Buch
Im politischen Chaos Tiranas aufgewachsen treibt Bujar nach dem Tod des Vaters durch eine Welt sich auflösender Grenzen: Auf seiner Odyssee quer durch Europa über New York bis nach Helsinki geht es ihm irgendwann nicht mehr um das Ankommen. Es geht ihm um die Freiheit, alles zu sein. Bujar ist Mann, ist Frau. Er liebt Frauen, er liebt Männer. Bujar verwandelt sich, er wird verletzt und verstoßen. Nur im Erzählen scheint er einen Ort zu finden, an dem er alles gleichzeitig sein darf, in einer Geschichte, die keine Grenzen kennt, überbordet und ausufert. In einer Geschichte von Liebe und Verlangen, von den Möglichkeiten der Scham, des Schmerzes und des Sterbens – mythenreich, brutal und von intensiver Schönheit.
Autor
Pajtim Statovci, geboren 1990, ist ein finnisch-kosovarischer Schriftsteller. Mit zwei Jahren zog er mit den albanischen Eltern aus dem Kosovo nach Finnland. Er hat Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Helsinki studiert. Statovci wird als Shootingstar und großer europäischer Autor von der internationalen Kritik euphorisch gefeiert, sein Werk ist vielfach ausgezeichnet, unter anderem ist er mit dem »Helsinki Writer of the Year«-Preis und dem renommierten Finlandia-Preis. Mit »Grenzgänge« war Statovci einer der Finalisten des National Book Awards. Derzeit lebt und promoviert er in Helsinki.
Pajtim Statovci
Grenzgänge
Roman
Aus dem Finnischen
von Stefan Moster
Luchterhand
Die finnische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»Tiranan Sydän« bei Otava, Helsinki.
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Zitat aus:
Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Roman. Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama. Suhrkamp Verlag 2004.
Zitat aus:
Imre Kertész: Roman eines Schicksalslosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Rowohlt Verlag, 1999.
Zitat aus:
Orhan Pamuk: Das neue Leben. Roman. Aus dem Türkischen von Ingrid Iren. Carl Hanser Verlag, 1998.
© 2021 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright der Originalausgabe
© 2016 by Pajtim Statovci
Umschlaggestaltung: Buxdesign, München
nach einem Entwurf und unter Verwendung
einer Illustration von Tyler Comrie
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-25821-4
V001
www.luchterhand-literaturverlag.de
www.facebook.com/luchterhandverlag
Manchmal stellen Tatsachen auch eine Bedrohung für die Wahrheit dar.
Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Rom 1998
Wenn ich über meinen Tod nachdenke, ist der Moment, in dem ich sterbe, immer gleich. Ich trage ein einfarbiges Hemd mit Knöpfen und eine dazu passende Hose aus dünnem Stoff, und das Sterben vollzieht sich so leicht, als ginge ich einen sanft abfallenden Hang hinab. Es passiert an einem frühen Morgen, und ich bin glücklich, ich empfinde die gleiche Zufriedenheit und Ruhe wie während der ersten Bissen meines Lieblingsgerichts. Bestimmte Menschen stehen um mich herum, ich kenne sie noch nicht, aber eines Tages werde ich sie kennen, und ich befinde mich an einem bestimmten Ort, ich liege in einem Einzelzimmer in einem Krankenhausbett, niemand stirbt neben mir, und draußen kommt der Tag langsam auf die Beine wie ein von Rheuma geplagter Greis. Meine Lieben sagen bestimmte Sätze zu mir, eine bestimmte Berührung auf meiner Hand und ein Kuss auf meiner Wange fühlen sich nach dem Zuhause an, das ich um mich herum errichtet habe wie ein Heiligtum.
Dann geben meine Organe auf, eines nach dem anderen, und meine Körperfunktionen setzen aus: Mein Gehirn sendet keine Befehle mehr an meinen Körper, der Fluss meines Blutes ist unterbrochen, mein Herz bleibt für immer stehen, und es gibt mich einfach nicht mehr. Wo einmal mein Körper war, sind jetzt nur Haut und Gewebe, unter dem Gewebe sind Flüssigkeiten und Knochen und bedeutungslose Organe.
