Einfach mal mit der ganzen Familie aussteigen!
Das Leben mit Kindern könnte so schön sein, wenn der Alltag nicht wäre. Doch man kann das Hamsterrad verlassen – indem man ab und zu die Perspektive wechselt!
In 20 kleinen Fluchten zeigt Journalistin Vera Schroeder den Ausstieg im Miniaturformat: Wie man im täglichen Wahnsinn das ganz persönliche Familienglück wiederfindet; wie man Chaos zulässt und Kontrolle abgibt; wie man den Fokus schärft und den Blick schweifen lässt.
Wir müssen nicht unser ganzes Leben umkrempeln, damit es wieder leicht und lebenswert wird! Wir müssen in erster Linie herausfinden, was uns als Familie guttut und mit neuer Kraft versorgt.
Vera Schroeder studierte Politik, Soziologie und Kommunikation und besuchte die Deutsche Journalistenschule. Anschließend arbeitete sie viele Jahre für die Magazine NEON und Nido, zuletzt als Chefredakteurin beider Hefte. Seit 2014 ist sie bei der Süddeutschen Zeitung. Sie hat das Magazin Süddeutsche Zeitung Familie entwickelt und geleitet und war für die Kinder- und Familienseiten der SZ verantwortlich. Darüber hinaus absolviert Vera Schroeder eine Ausbildung zur Systemischen Beraterin und ist in ihrer Lieblingsrolle Mutter von vier Kindern.
@kriegundfreitag heißt eigentlich Tobias Vogel und veröffentlicht im Netz seine mittlerweile berühmten humorvollen und poetischen Strichmännchen-Zeichnungen. Der Name »Krieg und Freitag« entstand durch die Autokorrektur seines Handys, das »Freitag« statt »Frieden« schrieb. 2019 gewann er den Grimme Online Award in der Kategorie »Kultur und Unterhaltung«, 2020 wurde sein Buch Schweres Geknitter mit dem Max und Moritz-Publikumspreis ausgezeichnet. Der Illustrator ist Vater eines Sohnes.
Vera
Schroeder
Kleine
Fluchten –
GROSSES
Glück
20 ungewöhnliche Ideen
für ein entspanntes
Familienleben
Kösel
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nach einer Idee von @kriegundfreitag.com
Umschlagmotiv: © @kriegundfreitag.com;
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Abbildungen innen: Cartoons: © @kriegundfreitag.com
Papierflieger und Rakete: MH/stock.adobe.com
Rahmen: paintermaster/stock.adobe.com
Eiskugel: MaraZe/Shutterstock.com
Lektorat: Dr. Daniela Gasteiger, Iris Seyband
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-25993-8
V001
www.koesel.de
Für meine Tante Nina.
Inhalt
Vorwort
Kleine Fluchten 1: Die Zehn-Grad-Verabredung
Warum Eis immer hilft
Kleine Fluchten 2: Erlaubniskärtchen für Eltern
Warum Mitgefühl mit sich selbst
so wichtig ist
Kleine Fluchten 3: Schreiben Sie mal wieder eine Liste!
Brief an mich als Oma
Grosse Fluchten 1: VON UNTERWEGS
»Fernweh wird immer ein Teil
von uns bleiben«
Kleine Fluchten 4: Sagen Sie eine Woche lang alles ab
Warum Familienzeit wichtiger ist
als der Familienkalender
Kleine Fluchten 5: Der blaue Tag
Über die positive Kraft
der Möglichkeit
Kleine Fluchten 6: Schule, juhuu!
Warum Schulgemecker so lähmend ist
Grosse Fluchten 2: Die Patchwork–Segler
»Ein bisschen Wahnsinn«
Kleine Fluchten 7: Zimmertausch
Umbauen statt umziehen
Kleine Fluchten 8: Üben Sie »Nein«!
Warum zu viel »Ja« Ihrer Familie
schaden kann
Kleine Fluchten 9: »Alle auf Los«-Wochos!
Warum Gesellschaftsspiele
besser sind als ihr Ruf
Grosse Fluchten 3: Die offenen Arme der Welt
»Yanti ist so etwas wie ein Dosenöffner
in fremde Kulturen«
Kleine Fluchten 10: Tempo à la Kind
Wie schnell sind wir ohne Stress?
