Cover

Das Buch

Traumatisiert von einem dramatischen Einsatz, versucht die New Yorker Polizistin Shana Merchant einen Neuanfang in der verschlafenen Heimatstadt ihres Verlobten: Alexandria Bay liegt an der Grenze zu Kanada in der Thousand-Islands-Region, zu der über 1864 kleine bis winzige Inseln im Sankt-Lorenz-Strom, dem Abfluss des Ontariosees, gehören.

Shana hat die Stelle gerade erst angetreten, da erhalten sie und ihr neuer Kollege Tim Wellington einen Anruf: Auf einer der Inseln wird ein Mann vermisst. Die beiden fahren auf die abgeschottete Privatinsel der Familie Sinclair, einer Dynastie von Textilhändlern, die dort ihre Sommerresidenz unterhält. Jasper Sinclair, eines der drei Geschwister, die das Familienunternehmen leiten, ist über Nacht von dort verschwunden. Seine Freundin, die neben ihm schlief, erwachte in einem von Blut getränkten Bett.

Shana ist fest davon überzeugt, dass es sich um einen Mordfall handelt. Die ersten Zeugenbefragungen zeigen, dass die Sinclairs und ihre Gäste mehr als ein gefährliches Geheimnis hüten. Wenn Shana recht behält, ist der Mörder unter ihnen. Und je näher sie ihm kommt, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er erneut zuschlagen wird.

Die Autorin

Tessa Wegert ist Kanadierin mit deutschen Wurzeln. Sie arbeitet als Journalistin für u. a. Forbes, The Huffington Post und The Economist. Mit dem Auftakt zur Thousand-Islands-Reihe legt sie nun ihren ersten Roman vor.

TESSA WEGERT

THOUSAND

ISLANDS

EIN RÄTSELHAFTER MORD

KRIMINALROMAN

AUS DEM AMERIKANISCHEN ENGLISCH

ÜBERSETZT VON ANKE KREUTZER

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die englischsprachige Originalausgabe

A Death in the Family

erschien 2020 bei Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group,

a division of Penguin Random House LLC.

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Deutsche Erstausgabe 11/2020

Copyright © 2020 by Tessa Wegert

Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Heiko Arntz

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München,

unter Verwendung von Motiven von © arcangel/Sharron Crocker, FinePic®

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-26119-1
V002

www.heyne.de

Meiner Familie,

die dieser Geschichte Leben eingehaucht hat.

PROLOG

ES WAR AN EINEM Morgen Ende September, einem jener Tage, die in Orange aufleuchten, wenn man die Augen schließt, so klar, so frisch, dass jeder draußen auf dem Bürgersteig die Luft einsaugt, so wie Kinder Limonade. Ich wollte auch etwas davon haben und stieg schon an der U-Bahn-Station Woodhaven Boulevard aus, doch oben auf der Straße hatte ich kein Auge für den strahlenden Tag, sondern sah nur das Unkraut in den Rissen des Bürgersteigs, die hässlichen Flecken von verschüttetem Kaffee auf dem Pflaster. Dabei verströmte Queens trotz seiner Schönheitsfehler diese herbstliche Pracht.

Mir dagegen erschien alles nur fad.

Ich hatte mir nichts weiter vorgenommen, als diesen Tag zu überstehen. Mehr, schätzte ich, war nicht drin. Doch so wie mein Fußmarsch zum 1 Lefrak City Plaza war auch der Mann, mit dem ich mich dort treffen sollte, verwirrend. Frisch vom Friseur, der Nacken noch vom Haarschneider gerötet, und in himmelblauem Hemd, passte er ins Schema. Andererseits trugen die Socken, die unter den Hosenumschlägen zum Vorschein kamen, ein Muster mit bebrillten Kätzchen, und um zehn Uhr an einem Dienstagvormittag roch er, als habe er mit Salbei gekocht. Als wir uns miteinander bekannt machten, triefte sein Ton erwartungsgemäß vor Mitgefühl. Sein kerniger Akzent – Rhode Island oder vielleicht Massachusetts – milderte die Wirkung ab.