Ich bin ein zweiundzwanzig Jahre alter Mann, der sich manchmal benimmt wie meine Vorstellung von einem Mann: Mein Name ist Anton oder Adam oder Gideon, je nachdem, was mein Ohr gerade lieber mag. Ich bin Franzose oder Deutscher oder Grieche, aber niemals Albaner, und ich gehe auf eine ganz bestimmte Weise, so wie mein Vater mich zu gehen gelehrt hat, nach seinem Vorbild, gleichmäßig und breitbeinig ausschreitend, mir der Haltung meines Brustkorbs und meiner Schultern bewusst, meine Kiefer sind angespannt, als würde ich mich versichern, dass niemand mein Revier betritt. Und dann brennt die Frau in mir auf dem Scheiterhaufen. Wenn mir der Kellner im Café oder im Restaurant die Rechnung bringt und mich nicht fragt, warum ich allein esse, schwelt die Frau in mir. Wenn ich etwas an meinem Essen auszusetzen habe und es in die Küche zurückgehen lasse, oder wenn ich in irgendein Geschäft gehe und die Verkäuferinnen sofort hilfsbereit auf mich zukommen, bricht die Frau in mir erneut in Flammen aus und wird Teil des Kontinuums, das seit dem Moment besteht, in dem man uns erzählte, wie die Frau aus der Rippe des Mannes entstand, nicht als Mann, sondern neben dem Mann, an dessen linker Seite.
Manchmal bin ich eine zweiundzwanzig Jahre alte Frau, die sich benimmt, wie es ihr gefällt. Ich bin Amina oder Anastasia, der Name hat keine Bedeutung, und ich bewege mich so, wie ich meine Mutter sich bewegen sah, meine Fersen berühren beim Gehen kaum den Boden. Ich widerspreche den Männern nicht, ich lege im ganzen Gesicht Foundation auf, pudere es, nehme mir dann die Augen vor, mit Eyeliner und Kajalstift, mit Lidschatten und Wimperntusche. Ich setze die blauen Kontaktlinsen ein, um wie neugeboren zu sein, und in diesem Moment brennt der Mann in mir nicht, ganz und gar nicht, sondern er begleitet mich auf meinem Weg durch die Stadt. Wenn ich in dasselbe Restaurant gehe und dasselbe Gericht bestelle, über das ich mich aus demselben Grund beschwere, bringt der Kellner das Essen nicht in die Küche zurück, sondern erklärt mir, das Fleisch sei genau so gebraten, wie ich es bestellt habe, und wenn er mir die Rechnung bringt, beobachtet er mich, als wäre ich ein Kind, wie ich das Portemonnaie aus meiner Handtasche wühle, um das Geld herauszuholen, und verschwindet dann mit einem flüchtigen Dank in die Küche. Der Mann in mir will ihm nachgehen, aber wenn ich an mir hinunterschaue und sehe, was ich anhabe, mein schwarzes Sommerkleid und meine dunkelbraunen Pumps, weiß ich, dass sich so etwas für eine Frau nicht gehört. Also verlasse ich das Restaurant, gehe auf die Straße hinaus, wo mir die italienischen Männer hinterherrufen oder -pfeifen, manchmal so laut, dass sie den Mann in mir dazu bringen, mit gesenkter Stimme über sie zu fluchen. Dann verstummen sie und heben die Hände, als stünden sie einem Herausforderer auf Augenhöhe gegenüber.
