagen aufgefunden, seine Ehefrau ist verschwunden. Keiner hat etwas gesehen, es gibt keine Spuren, kein ersichtliches Motiv.
Junckers ehemalige Kollegin Signe Kristiansen arbeitet noch immer in ihrem gewohnten Job in Kopenhagen. Sie freut sich auf ein beschauliches Weihnachtsfest mit der Familie, als eine Bombe auf dem Weihnachtsmarkt in der Innenstadt explodiert. Signe steht an der Spitze der Jagd auf die Täter, doch die Spuren verlaufen im Sand – bis ein anonymer Tipp den Fall in eine Richtung lenkt, die ihre wildesten Vorstellungen übersteigt.
Autoren
Janni Pedersen ist Moderatorin und Kriminalreporterin bei TV2. 2018 wurde sie mit dem News Host of the Year Award ausgezeichnet.
Kim Faber ist Architekt und Journalist bei der Zeitung Politiken.
Das bekannte dänische Journalistenpaar hat mit »Winterland« einen explosiven und packenden Kriminalroman über Terror, Gewalt, Trauer und Einsamkeit geschrieben. Ihr Debütroman ist der Auftakt einer Reihe um das dänische Ermittlerduo Martin Juncker und Signe Kristiansen, gefolgt vom Roman »Todland«, der ebenfalls die dänische Bestsellerliste im Sturm eroberte.
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Ein Fall für Juncker & Kristiansen
Deutsch von Franziska Hüther
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Vinterland« bei Politikens Forlag, Kopenhagen.
Die Arbeit der Übersetzerin wurde vom Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert.
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Copyright der Originalausgabe © Kim Faber & Janni Pedersen and JP/Politikens Hus A/S 2019 in agreement with Politiken Literary Agency
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2021 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: © www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © DEEOL by plainpicture/Frederik Schlyter/p312m1495326
JaB · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25792-7
V002
www.blanvalet.de
Für Nana, Ada, Laura und Jon
Prolog
Der Sommerwind streicht ihr warm über das Gesicht. Leicht wie eine Feder geht sie auf bloßen Füßen über die Wiese. Das Gras ist feucht vom Morgentau, irgendwo im Garten zwitschert eine Amsel, und sie spürt eine Freude wie seit Ewigkeiten nicht mehr.
»Ich bin«, sagt sie zu sich selbst, ohne richtig zu wissen, warum. Dann wiederholt sie die Worte mit einem Lächeln, einfach, weil sie so schön klingen. »Ich bin.«
In der Ferne hört sie ein Geräusch, wie von einem Hammer, der mit Wucht auf eine Holzplatte geschlagen wird. Sie sieht sich um. Niemand ist hier. Aber da ist es wieder. Näher diesmal. Sie fühlt Angst in sich aufsteigen, spürt, wie das Geräusch sie packt und in die Höhe zieht. Sie versucht dagegen anzukämpfen, das Bild des Gartens verschwimmt, sie greift danach, doch kann es nicht fassen. In einer langsamen Aufwärtsspirale schwebt sie durch die Schichten zwischen Traum und Wirklichkeit und erwacht mit einem Ruck.
Sie reißt die Augen auf und starrt mit klopfendem Herzen in die Dunkelheit. Ist da jemand? Sie lauscht. Abgesehen vom sanften Rauschen des Windes, der durch die nackten Zweige der Bäume im Hof fährt, ist es totenstill.
Da hört sie es wieder. Drei wütende Schläge. Und plötzlich weiß sie, was es ist. Jemand klopft an der Tür.
Es ist ein fremder Laut. In den vier Jahren, die sie hier im Haus wohnen, hat sie den Türklopfer nur einige wenige Male gehört, normalerweise bekommen sie keinen Besuch (früher hatten sie Freunde, jetzt nicht mehr). Sie schaut zum Nachttisch. Die grünen Ziffern des Radioweckers zeigen 04.16 Uhr.
Wer sollte hier mitten in der Nacht auftauchen? Die Polizei? Eine Zeit lang haben sie ihn beobachtet, so viel weiß sie, aber in den letzten Jahren nicht mehr. Wer dann? Ein Einbrecher?
Aber würden Einbrecher anklopfen?
Sie streckt den Arm aus und rüttelt an ihrem Mann. Er liegt mit dem Rücken zu ihr und schläft tief, wie sie an seinen schnarchenden Atemzügen erkennen kann. Sie rüttelt erneut an ihm, fester diesmal.
»Was?«, murmelt er schlaftrunken.
»Da klopft jemand. Jetzt wach schon auf!«, sagt sie verärgert.
Er dreht sich umständlich um, stützt sich auf die Ellbogen und bringt seinen großen Körper in eine halb aufrechte Position. »Klopft? Was redest du da?«
Er ist noch nicht richtig wach, die Worte kommen undeutlich aus seinem Mund, dennoch schwingt Unruhe in seiner Stimme mit, vielleicht sogar Angst. Nervös schüttelt sie den Kopf. Was ist nur los?
»Jemand klopft an der Tür. Geh endlich und mach auf.« Ihre Stimme überschlägt sich.
Er seufzt, schwingt die Beine über die Bettkante und steht auf. Schwankt kurz, bevor er das Gleichgewicht wiederfindet und mit schweren Schritten in den Flur geht. Er schließt die Schlafzimmertür hinter sich.
Sie hört, wie er den Schlüssel im Eingangsschloss dreht und die Klinke herunterdrückt. Dann wird die Tür mit einem Ruck aufgestoßen. Undeutliches Stimmengewirr dringt zu ihr durch, jemand spricht, und ihr Mann ruft etwas.
Es klingt, als ob ihn jemand packt und zurück ins Haus drängt. Mit einem dumpfen Dröhnen poltert er gegen die Wand, und er stöhnt auf.
Einen Moment ist sie wie gelähmt. Dann krampft sich ihr Zwerchfell panisch zusammen. Ihr Haus liegt einsam am Waldrand. Die nächste Nachbarin, mit der sie noch nie ein Wort gesprochen hat, lebt mehrere Hundert Meter entfernt. Außerdem ist es eine alte Frau, was sollte sie schon ausrichten?