»Nun«, sagte Dr. Carson Gates, während wir uns setzten. Er faltete die Hände. »Da sind Sie also. Das ist gut.«

»Finden Sie?« Meine Hände waren fest verknäult. Nur so bekam ich das Zucken in den Griff.

»Ich wette, Sie wären jetzt lieber an jedem anderen Ort, nur nicht hier. Bei der Kfz-Behörde. Beim Zahnarzt, kurz vor dem Einstich der Nadel.« Er rang um Fassung. Es wirkte nicht einmal aufgesetzt. »Aber Sie sind hergekommen. Also, das ist schon mal ein Anfang.«

Das war eine Auflage, dachte ich verärgert, dabei war ich auf diesen Typ mit dem klaren Blick und den idiotischen Socken nicht einmal sauer. Immerhin schien der zarte Farn auf seinem Schreibtisch zu gedeihen. Spiel einfach mit, sagte ich mir. Erzähl ihm, was er hören will, umso schneller kommst du nach Hause. Gleichzeitig surrte mir ein Bienenschwarm im Kopf. Das Reden war leicht, außer, wenn es schwierig wurde.

»Sie glauben nicht, dass ich Ihnen helfen kann«, sagte Carson. »Kein Problem. Das bin ich gewohnt. Aber eines sollten Sie wissen.« Er beugte sich vor und musterte mich. »Ich gebe Sie nicht auf, Shana. Und ich bin sicher, Sie schaffen das. Erzählen Sie von Anfang an. Lassen Sie sich Zeit.«

Der Anfang. Wo genau war das? Ich wusste nur, dass für meinen Geschmack ein Fremder dort nichts zu suchen hatte, auch wenn er gut roch. Aber vielleicht genügte es ja fürs Erste, die halbe Strecke zurückzugehen, einfach nur weit genug, um ihn zufriedenzustellen. Zum Beispiel bis zu einem Kalksteingebäude an der East Fifth Street zurück, zu einem Tag, der mich an der Gurgel packte und mich immer noch im Würgegriff hielt.

Ich steckte bis zur Halskrause in einem Fall von Fahrerflucht bei einem Unfall mit Todesfolge, als mein Vorgesetzter mich in sein Büro rief. Es gibt wichtige Neuigkeiten, eröffnete er mir. Wir müssen umdisponieren. Das ist Ihnen auf den Leib geschrieben, Shana. Ich dachte, er meinte meine Ermittlungsmethode – unter jeden Stein zu gucken, um zu sehen, was sich darunter versteckt –, aber das war es nicht. Sie brauchten mich und niemanden sonst, und zwar so, wie ich es mir nie hätte träumen lassen.

Die Jungs vom siebten Bezirk ermittelten in einer Mordserie südlich der Houston. Es war eine weitere Leiche aufgetaucht, diesmal im East Village – meinem Zuständigkeitsbereich. Sie wussten bereits einiges über ihren Tatverdächtigen, und ihre letzte Information hatte den Sergeant bewogen, mich von meinem Schreibtisch loszueisen und zur Pitt Street zu schicken, wo der Fall wie ein Stadtplan auf einem Tisch ausgebreitet lag: In einem Zeitraum von vier Monaten hatte es drei Morde gegeben, allesamt Frauen. Becca Wolkwitz. Lanie Miner, Jess Lowenthal. Es gab keinerlei Hinweise auf Beziehungsdelikte, keine Vorgeschichte mit Drogen oder Bandenkriminalität, um zu erklären, weshalb diese Frauen auf offener Straße entführt worden und in die Mordstatistik eingegangen waren. Der einzige gemeinsame Nenner der drei Opfer waren dieselbe Dating-Plattform und der Umstand, dass alle drei Dates mit einem Mann namens Blake Bram gehabt hatten.

Auf Brams Profilbild, erklärte ich Carson Gates, war ein hellhäutiger Mann Mitte dreißig mit dunklem Haar und blauen Augen zu sehen. Dass dabei gefärbtes Haar, getönte Kontaktlinsen und Fotofilter im Spiel sein konnten, verstand sich von selbst. Nicht mithilfe manipulierter Fotos, sondern mit Phantombildern auf der Grundlage von Zeugenaussagen schnappen wir gewöhnlich unseren Mann. Trotzdem: Irgendetwas an seinem Foto kam mir vage bekannt vor. Sein Gesicht weckte eine Erinnerung, wie ein altes Buch, mit Eselsohren und vor langer Zeit verlegt. Ich hatte Bram schon einmal gesehen, konnte aber nicht sagen, wo.