Kleine Fluchten 11: 120 Minuten zum Träumen
Eine ganz einfache Übung für
mehr Lieb
Kleine Fluchten 12: Jaulen und Johlen!
Weshalb es hilft, ab und an wieder
das Kind in sich zu spüren
Grosse Fluchten 4: MUTTER-KIND-REISE
»Bevor ich 50 werde, muss ich
noch mal weg ...«
Kleine Fluchten 13: Matratzenlager
Über die einfachste, komplizierteste
Tätigkeit der Welt
Kleine Fluchten 14: Das »Jeder erzählt seinen
Tag«-Ritual
Wie wir Alltagssehnsucht
besser aushalten
Kleine Fluchten 15: Schneller, als die Füße tragen
Einfach mal einen Gang runterschalten
Grosse Fluchten 5: Wenn Reisen zur Dauerliebe wird
»Mehr Zeit als im Alltag«
Kleine Fluchten 16: Das Fürchten lernen
Legosteine nach Farben sortieren
Kleine Fluchten 17: Urlaub, aber richtig
Warum wir uns oft viel mehr
leisten können, als wir denken
Grosse Fluchten 6: Die klassische Elternzeit–Weltreise
»Unser Einstieg in die
Gleichberechtigung«
Kleine Fluchten 18: Der Handykasten
Wir basteln uns Familienzeit
Kleine Fluchten 19: Stofftierparty
Rollen spielen
Kleine Fluchten 20: Complicate your Life
Über das Gegenteil von »praktisch«
LESEN MACHT GLÜCKLICH
Meine bunte Bücherliste zum Thema Familie
Vorwort
Wenn mich jemand fragt, ob sich in den 13 Jahren zwischen der Geburt meines ersten und meines vierten Kindes viel verändert hat im Elternsein, dann erzähle ich immer drei Geschichten. Die erste handelt davon, dass der Vater meiner Kinder anfangs in unserem Freundeskreis eine Debatte darüber auslöste, ob es männlichkeitstechnisch in Ordnung sei, ein Baby im Tragegurt mit sich herumzutragen. Die zweite Geschichte ist die von den Spielplatzdates mit meiner Freundin Stephanie, bei denen wir auf unserer Lieblingsbank eine Zigarette nach der anderen rauchten, während unsere Einjährigen im Sandkasten buddelten. Und die dritte Geschichte handelt vom Rat eines älteren Kollegen. Als ich ihm erzählte, dass ich mich als Journalistin auf Familienthemen konzentrieren will, empfahl er mir, lieber gleich in die Mode zu gehen. Das sei ähnlich trivial, aber man könne damit wenigstens Geld verdienen.
Nicht nur bei mir, auch generell hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten für Familien in Deutschland viel verändert. 2007 wurde das Elterngeld eingeführt. Erste Elternblogs starteten, die bald in einer neuen, authentischen Sprache das Narrativ vom kitschigen Familienglück dekonstruierten. Die Kinderwunschmedizin entwickelte sich rasant. Familienformen wurden bunter und vielfältiger. 2012 stieg die Geburtenziffer in Deutschland nach langer Zeit erstmals wieder an. Heute arbeiten so viele Mütter wie nie zuvor, manche von ihnen werden sogar Chefinnen. Und ab und an nehmen Väter Elternzeit.
Also alles hervorragend gelaufen für Familien? So gut die Entwicklungen auf den ersten Blick wirken, so sehr ist mit ihnen leider auch der Stress gewachsen. 40 Prozent der Mütter und Väter in Deutschland fühlen sich laut der Forsa-Umfrage »Eltern unter Strom« von 2019 in ihrem Alltag dauerhaft gestresst. Auch wenn das nicht permanent so empfunden wird: Dass das Familienleben zwischen Kinderbetreuungszwängen, Jobstress, Zukunftssorgen, eigenen Wünschen der Erwachsenen und Sehnsüchten und Bedürfnissen der Kinder oft sehr anstrengend ist, lässt sich aus fast jedem Elterngespräch heraushören. Als Hauptursache geben die Befragten der Forsa-Umfrage ihren eigenen hohen Anspruch an: Sie tun alles, um es den Kindern, dem Partner oder der Partnerin, den Anforderungen im Job und auch sich selbst recht zu machen. 21 Prozent der Befragten führen den Stress zudem auf gesellschaftlichen Druck zurück. Was steckt genau hinter diesen Wahrnehmungen? Von wo kommen die Kräfte, die an uns Eltern zerren?
