Das Buch
Weihnachten war für Katie noch nie die schönste Zeit des Jahres. Während alle anderen in Erinnerungen an ihre Kindertage schwelgen, versucht Katie ihr Bestes, ihre Kindheit zu vergessen. Doch seit sie in das wunderschöne Budbury an der Küste von Dorset gezogen ist, haben Katie und ihr kleiner Sohn eine Ersatzfamilie gefunden. Nachbarn und Freunde, die sich im Comfort Food Café treffen, wo ein Stück Kuchen und eine Tasse Tee heilende Kräfte zeigen. Dieses Jahr wollen Katies Freunde ihr ein Weihnachtsfest schenken, das ihr immer in Erinnerung bleiben soll. Und mit dem attraktiven Neuankömmling Van könnte tatsächlich ein großer Weihnachtswunsch in Erfüllung gehen.
Die Autorin
Debbie Johnson ist eine Bestsellerautorin, die in Liverpool lebt und arbeitet. Dort verbringt sie ihre Zeit zu gleichen Teilen mit dem Schreiben, dem Umsorgen einer ganzen Bande von Kindern und Tieren, und dem Aufschieben jeglicher Hausarbeit. Sie schreibt Liebesromane, Fantasy und Krimis – was genau so verwirrend ist, wie es klingt.
DEBBIE JOHNSON
Weihnachten
mit Zimt
und
Happy End
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe A Gift from the Comfort Food Café erschien erstmals 2018 bei HarperCollins Publishers Ltd., London.
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Deutsche Erstausgabe 09/2021
Copyright © 2018 by Debbie Johnson
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München
unter Verwendung von Bigstock
(AmadeyART, Jeni Foto, Phongphan)
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-25882-5
V001
www.heyne.de
Für Barbara Tomkinson (und Tinkerbell!)
ERSTER TEIL
Auf die Plätze …
1. KAPITEL
Ich heiße Katie Seddon. Ich bin wieder sieben Jahre alt und fest entschlossen wegzulaufen.
Es ist das erste Mal, aber es wird nicht das letzte bleiben.
Wir haben den ersten Weihnachtsfeiertag, und ich habe alles, was wichtig ist, zusammengepackt, einschließlich einer Auswahl an Geschenken: meine Meerjungfrau-Barbie, ein Malbuch und Filzstifte, ein Schmuckkästchen mit einer Spieluhr mit einer aufziehbaren Ballerina darin, flauschige rosa Ohrwärmer, Wollsocken mit Weihnachts-Elfen und eine Viererpackung Vanillecremekekse. Die Kekse lagen heute Morgen nicht unter dem Baum, die habe ich aus der Küche mitgehen lassen.
Ich werfe einen Blick auf die gehorteten Sachen und komme zu dem Schluss, dass ich für alles, was das Leben mir entgegenzusetzen hat, gerüstet bin.
Ich packe meine Beute in meinen Toy-Story-Rucksack und beschließe, richtig weit wegzulaufen. Oder zumindest bis zum Haus meiner Oma. Sie wohnt nur zwei Straßen weiter, es ist also nicht unbedingt eine intergalaktische Weltraumexpedition.
Ich sitze auf meinem Bett, um erst einmal durchzuatmen, nachdem ich alle Reißverschlüsse zugezogen habe. Ich frage mich, ob meine Eltern mich hören werden, wenn ich mich nach unten schleiche, mir meinen Regenmantel schnappe und verschwinde – doch nachdem ich ein paar Sekunden dagesessen und mit zur Seite geneigtem Kopf ihrem Streit gelauscht habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie das nicht tun werden.
Ich verstehe nur einzelne Worte, und ich habe auch gelernt, nicht so genau hinzuhören. Ich würde nichts Gutes hören. Es ist eine furchtbare Mischung aus Kreischen und Gebrüll und dumpfen Aufschlägen, während sie sich durch das Wohnzimmer jagen. Das Scheppern von Aschenbechern, die durch die Luft fliegen, schrille Flüche und das Zerschlagen von Tellern sind für mich völlig normal. Es gehört zum Soundtrack meiner Kindheit; ein paradoxes Schlaflied, das mich wach und ängstlich macht, statt dass ich mich schläfrig und geborgen fühle.
Wenn ich heute, als erwachsene Frau, zurückblicke, ist mir klar, dass meine Eltern zu den Paaren gehören, deren ganze Beziehung auf gegenseitiger Verachtung basiert. An einem guten Tag tolerieren sie einander, an einem schlechten sind sie von nichts als Hass und Bitterkeit erfüllt. Von der überwältigen Enttäuschung darüber, wie sich ihr Leben entwickelt hat.
Ich weiß inzwischen, dass das nicht unüblich ist – und dass ihre Konflikte der Klebstoff waren, der sie zusammengehalten hat. Vielleicht fanden sie es aufregend, als sie sich zum ersten Mal begegnet sind. Vielleicht haben sie ihre ersten ernsthaften Kräche für einen Ausdruck der Leidenschaft gehalten. Vielleicht waren sie anders, als sie jung waren, und haben gedacht, sie seien ineinander verliebt – doch jetzt, wo mein Dad in einem Beruf ohne Aufstiegschancen feststeckt und meine Mum zu Hause sitzt, ist das keine Leidenschaft. Es ist Wut.
Mit sieben verstehe ich nichts davon. Ich weiß nicht, was in der großen, hässlichen Erwachsenenwelt vor sich geht – aber ich weiß, dass ich die Nase voll habe. Dass dies das schlimmste Weihnachten ist, das ich je erlebt habe. Dass sie beide richtig, richtig gemein sind, wenn sie sich streiten. Dad ist größer und stärker, aber Mum ist wie eine Wespe, die ständig heranprescht, um zu stechen. Es ist furchtbar, und ich werde gehen. Für immer.
Auf Zehenspitzen schleiche ich die Treppe hinunter und aus dem Haus, obwohl ich mir diese Mühe nicht hätte machen müssen – sie haben inzwischen die kritische Masse erreicht und würden selbst nicht aufhören zu streiten, wenn ich mit meinem leuchtenden Rudolph-Haarreif im Wohnzimmer eine Conga tanzen würde. Den Haarreif habe ich übrigens an – ich finde, dass er in der Dunkelheit draußen zu meiner Sicherheit beiträgt.
Der Weg zu meiner Oma ist ein bisschen unheimlich. Ich bin ihn zwar schon oft gegangen, aber immer mit einem Erwachsenen. Diesmal bin ich allein, es ist Abend, und ich habe niemanden, nach dessen Hand ich greifen kann, wenn ich die Straße überquere. Ich bin ein gutes Mädchen und tue, was man mir gesagt hat, ich warte, bis das grüne Männchen auf der Ampel erscheint, obwohl keine Autos kommen. Mum geht auch manchmal, wenn der rote Mann da ist, sie sagt, Erwachsene dürfen das.