Laut seinem Profil las der Bursche gerne spannende Schmöker und mochte Bill-Murray-Filme. Noch mehr Lügen. Von den Betreibern der Plattform erfuhren wir anhand seiner Datengeschichte, dass er sein Profil häufig aktualisierte, zweifellos, indem er verschiedene Kombinationen ausprobierte, um zu sehen, was ankam. Bei all den Überarbeitungen fiel nur eine Konstante ins Auge, eine Textzeile, die sich jedes Mal wiederfand. Blake Bram stammte aus einer Stadt namens Swanton, Vermont.

»Swanton. Klingt nach Postkartenidylle, oder?«, sagte ich zu Carson, der mir mit gespannter Aufmerksamkeit folgte. »Irgendwann in den Sechzigerjahren hat die Queen Swanton ein paar königliche Schwäne geschenkt, und seitdem schwimmen Schwäne im Park des Städtchens. Im Westen geht’s nach Lake Champlain, Richtung Norden nach Kanada. Eine Volkszählung im Jahr 2010 kam für Swanton auf eine Einwohnerzahl von 6427. Ich weiß das, weil ich in Swanton aufgewachsen bin.« So.

Das wäre geschafft. Es trat eine peinlich lange Pause ein, bevor ich weiterreden konnte. »Als ich hörte, dass der Mörder behauptete, aus meiner Heimatstadt zu stammen, war mir klar, wieso der Sergeant von mir verlangte, für diesen Fall alles stehen und liegen zu lassen. Zwischen dem Verschwinden der Frauen lag jeweils ein Zeitraum von zwei Wochen, und nichts deutete darauf hin, dass Brams Mordserie zu Ende war. Wir waren ungefähr im selben Alter, er und ich, und sechstausend Seelen waren überschaubar.«

Carson wartete. Er legte die verschränkten Hände in den Nacken.

»Sie hofften, ich könnte den Burschen identifizieren«, fuhr ich fort. »Sie kennen den doch bestimmt, sagten sie.«

Was ich Carson und allen anderen verschwieg: Sie hatten recht.

EINS

DREIZEHN MONATE SPÄTER

»MORD«, WIEDERHOLTE ICH, das Wort ging mir nur schwer über die Lippen. Es war Lichtjahre her, seit ich es das letzte Mal ausgesprochen hatte.

Tim wippte mit seinem Bürostuhl, um die Sprungkraft der dreckverkrusteten Federn zu testen, und erhob seinen leeren Kaffeebecher wie ein Glas. »Mord auf einer Insel«, sagte er. »Wenn es nicht so herzlos klänge, würde ich sagen, das hier ist dein Glückstag, Shane.«

Ich hasste den Spitznamen, aber ich versuchte immer noch, Tims Neuigkeit mit dem Wasser in Einklang zu bringen, das hinter ihm das Fenster herunterlief, und so ließ ich es auf sich beruhen. Shane!, hatte Tim an meinem ersten Tag in der neuen Dienststelle gesagt. Du hast doch wohl Shane gesehen! Alter Western? Revolverheld mit geheimnisvoller Vergangenheit? Fällt der Groschen? Hatte ich nicht, ich hasste Western, den aufgewirbelten Staub, das Pathos, doch Tim fand das witzig.