Ein Stressfaktor für Familien heute ist die Erwerbsarbeit. Rasant wurde in ganz Deutschland üblich, was es vorher nur im Osten gab: Der Großteil der Mütter kehrt schon mit Kleinkindern in den Job zurück, während Väter unverändert weiterarbeiten. Während 2006 im dritten Lebensjahr eines Kindes 44,1 Prozent der Mütter wieder arbeiteten, waren es 2018 schon 60,1 Prozent. Eine Zeit lang nannte man den Spagat zwischen Care- und Lohnarbeit, den viele Frauen hinlegen (manche gern, manche, weil es gar nicht anders geht), »Doppelbelastung«. Mittlerweile heißt es freundlicher »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« oder, noch stärker auf das individuelle Jonglieren abzielend, »Work-Life-Balance«. Letzteres ist ein fieser Begriff, denn er suggeriert, dass es unsere ganz persönliche Verantwortung ist, das Rattenrennen zwischen Zuhause und Büro ordentlich hinzukriegen.
Natürlich ist es großartig (und übrigens ein Menschenrecht), dass Frauen in Deutschland heute auch mit Kindern ihr eigenes Geld verdienen, die Möglichkeit haben, einen Beruf auszuüben und, ja, in diesem sogar erfolgreich zu sein. Wie viel schwieriger bis unmöglich diese Aufgabe allerdings wird, wenn der Staat nicht hinterherkommt, gute Betreuungsplätze zu organisieren, wird in der neuen Begriffswelt von Work-Life-Balance gern unterschlagen. Weder Politik noch Wirtschaft haben es bisher geschafft (oder auch ernsthaft versucht), die immense Mehrbelastung, die innerhalb der Familien entstanden ist, aus der Privatverantwortung der Einzelnen zu lösen. Es wurden zwar Betreuungseinrichtungen ausgebaut, Schutzrechte für Eltern gestärkt und das schon erwähnte Elterngeld eingeführt. Solange die Vollzeitarbeitswoche allerdings 40 Stunden dauert, kann es rein rechnerisch nur stressig bleiben: Während in der Generation unserer Großeltern und oft auch noch unserer Eltern (zumindest in Westdeutschland) meist einer 100 Prozent arbeitete und der (allermeistens die) andere die Familienarbeit leistete, sind heute viele Paare zusammen zu 150 bis 200 Prozent erwerbstätig. Die Familienarbeit ist trotzdem nicht weniger geworden.
Warum also tun wir uns das alle an? Weshalb scheren wir – Männer wie Frauen – aus diesem Belastungssystem nicht aus und beantragen kollektiv Teilzeit? Drei Gründe liegen auf der Hand: Weil viele Jobs in ihrer aktuellen Konstruktion in Teilzeit gar nicht möglich sind. Weil man sich in Teilzeit in unserer Arbeitskultur Chancen verbaut. Und weil man zu wenig Geld verdienen würde, um als Familie überleben zu können. Deswegen bräuchte es gesetzliche Strukturen: die 30- bis 32-Stunden-Woche als neue Vollzeit und nicht als gnädiges Teilzeitmodell.
Die Frage nach dem Geld hängt mit einer anderen Entwicklung zusammen, die Eltern, aber auch alle anderen Menschen in den vergangenen Jahrzehnten immens geprägt hat. Es ist die Kernformel des liberalen Kapitalismus: »Du findest dein Glück im Konsum.« Für Eltern versteckt sich dieser Satz gern in der Feststellung: »So wie bei meinen Eltern, dass nur einer arbeitet, das ginge bei uns ja gar nicht mehr! Da würden wir hinten und vorne nicht hinkommen!« Man versucht mit diesem Satz zu betonen, dass das Leben unendlich teurer geworden sei und man sich deshalb ganz automatisch mehr abrackern müsse, um über die Runden zu kommen.