Die Hunde, schießt es ihr durch den Kopf. Die Hunde!
Sie reißt die Nachttischschublade auf und wühlt darin nach dem Pfefferspray. Dann schlägt sie die Decke zur Seite, springt auf und öffnet vorsichtig die andere Schlafzimmertür, die zum Wohnzimmer führt. Niemand zu sehen. So schnell und so leise, wie ihr einhundertdrei Kilogramm schwerer Körper es zulässt, bewegt sie sich durch den Raum zur Terrassentür.
Sie drückt den Griff nach unten, fast lautlos, öffnet die Tür und läuft hinaus, in Richtung Zwinger. Spürt kaum die beißende Kälte und die Kieselsteine, die in ihre nackten Fußsohlen schneiden.
Die beiden großen, muskulösen Hunde stürmen aus ihrer Hütte und schlagen bei ihrem Anblick an. Sie haben immer schon ihm gehört, nur ihm, und sie hat Angst vor ihnen. Aber jetzt muss sie sie loslassen. Jetzt müssen die Hunde sie beide retten. Das Schloss ist eisig vom Frost, das Metall fühlt sich in ihren warmen Händen wie ein scharfes Messer an, als sie mit zitternden Fingern versucht, es zu öffnen, ohne dabei das Pfefferspray fallen zu lassen. Die Hunde werfen sich erwartungsvoll gegen die Zwingertür, die Mäuler weit aufgerissen, Geifer hängt ihnen von den Lefzen. Sie zieht die Tür auf und tritt zur Seite, um den Tieren Platz zu machen. Spürt eine Welle der Erleichterung.
Noch bevor sie die Tür ganz öffnen kann, wird sie von hinten gepackt.
Sie schreit. Es fühlt sich an, als würden ihre Oberarme in zwei Schraubzwingen gespannt. Finger bohren sich in ihre Haut, und noch bevor sie den Schmerz richtig registrieren kann, wird sie gegen die Zwingertür gepresst. Der stählerne Draht schneidet ihr in Stirn und Wangen, die Hunde auf der anderen Seite des Gitters springen an ihr hoch, ein wildes Knurren dringt aus ihren Kehlen. Der Mundgeruch der Fleischfresser schlägt ihr in einer süßlichen Wolke entgegen, während sie sich auf den Hinterbeinen tanzend wie wahnsinnig gegen das Gatter werfen, mit ihren Krallen tiefe Schrammen in ihrem Gesicht hinterlassen und Löcher in den Stoff ihres Nachthemdes reißen.
Der Mann presst seinen Körper gegen ihren und drückt sie gegen die Zwingertür, um die Hunde zurückzuhalten. Er braucht sein ganzes Gewicht, denn die Hunde sind stark, und sie sind zu zweit. Ihre Lunge wird zusammengequetscht, sie schnappt nach Luft. Gesicht und Brust brennen, sie wimmert machtlos, als sie aus den Augenwinkeln sieht, wie er das Schloss mit der einen Hand einrasten lässt, während er sie mit der anderen festhält wie eine Stoffpuppe. Dann reißt er sie von der Tür weg und stößt sie brutal zu Boden. Sie knallt mit der Schläfe auf die eisigen Fliesen und verliert für ein paar Augenblicke das Bewusstsein.
Als sie wieder zu sich kommt, hat er sie auf den Bauch gedreht. Das Pfefferspray, denkt sie und tastet hektisch danach auf der Erde. Ihre Finger schließen sich um die glatte Spraydose, da stellt sich ein Fuß auf ihren Arm, und sie schreit auf, als er brutal zutritt. Dann wird sie an den Handgelenken gepackt und hochgerissen. Verzweifelt versucht sie, festen Stand zu finden, um nicht mit ihrem vollen Gewicht an den verdrehten Armen und Schultern zu hängen, dennoch breitet sich ein dumpfer Schmerz in sämtlichen Gliedern aus.
Sie ist noch immer benommen. Die Kratzwunden brennen im Gesicht. Der Mann schubst sie rückwärts zurück zur Terrassentür und ins Wohnzimmer. Ihr Mann sitzt auf einem Stuhl beim Esstisch, eine zweite Gestalt steht ein paar Meter entfernt und richtet eine Pistole auf ihn.
Was wollen sie? Sie versucht, sich zu beruhigen. Vielleicht sind es doch nur Einbrecher. Vielleicht wollen sie einfach nur Geld. Schmuck. Ihren Fernseher und die Computer.
Sie wird mit dem Bauch auf den Boden gezwungen. Der Mann, der sie überwältigt hat, geht zu einer Tasche, die bei der Tür zum Eingangsbereich steht. Mühsam dreht sie den Kopf und folgt ihm mit ihrem Blick. Jetzt sieht sie, was sie bereits geahnt hat: Er ist riesig.
Er holt etwas aus der Tasche und kommt mit einer Rolle Klebeband in der Hand zurück. Kniet sich neben sie, dreht ihr die Arme auf den Rücken und fesselt sie mit dem Klebeband. Anschließend macht er dasselbe mit den Knöcheln. Dann packt er ihre Füße und zieht sie wie einen Sack Kartoffeln über den Teppich in eine Ecke des Wohnzimmers.
Sie zittert am ganzen Körper vor Schock, Kälte, Angst und der Ungewissheit, was hier gerade vor sich geht. Tränen laufen ihr übers Gesicht, brennen in den Wunden, die die Krallen der Hunde hinterlassen haben. Der Mann nimmt die Klebebandrolle vom Boden, kommt zu ihr, beißt einen neuen Streifen ab und beugt sich über ihren Kopf. Allmählich dämmert ihr, was er vorhat. Ihr Herz hämmert.
»Nein«, fleht sie. »Meine Nase ist verstopft, ich bekomme keine Luft. Ich ersticke. Ich … Sie dürfen nicht …«
Er schaut sie ausdruckslos an. Dann klebt er ihr seelenruhig den Streifen über den Mund, reißt ein längeres Stück ab, legt es über das erste und wickelt es mehrfach um ihren Kopf.