An jenem Morgen war niemandem zum Lachen zumute. Tim nahm den Anruf von der Leitstelle entgegen, während ich mir gerade einen zweiten Kaffee aufbrühte und auf den Donner horchte, von dem die Scheiben klirrten. Ich erhoffte mir von diesem Samstag nicht mehr, als ihn mit trockener Haut zu überstehen. Sosehr ich mir gewünscht hätte, auch dieser Anruf wäre nur ein Witz – von Tim, um »die Neue« zu ärgern, oder ein dummer Streich von gelangweilten Städtern –, wusste ich doch, dass es keiner war, und zwar aus drei Gründen. Erstens Tims Gesicht. Er hatte diese comicartigen Augenbrauen, so lang und gerade, wie mit einem Edding gezogen. Nun – wer war schon makellos? Bei mir selbst sehen die meisten erst einmal nur die Narbe. Aber ich fragte mich, ob Tim trotz seines athletischen Körperbaus in den Augen von Tatverdächtigen nicht wie eine Witzfigur wirkte. Während er am Telefon die routinemäßigen Fragen stellte und sich auf seinem linierten Block Notizen machte, versteinerte seine Miene. Dieser Ausdruck war neu an ihm. Jedenfalls mir.

Der zweite Grund war der Zeitpunkt. Ich hatte mir sagen lassen, Anrufe, mit denen Leute der Polizei einen Streich spielen wollen, seien im Herbst »Einhörner«, Stoff für Legenden. Es war schon Mitte Oktober, der Exodus so gut wie abgeschlossen. Die Mehrzahl der saisonalen Anwohner, selbst die Nachzügler, die dem Sommer noch ein paar letzte Tage abtrotzen wollten, hatten ihre Wassertrampoline eingepackt und ihre grellbunten Schnellboote eingelagert. Auch die Feriengäste waren wieder dort, wo sie hergekommen waren: in Manhattan, Toronto, Montreal. Auf Thousand Islands in Upstate New York war die Saison vorbei, und außer den Ansässigen war niemand mehr da. Nur noch wir.

Vor allem aber der dritte und entscheidende Grund, der Regen, der schräg ans Fenster hinter Tims Schreibtisch peitschte, sagte mir, dass der Anruf echt war. In den Morgennachrichten hatte der örtliche Wetterfrosch – Bob? Ben? – von Sturmböen aus nordöstlicher Richtung gesprochen. Das Unwetter hatte sich einen Tag zuvor mit giftgrünen Wolken angekündigt, die das Dorf Alexandria Bay mitten am Tag in Dunkel hüllten. Die ganze Nacht hindurch hatte es eisiges Wasser wie aus Eimern geschüttet, und laut der Vorhersage sollte es achtundvierzig Stunden so bleiben. Bei diesem Wetter ging niemand gern vors Haus, um einem Polizeiboot beim Anlegen zu helfen. Nein, dieser Anruf war echt. Es war mein erster Mord seit über einem Jahr, seit jenem Fall, der mich dazu gebracht hatte, Manhattan gegen finsterstes Niemandsland zu tauschen. Ich sah mich um. Wir waren nicht die einzigen Ermittler, die in diesem Kommissariat arbeiteten, nur die einzigen, die hier und jetzt an diesem Tag in der Dienststelle waren, und jetzt musste ich, irgendwie, auf eine Insel. »Schnapp dir deine Jacke«, sagte ich und sah, wie Tims Augenbrauen in die Höhe schnellten. »Wir machen eine Spritztour.«

Früher dachte ich anders über Boote, das heißt, ich verschwendete kaum einen Gedanken daran. Eine Fähre nach Alice Island, wenn meine Eltern in der Stadt waren und die Freiheitsstatue sehen wollten. Vor ein paar Jahren ein Dinner auf einem Schiff, das ein vorzeitiges Ende fand, als mein Date seinen Krabbencocktail in den East River erbrach. Das war’s dann auch mit meiner Erfahrung zur See. Ich konnte nur hoffen, dass mir dieses Manko heute nicht in die Quere kam. Höchstwahrscheinlich ein frommer Wunsch.

Vom Revier zum Keewaydin State Park waren es mit dem Auto drei Minuten, auf der Route 12 einfach geradeaus. Ich genoss die Wärme des Streifenwagens und die vorerst noch trockenen Kleider am Leib. »Was wissen wir?«, fragte ich und ließ auf dem Lenkrad die Finger spielen. Sie steckten in Handschuhen, die ich zu meinem Bedauern vor dem Verlassen des Reviers nicht an der Heizung aufgewärmt hatte.