Ich klopfe an die Tür meiner Oma, und sie öffnet mir in ihrem gesteppten Morgenmantel und ihren karierten Hausschuhen. Sie lässt mich herein, ohne Fragen zu stellen. Heute weiß ich, dass sie keine Fragen stellen musste – sie wusste genau, was bei uns zu Hause ablief und warum ich einen Zufluchtsort brauchte. Einen Ort, der mir Schutz vor dem Sturm der toxischen Beziehung meiner Eltern bot.
Meine Oma war eine sehr liebe Frau, und sie roch immer nach Veilchenpastillen. Selbst heute noch finde ich es beruhigend, wenn ich in einer großen Tüte Swizzles Veilchenpastillen finde. Halloween kann da bittersüße Erinnerungen wachrufen.
Ich setze mich, und sie gibt mir einen Teller mit Biskuitrolle in Vanillesoße, die sie in der Mikrowelle warm gemacht hat, und macht mir eine Tasse heiße Instant-Schokolade. Ich darf sogar in dem großen Sessel mit dem unter einer Decke versteckten Knopf sitzen, mit dem man die Fußstütze hochfahren kann. Ich höre sie telefonieren, doch ich habe es so gemütlich und schön, und ich bin so glücklich, dass es mich überhaupt nicht interessiert, mit wem sie spricht. Die Lichter des kleinen Plastikweihnachtsbaums machen das Zimmer hell, und die Welt ist in Ordnung.
Als sie zurückkommt, lächelt sie über das ganze Gesicht, und wir sehen uns zusammen Emergency Room an. Es ist eine spannende Folge mit einem großen Feuer, und alles ist sehr dramatisch. Vielleicht hat diese frühe Bekanntschaft mit Schwester Carol Hathaway ja den Samen für meine spätere Berufswahl gelegt.
Als meine Mum sich endlich von dem Streit losreißen kann, hat Oma mich längst bei sich zu Bett gebracht. Ich liege in dem Gästezimmer, das früher einmal Mums Zimmer war und in dem immer noch ein riesiger Schmuselöwe steht, der groß genug ist, um darauf zu sitzen.
Ich habe mich, warm und satt, unter der Bettdecke zusammengerollt und höre sie unten reden. Das Haus meiner Oma ist eins dieser kleinen Reihenhäuser, in denen die Treppe direkt ins Wohnzimmer führt, sodass man alles hören kann. Mum klingt weinerlich, ihre Stimme ist wackelig, mal laut, mal leise, wie deine Stimme nun mal ist, wenn du dich bemühst, nicht zu weinen, und deshalb nicht richtig atmen kannst. Oma sagt, dass sie mich für die Nacht hierlassen und selbst auch bleiben soll. Sie rät ihr zu überlegen, ganz zu bleiben – ihn endgültig zu verlassen.
»Bei euch wird es nie ein Happy End geben, Sandra. Ihr habt beide euer Bestes getan, doch genug ist genug, Liebes«, sagt sie, und ich höre, wie traurig sie klingt. Manchmal vergesse ich, dass meine Mum nicht nur meine Mum, sondern auch Omas kleines Mädchen ist. Das ist schon verrückt.
Als ich am nächsten Morgen aufwache, liegt Mum neben mir im Bett, sie hat sich wie ein weicher Löffel, der mich beschützt, um mich zusammengerollt. Sie ist bereits wach und beobachtet mich im Schlaf, während sie mir sanft das blonde Haar aus dem Gesicht streicht. Für einen Moment ist die Welt in Ordnung.
Dann sehe ich, dass ihre Augen vom vielen Weinen ganz verklebt sind und ihr Gesicht geschwollen ist und dass sie fingerförmige Blutergüsse auf den Armen hat, die wie kleine violette Pfotenabdrücke aussehen. Ich grabe mich bei ihr ein und umarme sie – sie sieht aus, als könnte sie das brauchen.
2. KAPITEL
Das zweite Mal, als es mir mit dem Weglaufen ernst ist, bin ich vierzehn. Die meisten Wochenenden verbringe ich bei meiner Oma, ihr Haus ist so etwas wie ein zweites Zuhause für mich geworden. Bei Mum und Dad hat sich nichts geändert, mit den Jahren haben sich zwar ihre Stirnfalten vermehrt, nicht aber ihre Selbstbeherrschung.
Sie werden nicht mehr so oft handgreiflich bei ihren Streitereien, doch es kommt immer noch vor, dass ich Reste von zerbrochenem Geschirr in der Küche finde oder dass die Scheibe in der Wohnzimmertür auf mysteriöse Weise zu Bruch gegangen ist und gezackte Glasscherben über den Fußboden verteilt sind, wenn ich morgens herunterkomme, um in die Schule zu gehen.
Ich schleiche mich immer leise hinunter und hoffe, dass sie noch schlafen und dass ich in der Küche in Frieden eine Schale Cornflakes essen kann, bevor ich losmuss. Ich habe gelernt, vorsichtig aufzutreten in unserem Haus, in jeder Beziehung.
Doch als ich vierzehn werde, ändern sich die Dinge. Sie ändern sich, weil meine Oma stirbt und ich meinen Zufluchtsort verliere. Es kommt plötzlich und unerwartet – eine mit ihrem Diabetes verbundene Komplikation. Wahrscheinlich von den ganzen Veilchenpastillen, würde ich vermuten. Ich trauere und leide und werde von Schuldgefühlen überschwemmt – denn sosehr ich sie auch vermisse, mache ich mir auch Gedanken um mich. Wie soll ich ohne sie zurechtkommen? Ohne ihr liebes Lächeln und die gemütlichen Abende, an denen wir Emergency Room oder Holby City gucken, über nichts reden und doch so viel sagen.
Mum und Dad waren zum Essen ausgegangen, zu einem vorweihnachtlichen »Date«, wie sie es nannten. Wie gewöhnlich bei diesen seltenen Anlässen endete das, was gut begonnen hatte, im Streit. Es hatte irgendwas damit zu tun, dass Dad vier Pints Cider getrunken hatte, obwohl er fahren sollte. Ich weiß es nicht.
Die verbalen Raketen fliegen, sobald sie das Haus betreten, und wahrscheinlich war das schon auf dem ganzen Rückweg von ihrem romantischen Date so. Ich ziehe mich eilig zurück, die Bühne ist frei. Ich weiß nicht wirklich, wohin ich gehen und was ich tun soll in so einem Augenblick.