Sie kämpft gegen die aufsteigende Panik. Wenn sie ihren Atem nicht unter Kontrolle bekommt, ist sie bestimmt in wenigen Augenblicken tot. Das eine Nasenloch ist vollkommen zu, durch das andere saugt sie so viel Luft in die Lunge wie nur möglich.
Langsam gewöhnen sich ihre Augen an die Dunkelheit. Der Mann mit der Pistole hat sich aufs Sofa gesetzt. Der Große ist dabei, ihren Mann am Stuhl festzubinden. Seine aufgerissenen Augen leuchten wie Reflektoren im Dunkeln.
»Was haben wir getan?«, wimmert er.
»Wir?« Die Stimme klingt tief und wohlmoduliert. »Wir haben gar nichts getan. Du hast etwas getan. Stimmt’s?«
»Werde ich … heißt das, ich werde …?« Ihr Mann schluchzt.
Sie spürt, wie die Panik erneut die Kontrolle übernimmt, das bislang offene Nasenloch beginnt zuzuschwellen, und sie saugt verzweifelt die Luft ein. Draußen bellen die Hunde, wenn auch weniger wild als zuvor.
»Ob du was wirst? Sterben?« Der Mann tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet sein Werk. »Was glaubst du?«
Der andere ist vom Sofa aufgestanden und reicht ihm etwas. Eine Art Stange? Der Große nimmt sie entgegen. Wiegt sie abschätzend in den Händen. Ihr Mann hustet und stöhnt röchelnd, in ihrem Bauch wächst die Angst.
»Und meine Frau?«
Der Große kommt zu ihr herüber. Stellt sich so dicht vor sie, dass sie nur den unteren Teil seines Beines sehen kann. Er stützt sich auf die Stange, ein Rohr. Das Metall glänzt schwarz in der Dunkelheit, abgesehen von fünf kleinen, parallel verlaufenden Einkerbungen, die wahrscheinlich von einer Metallsäge stammen, ganz unten am Rohr, direkt vor ihren Augen. Wie Treffermarkierungen auf dem Gewehrkolben eines Scharfschützen.
»Sie hat nichts … sie hat doch nichts getan«, stammelt ihr Mann.
Der große Mann steht regungslos da. Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor. Die Angst lässt sie die Kontrolle über ihre Blase verlieren, sie spürt den warmen Urin an Oberschenkel und Pobacke hinunterlaufen.
Der Mann dreht sich um und geht zurück zum Tisch. Er betrachtet das Rohr, streicht mit der Hand darüber.
»Die Frage ist nicht nur, was man getan hat. Sondern auch, wer man ist. Was man ist.«
Er schlägt sich ein paar Mal prüfend mit dem Rohr auf die Handfläche. Dann stellt er sich hinter ihren Mann, der sich verzweifelt auf dem Stuhl windet, um zu sehen, was vor sich geht. Doch vergebens, sein Oberkörper ist fest an die Rückenlehne gebunden, er kann den Kopf nicht weiter als neunzig Grad drehen. Mit einem Blick, der tiefste Trauer und Reue verrät, schaut er zu seiner Frau.
»Es tut mir leid«, flüstert er heiser.
Sie hat nicht verstanden, was der große Mann vorhin gemeint hat. Und versteht es immer noch nicht. Für einen Moment scheint alles um sie herum zu erstarren. Die einzigen Geräusche sind der Atem ihres Mannes und der Wind, der draußen im Garten an den Zweigen rüttelt.
Der Garten. Sie spürt noch immer das nasse Gras unter den Füßen. Das Gefühl von Sommer und Glück. Das hier ist nur ein Albtraum, denkt sie. Gleich wachst du auf.
Aber dann umfasst der große Mann mit beiden Händen das Rohr, als wäre es ein Samuraischwert, und wie von einem eiskalten Wind wird all ihre Hoffnung weggefegt. Auf einmal weiß sie, dass sie sich nicht in einem bösen Traum, sondern in der Realität befindet, und sie beide sterben werden.
Sie schreit, doch der Schrei bleibt hinter dem Klebeband hängen.
Der Mann stellt sich breitbeinig auf und geht leicht in die Knie. Er schwingt das Rohr mehrmals vor und zurück, um sich zu vergewissern, dass er damit nicht die Decke trifft. Dann sieht sie, wie er sorgfältig zielt, tief einatmet, die Muskeln des mächtigen Oberkörpers anspannt.
Und schlägt zu.
Verzweifelt wirft sie den Kopf zur Seite, um dem Anblick zu entgehen. Aber das knirschende Geräusch eines Schädels, der wie eine überreife Wassermelone gespalten wird, dringt ungehindert in ihr Gehirn.
Kapitel 1
Die ersten zwölf Töne von Smoke on the Water dringen mühelos durch den Lärm der Menschenmenge. Niels Kristiansen erstarrt und wirft seiner Frau Signe einen missbilligen Blick zu. Die entscheidet sich dafür, den bekanntesten Riff der Rockgeschichte und das Handy in ihrer Jackentasche zu ignorieren. Nach zehn Sekunden sind Deep Purple verklungen, sie atmet erleichtert auf und wirft ihrem Mann ein farbloses Lächeln zu.
Das Paar ist gemeinsam mit den beiden Kindern, dem elfjährigen Lasse und der dreizehnjährigen Anne, bei Ikea. Einem Ort, mit dem sich Signe Kristiansen, gelinde gesagt, schwertut.
Es liegt nicht an den Möbeln oder den Küchenutensilien. Auch nicht an den Bilderrahmen, Raffrollos und Aufbewahrungsboxen … mit all diesen Dingen hat sie keine Probleme, auch wenn sie sich nicht die Spur für Design interessiert. In ihren Augen ist ein Stuhl, auf dem man einigermaßen gut sitzen kann und der preislich im Rahmen liegt, ein guter Stuhl.