Sieht man ein paar Zahlen an, bröckelt diese Version. Mindestens genauso stark wie etwa die Mieten sind auch unsere Ansprüche an das Leben als konsumierende Familien gestiegen. Oder sagen wir lieber: Unsere Ansprüche an das Leben wurden hochgeschraubt – von Konsumlogiken, aber auch von uns selbst. Während eine vierköpfige Familie in Westdeutschland im Jahr 1956 im Schnitt 60,2 Quadratmeter Wohnraum hatte, waren es 2014 (das sind die jüngsten Zahlen) 118 Quadratmeter. Es ist heute schwer vorstellbar, zum Beispiel drei Kinder, wie früher durchaus üblich, dauerhaft in einem Zimmer unterzubringen. Oder Urlaube: Während unsere Eltern noch den einen Sommerurlaub im Jahr im klapprigen Campingbus an der Adria verbrachten, leistet sich die durchschnittliche Mittelschichtsfamilie heute zwei bis drei Reisen im Jahr. Dazu kommen Produkte, von denen Generationen vor uns nicht einmal ahnten, dass man sie brauchen könnte: Wickeltaschen mit 72 Extrafächern, Kinderwägen mit Alufelgen, Bastelkurse für Kinder und Meditationskurse für Eltern, VW-Busse als reguläre Autos ab dem zweiten Kind, Lastenräder, SUPs und zum Liegenlassen im Schulsport superschicke Wasserflaschen aus Aluminium, läppische 30 Euro das Stück. Auch nachhaltiger Konsum kostet mehr Geld. Angesichts der Erderhitzung achten zum Glück immer mehr Menschen darauf, eine einigermaßen korrekt produzierte Jogginghose zu finden oder für Bio-Catering im Kindergarten zu kämpfen.
Berechnungen zeigen, dass die Gehälter in Deutschland im Verhältnis zu den Lebenshaltungskosten flächendeckend um 25 Prozent stärker gestiegen sind. Trotzdem haben wir das Gefühl, für frühere Generationen sei es einfacher gewesen, mit nur einem Gehalt klarzukommen. Das liegt nicht an den real gestiegenen Kosten, sondern an der Idee der Konsumgesellschaft, in der wir leben. Alles ist heute eine Ware. Auch Freizeit, Schönheit oder Bildung. Wenn alles eine Ware ist, wird man auch selbst zur Ware und die eigenen Kinder werden es ebenso. Nur wenn eine Ware besonders gut ist, ist sie auch besonders wertvoll. Deshalb optimieren wir uns, wir optimieren die Kinder und merken gar nicht, was wir dabei eigentlich zementieren: die Wirtschaftsordnung, von der wir so gestresst sind.
Viele von uns hängen heute im Kreis aus »Geld verdienen – konsumieren – Stress haben – mehr Geld verdienen, um diesem Stress dann im Fitnessstudio/Urlaub/Nachhilfeunterricht zu entkommen«, fest. Das ist kein individuelles Versagen. Im Gegenteil, es ist gar nicht leicht, die eigenen Abhängigkeiten überhaupt zu erkennen, gegen die wir – so scheint es – ohnehin nicht sehr viel ausrichten können. Klar, wir alle machen regelmäßig unsere Kreuze in der Wahlkabine, wir können uns politisch engagieren, im Elternbeirat, bei Fridays for Future, auf Twitter oder im Stadtrat. Aber wie schwer es fällt, die grundsätzliche Idee des »Immer mehr« zu verändern, hat nicht zuletzt Corona deutlich gemacht. Woher die Kraft und den Mut nehmen, plötzlich gegen alle Regeln »weniger« zu wollen? Oder die Dinge, wie sie sind, »gut genug« zu finden, und sich für mehr Gemeinschaft statt Wettbewerb zu engagieren?
Mit diesem Buch will ich Familien dazu anregen, kleine Fluchten in ihren Alltag einzubauen, um öfter wieder Kraft für ein »Gut genug« zu haben. Ich möchte die Idee festigen, dass gerade in unserer immens beschleunigten Welt jede Familie kleine Pausen braucht. Das Buch versammelt dafür 20 konkrete Vorschläge, die einfach umzusetzen sind und gleichzeitig die Möglichkeit in sich tragen, langfristige Veränderung auszulösen. Im Idealfall probieren Sie die Fluchten aus, variieren sie für Ihre Familie oder denken sich eigene aus. Ich will Ihnen Mut machen, unabhängig zu denken und gleichzeitig liebevoller mit sich selbst und den eigenen Ansprüchen umzugehen. Ich glaube, dass man nur mit guter Selbstfürsorge im »Wahnsinn Familienleben« das Glück findet. Denn die defizitären Gefühle, die viele Eltern teilen, sind nie individuellem Versagen geschuldet, sondern haben ihre Ursache in gesellschaftlichen Zusammenhängen. An anderen Stellen profitieren wir als Familien sogar von diesen Strukturen. Es geht darum, herauszufinden, wofür wir selbst Verantwortung tragen und wofür eindeutig nicht, obwohl es sich manchmal so anfühlt. Damit das Familienleben wieder lustiger wird. Damit es uns und den Kindern gut geht. Die kleinen Fluchten sollen helfen, sich von dem, was man sowieso nicht ändern kann, nicht zu sehr stressen zu lassen. Damit Sie genug Kraft tanken können, den Rest zu ändern.