Sie sehen mich nicht einmal, und ich stehe kurz in der Einfahrt vor unserem Haus und beobachte, wie sich das Drama entfaltet. Es ist dunkel, und es ist bald Weihnachten, und ihr Streit nimmt eine feierliche Wendung, als Dad Mum einen Schubs versetzt, während sie ihn anschreit. Es hat mehr etwas von dem Verjagen eines lästigen Insekts aus seinem Gesicht als von einem gezielten Stoß.
Sie verliert das Gleichgewicht, taumelt nach hinten und macht ein paar wankende Schritte, bevor sie mitten im Weihnachtsbaum landet, der mit ihr zu Boden geht.
Ein paar Sekunden bleibe ich wie angewurzelt stehen, um mich zu vergewissern, dass es ihr so weit gut geht – bin jedoch beruhigt, als ich sie aus dem Plastikbaum krabbeln sehe, voll mit rotem und grünem Lametta. Sie greift nach der nächstbesten Waffe – dem Stern oben auf dem Baum –, schwenkt ihn wie ein Klappmesser in einer Gefängnisserie und droht, ihm ein Auge auszustechen.
Okay, denke ich. Gott mit euch, ihr Glücklichen, und weg bin ich. Es ist sehr kalt, die Straßen sind glatt durch den festgefahrenen Schnee, und langsam fahrende Autos bewegen sich im Zeitlupentempo durch den Matsch. Ich trage einen Hoodie und Leggins, was wirklich zu wenig ist, und habe auch nichts gepackt wie das letzte Mal, nicht einmal ein Ersatzpaar warme Socken.
Ich streife durch die Straßen und frage mich, ob ich nach London trampen kann, ohne ermordet oder in irgendjemandes Keller eingesperrt zu werden, bevor meine Füße mich schließlich dorthin bringen, wohin ich wahrscheinlich die ganze Zeit auf dem Weg war.
Ich sitze auf dem Bordstein vor dem alten Haus meiner Oma, eiskalter Schnee durchnässt fast augenblicklich den Hosenboden meiner Leggins, und ich stütze das Kinn in die Hände, während ich die Straße hinunterblicke.
Inzwischen wohnt hier natürlich jemand anderer. Das Haus ist nur wenige Monate nach ihrem Tod verkauft worden, was mich immer, immer anpissen wird. Ich bin jetzt ein Teenager und fluche viel mehr als mit sieben. Und das hier? Betrüger in ihrem Haus? Das pisst mich an. Es hätte als Museum erhalten werden sollen. Zumindest sollte es draußen eine Denkmalschutz-Plakette geben. Stattdessen ist es, als wäre sie nicht einmal hier gewesen.
Ich ziehe die Kordel meines Hoodies fester, damit die Kapuze enger um mein Gesicht anliegt, und sehe durch das Vorderfenster hinein. Sehe den hell erleuchteten Weihnachtsbaum und das gemütliche Zimmer und hin und wieder eine Frau, die mit einem Baby auf dem Arm herumläuft. Ich habe keine Ahnung, wer diese Leute sind, aber ich bin sauer auf sie. Sie mögen zwar nichts dafürkönnen, dass meine Oma gestorben ist, aber das hilft mir auch nicht. Die Leute, die da leben, pissen mich trotzdem an.
Ich habe die Dramen meiner Eltern so satt. Die Anspannung, nicht zu wissen, wann alles von vorn beginnt. Nach Omas Tod war eine kurze Zeit Ruhe, und beide haben sich zusammengerissen, aber es hat nicht angehalten.
Manchmal beginnt es, wenn eine kritische Situation ihren Höhepunkt erreicht hat, manchmal nach Tagen schwelenden Ärgers und abfälliger Bemerkungen wie »dein Essen habe ich dem Hund gegeben«. Er geht von der Arbeit direkt in den Pub; sie sitzt zu Hause und schmiedet Rachepläne.
Und ich weiß jetzt, dass ich der Grund für ihr Festhalten an ihrem ehelichen Elend bin – das hat meine Mutter mir gesagt.
»Wir wollten nicht, dass du aus einer Scheidungsfamilie kommst«, hat sie gesagt – als ob das hier besser wäre. Als ob es besser wäre, meine gesamte Kindheit über Zeugin ihrer dauernden Kriege zu sein, als würde mich das nicht mit Grauen erfüllen.
Jedes Mal, wenn ich von der Schule nach Hause komme, bin ich total nervös und bleibe noch im Mantel in der Diele stehen, um die Stimmung im Haus einzuschätzen. Um zu entscheiden, ob ich es riskieren kann, ins Wohnzimmer zu gehen, oder ob ich besser gleich nach oben in mein Zimmer laufe, meine Kopfhörer aufsetze und so tue, als würde das alles nicht passieren.
Das ist mein Leben. Ich verstecke mich mit meiner Musik in meinem Zimmer, verstecke mich zum Übernachten bei meinen Freundinnen, und ich laufe weg. Manchmal laufe ich hierher, zum Haus meiner Oma. Manchmal in die Stadt. Und manchmal kaufe ich mir auch nur ein Tagesticket für den Bus und fahre den ganzen Tag herum.
Es ist kein leichtes Leben, und sobald ich alt genug bin, gehe ich aufs College, um Krankenpflege zu studieren. Ich suche mir ein College, das so weit entfernt ist, dass ich dort wohnen muss, und werde es für das Paradies halten. Andere Teenager haben Heimweh – ich werde erleichtert sein. Erleichtert, mein eigenes Reich zu haben, meinen Raum, meinen Frieden und meine Ruhe. Erleichtert, allein zu sein.
3. KAPITEL
Mit Mitte zwanzig teile ich meinen Raum und meine eigene Wohnung und habe nicht mehr viel Ruhe und Frieden. Und ich bin definitiv nicht mehr allein.
Als ich das dritte Mal weglaufe, bin ich eine erwachsene Frau mit einem sechs Monate alten Baby, einem Job, einer Mietwohnung und einem Freund, der nie wirklich Vater werden wollte.
Dieses Mal laufe ich endgültig weg. Dieses Mal ist ein weiterer lautstarker Krach der Grund, dass ich weglaufe – ein Krach mit meinem Freund Jason.
Es ist nicht schön. Das sind diese Dinge nie. Als wir uns kennengelernt haben, hat er als Krankenhauspförtner gearbeitet, und ich war Krankenschwester. Damals habe ich gedacht, dass wir ineinander verliebt wären – doch heute sehe ich es als das, was es war. Viel Lust, ein bisschen Spaß und das seltsame Gefühl, dass genau das von mir erwartet wurde. Dass Frauen meines Alters nach »dem Mann fürs Leben« suchen und eine Beziehung eingehen sollten.