Es sind andere Gründe, die ihr Unbehagen aufflammen lassen. Unter anderem, dass sie – ganz gleich, was sie sucht – jedes Mal in der Abteilung für Yuccapalmen und Duftkerzen endet. Vor allem aber erträgt sie dieses ganze klaustrophobische Gewimmel nicht. Diese ungeheuren Menschenmengen, die sich im selben widerwilligen Tempo vorwärtsschieben, wie Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank. Und dann die Kassen, an denen sie unter Garantie wieder in einer Schlange mit dem Pärchen aus Nordvest landet, jedes Stückchen freier Haut reich dekoriert und drei schwer beladene Einkaufswagen im Schlepptau.
Dass sie dennoch hier ist, und das ausgerechnet am Tag vor Heiligabend, ist einem einzigen Umstand geschuldet: wie tief ihr Zeitkonto für die Familie im Minus steht. Sie arbeitet viel, viel zu viel und hat längst aufgegeben, die angehäuften Überstunden im Blick zu behalten. Und Niels hat längst aufgegeben, danach zu fragen.
Als er am Tag zuvor einen Ausflug zu Ikea vorgeschlagen hatte – »Wir brauchen einen Duschvorhang, Geschenkpapier und Weihnachtskarten« –, hatte sie zu protestieren versucht. Kleinlaut und ohne sich große Illusionen zu machen. Sie erkennt eine verlorene Sache, wenn sie ihr direkt ins Gesicht starrt.
Trotzdem merkt sie auf einmal, wie hier in der Abteilung für Garderobenschränke etwas passiert, während Lasse und Anne voller Vorfreude darüber diskutieren, ob sie gleich im Restaurant zehn Köttbullar mit Kartoffelpüree und Rahmsoße oder doch lieber zwei Fischfilets mit Pommes und Remoulade bestellen sollen. Und Niels unter anerkennendem Grunzen Tür um Tür einer monströsen schwarzen Schrankkombination aus Birkenfurnier öffnet. Ihre Schulter- und Nackenmuskulatur lockert sich, und zu ihrer großen Überraschung stellt sie fest, dass sie hier mitten im Ikea steht und lächelt. Vor Freude über ihre Familie. Darüber, dass Weihnachten ist und sie zusammen sein werden. Vor allem aber darüber, dass sie erst am zweiten Januar wieder arbeiten muss, unvorstellbar weit weg in der Zukunft.
Eine halbe Minute später meldet sich ihr Handy erneut. Ihr Puls steigt. Fünf Sekunden lang hält sie stand, aber dann dreht sie ihrem Mann den Rücken zu. Sie spürt seinen Blick zwischen den Schulterblättern, als sie das Telefon aus der Tasche zieht, und hört, wie er zischt:
»Scheiße, Signe …«
Auf dem Display steht »Chef«. Der Stellvertretende Polizeiinspektor Erik Merlin ist seit vier Jahren Leiter der Kopenhagener Mordkommission. Er selbst besteht darauf, sein korrekter Titel laute »Leiter der Abteilung für Gewaltkriminalität«, doch seiner Forderung schenkt niemand so richtig Beac htung. Alle titulieren ihn nur als »Chef der MK«. Oder, wie Signe, einfach nur »Chef«.
Er weiß ganz genau, dass sie heute freihat, es muss also um etwas Wichtiges gehen. Etwas, was sie an der Heimatfront teuer zu stehen kommen wird. Kompensationssex, Großputz im Badezimmer, den er sonst immer übernimmt, kurz: irgendwas, was richtig wehtut. Das ist ihr klar, schon bevor sie das Handy ans Ohr nimmt.
Zehn Sekunden lang hört sie zu. »Ich bin in …«, beginnt sie, doch der Chef hat bereits aufgelegt, bevor sie ihren Satz beenden kann.
Sie dreht sich um. Niels ist dazu übergegangen, demonstrativ Schubladen und Drahtkörbe aus dem Schrank zu zerren. Sie geht zu ihm und schüttelt bedauernd den Kopf.
»Das war Merlin. Ich muss … es ist ernst. Eine große Explosion auf dem Nytorv …«
»Auf dem Nytorv?« Niels runzelt die Stirn und greift ihre Hand. »Ist das nicht … ist da nicht der Weihnachtsmarkt?«
Kurz herrscht vollkommene Leere in Signes Kopf. Dann beginnt ein heißer Klumpen in ihrem Magen zu wachsen. Die Hitze breitet sich in Arme und Beine aus, gleichzeitig beschleunigt sich ihr Herzschlag. Sie reißt ihre Hand los und schlägt sie vor den Mund. Versucht etwas zu sagen, bekommt jedoch kein Wort heraus. Lisa und Jakob, ihre kleine Schwester und deren Mann, wollten mit ihren zwei kleinen Kindern dorthin. Auf einmal wird ihr speiübel, der Mund füllt sich mit Speichel, und sie schluckt hektisch, um den Brechreiz zu unterdrücken. Sie wollten vormittags den Weihnachtsmarkt auf dem Nytorv besuchen und abends zum Essen zu ihnen kommen.
Im absurden Versuch einer mentalen Katastrophenbegrenzung wechselt ihr Gehirn die Frequenz und richtet den Fokus für den Bruchteil einer Sekunde aufs Abendessen, einen Eintopf, der zu Hause in Vanløse vor sich hin köchelt. Hat sie die Herdplatte heruntergedreht, bevor sie losgefahren sind? Doch schon meldet sich wieder die hämmernde Angst.
»Ruf sie an«, sagt Niels, der offensichtlich dasselbe denkt wie sie.
Sie holt erneut das Handy aus der Tasche. Ihre Hände zittern so stark, dass sie die Tasten nicht trifft. Hilflos reicht sie das Telefon ihrem Mann. Er wählt Lisas Nummer und gibt es ihr zurück.
Es klingelt. Dreimal. Dann: »Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar. Bitte versuchen …« Sie hängt auf und versucht es noch mal. Dasselbe Ergebnis. Sie fängt an zu hyperventilieren.