Zwischen den Ideen für den Alltag finden sich Geschichten von Familien, die große Fluchten gewagt haben. Es sind Interviews mit Menschen, die zumindest für eine gewisse Zeit keine Lust mehr auf Alltagstrott oder -stress hatten und ihr Leben auf den Kopf gestellt haben. Die sich durch eine lange Reise oder einen längeren Auslandsaufenthalt Raum jenseits aller gesellschaftlichen Verpflichtungen gesucht haben. Ich liebe solche Aussteigergeschichten. Ich bin nicht mutig oder radikal genug, um es einer dieser Familien nachzumachen. Aber ich träume mich gern kurz in ihr Leben, um dann wieder um 22 Uhr abends in meiner Küche zu landen, in der noch drei E-Mails geschrieben, ein paar Muffins für das Kindergartensommerfest gebacken werden müssen und gerade ein Streit über Bettgehzeiten eskaliert.
Dass es ein Luxus ist, sich von solchen Dingen belastet zu fühlen und nicht von viel existenzielleren Problemen, ist ein Privileg, dessen ich mir in meinem Alltag wie auch als Autorin dieses Buches stets bewusst bin. Alles, was Sie hier lesen, ist aus der Perspektive einer in Westdeutschland sozialisierten Cis-Frau geschrieben, die mit vier Kindern in einer um Gleichberechtigung bemühten Partnerschaft in München lebt. Dieser Hintergrund wird an vielen Stellen des Buchs sicher deutlich. Ich erkenne die Begrenztheit meiner Erzählperspektive an. Und wünsche mir, dass andere Sichtweisen ebenso ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.
Letztens traf ich übrigens den Kollegen wieder, der mir vor 13 Jahren Modejournalismus statt Familienthemen empfohlen hatte. An seinen Karrieretipp von damals konnte er sich nicht mehr erinnern. Aber dass es heute sehr schwierig ist, mit Modejournalismus Geld zu verdienen, weil es immer weniger Magazine gibt, darüber wusste er Bescheid. Gleichzeitig fiel mir in dem Gespräch auf, wie wertvoll mein Entschluss geworden ist. Als Journalistin für Familienthemen wird man heute immer ernster genommen. In allen großen Zeitungen wurde der Bereich in den vergangenen Jahren ausgebaut. Familienpolitische Belange, Geschichten über den Alltag von Eltern oder die Rechte von Kindern nehmen zwar immer noch nicht den gleichen Raum ein wie zum Beispiel Fußball. Aber die Aufmerksamkeit wächst. Während der Corona-Krise konnten wir sehen, wie wichtig das ist. Familien brauchen eine starke Lobby. Dafür benötigen sie Energie – die folgenden Auszeiten und Tipps sollen dazu beitragen, dass Eltern und Kinder ausreichend Ressourcen finden.
Vera Schroeder
Kleine Fluchten
Die Zehn-Grad-
Verabredung
Warum Eis immer hilft
Familiärer Stress hat viel damit zu tun, dass es zwischen Eltern und Kindern einen dauernden Kampf um Regeln, Ge- und Verbote gibt. »Wenn du dein Gemüse nicht aufisst, darfst du nachher nicht die Sendung mit der Maus gucken.« »Mach die Hausaufgaben, sonst kannst du nachher nicht raus.« »Stell bitte die Schuhe ordentlich vor die Tür, wie sieht das denn sonst aus für die Nachbarn.« »Und nein, nicht noch mal Gummibärchen!« Vonseiten der Kinder heißt es dann: »Ich will aber nicht.« »Ich will aber auch.« »Später.« »Nein.« »NEIN!« »ICH WILLWILLWILL!« Oder einfach: Durchzug bzw. bei kleineren Kindern Weinen, Toben, Gar-nicht-mehr-Wollen.