Ich bin ein Mann, der keine Frau sein kann, der aber manchmal aussehen kann wie eine Frau, wenn ich es will. Das ist meine beste Eigenschaft, eine Maskerade, die ich an- und ablegen kann, wann es mir passt. Manchmal geht das Spiel damit los, dass ich etwas Androgynes anziehe, etwas wie einen formlosen Umhang, und hinausgehe, und dann stellen die Menschen Vermutungen an, es stört sie, dass sie keine Klarheit darüber haben, ob es nun so oder so ist, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Restaurants, in Cafés, es irritiert sie wie ein Splitter unter dem Fingernagel, und dann tuscheln sie entweder miteinander oder fragen mich direkt: Bist du ein Mann oder eine Frau? Manchmal sage ich, ein Mann, manchmal, eine Frau. Manchmal antworte ich ihnen gar nicht, manchmal frage ich sie, was sie selbst meinen, und sie antworten gern, als wäre es auch für sie ein Spiel, sie konstruieren mich so gern, und wenn ich ihnen endlich eine Antwort gegeben habe, herrscht wieder Ordnung auf der Welt. Ich kann wählen, was ich bin, ich kann mir mein Geschlecht aussuchen, ich kann mir meine Nationalität und meinen Namen und die Stadt meiner Geburt aussuchen, indem ich einfach nur den Mund aufmache. Niemand ist gezwungen, der Mensch zu sein, als der er geboren wurde, stattdessen kann man sich zusammensetzen wie ein Puzzle.
Allerdings muss man sich vorsehen: Um so zahllose Leben zu leben, muss man die Lügen, die man erzählt, durch immer neue Lügen decken, um sich dem Sog zu entziehen, der entsteht, wenn all die Lügen auffliegen. Ich glaube, dass die Menschen in meinem Land genau wegen dieser Lügen so frühzeitig altern und so jung sterben. Sie schützen ihr Gesicht wie eine Mutter ihr Neugeborenes und hüten sich beinahe wie Kriegstaktiker davor, in falschem Licht gesehen zu werden: Es gibt keine Lüge, keine falsche Geschichte, die sie nicht von sich erzählen würden, um die Fassade aufrechtzuerhalten, ihre Würde zu wahren und ihre Ehre zu verteidigen bis ins Grab. Meine ganze Kindheit über hasste ich das an meinen Eltern, ich hasste es wie die Schmerzen verbrannter Haut oder das Gefühl lähmender Angst, und ich schwor, niemals so zu werden wie sie, mir nichts daraus zu machen, was andere Menschen über mich denken, keine Nachbarn zum Abendessen einzuladen, um sie durchzufüttern, obwohl ich mir nicht einmal selbst etwas zu essen leisten kann. Ich wäre kein Albaner, keine Albanerin, kein bisschen, sondern jemand anders, irgendjemand ganz anders.
In meinen schwächsten Momenten bin ich wahnsinnig traurig, weil ich weiß, dass ich anderen Menschen nichts bedeute, ich bin niemand, und das fühlt sich an wie der Tod. Wäre der Tod ein Gefühl, wäre es dieses: Unsichtbarkeit, ein Leben in schlecht sitzenden Kleidern, in drückenden Schuhen gehen.
Abends strecke ich manchmal die Hände aus, falte sie und bete, denn jeder hier in Rom betet und bittet Gott um Hilfe in schwierigen Situationen. So etwas steckt an, also bete ich dafür, am nächsten Morgen in einem anderen Leben aufzuwachen, obwohl ich nicht einmal an Gott glaube. Woran ich glaube, ist, dass sich das Verlangen eines Menschen nach einem bestimmten Aussehen und danach, sich auf eine bestimmte Weise verhalten zu können, unmittelbar auf die Breite seiner Schultern, die Dichte der Körperbehaarung, die Schuhgröße, seine Talente oder Berufswahl auswirkt. Alles andere kann man lernen –, eine neue Art zu gehen, eine andere Körpersprache, man kann üben, höher zu sprechen oder sich anders zu kleiden oder Lügen zu erzählen, die gar keine Lügen sind, sondern eher eine Art der Existenz. Darum ist es am besten, wenn du dich darauf konzentrierst, Dinge zu wollen, und nie darauf, was passiert, wenn du sie bekommst.