»Dass wir jetzt lieber mit diesem Kaffee da drinnen säßen?«

Dafür bekam er ein süßsäuerliches Lächeln. Der Kaffee war jetzt in der Espressokanne sicher nach oben gesprudelt. Ich sah vor mir, wie er im Pausenraum seinen Dampf verströmte. Bis ich ihn wiedersähe, wäre er nur noch eine kalte, bittere Brühe. »Davon abgesehen«, sagte ich.

»Hellhäutiger Mann, sechsundzwanzig Jahre alt, aus einem Ferienhaus verschwunden. Er ist aus New York City raufgekommen. Der Hausmeister hat ihn vermisst gemeldet. Hat am frühen Morgen festgestellt, dass der Bursche verschwunden ist.«

»Moment mal«, sagte ich und fuhr mit dem Kopf zu ihm herum. »Sagtest du ›vermisst‹? Ich dachte, wir reden hier von Mord.« Das waren zwei Paar Schuhe. Hatte mich Tim im Revier am Ende doch auf den Arm genommen? Kleiner Scherz auf Kosten von Shane?

»Die Familie spricht von Mord.« Mit einem Achselzucken gab Tim zu verstehen, was er von der Behauptung hielt. »Es gibt keine Leiche«, räumte er ein, ein bisschen spät für meinen Geschmack. »Der Mann ist einfach nur weg.«

Ein Vermisstenfall, hinter dem vielleicht Mord steckt, vielleicht aber auch nicht. Mit einem Mal hatte ich zu warme Hände. Ich zog die Handschuhe aus und stopfte sie in die Mittelkonsole. »Name?«

»Da wird die Sache interessant.«

»Sie ist schon interessant.«

Tim grinste. »Rat mal, mit wem wir es hier zu tun haben. Der Vermisste ist kein Geringerer als Jasper Sinclair.« Ich schaute ihn verständnislos an.

»Die Sinclairs haben in New York einen Namen. Sind in der Modebranche, soviel ich weiß«, klärte er mich auf. »Promis. Und heute Morgen wacht Jaspers Freundin auf und stellt fest, dass das Bett neben ihr leer und das Laken blutgetränkt ist.«

»Aber keine Leiche«, antwortete ich. »Hm, das ist … was anderes.«

»Meine Rede.«

»Demnach fällt der Verdacht auf die Freundin?«

»Nicht unbedingt«, erwiderte Tim. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine junge Frau die Leiche eines erwachsenen Mannes quer durchs Haus wegschaffen sollte, in dem jede Menge Leute schlafen, ohne jemanden aufzuwecken.«

»Falltür im Boden?«

Er lachte. »Wer weiß.«

»Immer vorausgesetzt, der Angreifer oder die Angreiferin war allein.«

»Angreifer«, wiederholte Tim und verzog das Gesicht.

Ich wusste, was er dachte. Einen Mord in seinem Revier nahm er persönlich. »Wie viele Personen waren im Haus?«, fragte ich.

»Acht, mit der Freundin. Mit dem Vermissten neun. Sie haben alle durchgeschlafen, sagt der Hausmeister, trotz des Wetters.«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an. »Und die gehören alle zur Familie?« Jedes Gewaltverbrechen geht einem an die Nieren, egal, ob die Leiche vor Ort ist oder nicht, aber Familiengeschichten? Das war das Schlimmste. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, zu welch schrecklichen Dingen Väter, Mütter, Brüder, Vettern und Nichten fähig sind. Blutsbande können wirklich blutig sein.

»Familie, der Hausmeister, die Freundin und noch ein paar VIPs. Wie gesagt, volles Haus. Offenbar keinerlei Anzeichen für gewaltsames Betreten, allerdings war der Hausmeister in dem Punkt ein bisschen seltsam.«

»Seltsam?«

»Na ja, als ob er irgendwas verschweigt.« Wir fuhren links vom Highway ab und durchpflügten eine Pfütze so groß wie ein Seerosenteich. Hafenbecken und Slipanlagen lagen geradeaus.