Es hat nie wirklich gestimmt zwischen uns, doch als ich schwanger wurde, haben wir beide so getan, als täte es das. Weil jeder weiß, dass nichts einfacher ist, als ein Neugeborenes zu haben, und weil es die Risse in jeder Beziehung kittet, nicht?
Natürlich hat es nichts besser gemacht. Es hat alles verschlechtert. Die Wohnung war zu klein. Das Geld reichte nicht. Wir waren zu jung und hatten nicht die geringste Ahnung, was wir taten. Und vor allem denke ich, dass wir uns nicht sonderlich mochten.
Während ich schwanger war, ist es uns sehr viel besser gelungen, so zu tun, als ob. Wir sind zu Ikea gefahren und haben gelacht, als wir dann nach den Anweisungen ein Kinderbett aufgebaut haben und über kleine Babyschlafanzüge in Verzückung geraten sind. Er hat gesagt, dass er aufhören werde zu trinken, und es sogar ein paar Wochen geschafft.
Nachdem unser Sohn, Saul, auf der Welt war, sind die Spannungen zwischen uns größer geworden. Ich habe keinen Schlaf bekommen. Jason hat Extraschichten übernommen. Wenn wir uns gesehen haben, waren wir beide von siedendem Ärger erfüllt – ich, weil ich zu Hause festsaß, er, weil ich nur gestöhnt und gemeckert habe, wenn er nach Hause gekommen ist.
Das einzig Gute an allem war das Baby. Er war perfekt – und den Spannungen zwischen uns völlig ausgesetzt, dieser pausbäckige, blonde Engel, von dem ich insgeheim immer gedacht habe, dass wir ihn nicht verdient haben.
An dem Abend, an dem es zu dem lautstarken Streit kommt, bin ich besonders müde. Ich war so lange allein, dass ich angefangen habe, mit dem Wasserkocher zu reden. Er antwortet mir nicht, doch in meinem deliriösen Stadium der Müdigkeit ist das nur eine Frage der Zeit.
Saul zahnt und schreit und ist reizbar. Jason hat zusätzliche Schichten übernommen und springt für Kollegen ein, die über Weihnachten freihaben, und ich beobachte, wie der große Zeiger der Uhr in der Küche vorwärtskriecht, und zähle die Minuten, bis ich Saul an ihn übergeben, mich auf das Bett fallen lassen und ein paar Minuten leise in das Kissen weinen kann, während ich mich frage, was aus meinem Leben geworden ist.
Wir haben keine Windeln mehr, und Jason soll auf dem Weg von der Arbeit nach Hause welche mitbringen. Nur, dass er nicht kommt – zumindest die nächsten zwei Stunden nicht. Und als er kommt, riecht er nach Bier und Zigaretten und Calvin Kleins Obsession, einem Parfüm, das ich definitiv nicht benutze. Das einzige Parfüm, das ich dieser Tage trage, riecht nach Babykotze und Verzweiflung.
Ich könnte das alles übersehen, wenn er wenigstens an die Windeln gedacht hätte – aber natürlich hat er das nicht. Dafür bringt er ein Sixpack Bier und schlechte Laune mit.
Ich schreie. Er schreit. Wir sagen beide Dinge, die uns leidtun werden, die wir wahrscheinlich jedoch genau so meinen. Es wird lauter und hitziger und wütender. Wir sind wie Geysire, unsere ganzen Frustrationen steigen in einer großen, heißen Explosion an die Oberfläche.
Ich greife nach dem Nächsten, das ich finden kann – einer schmutzigen Windel –, und schlage damit nach Jasons Kopf. Er reagiert darauf, indem er mir eine so harte Ohrfeige verpasst, dass ich die roten Abdrücke sofort auf meinem Gesicht brennen spüre.
Das lässt uns beide verstummen; ich stehe still da und halte mir meine brennende Wange, er starrt mich an und schüttelt den Kopf, während er eine Entschuldigung stammelt.
Es tut mir so leid, sagt er. Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist, sagt er. Es wird nie wieder passieren, verspricht er. Er ist total zerknirscht, voller Bedauern, hasst sich dafür. Auf eine seltsame Weise tut er mir fast leid – unsere Beziehung hat eine Seite von ihm offenbart, von der er wahrscheinlich selbst nicht gewusst hat, dass es sie gibt.
Ich bin verletzt und erschüttert und seltsam erleichtert. Es ist, als hätten wir uns endlich in einen Abgrund gestoßen, aus dem wir nicht mehr herauskommen können. Seltsamerweise habe ich keine Angst – ich weiß, dass er mich nicht mehr schlagen wird. Auf jeden Fall nicht dieses Mal.
Ich versuche, Worte zu finden, als ich Saul entdecke. Saul, meinen wundervollen Sohn, der mit einer vollen Windel in einem Weihnachtschlafanzug in seinem Babystuhl sitzt und alles mitangesehen hat.
Seine Augen sind weit aufgerissen und tränennass, während er sich mit seinen rundlichen Fäusten die Ohren zuhält, um das Geschrei auszublenden. Er ist so verängstigt und verwirrt, dass er selber weint. Vielleicht weint er schon eine ganze Zeit – aber keiner von uns hat es bemerkt, weil wir ganz mit unserem eigenen Drama beschäftigt waren.
Ich eile zu ihm, um ihn zu trösten, und weiß, dass ich sehr bald wieder weglaufen werde – nicht um meinetwillen, sondern um Sauls willen. Vielleicht sogar um Jasons willen.
Wenn ich heute zurückschaue, kommt es mir vor, als gehöre das Weglaufen zu vielen wichtigen Momenten in meinem Leben – wie auch zu diesem. Ich könnte eine Zeitkarte zeichnen, wann die Dinge angefangen haben schiefzulaufen, und eine Cartoonfigur von mir hinzufügen, die in die andere Richtung abdüst, Dampfschwaden hinter sich herziehend.
Das Problem bei all diesen Erinnerungen – diesen Aktionen und Reaktionen und Interaktionen und Überreaktionen – ist nicht wirklich das Weglaufen. Das Problem ist, dass ich nie die geringste Ahnung hatte, wohin ich lief, und gewöhnlich von der Brise herumgeweht wurde wie die zarten Samen einer Pusteblume, ohne Sinn für die Richtung und ohne jegliche Kontrolle.
Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen. An seinem nächsten Geburtstag wird Saul vier, und das Leben hat sich sehr verändert. Ich habe weniger von einer Pusteblume und gebe mir die größte Mühe, Wurzeln zu schlagen.