Als ich in Italien ankam, war ich mir sicher, dass ich hier einen guten Job finden würde, eine Person, die mich liebt, mit der ich eine Familie gründen könnte, für die ich mit meinem Leben einstehen würde. Ich war mir ganz sicher, dass mich hier jemand finden und mein Potenzial entdecken und all das schätzen würde, was ich der Welt zu geben hatte. Ich wartete und wartete, ein Jahr, ein zweites und ein drittes, ich wartete, dass all diese Dinge endlich passieren würden, dass endlich jemand meine Besonderheit erkennen würde, aber den Behörden und Sozialarbeitern waren meine Pläne und Wünsche völlig egal, sie lachten über meinen Traum, an der Universität Rom Psychologie zu studieren, obwohl ich ihnen erklärte, dass ich alle Standardwerke mehrmals gelesen hatte. Solltest du nicht lieber einen Beruf lernen?, fragten sie. Du hast nicht mal einen Schulabschluss, in deinem Alter haben die Leute hier längst einen, manche sogar schon einen Uniabschluss, sagten sie und schickten mich nach Hause, um mir über meine begrenzten Möglichkeiten klar zu werden: eine Laufbahn im Bau- oder Dienstleistungsgewerbe, ein Leben, das nicht nennenswert besser wäre als das, das ich hinter mir gelassen hatte.
Je mehr Zeit verging, desto deutlicher merkte ich, dass ich mich nicht mehr besonders oder einzigartig fand, und ich habe das Gefühl, dass dies das Schlimmste ist, was einem Menschen passieren kann, denn wenn es etwas gibt, was einen leidenschaftslos macht, wenn es etwas gibt, was jemanden dazu bringt, an Gott zu glauben, dann das. Man klammert sich nur an die Äste, die man erreichen kann, und gibt sich mit seinem Schicksal zufrieden. Nur dann sieht man das Licht, erkennt die Tatsache, wie selten der Mangel an Rechten und Chancen dazu führt, um sie zu kämpfen.
Jeder einzelne meiner Tage, die ich in dieser Stadt verbringe, in diesen unterschiedlichen Leben, ist sinnlos und unbedeutend, deshalb kann ich auch all die Jahre, in denen ich Neues gelernt und mich in fremde Sprachen eingefunden habe, einfach den Abfluss hinunterspülen. Am lächerlichsten ist, dass ich mich während meiner ganzen Kindheit und Jugend für schön, begabt und intelligent gehalten habe – für eine Zusammensetzung von Eigenschaften, mit denen man nur Erfolg haben kann. Ich lerne schnell, ich habe mich nie gescheut, mich anzustrengen, und es immer genossen, wenn mich die Dinge, die ich lernte, herausgefordert haben, es hat mir eine riesige Genugtuung verschafft, eine schwierige Gleichung zu lösen. Ich habe nie an mir gezweifelt, infrage gestellt, dass ich erfolgreich sein würde, denn ich habe immer so lange und hart gearbeitet, bis ich in allem, was ich anfing, der Beste war.
Und trotzdem bin ich in ein Leben geraten, in dem ich darüber nachdenke, wie ich mich am schmerzlosesten auslöschen könnte. Ich erlebe Tage, an denen ich mich nicht einmal traue, den Mund aufzumachen, um mich zu bedanken oder jemandem einen schönen Tag zu wünschen, es sind Tage, an denen ich nur dazu fähig bin, so auszusehen, als wüsste ich, wohin ich gehe, als gehöre ich in diese Stadt. Diese Tage sind nicht die Tage meines Lebens. Das bin nicht ich, der auf den Toiletten von Restaurants und Cafés zwanghaft Urin- und Kotspritzer wegwischt, damit niemand, der nach mir auf die Toilette geht, denkt, ich hätte eine solche Sauerei hinterlassen. Es ist ein anderer, ein Gespenst, das an den Rändern meines Schattens lebt.