»Ich hab sie gefragt, ob sie das ganze Haus durchsucht hätten«, fuhr Tim fort. »Könnte schließlich gut sein, dass der arme Schlucker sich im Badezimmer oder in einer Besenkammer unter der Treppe die Wunden leckt. In so einem großen Haus weiß man nie.«

»Woher weißt du, wie groß das Haus ist?«

»Sind sie alle, Shane.« Er verdrehte die Augen. »Aber die Hütte vor allem. Ich kann dir sagen. Als Kind bin ich mit meinem Vater in der Nähe angeln gegangen. Ich hab davon geträumt, da drin zu wohnen … Jedenfalls keine Spur von Jasper. Noch nicht.«

»Das heißt, abgesehen von seinem Blut.« Ich trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Wir müssen eine gründliche Durchsuchung durchführen. Wenn es eine Insel ist, gibt es vermutlich Klippen und so, oder?«

»Jede Menge Stellen, an denen im Dunkeln jemand stürzen und in den Fluss fallen kann«, bestätigte Tim.

»Und wir brauchen die Spurensicherung. Für das Blut.« Besser, es zu erwähnen. Schließlich war das hier die Alexandria Bay, und ich hatte keine Ahnung, wie viel ich von den Kollegen erwarten durfte. Zu meiner Einheit gehörten sechs Ermittler, und in der Gegend gab es zwanzig Staatspolizisten – zuzüglich Sheriff McIntyre sowie die Deputy Sheriffs in Watertown, die für das gesamte Jefferson County zuständig waren – genügend Beamte für einhunderttausend gesetzestreue Bürger. Die Insel war das Problem. Mir war nicht entgangen, dass Tim gegen meine Entscheidung, ihn mitzunehmen, keine Einwände erhoben hatte. Die Ermittler des bundesstaatlichen Kriminalamts New York, selbst die ranghöheren wie ich, arbeiteten in der Regel allein, doch wenn ein Fall je nach einem Partner verlangte, dann dieser.

»Klar doch«, erwiderte Tim. Es klang verletzt. »Bei Verbrechen auf der Insel ist im Prinzip der nächstbeste Streifenwagen zuständig. Oder eher: das nächstbeste Boot. Aber die anderen sind natürlich auch mit von der Partie. Ich bin sicher, die wollen alle einen Blick drauf werfen. So was kommt hier nicht alle Tage vor. In dieser Gegend schließen die Leute nicht mal ihre Türen ab. Wir sind hier ja nicht in New York City.«

Ich warf ihm einen Blick zu, um in seinem Gesicht zu lesen, ob er bei der Bemerkung innerlich grinste. Tim spielte die Situation herunter. Ein Mord, selbst ein Vermisstenfall, kam auf einer der Inseln einfach nicht vor. So viel hatte mir McIntyre, als sie mich angeheuert hatte, zu verstehen gegeben. So stand zu vermuten, dass Tim die Sache spannend fand. Ich kenne jede Menge Cops in der City, die sich nach so etwas alle zehn Finger geleckt hätten, obwohl es ihr tägliches Brot war. Nun, falls Tim aufgekratzt war, zeigte er es nicht. Der Mann verzog keine Miene.

Ich bog ab und tauschte die glatte Fahrbahn des Highway gegen den knirschenden Schotter einer Landstraße, und schon sah ich den Fluss. Verflucht, das Wasser stand hoch. Dieser Sommer hatte mit fast einem Meter über dem normalen Pegelwert alle möglichen Hochwasserrekorde gebrochen. Der letzte fiel in das Jahr 1973.

Ich fuhr auf ein quietschnasses Stück Gras und warf durch die Windschutzscheibe einen letzten skeptischen Blick Richtung Himmel. Tim hatte nur Augen für das Boot. Für die Jungs im Revier, Tim inbegriffen, war das Polizeiboot wesentlich interessanter gewesen als meine Wenigkeit. Wir waren zeitgleich eingetroffen: das neue Spielzeug, einem Sonderfonds der US-Küstenwache gedankt, und ich, meinem Verlobten gedankt – und dem dringenden Bedürfnis, New York City weit hinter mir zu lassen. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Das Boot machte was her, wie es da so funkelnagelneu glänzte. Doch als Tim den hohen Wellengang auf dem Fluss sah, wich sein sehnsüchtiger Blick einer bedenklichen Miene.