»Ganz ruhig, Signe, es ist sicher alles in Ordnung.« Niels legt ihr den Arm um die Schultern und führt sie zu einem hohen Hocker an einer der Computerstationen für die Verkäufer. Sie setzt sich und versucht, die Tränen zurückzuhalten.
»Was hat Mama?« Anne und Lasse sind dazugekommen und schauen ihre Eltern fragend an.
»Nichts«, sagt Niels. »Gar nichts. Aber in der Stadt ist etwas Ernstes passiert, und eure Mutter muss … wir müssen …« Er wendet sich Signe zu. »Das Netz ist jetzt natürlich überlastet«, sagt er mit leiser Stimme. »Deshalb kommst du nicht durch.«
Sie nickt. Atmet tief durch. Sie muss sich zusammenreißen. Der Klumpen im Magen ist immer noch da, doch ihre linke Gehirnhälfte gewinnt allmählich die Kontrolle über ihre Körperfunktionen zurück.
»Ich muss zur Arbeit«, sagt sie. »Ich nehme das Auto, und ihr müsst …«
Niels nickt. »Na klar. Wir nehmen ein Taxi nach Hause.« Er mustert sie eindringlich. »Bist du …?«
»Ja«, erwidert sie und küsst ihn schnell auf den Mund. Gibt dann auch den beiden Kindern einen Kuss. »Bis später, ihr zwei. Seid lieb.«
Sie rennt los. Muss sich beherrschen, nicht jedem, der ihr im Weg steht, zuzurufen, dass er verdammt noch mal Platz machen soll, und findet auf wundersame Weise den direkten Weg zum Ausgang. Im Auto atmet sie ein paar Mal tief durch und versucht erneut, die Angst zu verdrängen, rational zu denken und sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren.
Die zweiundvierzigjährige Polizeikommissarin steht nah an der Spitze der pyramidenförmigen Telefonkette – »Kaskadenmodell« genannt –, die in ganz besonderen Fällen von der Kopenhagener Polizei aktiviert wird. So wie jetzt. Sie muss nun drei weitere Kollegen anrufen, und wie durch ein Wunder kommt sie bei zwei von ihnen durch. Beide haben schon von der Explosion gehört und sind bereits unterwegs. Beim letzten muss sie es später noch mal versuchen, falls er wie die anderen nicht ohnehin schon auf dem Weg ist.
Ein weiteres Mal wählt sie die Nummer ihrer Schwester, wieder kommt keine Verbindung zustande. Sie umklammert das Lenkrad mit beiden Händen, bis die Knöchel weiß hervortreten. Dann schlägt sie mit der Faust dreimal mit voller Wucht auf ihren Oberschenkel und stöhnt vor Schmerz, bevor sie TV 2 News auf dem Handy einschaltet, das sie waagrecht aufs Armaturenbrett stellt. Sie schüttelt den Kopf über sich selbst. Verdammt noch mal, sie muss endlich zusehen, dass sie sich diese Smartphonehalterung und das Bluetooth-Headset anschafft. Eine offenkundig schockierte Nachrichtensprecherin mit leicht zerzauster Frisur versucht, die Story am Laufen zu halten, ohne wirklich zu wissen, was eigentlich passiert ist. Auf dem Nytorv in der Innenstadt kam es heute Vormittag zu einer großen Explosion, liest sie wieder und wieder einen Tweet des Kopenhagener Polizeipräsidiums vor. Polizei und Rettungskräfte seien bereits vor Ort, und auf Twitter werde laufend über die aktuellen Ereignisse informiert.
So weit der derzeitige Stand.
Abgesehen von der großen Zahl an Einsatzfahrzeugen, die mit Höchstgeschwindigkeit Richtung Zentrum rasen, ist die Verkehrslage überraschend normal. Das Handy klingelt, und ihr Herz macht einen Sprung. Aber es ist noch mal Erik Merlin. Sie klemmt sich das Telefon zwischen linkes Ohr und Schulter.
»Chef.«
»Wie lang brauchst du noch?«
»Bin in zehn Minuten da. Knapp zehn.«
»Signe, beeil dich. Es ist schlimm.«
Die Übelkeit kommt zurück. Sie hält an einer Tankstelle beim S-Bahnhof Vesterport, bleibt einen Moment im Auto sitzen und versucht, sich zu sammeln. Dann steigt sie aus und geht in den Laden. Es wird ein langer Tag werden. Und vermutlich eine ebenso lange Nacht. Sie kauft Kaugummi, Lakritze, Weingummi und eine Flasche Fruchtsaft mit Ingwer, Apfel und Erdbeeren. Außerdem einen Liter Vollmilch. Die Kaffeemaschinen des Polizeipräsidiums produzieren eine einzigartig schauerliche Flüssigkeit, die mit Kaffee allein die Farbe gemein hat. Nur mit jeder Menge Milch verdünnt bekommt sie das Gebräu herunter.
Auf Höhe des Hauptbahnhofs begegnet sie mehreren Polizeifahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn auf dem Weg zur Altstadt; sie muss sich beherrschen, nicht links abzubiegen und ihnen zum Nytorv zu folgen, um dort nach ihrer kleinen Schwester zu suchen.
Hinter dem Glyptotek-Museum quetscht sie das Auto schräg in eine Lücke zwischen zwei Autos, stellt den Motor ab und holt tief Luft. Mehrere Helikopter hängen bereits über Kopenhagen am Himmel. Sie hastet zum Polizeipräsidium, scannt ihre ID-Karte am Eingang und eilt die gewundene Treppe hinauf. Seit den ersten Meldungen zur Explosion sind kaum fünfundvierzig Minuten vergangen. Dennoch wimmelt es auf den Gängen des Gebäudes bereits vor Polizisten in Uniform und Zivil. Im zweiten Stock trifft sie Erik Merlin.
»Hol dir einen Kaffee und komm zur Einsatzzentrale«, brummt ihr Chef.
Signe geht zur Toilette. Schließt die Kabine ab und setzt sich auf den Deckel. Wählt erneut die Nummer ihrer Schwester.