Warum ist das so? Wie entkommen wir dieser Dauerschleife, oder wie gelingt es uns, zumindest ab und an aus ihr auszubrechen? Einen vielversprechenden Weg bieten bindungsorientierte Ansätze. Sie gehen davon aus, dass Kinder mit einem großen Bedürfnis nach Bindung auf die Welt kommen und deswegen mit ihren Bezugspersonen so gut kooperieren, wie sie eben können. Diese Kooperationsbereitschaft ist grundsätzlich im Kind angelegt, sie kann durch Nähe und Gespräche wachsen und wird durch Verbote und Befehle in ihrer Balance leicht gestört. Es geht darum, mit den Kindern auf Augenhöhe zu kommunizieren und gemeinsam immer wieder neue Lösungen für die Herausforderungen des Alltags zu finden. Bindungsorientiertes Familienleben ist also das Gegenteil von reflexartigen »Wenn-dann«-Erpressungen, der grundsätzlichen Idee der Strafe und auch Regeln und Befehlen, die Eltern durch ihre Machtposition pauschal über Kindern abwerfen.
Klingt kompliziert? Ist es eigentlich gar nicht. Aber es ist – zumindest für Menschen wie mich, die in ihrem eigenen Elternhaus vor allem behavioristisch geprägt wurden, also in einer klaren Eltern-Kinder-Hierarchie und in einem System aus Belohnen und Strafen – schon auch immer wieder sehr schwierig! Denn bindungsorientierte Ansätze schlagen uns nicht einfach ein paar neue Regeln oder Tipps vor. Ausgangspunkt ist vielmehr, dass jedes Kind unterschiedlich ist und deshalb einheitliche Ratschläge ziemlich wertlos sind. Hinter bindungsorientierten Modellen steckt somit ein Haltungswandel von gesellschaftlicher Dimension: Die Bedürfnisse und damit Rechte von Kindern gelten gegenüber denen der Erwachsenen als gleichwertig. Es geht nicht mehr darum, Kinder mittels positiver oder negativer Konsequenzen zu er-ziehen, sondern in Be-ziehung zu den Kindern zu gehen.
Ein Irrtum, den ich immer wieder beobachte, besteht darin, zu denken, dass diese Beziehungsarbeit irgendwie leichter oder nachlässiger sei als die klassische Erziehungsarbeit und deswegen »zu lax«. Also zu glauben, bindungsorientiert heiße einfach »weniger streng« und der Rest komme von ganz alleine. Oder das Konzept tauge sowieso wenig, da Kinder einfach machen können, was sie wollen und so zu ungezogenen kleinen Tyrannen heranwachsen. Beziehungsarbeit, so wie ich sie verstehe, erfordert oft deutlich mehr Empathie, Engagement und schlicht und einfach Zeit als das autoritäre Regelfeuerwerk klassischer behavioristischer Denkschulen, auf denen bis vor wenigen Jahren die allermeisten Erziehungsweisheiten basierten.
Was aber, wenn man die Idee der Beziehungsarbeit zwar verstanden und in konzentrierten Momenten auch verinnerlicht hat, in der Praxis aber doch immer wieder scheitert? Und aus Gewohnheit oder eigener tiefer Prägung »Wenn du nicht aufräumst, gibt’s nachher kein Ninjago!« schreit? Die dauernde Verwendung von »Wenn-dann«-Sätzen ist ein einfacher Hinweis auf ungleiche Beziehungsverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen. Und trotzdem passiert mir ein »Wenn-dann« andauernd, wenn ich nicht aufpasse.
Ein in meinem Familienalltag sehr hilfreicher Moment für den Umgang mit diesem dauernden Scheitern war ein Gespräch mit meinem Freund, in dem wir uns gegenseitig eingestanden haben, oft einfach zu kraftlos zu sein, um wirklich zugewandt zu agieren. Wir sind in diesen Momenten zu müde, erschöpft oder abgelenkt, um empathisch und in engem Kontakt mit dem Kind gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Für bestimmte, immer wiederkehrende Konfliktsituationen einigen wir uns als Familie deshalb auf Regeln, die verbindlich gelten und nicht jedes Mal neu besprochen werden müssen. Diese Regeln bzw. gemeinsamen Vereinbarungen, die sich auch in ständigem Wandel befinden dürfen, heißen »Eis-Regeln« bei uns, weil es in der ersten, die wir je so aufgestellt haben, um das Thema Eis essen ging.