»Also dann«, sagte ich beschwingt und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Können wir?«

»Jetzt oder nie«, antwortete er, und wir stiegen aus. Während wir zum Schilfsaum des St. Laurence River platschten, wo die Wellen das Boot gegen den Anlegesteg rammten, trieben wir Atemwolken wie Gespenster vor uns her. Das Ding war klein und mit seinem dürftigen Verdeck – Tim nannte es T-Top, wie bei einem Cabrio – dem Wetter ziemlich ausgesetzt. Ich zog mir die Kapuze meiner Regenjacke über das von der Feuchtigkeit krause Haar. Im Süden blickten wir auf eine endlose Fläche nackter Felder und Wiesen, im Norden auf eine endlose Wasserfläche. Die Abgeschiedenheit schrie zum Himmel.

Upstate New York. Ich hatte es mir als Niemandsland vorgestellt, als ein Einerlei aus landwirtschaftlichen Flächen und baufälligen Scheunen, und ich hatte richtiggelegen. Die Städte sind klein, die Menschen bodenständig. Es ist eine patriotische Gegend. Doch jede amerikanische Flagge sah aus, als flatterte sie schon seit den Dreißigerjahren hier, verblichen und fadenscheinig. Diese Flaggen hatten etwas Ordinäres an sich. Es war, als schaute man Lady Liberty unter den Rock. Doch solche Beobachtungen behalte ich für mich. Tim und mein Verlobter sind beide hier am Fluss aufgewachsen. Sie brauchen nicht zu wissen, dass es morgens beim Aufwachen immer noch ein Schock ist, mich in dieser Einöde wiederzufinden. Statt beim NYPD an der Lower East Side in Tötungsdelikten zu ermitteln, bekämpfe ich Verbrechen für die New York State Park Police – an einem Ort, an dem Gewaltverbrechen nicht existieren. Bis es eines Tages doch dazu kommt.

»Wochenende am Fluss, sagt der Hausmeister«, rief mir Tim vom Boot aus zu. »Sie knapsen mit ihrer Zeit.«

In Manhattan ist es im Oktober ziemlich frisch, aber auf Thousand Islands, hatte ich mir sagen lassen, können schon arktische Temperaturen herrschen. Selbst ein milder Herbst fällt hier oben ungemütlich aus. Hinter dem Boot war die Bucht gewitterfarben. Der Regen spritzte in Fontänen vom Wasser auf, so heftig, dass ich Comfort Island in einer Viertelmeile Entfernung mit bloßem Auge kaum ausmachen konnte. Es war die dem Festland am nächsten gelegene Insel in dieser Gegend, eine der wenigen, die ich mit Namen kannte. An diesem sturmgepeitschten Morgen wirkte sie alles andere als komfortabel.

»Du bereust bestimmt, dass du den Besuch bei deinen Eltern abgesagt hast«, bemerkte Tim, während er die Abdeckplanen vom Steuerstand und von den Sitzkissen zog und in Staufächer steckte. Seit ich näher an meinem Heimatstaat wohnte, fuhr ich regelmäßig nach Vermont. Und da wäre ich auch jetzt gewesen, wäre nicht das Unwetter aufgezogen.

»Soll ich mir das hier etwa entgehen lassen?«, sagte ich, während mir eine Böe eisigen Regen ins Gesicht spritzte.

Tim kramte in seiner Tasche und zog einen an einem roten Schwimmer befestigten Schlüssel heraus. »Werfen wir eine Münze, wer fährt?«

»Sehr witzig. Die Leinen?« Mit den Leinen käme ich schon zurecht.

Tim warf den Motor an, während ich über den Anlegesteg watete, der fünfzehn Zentimeter unter Wasser lag, und das Boot von den Krampen löste. Dann stieg ich ein. Ich kauerte mich in die winzige Wandnische und kam Tim nicht in die Quere, während er uns vom Steg wegmanövrierte. Erst als wir schon draußen waren, merkte ich, dass ich meine Handschuhe im Wagen gelassen hatte. Der Regen hämmerte auf das Verdeck und peitschte in mein Gesicht, als wir mit einem Ruck nach vorn schnellten und uns mit rasendem Tempo der Insel näherten.