***
An irgendeinem dieser Tage gehe ich auf der Via della Minerva durch die Innenstadt, links von mir liegt das Pantheon und sieht aus wie die Figur eines zusammengekrümmten albanischen Mannes. Von den langen, gepflasterten Straßen tun mir die Füße weh, ich stolpere und schwanke wie ein Tausendfüßler. Endlose Touristenmassen fließen wie ein Bach durch die Straßen, immer scheint die Sonne, die Cafés sind den ganzen Tag geöffnet, vor den Eisdielen stehen ungeduldige Kinder aufgereiht wie Mülltüten auf einer staubigen Deponie.
Ich kann nicht atmen, die Luft sammelt sich als feuchte Wolle in meiner Kehle, und der pausenlose Lärm auf dem Platz unterbricht meine Gedanken, und als ich mir die Hand auf die nasse Wange lege und mit den Fingernägeln den Schweiß abziehe, ist es, als würde sich eine Hautschicht von meinem Gesicht lösen.
Ich gehe auf die andere Seite des Platzes, fort von den Menschen, und frage mich, worüber die Leute vor mir reden. Die paar Worte, die ich verstehe, hören sich an wie die Verkündigungen von Wahnsinnigen. Bestimmt reden sie über die gleichen Dinge wie alle anderen auch. Jemand erzählt, zum Beispiel diese Mutter dort, die auf die vierzig zugeht, dass heute der erste Todestag ihrer Mutter sei, und eine andere, ihre gleichaltrige Freundin, sagt, sie habe sich mit ihrem Partner gestritten, weil sie Meinungsverschiedenheiten über die Erziehung der Kinder hatten, dann weinen sie oder trösten sich gegenseitig, überlegen gemeinsam, was sie als Nächstes tun, wie sie am besten umgehen sollen mit ihrem jeweiligen Unglück.
Hier haben die Menschen Zeit, ihre Wunden zu lecken, sich für den Rest ihres Lebens von etwas vollkommen Gleichgültigem traumatisieren zu lassen, sie haben Zeit, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr über den Sinn des Lebens nachzudenken, darüber, was sie damit anfangen sollen, was einmal aus ihnen werden soll, während in meiner Heimat Neugeborene an Fieber und Unterernährung sterben, Männer für die Familienehre erschossen werden und Frauen, die vor ihren Männern flüchten, mit Waffen umgebracht werden, die die Männer ihrer eigenen Familie der Familie des Ehemanns zur Hochzeit geschenkt haben. Man begräbt sie, und so bricht der nächste Morgen an, und niemand findet Zeit, sie zu betrauern, niemand zerbricht sich den Kopf über so etwas, weil keiner die Zeit hat, über die Mahlzeit des nächsten Tages hinauszudenken, und niemandem kommt in den Sinn, sich zu fragen, bin ich so geworden, weil mein Vater starb, als ich sechzehn war, oder womöglich, weil meine Eltern sich trennten, als ich klein war, oder etwa, weil man mir erst als Erwachsenem erzählt hat, dass ich adoptiert wurde. Denn als hungriger Mensch denkt man an etwas ganz anderes – an das Fett, das Salz, den Zucker der nächsten Mahlzeit –, und wenn man nichts zu essen hat, denkt man daran, wie einem plötzlich schwarz vor Augen werden kann, bevor man ohnmächtig wird, um dann vor Hunger zu sterben.
Sind die Italiener glücklicher als die Albaner, weil sie so gründlich über sich selbst und ihre Träume nachdenken, weil sie sich so leidenschaftlich streiten, mit diesem Eifer, der sie durch die Tage trägt, und der nicht einmal echt zu sein scheint, sondern nur versucht zu kaschieren, dass sie nicht wissen, wer sie eigentlich sind und was sie wollen, obwohl sie ihr ganzes Leben damit verbringen, immer wieder auf diesen Fragen herumzukauen. Daraus schöpfen sie Kraft und die Tiefe ihres Lebens, und das kann ich nur verachten.