Es hat sich verändert, weil ich das letzte Mal, als ich weggelaufen bin, hierhergelaufen bin – in einen kleinen Ort mit dem Namen Budbury an der wunderschönen, postkartenwürdigen Küste von Dorset. Ich habe einen Job. Ich habe ein kleines Haus. Ich habe Freunde, denen ich widerwillig Zutritt zu meinem Leben gewährt habe. Ich habe im Comfort Food Café, das das Herz von Budbury bildet, eine Gemeinschaft gefunden, zu der ich gehöre. Ich habe Ruhe und Frieden, und, was am wichtigsten ist, ich habe einen prachtvollen, gesunden kleinen Jungen. Der definitiv die Ruhe stört, aber auf eine gute Weise.
Ich habe mehr, als ich mir je hätte vorstellen können –und diesmal laufe ich nirgendwohin. Diesmal durchbreche ich den Teufelskreis.
Diesmal bleibe ich, wo ich bin – egal, wie schwierig es wird.
4. KAPITEL
Dieses Jahr, Heiligabend
Mir reichts. Mein Kopf hämmert, meine Augen tun weh, und jeder Zentimeter meines Körpers, vom Kopf bis zu den Zehen, fühlt sich an, als wäre er total verkrampft.
Ich höre nur das Gebrüll, die spitzen Schreie, die die festliche Musik übertönen. Es ist eine Playlist von Weihnachtsliedern, die ich auf meinem Handy habe und mit denen ich versuche, alles andere auszublenden. Die Mischung ist grauenhaft: Der erhabene Gesang von Hark! The Herald Angels Sing wechselt mit lauten Beschimpfungen ab.
Saul schläft, wenn auch unruhig, wie nur Kinder schlafen können – ich sehe, wie seine Augen sich hinter den Lidern bewegen, seine kleinen Fäuste sind geballt, und hin und wieder zucken seine Beine wie bei einem träumenden Hund. Es ist der Abend vor Weihnachten – vielleicht träumt er vom Weihnachtsmann, der in seinem Schlitten über die Dächer fliegt. Jedenfalls hoffe ich das. Ich hoffe, dass er nicht gleich aufwacht und das ganze Geschrei und Gepolter und die wütenden Stimmen hört. Ich habe hart gearbeitet, um ihn hiervor zu beschützen, doch es hat mich eingeholt, mich aufgespürt.
Ich bin in meinem eigenen kleinen Haus, aber ich fühle mich hier nicht mehr sicher. Ich bin in meinem eigenen kleinen Haus, und da sind zu viele Stimmen. Zu viele Konflikte. Ich bin in meinem eigenen kleinen Haus, und ich verstecke mich oben, kauere mich unter den Laken zusammen, von alldem paralysiert.
Ich bin in meinem eigenen kleinen Haus, und ich muss hier raus. Ich muss weg. Ich muss weglaufen.
ZWEITER TEIL
Fertig …
5. KAPITEL
Sechs Wochen vorher
Es ist Wochenende. Samstag, um genau zu sein. Doch wie jeder, der kleine Kinder hat, weiß, haben Kinder nicht den geringsten Respekt vor dem geheiligten Konzept des Ausschlafens.
Saul war schon immer ein Energiebündel. Ich meine, ich habe nicht viele Vergleichsmöglichkeiten, doch selbst die kleinen Jungen in den Spielgruppen, in denen wir waren, und in seinem Kindergarten im nächsten Dorf wirken gegen ihn, als stünden sie unter Beruhigungsmitteln.
Er ist eine Naturgewalt. Ein Wirbelwind in einem Paw-Patrol-Schlafanzug – und er hört nie auf zu reden. Ich weiß, dass das gut ist – er hat ein irres Vokabular für sein Alter –, doch manchmal erinnere ich mich wehmütig an die Tage, als er noch nicht sprechen oder laufen konnte. Was bin ich für eine schlechte Mutter.
Im Moment liege ich in der »Totenstellung« im Bett, wie meine Freundin Lynnie das bezeichnen würde. Lynnie ist Mitte sechzig und hat Alzheimer – doch sosehr sie auch nachlässt, sie erinnert sich noch gut an ihr früheres Leben als Yogalehrerin. Saul betet sie an, und sie hat es sogar geschafft, ihn ein paarmal in die Haltung des nach unten schauenden Hundes zu bekommen – manchmal sogar für einige Sekunden.
Doch das hat ihn nicht zu einem Zenmeister gemacht – und er scheint der Meinung, dass 5:45 Uhr morgens die perfekte Zeit ist, um in mein Bett zu klettern.
Wir wohnen in einem kleinen Reihenhaus im Zentrum von Budbury. In Budbury gibt es nur eine Straße, die wie eine Schleife durch das Dorf läuft und von ein paar Geschäften und einem Pub gesäumt wird, einem Bürgerhaus und einem Tierfriedhof sowie von einigen anderen kleinen Häusern. Sie sind ziemlich alt und gehen direkt auf den Bürgersteig hinaus. Wahrscheinlich sind sie in der guten alten Zeit einmal für die Fischer gebaut worden.
Einige meiner Freunde – Stammgäste des Comfort Food Cafés, das ein paar Gehminuten entfernt oben auf den Klippen liegt – wohnen in derselben Straße. Zuerst habe ich es ein bisschen klaustrophobisch gefunden, so nahe mit Leuten zusammenzuwohnen, die darauf erpicht sind, meine Freunde zu sein. Ich hatte das Gefühl, nur allein unabhängig und sicher zu sein. Manchmal geht mir das immer noch so – aber ich versuche, dieses Gefühl mit einem großen Stock niederzuknüppeln, weil es wirklich nicht gesund ist, nicht?
Von meinem ersten, grauenhaft frühen Besuch des Badezimmers im grauen Novemberlicht der Vordämmerung weiß ich in etwa, was alle um mich herum so treiben. Edie May, die zweiundneunzig ist und fast genauso viel Energie hat wie Saul, ist noch im Bett, die Gute.
Zoe und Cal sowie Cals Tochter Martha scheinen auch noch zu schlummern. Martha ist siebzehn, und soweit ich mich an dieses Alter erinnern kann, sind die Morgenstunden heilig. Die Glücklichen.
Um genau zu sein, ist nur noch in einem anderen Haus Licht – nämlich bei Becca und Sam. Sie haben ein kleines Mädchen, das gerade ein Jahr alt geworden ist. Die kleine Edie ist einfach hinreißend, und beide beten sie an – doch sie gehört nicht zu den Langschläfern.
Ich fühle mich ein bisschen besser, als ich sehe, dass sie auch wach sind, und mir vorstelle, wie Sam übernächtigt und wie ein Zombie die kleine Edie zu bespaßen versucht. Ein Baby hat keine Schlummertaste – er wird wach sein, umgeben von Plastikobjekten in Primärfarben, und ellenbogentief in dreckigen Windeln stecken. Haha.
Saul hat auch keine Schlummertaste – doch er ist leichter abzulenken. Heute Morgen um sechs Uhr früh liege ich nicht nur in der Totenstellung – ich spiele auch mit ihm Schönheitssalon.