»Der gewünschte Gesprächspartner ist zurzeit …«
Sie schlägt die Hände vors Gesicht.
»Lieber Gott …«, murmelt sie und lässt den Tränen freien Lauf.
Kapitel 2
Er sitzt auf einem Kojenbett im Zimmer eines großen Einfamilienhauses am Rande der seeländischen Provinzstadt Sandsted. Das Haus ist sein Elternhaus, und das Zimmer gehörte früher ihm. Das Bett mit dem abgenutzten olivgrünen Bezug stand bereits hier, als er vor über vierzig Jahren als Achtzehnjähriger von daheim auszog. Er trägt neben Boxershorts nur ein T-Shirt und fröstelt. Seit einer knappen Woche friert es stark, bis zu zehn, zwölf Grad minus in der Nacht. Ein ungewöhnliches meteorologisches Phänomen in Form eines starken Hochdruckgebiets über der unwirtlichen Felseninsel Jan Mayen im Europäischen Nordmeer ist Richtung Südosten gewandert und hat es sich über dem nördlichen Teil Norwegens und Schwedens bequem gemacht; von dort pumpt es kontinuierlich große Mengen eiskalter arktischer Luft über ganz Skandinavien. Noch ist in Dänemark allerdings keine einzige Schneeflocke gefallen. Im grauen Tageslicht gleichen die Felder hinter dem Garten einer erstarrten Grimasse – kein Vogel, kein Tier, kein Lebewesen ist zu sehen, nichts rührt sich außer den nackten Zweigen der Büsche und Bäume, die von Zeit zu Zeit erzittern, wenn der Wind über Häuser und Gärten fegt.
Martin Junckersen – der von allen außer seiner Familie und seiner Frau praktisch schon immer nur Juncker genannt wird – hört seinen Vater am anderen Ende des Hauses rumoren. Er wirft einen Blick aufs Handy. Gleich Viertel vor elf. So lange hat der Alte schon seit Tagen nicht mehr geschlafen. Jetzt tappt er in eines der beiden Badezimmer und klappt mit einem hohlen Klonk die Klobrille hoch. Dann das laute Platschen des Strahls in die Schüssel. Gott sei Dank pinkelt der Vater heute allem Anschein nach nicht daneben.
Juncker lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und denkt denselben Gedanken, den er in den letzten drei Wochen jeden Morgen gedacht hat: Wie sicher ist er noch gleich, dass dieses Arrangement eine gute Idee ist? Dann steht er auf und schlüpft in eine dunkelblaue Cordhose sowie einen anthrazitfarbenen Fleecepulli.
Er geht in die Küche, nimmt den Deckel von der Kaffeemaschine, füllt Wasser ein und gibt fünf Löffel Pulver in den Filter. Er hört die schlurfenden Schritte des Vaters auf dem Eichenparkett des Wohnzimmers.
»Morgen«, sagt Juncker und zwingt sich, dem alten Mann in der Tür zuzulächeln.
Der Vater starrt ihn mit demselben Ausdruck zögerlichen Erstaunens in den Augen an wie an jedem Morgen, seit der Sohn wieder eingezogen ist. Juncker meint förmlich zu sehen, wie sich der Alte verzweifelt an das Gefühl klammert, dass der Mann, der da in seiner Küche steht und an der Kaffeemaschine hantiert, ein Mensch ist, den er kennt. Mutlos scheint er in den dunklen Wald der Senilität zu rufen, nur um als Antwort ein schwaches Echo seiner eigenen Stimme zu erhalten.
»Guten Morgen«, erwidert der alte Mann mit heiserer, brüchiger Stimme – ein trauriges Überbleibsel der Stentorstimme, die der Anwalt Mogens Junckersen einst wie eine geschliffene Stichwaffe kultivierte und pflegte und dazu verwendete, Richtern, Kollegen, Klienten, Ehefrau und Kindern sowie einer Reihe von Verkäufern und Handwerkern aus der Stadt eine Heidenangst einzujagen. Auch körperlich war er früher ein mächtiger Mann, groß für seine Generation, um die eins fünfundachtzig mit einem Kampfgewicht jenseits der hundertzehn Kilo, einem Brustkorb gleich dem einer Bulldogge und einem Kiefer wie ein Serbe. Jetzt ist der Körper auf eine Hülle gelblicher, faltiger Haut reduziert, als hätte eine ungeübte Aushilfskraft im Weihnachtsgeschäft einen Streifen Geschenkpapier nachlässig um Knöchel, Eingeweide und Muskeln gewickelt.
Juncker öffnet einen Oberschrank, nimmt zwei Becher heraus und stellt sie auf den Küchentisch. Die Kaffeemaschine hustet röchelnd. Er wirft einen Blick auf den Vater, der sich auf einem Stuhl setzt und dort, die Hände auf den Knien, zusammengesunken verharrt. Juncker wartet, bis der Kaffee durchgelaufen ist, dann nimmt er die Kanne und schenkt ein.
»Papa, wir müssen über das Pflegeheim sprechen«, beginnt er.
Der Alte hockt unbeweglich da, die Worte scheinen über seinen Kopf hinwegzufliegen.
»Hörst du mir zu?«
Der Vater schaut auf.
»Ich will nicht.« Trotzig starrt er seinen Sohn an. Und wiederholt mit belegter Stimme: »Ich will nicht ins Pflegeheim. Niemals.«
Seine Mutter ist vor zehn Monaten gestorben. Kurz nach ihrem achtzigsten Geburtstag war Ella Junckersen von den zwanzig bis dreißig Zigaretten, die sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr täglich rauchte, eingeholt worden, und binnen kürzester Zeit hatte der Lungenkrebs die letzten Kräfte aus ihrem ohnehin schon kleinen, zierlichen Körper gesaugt. Medizinisch gesehen machte sie ihren letzten Atemzug an einem kalten Februarmorgen in den grauen Stunden zwischen Nacht und Tag, tatsächlich aber hatte sie bereits seit mehreren Wochen im Vorland des Totenreiches geweilt, im Morphiumrausch dösend, ohne Kontakt zur Außenwelt.