Ich ziehe meinen engen Rollkragenpullover weiter herunter, korrigiere den Sitz meines ausgestopften Büstenhalters und ziehe die bis zur Mitte der Oberschenkel reichenden Jeansshorts hoch. Ich schaue auf die nebeneinanderher gehenden schlanken, schönen Frauen, die stolz ihre Sommerkleider tragen, und ich beneide sie. Ich beneide sie um ihre Namen, Julia oder Celia oder Laura. Ich beneide sie darum, wie sie auf ihren hohen Absätzen gehen, beneide sie um ihre hohen Stimmen und darum, wie sie reden, als würde sie keine einzige Sorge dieser Welt etwas angehen. Ich beneide sie darum, dass sie ihren jetzigen oder zukünftigen Männern Kinder schenken können – ich beneide sie um all das, was ich niemals haben werde, nicht trotz aller Hoffnung der Welt und auch nicht, wenn ich alles dafür geben würde. Alles, was ich jemals erreichen kann, ist eine Kopie ihres Lebens, eine Fotografie, auf der ich fast so aussehe wie sie, aber nicht ganz, eine Lüge, die aus dem Nichts geschaffen werden muss.
Ich komme auf die Piazza Navona, ein länglicher Platz mit drei pompös verzierten Springbrunnen, der mittlere sieht mit seinem stolzen, spitz zulaufenden Obelisken aus wie eine zarte italienische Frau. Auch dieser Platz ist überfüllt mit Touristen, die Münzen in die Brunnen werfen, obwohl das, was sie sich wünschen, mit Sicherheit etwas vollkommen Lächerliches ist: Sie wollen wahrscheinlich ihren verlorenen Geliebten zurückbekommen oder sie wünschen sich, dass ihr Partner ihnen mehr Aufmerksamkeit schenkt. Aber ich verstehe sie trotzdem, denn so lautet der alte Fluch: Alle wollen das, was sie nicht haben können, und jeder hat das Gefühl, diese Leerstelle kann das Licht keines einzigen neuen Tages mehr ertragen.
Die Piazza Navona sieht genauso aus wie die anderen Plätze Roms: Rings um den gepflasterten Platz stehen blasse Gebäude, die Straßen zwischen ihnen sind gerade so breit, dass man hineinpasst, ohne zu ersticken. Die Häuser stehen so dicht nebeneinander, dass die ganze Stadt wie eine einzige Häuserreihe, wie eine Kaserne, aussieht und die Autobahnen, die sie umgeben, eher Stacheldrahtzäunen gleichen, die die Menschen auf Abstand halten. Plötzlich erscheinen mir die Gebäude um mich herum bedrohlich, Unheil verkündend, und die Steine unter meinen Füßen lecken mir die Fußsohlen, als wären sie bereit, sie abzubeißen.
Ich schaffe es, tief einzuatmen und weiterzugehen, mir fallen Tropfen aus den Augen wie eine Flüssigkeit aus einem Infusionsschlauch, und einen Moment lang glaube ich, dass es regnet, aber dann sehe ich, dass keine einzige Wolke am Himmel steht. Ich komme auf den Ponte Umberto I., stehe in der Mitte der Brücke, schaue erst nach rechts, dann nach links, auf die Engelsburg, die wie eine verderbende Orange aussieht, auf Menschen, die pausenlos Fotos machen, auf grüne Bäume, die entlang der Fußwege am Fluss alle paar Meter gepflanzt worden sind, auf das fließende, trübe Wasser des Tiber, dann gehe ich über die Straße, die zur Piazza dei Tribunali führt, und noch ein Stück weiter, bis ich an der langen Zunge ankomme, deren Stufen zur Burg hochführen, dem einzigen Ort, wo weit und breit keine Fußgängerüberwege mehr zu sehen sind und die Autofahrer sich trauen, etwas schneller zu fahren.
Ich schaue kurz zurück und denke, dass ich nicht lange werde warten müssen, und doch vergehen ein paar Minuten, bis die Reifen eines ausreichend großen Autos in meinen Ohren vibrieren und ich auf die Straße laufe.
1990-1991