Es ist eins von Sauls Lieblingsspielen, und ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo er es herhat. Keine der Frauen in Budbury interessiert sich besonders für Beauty-Kram.
Willow, eine von Lynnies Töchtern, hat einen ziemlich ungewöhnlichen Stil mit viel selbst gemachter Kleidung, einem Nasenring und hellrosa Haaren. Die Teenager – Martha und ihre Freundin Lizzie – benutzen definitiv Massen an Eyeliner. Doch im Dorf gibt es keinen Schönheitssalon – und vielleicht auch nirgends mehr im 21. Jahrhundert. Selbst das Wort klingt nach den 1950er-Jahren und lässt einen an diese außerirdisch aussehenden Haartrockner denken, unter denen in den alten Filmen immer die Frauen sitzen, bevor sie zu einem heißen Date mit Cary Grant aufbrechen.
Egal – ich weiß nicht, wo er es herhat, aber ich bin froh, dass er es kennt. Es ist ein Spiel, bei dem ich absolut nichts tun muss. Das beste aller Spiele.
Er hat sich mein Make-up-Täschchen und eine Auswahl an Haarbürsten und Haarschmuck geholt, sogar Haarspray und Parfüm. Ehrlich gesagt, brauche ich beides so gut wie nie, doch wie die meisten Frauen habe ich es irgendwie geschafft, ohne guten Grund eine gigantische Menge an halb aufgebrauchter Kosmetik und Haarprodukten anzuhäufen.
Er sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen neben mir, das blonde Haar auf der einen Seite zerzaust und auf der anderen ganz glatt, und arbeitet mit der Foundation. Ich wusste nicht einmal, dass ich Foundation habe, und vermute, dass es eine tiefbraune Schmiere ist, die ich mit einundzwanzig nach einem Urlaub auf Mallorca benutzt habe. Er trägt sie mit der Zartheit eines Mike Tyson auf, doch das ist mir egal.
Hauptsache, ich kann noch etwas im Bett bleiben, deshalb brumme ich auch nur zustimmend und schließe fest die Augen, als er anfängt, Lidschatten aufzutragen. An die Mascara lasse ich ihn allerdings nicht heran, schließlich möchte ich gerne mein Augenlicht behalten.
»Du siehst wunderschön aus, Mummy«, sagt er, als er innehält, um seine bisherige Arbeit zu begutachten. »Doch ich denke, du solltest deine Wangenknochen noch ein bisschen mehr betonen. Ich trage noch etwas Rouge auf.«
»Okay«, murmele ich im Halbschlaf. Woher hat er das? Ich höre, wie die Deckel von verschiedenen Töpfen aufgeschraubt werden, und das scharfe Anhalten seines Atems verrät mir, dass er wohl etwas verschüttet hat. Wahrscheinlich wird der ganze Deckenbezug voller Puder und Cremes sein – aber, hallo, dafür gibt es schließlich Waschmaschinen, oder?
Er tupft mit den Fingern in meinem Gesicht herum und trägt das Rouge wie bei einem Clown in zwei großen Klecksen auf, bevor er zufrieden seufzt. Als Nächstes kommt der Lippenstift, nachdem er mich angewiesen hat, einen Kussmund zu machen. Ich wette, ich sehe richtig sexy aus.
Ich schiele zum Wecker und sehe, dass es inzwischen 6:20 Uhr ist. Wow. Wenn das kein Ausschlafen ist.
»Wie sehe ich aus?«, frage ich, während ich ein Gähnen unterdrücke.
»Richtig gut. Richtig schön. Ich denke, ich bin fertig. Sollen wir aufstehen, dann können wir Zeichentrickfilme gucken, bevor wir zum Frühstück ins Café gehen?«
Urrgghh. Zeichentrickfilme. Innerlich schrumpfe und sterbe ich ein bisschen und mache einen Gegenvorschlag: »Hey – warum holst du nicht meinen Nagellack und lackierst mir Finger- und Zehennägel?«
Das füllt die nächste halbe Stunde und gibt dem Bettbezug den Rest. Ich muss allerdings zugeben, dass er gute Arbeit geleistet hat, als ich noch meine brandneuen bunten Fingernägel bewundere, während er schon wohlbehalten auf dem Sofa sitzt und fernsieht. Er schiebt sich Bananenscheiben in den Mund und lacht über die Streiche einer Zeichentrickmaus, die in die Schule geht.
Ich stopfe den Bettbezug in die Waschmaschine und ziehe einen neuen auf – es wird jetzt ohnehin kälter, und ich freue mich schon darauf, mich später unter dem sauberen Flanell zusammenzukuscheln. Ich lebe schon ein wildes, irres Leben, was soll ich sagen?
Ich hole ein bisschen Kursarbeit für das College nach – ich versuche, meine Krankenpflegekenntnisse auf dem neuesten Stand zu halten, und seit ich Lynnie kenne, interessiere ich mich auch viel mehr für psychosoziale Gesundheit – und ordne meine Unterlagen. Ich bügele ein paar Sachen in dem vergeblichen Versuch, mich auf die kommende Woche vorzubereiten, und checke meine E-Mails. Bis auf eine Mail von einem nigerianischen Prinzen, der mir ein unschlagbares Investmentangebot macht, ist da nichts.
Mein Telefon zeigt drei verpasste Anrufe von meiner Mum, doch im Moment bin ich noch nicht für dieses Gespräch bereit. Es ist nie lustig, Mums wöchentliche Updates zu bekommen, zu hören, welch furchtbarer Vergehen sich mein Dad in der letzten Zeit schuldig gemacht hat. Ich liebe sie beide, doch ich habe das Gefühl, zwischen zwei wütende Pitbulls geraten zu sein. Nur mit mehr Gehässigkeit und Geifer.
Zwischendurch sehe ich immer wieder nach Saul und versichere mich, dass er nicht den Sofatisch anknabbert oder an den Lampen schaukelt. Schließlich bringe ich ihn nach oben, um ihn für den vor uns liegenden Tag fertig zu machen.
Er ist aufgeregt, ins Café zu kommen, und ich kann es ihm nicht verdenken – das Café ist wie ein zweites Zuhause für uns geworden. Ein Zuhause, in dem es immer Kuchen gibt.
Es ist sein Lieblingsplatz auf dieser Welt. Ich denke, meiner vielleicht auch.
6. KAPITEL
Das Comfort Food Café ist mit keinem anderen Ort auf dieser Welt vergleichbar. Es thront oben auf den Klippen, ist auf einer Seite vom Meer und auf der anderen von einer grünen Hügellandschaft umgeben.