In den Tagen nach ihrem Tod hatte Mogens Junckersen eine ernste und staatsmännische Miene aufgesetzt, wie es sich für einen Mann von Bedeutung gebührt, der gerade seine Ehefrau verloren hat, die fast sechzig Jahre lang an seiner Seite stand. Erst, als er mit der Hand auf dem weißen Sarg in der Kirche stand und die Trauergäste zum Leichenschmaus nach Hause einladen wollte, bröckelte die Maske. Kein Ton kam über seine Lippen. Stattdessen kullerten ihm die Tränen über die runzeligen Wangen, und Juncker wurde bewusst, dass er seinen Vater noch nie zuvor hatte weinen sehen. Nicht mal, als Junckers großer Bruder gestorben war.
Seit diesem Tag geht es langsam, aber sicher bergab mit dem Alten.
Juncker seufzt und steht auf.
»Ich muss für ein paar Stunden weg. Es ist Brot in der Box und Aufschnitt im Kühlschrank. Und Milch.«
Sein Vater antwortet nicht. Juncker geht ins zweite Badezimmer des Hauses und schließt ab. Stellt sich vor die Toilette, öffnet den Reißverschluss und presst, aber es tut sich nicht viel. Er beneidet seinen Vater um dessen Vermögen, selbst im hohen Alter beim Pinkeln noch einen regelrechten Wasserfall zu produzieren. Er sollte zum Arzt gehen und seinen PSA-Wert untersuchen lassen. Etwas, was er sich selbst nun schon seit fast zwei Jahren täglich sagt.
Nach einer Minute kann er endlich die Blase entleeren. Okay, genug von der Größe meiner Prostata, denkt er und drückt die Spülung. Blickt in den Spiegel. Ohne seine Lesebrille scheint ihm das Gesicht, das daraus zurückstarrt, undeutlich und grobkörnig wie ein altes unterbelichtetes Foto. Er beugt sich über das Waschbecken, formt eine Schale mit den Händen und spritzt sich Wasser in Gesicht und Haare, die, wie er konstatiert, inzwischen dieselbe graue Farbe angenommen haben wie das Fell dieser deutschen Hunderasse … wie hieß sie noch mal? Juncker überlegt, während er sich abtrocknet. Greift automatisch zum Handy in der Tasche, um es zu googeln. Aber es liegt noch im Zimmer. Weimaraner? Nein, das war es nicht. Aber trotzdem, schöner Hund, und dann fällt es ihm wieder ein. Schnauzer. So heißen sie. Erleichtert atmet er auf und genießt die Gewissheit, dass seine grauen Zellen nach wie vor funktionieren.
Die fortschreitende Demenz des Vaters hat die Angst in ihm eingepflanzt. Es war immer ein wichtiger Bestandteil seines Selbstverständnisses, sich Dinge perfekt merken zu können. Auch Details, Nebensächlichkeiten, nice to know. Zu wissen, was alle anderen vergessen haben. Oder noch nie wussten. Und jetzt ist es wichtiger denn je zuvor.
Er streicht das kurzgeschnittene, schnauzerfarbene Haar zurecht, sodass es die hohen Schläfen etwas kaschiert, fährt mit den Händen über die mageren Wangen und reibt prüfend über die Bartstoppeln, aber auf eine Rasur hat er keine Lust.
Dann blickt er einen langen Moment in die tiefliegenden klarblauen Augen im Spiegel, die er von seinem Vater geerbt hat, und sagt leise zu sich selbst, wie er es allmorgendlich tut, solange er denken kann:
»Es wird schon.«
Zurück in seinem Zimmer fischt er ein sauberes, wenn auch nicht gerade frischgebügeltes Hemd und einen abgetragenen schwarzen Blazer aus dem Schrank. Das Gesamtergebnis der Morgentoilette ergibt das Erscheinungsbild eines etwas mehr als durchschnittlich großen Mannes, schlank, bei genauem Hinsehen allerdings auch mit beginnendem Bauchansatz und leicht vorgebeugter Haltung – kurz gesagt das, was man im Polizeijargon als »von durchschnittlicher Statur« bezeichnen würde. Ein Mann, der sich wehmütig von seinen besten Jahren verabschieden muss und dessen Kleidungsstil an gelungenen Tagen und mit etwas gutem Willen als leger-elegant, an gewöhnlichen Tagen als locker bezeichnet werden kann. Und an schlechten als nachlässig.
Kurz erwägt er, in die Küche zu gehen und sich von seinem Vater zu verabschieden, überlegt es sich aber anders, da der Alte seine Anwesenheit vermutlich längst wieder vergessen hat. Draußen zerrt die Kälte an den Nasenhärchen; die sieben Minusgrade fühlen sich aufgrund des zunehmend stürmischen Nordostwinds mindestens doppelt so kalt an. Er zögert. Soll er das Fahrrad nehmen oder doch lieber den großen nagelneuen Volvo XC 90, dessen Lack schwarz im Carport glänzt?
Als er die Bedingungen für seine Versetzung aushandelte, durfte er seinen Titel als Polizeikommissar behalten, wurde jedoch um eine Lohnstufe herabgesetzt. Der Titel ist ihm herzlich egal, und im Grunde käme er auch mit erheblich weniger Geld zurecht, als er nun ausgezahlt bekommt. Ein wenig Extravaganz kann er sich also ruhig leisten. Wenigstens auf einem Gebiet.
Außerdem kann er sich nicht erinnern, jemals ein vergleichbares Hochgefühl erlebt zu haben wie vor einigen Wochen, als er mit der Neuerwerbung vom Parkplatz des Händlers rollte. Er liebt dieses Auto. Das Wohlbehagen, wenn er hinter dem Lenkrad sitzt und spürt, wie der schwarze Ledersitz unter seinem Körper nachgibt, gerade genug, dass er ihm festen Halt bietet und dabei gleichzeitig angenehm weich ist. Das Gefühl diskreter skandinavischer Überlegenheit, wenn er aufs Gaspedal tritt und das schwere Fahrzeug mit einem leisen Brummen, das kaum das dezente Summen der Klimaanlage übertönt, nach vorn schnellt wie ein angreifender Eisbär.