Die Zehn-Grad-Verabredung ist also ein Beispiel für das grundsätzliche Prinzip, wiederkehrende Konfliktsituationen im Familienrat in einem Moment ohne akute Dringlichkeit zu besprechen. Dabei werden gemeinsame und verbindliche Regeln aufgestellt, bei denen die Kinder gleichberechtigt mitentscheiden können. In der akuten Situation benennt die Familie dann die gemeinsam erarbeitete Regel. Dabei dürfen nicht nur die Kinder die Eltern »kontrollieren«. Es bestimmen auch alle gemeinsam, wann es Zeit wird, die Regel über den Haufen zu schmeißen oder neu zu interpretieren.
Die Zehn-Grad-Verabredung ist sehr einfach, aber enorm entspannend, denn sie verhindert alle Diskussionen um das heiße Thema Eis! Bei uns gilt sie im Alltag, andere Familien verwenden sie nur im Urlaub und sind an normalen Tagen strenger. Egal wie: Es geht darum, eine für alle nachvollziehbare Abmachung zu den allseits beliebten und köstlichen Zuckerbomben zu finden und gleichzeitig ein kleines Highlight in den Sommertag zu bringen.
Die sehr simple Zehn-Grad-Verabredung besagt, dass man ab zwanzig Grad Außentemperatur ein Eis am Tag essen darf. Also alle: Eltern und Kinder. Ab dreißig Grad gibt es zwei Eis für jeden. Klettert das Thermometer, wie es ja leider in den vergangenen Jahren doch immer wieder auch bei uns vorgekommen ist, über vierzig Grad, darf jeder sogar drei Eis essen. Hitzeperioden werden dank dieser Regel recht kostspielig. Dann hilft nur, sich größere Packungen aus dem Großmarkt in die Tiefkühltruhe zu legen. Denn: Ein Leben ohne Eis ist machbar, aber sinnlos. Und das gilt nun wirklich für nahezu alle Menschen.
Auf einen Blick
Kleine Fluchten (1): Die Zehn-Grad-Verabredung
Vorbereitungszeit: keine
Umsetzbarkeit (auf einer Skala von 1 bis 6): 1
Kosten: Kugelpreis x Kinderzahl x Temperatur in Zehnerschritten
Gefahr: dass drei Eis pro Tag irgendwann wegen der Klima-Erhitzung zur Selbstverständlichkeit werden
Gewinn: Keine Diskussionen um das Thema Eis. Kinder lernen das Thermometer lesen.
Das sagen die Kinder: »Es fühlt sich heute nach drei Eis an!«
Kleine Fluchten
Erlaubniskärtchen
für Eltern
Warum Mitgefühl mit sich
selbst so wichtig ist
Interessant wäre es, in Ihren Elternkopf zu gucken, nachdem Sie die erste kleine Flucht gelesen haben. Ich wüsste gern, ob Sie die Zehn-Grad-Verabredung vor allem als praktische Idee im Umgang mit Ihren Kindern lesen oder auch in Bezug auf sich selbst. Erlauben Sie sich an einem Sommertag bei 40,1 Grad drei Eis? Eltern suchen für ihre Kinder permanent nach funktionierenden Regeln, Abmachungen und Erleichterungen, achten aber gleichzeitig viel zu wenig auf sich selbst. Dabei ist das genauso wichtig.
Auf einen Blick
Kleine Fluchten (2): Erlaubniskärtchen für Eltern
Vorbereitungszeit: einen Abend für Nachdenken und Kärtchen schreiben
Umsetzbarkeit (auf einer Skala von 1 bis 6): 2
Kosten: Papier
Gefahr: Sie trauen sich nicht, die Kärtchen an den Kühlschrank zu hängen? Genau das wäre die Challenge! Oder Sie erlauben es sich bewusst, sich gerade nicht zu trauen, die Kärtchen an den Kühlschrank zu hängen.
Gewinn: Selbstliebe.
Das sagen die Kinder: »Darf ich auch einen Gutschein für drei Popetroool haben?«