Man gelangt dorthin, indem man einen langen, gewundenen Pfad hinaufläuft und am Ende durch einen schmiedeeisernen Torbogen tritt, auf dem der Name des Cafés auf einem Rankenwerk aus Metallrosen steht. Selbst der Torbogen ist schön und einladend.
Das Gebäude selbst ist niedrig und weitläufig und steht in einem verwunschenen Garten. Hier gibt es Tische und Bänke, die im Sommer vor Menschen überquellen, sowie einen Grillbereich, eine Terrasse und seit diesem Jahr auch den dem Café angeschlossenen Comfort Reads Buchladen.
Der Buchladen hat geöffnet, als wir oben ankommen, und Zoe – klein, rothaarig und schlank – winkt uns durch das Fenster zu. Sie sitzt auf ihrem Stuhl hinter der Kasse, ein Buch auf den Knien. Saul quietscht vor Aufregung, als er sie sieht, weil sie das letzte Mal, als wir hier waren, eine Grüffelo-Tasse für ihn hatte.
Zoe ist vergangenes Jahr mit ihrer Patentochter Martha hierhergezogen, nachdem deren Mutter gestorben war. Es war keine leichte Zeit für die beiden, doch inzwischen haben sie sich eingelebt – zusammen mit Cal, Marthas biologischem Vater, den sie bis vor dem letzten Weihnachtsfest noch nie gesehen hatte, da er in Australien gelebt hat. Ja, ich weiß – wenn Budbury eine Facebookseite hätte, würde unter dem Beziehungsstatus »kompliziert« stehen.
Ich denke, niemand hier ist einfach oder unkompliziert oder hat ein sehr traditionelles Leben hinter sich. Um ehrlich zu sein, ist das einer der Gründe, warum mich dieser Ort angesprochen hat – die Leute hier haben viel durchgemacht, haben ihr Schicksal in die Hand genommen und scheinen es jetzt als ihre Lebensaufgabe zu betrachten, andere Menschen glücklich zu machen, während sie sie mit Karottenkuchen füttern.
Es geht sogar so weit, dass sie den Leuten ihr jeweiliges Lieblings-Trost-Essen servieren – wie die Biskuitrolle bei mir, die mich immer an meine Oma erinnert. Irgendwann muss ich das einmal erwähnt haben, aber ich erinnere mich nicht mehr, wann – ich weiß nur, dass eine Biskuitrolle auf mich wartet, wenn ich besonders deprimiert oder müde bin, selbst wenn sie nicht auf der Speisekarte steht.
Ich erinnere mich noch lebhaft an das erste Mal, als ich in das Café gekommen bin. Es war ein paar Wochen nach unserem Umzug nach Dorset – nachdem ich Jason verlassen hatte. Ich hatte eine Weile bei meinen Eltern gewohnt, aber schnell gemerkt, dass das ein Fehler war. Ich wusste, dass ich ganz weggehen musste, und hatte mich für den Neuanfang nach einem Ort umgesehen, der weit genug weg lag, aber nahe genug an Bristol war, dass ich meine Eltern besuchen konnte und Saul vielleicht seinen Dad, sollten sich die Dinge dementsprechend entwickeln. Das haben sie nicht, aber so ist das Leben.
Mum hat mich erstaunlicherweise beim Umzug finanziell unterstützt – irgendetwas war da mit einem »Notgroschen«, den meine Oma hinterlassen hatte –, doch es hat Zeit gebraucht, um alles zu regeln. Anfangs hat Jason Widerstand geleistet, hat ein paar halbherzige Versuche unternommen, mich zu überzeugen zurückzukommen, doch sie haben sich hohl und falsch angefühlt – es ging uns besser ohneeinander, und das wussten wir beide. Schließlich ist er selbst weggezogen, bis nach Glasgow – Neuanfänge allerwegen.
Doch wegzugehen war härter, als ich gedacht hatte. Alleine mit einem Baby an einem Ort neu anzufangen, wo ich niemanden kannte. Ich hatte gedacht, dass es genau das sei, was ich brauchte – aber ich hatte nicht bedacht, wie einsam ich mich in diesen ersten Wochen fühlen würde. Ich musste mich zwingen, nicht einzuknicken, nicht meine Eltern oder Jason anzurufen, nicht rückfällig zu werden.
Saul war zu dem Zeitpunkt fast achtzehn Monate alt und absolut nicht einfach. Oft war er wie vom Teufel besessen, ich darf das jetzt sagen, denn ich bin seine Mum, und es ist vorüber. Er hatte eine nie versiegende Energie, es gab dauernde Kämpfe, und dann war da die Trotzphase, noch weit vor seinem zweiten Geburtstag. Ich war erschöpft, ausgepowert und insgeheim überzeugt, dass mein eigenes Kind mich hasste. Ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte.
Dann bin ich eines Morgens hierhergekommen. In das Café. Aus echter, reiner Verzweiflung – aus dem Bedürfnis heraus, aus dem Haus zu kommen und dem Rest der Welt zumindest etwas näher zu sein. Ich habe hier gesessen, während Saul mir voller Begeisterung Brotstreifen an den Kopf geworfen und sein Ei zu Brei zermatscht hat, als sei es sein Todfeind, und ich war so fertig und müde, dass ich das Gefühl hatte, gleich durchzudrehen.
Eine Frau, von der ich heute weiß, dass es Becca war, ist zu mir gekommen und hat mir einen Toast gebracht. Nicht Saul – sondern mir. Dann ist eine andere Frau gekommen, die ich für einen Gast gehalten habe, die aber die Besitzerin des Cafés war, Cherie Moon, wie ich inzwischen gelernt habe, und sie hat mir Saul abgenommen. Sie ist eine üppige Frau in den Siebzigern, groß und stark, mit einem wettergegerbten Gesicht und Falten, die sie voller Stolz trägt. Sie hat volles, langes Haar, das sie oft zu einem grauen Zopf flicht, und so viel Selbstvertrauen, dass es aus jeder Pore zu triefen scheint.
Jedem anderen hätte ich mein Baby nicht so einfach anvertraut – eher um seinet- als um Sauls willen –, doch ich wusste instinktiv, dass Cherie mit ihm fertigwerden würde. Sie ist mit ihm im Raum herumgegangen, während ich meinen Toast gegessen und ein warmes Getränk getrunken habe, solange es noch warm war. Die Erleichterung, die ich dabei empfunden habe, war unglaublich. Ich musste sogar für eine Minute auf die Toilette verschwinden, um mich wieder zu beruhigen – damit meine ich, dass ich unaufhaltsam in ein durchnässtes Papierhandtuch geweint habe.
Diese unerwartete Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft mir gegenüber – einer komplett Fremden. Das war meine Einführung in das Café. In das Dorf. In die Gemeinschaft, von der ich jetzt, nach fast zwei Jahren, langsam zu sagen wage, dass es auch meine ist.