Er weiß, dass er das Rad nehmen sollte, aber der Volvo gewinnt.
Es ist fast vierzig Jahre her, dass er von zu Hause aus- und in die Hauptstadt zog, doch noch immer findet er mit verbundenen Augen den Weg von seinem Elternhaus zum Marktplatz, der von zwei- und dreistöckigen Häusern mit Geschäften im Erdgeschoss eingerahmt wird, viele davon inzwischen mit einem »Zu verkaufen«-Schild im Schaufenster.
An einer Ecke des Platzes gab es bis vor einem halben Jahr einen alten Buchladen. Über fünfzig Jahre lang wurde er vom selben Ehepaar geführt, bis der einundachtzigjährige Buchhändler Knudsen eines Tages mit einem Herzinfarkt umfiel, den Arm voller Romane von Paul Auster. Das dunkelgrüne Schild über dem Fenster, auf dem in großen, goldverzierten Lettern das Wort »BUCHHANDLUNG« zu lesen war, ist verschwunden. Stattdessen steht nun mit weißen Klebebuchstaben »POLIZEI« auf der Schaufensterscheibe, und auf dem Türglas »Öffnungszeiten Mo.–Fr. 9–16 Uhr, Sa.–So. geschlossen.«
Juncker fragt sich, ob das Parkverbot auf dem Platz auch für Polizeifahrzeuge, sprich seinen Wagen, gilt und kommt zu dem Entschluss, dass dem nicht so ist. Er schließt die Eingangstür auf, die mit einem fröhlich bimmelnden Glöckchen verkündet, dass sich Kundschaft im Laden befindet. An der Wand hängt eine Uhr. Kurz nach zwölf. Draußen auf dem Platz erledigen die Leute ihre letzten Weihnachtseinkäufe. Er hängt die Jacke an einen Garderobenständer, der neben einer zwei Meter langen Theke im vorderen Bereich des Raumes aufgestellt ist. Neben der Theke, beim Fenster zum Marktplatz, stehen zwei orangefarbene Plastikstapelstühle für die Wartenden, falls es tatsächlich mal vorkommen sollte, dass mehr als einer hier vorbeischaut. Der hintere Teil des Raumes ist mit drei identischen dunklen Holzschreibtischen älteren Datums, drei braunbezogenen Bürostühlen, einem runden Besprechungstisch und drei weiteren Stapelstühlen möbliert. Das Interieur erweckt den Eindruck, als wäre ein Lagerarbeiter ohne allzu großen Geschmack auf eine Zeitreise zurück in die Siebziger geschickt worden, um dort eine zufällige Auswahl an Büromöbeln zu treffen, diese in die Gegenwart nach Sandsted zu verfrachten und in der alten Buchhandlung abzuladen, wo irgendjemand sie anschließend wahllos an seinen Platz geschoben hat.
Auf einem der Regale, das die Transformation von Buchhandlung zur Wache überlebt hat, steht ein altes Radio. Juncker drückt auf den On-Knopf, und der schwache Klang von Freys, Walshs und Felders Gitarren sickert in den Raum. Juncker brummt mit einer leicht schiefen Stimme zu Don Henleys hellem Tenor.
»There she stood in the doorway, I heard the mission bell, and I was thinking to myself ›This could be Heaven or this could be Hell‹ …«
Er schiebt den Song vom Hotel in Kalifornien beiseite, setzt sich an den Schreibtisch ganz hinten im Raum, fährt den Computer hoch und klickt auf eine Mail. Die beiden Polizisten, die gemeinsam mit ihm die neue örtliche Polizeiwache besetzen sollen, wurden gebeten, direkt nach Weihnachten den Dienst anzutreten, und beide haben zugestimmt. Nicht, dass die Bewerber für den Posten in Sandsted unbedingt Schlange gestanden hätten. Genau gesagt gab es nur diese beiden, die Juncker in drei Tagen kennenlernen wird. Er weiß, wie sie heißen und wie alt sie sind. Und er kennt ihren Rang. Nabiha Khalid ist zweiunddreißig, Polizeiassistentin und kommt von der Station Bellahøj in Kopenhagen. Der andere heißt Kristoffer Kirch, ist siebenundzwanzig und zurzeit im Praxisjahr seiner Ausbildung an der Polizeischule. Die ersten vier Monate hat er auf der Hauptdienststelle in Næstved verbracht. Mehr weiß Juncker nicht.
Plötzlich realisiert er, dass sich das Radioprogramm geändert hat. Die Musik hat aufgehört. Er schnappt das Wort »Eilmeldung« auf, geht zum Regal und dreht das Radio lauter. In der Altstadt von Kopenhagen habe es eine heftige Explosion gegeben, berichtet der Nachrichtensprecher. Die Rettungskräfte vor Ort sprächen von vielen Verletzten, es seien jedoch noch keine Toten gemeldet. Die Ursache der Explosion sei bislang ungeklärt.
Juncker checkt sein Handy, das auf lautlos gestellt ist. Keine Anrufe. Er legt es vor sich auf den Tisch und blickt durchs Fenster auf den Marktplatz. Ein junges Pärchen schlendert vorbei, bleibt stehen und starrt ihn an. Er nickt ihnen zu. Die beiden gehen weiter.
Eine Viertelstunde sitzt er regungslos da. Wartet auf das Klingeln des Handys und Erik Merlins tiefe Stimme, die ihn auffordert, sich augenblicklich im Präsidium einzufinden. Aber nichts geschieht, und allmählich dämmert ihm, dass es auch so bleiben wird. Er horcht in sich hinein, um zu prüfen, ob es ihm etwas ausmacht. Die Antwort lautet: Ja, es macht ihm etwas aus. Gleichzeitig aber ist er erleichtert, weil er Merlin nicht zu sagen braucht, was er in all den Jahren in der Mordkommission noch keinem Chef gesagt hat.
Dass er nicht kommen kann.