Es hat lange gedauert, weil ich misstrauisch und eigensinnig bin und immer vorsichtig, was unerwartete Freundlichkeiten angeht, doch inzwischen verstehe ich das alles besser. Dieser Ort ist wie Rudolphs Insel der Außenseiter, und irgendjemand ist immer mit einem Pflaster oder einem Löffel Medizin für die Seele zur Stelle.
Heute ist unser Leben mit dem Leben dieser Menschen verknüpft, wie ich es mir nie hätte vorstellen können. Die Cafétruppe hilft mir mit der Kinderbetreuung. Ich helfe ihnen mit anderen Dingen. Wir alle achten aufeinander. Es ist wie ein großer, wirrer, unförmiger Ball aus Schnüren, alle Richtungen führen zueinander.
Ich bin nach wie vor niemand, der auf den Festen, die das Café veranstaltet oder organisiert, gerne im Mittelpunkt steht – ich versuche noch immer, mich um die großen sozialen Events herumzumogeln –, aber es wird besser. Ich empfinde ansatzweise eine Sicherheit und Geborgenheit, wie ich sie seit dem Tod meiner Oma nicht mehr erlebt habe.
Saul sieht diesen Ort hier als sein Zuhause an. Er ist noch klein – er erinnert sich an kein Leben davor. Er hält Lynnie für seine schrullige Oma, Willow mit ihren rosa Haaren für eine Zeichentrickfigur, und Cherie ist die Königin der Welt.
Laura, die das Café leitet, ist für ihn die knuddeligste Frau überhaupt und Edie May eine magische Elfe mit einem winzigen Gesicht, die in einem Teekessel lebt.
Er denkt, dass alle Männer in Budbury – und es gibt einige davon – nur da sind, um mit ihm Fußball zu spielen oder am Strand spazieren zu gehen oder um ihm dort bei der Suche nach Fossilien zu helfen. Die Hunde von Budbury – Midgebo, Lauras schwarzen Labrador, Bella Swan, Willows Border-Terrier-Hündin, und den Rottweilermischling Rick Grimes von ihrem Freund Tom – hält er für seine ganz persönlichen Gefährten.
Ich mag meine Eltern und Jason zurückgelassen haben, doch ich habe so viel mehr gewonnen – ein ganzes Dorf mit den großherzigsten Menschen, denen ich je begegnet bin.
Saul zieht an meiner Hand, als wir uns den Türen nähern, seine kleinen Beine stapfen vorwärts, so schnell sie können, er ist wie ein Welpe an der Leine, der so schnell wie möglich hineinwill.
Hinein, wo eine Menge Spaß auf ihn wartet. Und wo es ein wenig seltsam wird. Seltsam auf eine gute Weise. Es gibt vieles, was man in einem Café erwartet – Tische mit rot karierten Tischdecken, einen großen Kühlschrank voller Erfrischungsgetränke, eine Kühlvitrine, vollgestopft mit Sandwichplatten, Salaten und riesig großen Kuchenstücken, eine Essensausgabe und eine Kasse. So weit alles ganz normal.
Doch dann sind da die Extras. Die Dinge, die dir sofort verraten, dass dies kein gewöhnlicher Ort ist. Die vielen Mobiles, die von der Decke herunterhängen, herunterbaumelnde Kuriositäten wie alte Schallplatten und Fische aus Pappmaschee. Ein halbes rotes Kajak. Die Ruder von einem Ruderboot. Fischernetze mit Lichterketten darin. Die Regale mit den wahllos hineingestellten Dingen – einer alten Nähmaschine, einem riesigen Fossil, Reihen von Büchern und Tischspielen und Puzzles.
Es ist wie ein Anti-Ikea – als hätte sich ein Kuriositätenladen mit einer Teestube zusammengetan und ein Baby bekommen. Trotz des Durcheinanders macht alles einen frischen und sauberen Eindruck und strahlt in dem hellen Licht, das durch die Fenster an allen Seiten hereinströmt.
Auf der einen Seite sieht man in den Garten hinaus, auf der anderen auf das Meer und den Strand und die endlosen Felskuppen, die sich bis zum Horizont erstrecken. Es ist die Art von Ort, an dem man Stunden damit verbringen kann, einfach aufs Meer zu schauen.
Saul stürmt durch die Türen und nimmt eine dramatische Pose ein. Mit geballten Fäusten streckt er die kleinen Arme in die Luft, als wäre er Superman, bereit zum Abheben.
»Alle mal herhören, ich bin da!«, ruft er, nur für den Fall, dass sie es noch nicht mitbekommen haben. Laura ist hinter der Theke, rundlich und hübsch und immer im Kampf mit ihrem lockigen Haar. Sie hält mit der Arbeit inne – sie schneidet gerade eine Lemon-Meringue-Pie auf –, und ihr Gesicht verzieht sich zu einem breiten Lächeln.
»Gott sei Dank! Ich habe mich schon gefragt, wann ihr auftaucht!«, sagt sie, wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab und kommt auf uns zu. Sie geht vor Saul in die Hocke und umarmt ihn, was er so heftig erwidert, dass sie schließlich auf dem Hintern sitzt, sein Gesicht in ihren Haaren vergraben.
Ich will mich gerade entschuldigen, doch sie sieht zu mir hoch und runzelt die Stirn. Von Laura kommt das einem ernsten Anpfiff gleich. Und ich halte den Mund.
Laura hat selbst zwei Kinder – Nate und Lizzie, die inzwischen Teenager sind – und versteht sie einfach. Sie hat mir ungefähr siebentausend Mal gesagt, dass ich aufhören soll, mich für Saul zu entschuldigen, wenn er nur das tut, was Kinder in diesem Alter tun. Sie sieht mich über Sauls Schopf hinweg weiter an, aber ich habe keine Ahnung, was ich dieses Mal falsch gemacht habe, und tue so, als würde ich es nicht bemerken.
Ich schaue mich um und sehe Cherie an einem Ecktisch sitzen, die Füße in rot-grün gestreiften Socken auf dem Stuhl neben ihr. Ihr Mann Frank, ein 82-jähriger Silberfuchs, sitzt ihr gegenüber, trinkt seinen Tee und liest Zeitung. Beide sehen mich mit einem breiten Grinsen an. Sie müssen heute Morgen wohl besonders gute Laune haben.
kompliziert
Denn genau wie Saul zu denken scheint, dass Cherie die Königin ist, Edie eine magische Elfe und Willow eine Zeichentrickfigur und dass alle Hunde ihm gehören, hat er auch seine Meinung zu Van. In seiner Welt kommt Van so etwas wie einem echten Dad am nächsten.