Das Erste, was mir mein Verlobter über Thousand Islands verraten hatte, war, dass der Name sogar gelinde untertrieb. Auf dem Abschnitt des Sankt-Lorenz-Stroms, der Ontario von New York State scheidet, ragen in Wahrheit tausendachthundertvierundsechzig felsige Landmassen aus dem Wasser. Noch vor einem Jahrhundert war die Gegend so nobel wie die Hamptons, das angesagte Ferienparadies für Millionäre, für die ganz großen Bonzen der Industrie und die oberen Zehntausend von New York. Auch heute noch befinden sich viele der Anwesen im Fluss im Besitz dieser Leute. Carson hat mir erzählt, der Eigentümer des Waldorf Astoria habe Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts für seine Frau ein regelrechtes Schloss mit einhundertzwanzig Zimmern in Auftrag gegeben. Doch sie sei gestorben, bevor es fertig war. Wie es heißt, hat der Mann danach nie einen Fuß in den Prunkbau gesetzt. Er nannte das Anwesen in Gedenken an seine große Liebe Heart Island.

Hier draußen auf dem Wasser waren Regen und Wind noch unangenehmer als erwartet. Unter der Wasseroberfläche lauerten Untiefen, zerklüftete Felsen, die jederzeit ihre Zähne ins Boot schlagen konnten. Als wir die Fahrrinne erreichten, spürte ich den mächtigen Sog der Strömung. Die Rinne war für Frachtschiffe ausgelegt, die von den Großen Seen Weizen und Eisenerz aus Kanada nach Europa brachten. Doch an diesem Tag waren weit und breit keine großen Schiffe in Sicht. Auch sonst keine Schiffe.

Erst auf halber Strecke verriet mir Tim unser Ziel. Tern Island, auf der amerikanischen Seite. Diese Insel war nicht wie Wellesley (amerikanisch) oder Wolfe (kanadisch) öffentlich zugänglich, sondern in Privatbesitz.

»Du hast ihnen doch gesagt, sie sollen bleiben, wo sie sind, oder? Und am Tatort nichts anrühren?«, brüllte ich in den tosenden Wind. Bei meiner alten Dienststelle lag der Tatort nie mehr als zehn Minuten entfernt. Es hatte mir immer gefallen, mit quietschenden Reifen vom Parkplatz zu fahren und uns mit heulender Sirene freie Bahn zu verschaffen. Die Überfahrt zu einer Insel dagegen braucht ihre Zeit. Ich wagte es kaum, daran zu denken, was die Leute, die dort auf uns warteten, bis zu unserer Ankunft alles anstellen konnten.

Tim lachte. »Die haben nur ein einziges Boot im Wasser, und das ist ein Skiff – ein kleines Motorboot, mit dem sie zwischen den Ufern hin und her fahren. Um alle zum Festland zu bringen, müssten sie dreimal in beide Richtungen, und sie müssten verrückt sein, das bei diesem Wetter zu riskieren. Spürst du das nicht? Die Dünung?«, sagte er. »Es herrschen irrsinnige Strömungen. Na, jedenfalls sind wir gleich da, direkt hinter Deer Island.«

Deer Island. Noch eine Insel, von der mir Carson erzählt hatte. Es war einmal der Versammlungsort eines Geheimbunds der Uni Yale mit dem schönen Namen »Totenkopf« gewesen. Inzwischen war es wohl mit seinem dichten Baumbestand und dem verfallenen Haus das ideale Set für einen Horrorfilm. Als wir daran vorbeibrausten, lief mir ein leichter Schauer über den Rücken. Doch die Landmasse verschwand ebenso schnell wieder im Nebel, wie sie aufgetaucht war.

Gegen das Geruckel und Gestampfe unseres Boots im aufgewühlten Wasser war ich gewappnet. Als Tim jedoch plötzlich rief »Scheiße! Festhalten!«, traf es mich völlig unvorbereitet. Er riss das Steuer herum, um einem Felsen unter Wasser auszuweichen, und als eine eisige Welle ins Boot schwappte und mich volle Breitseite erwischte, wäre ich um ein Haar über Bord gegangen. Ich fühlte einen brennenden Schmerz an der Hüfte. Mein Puls pochte mir in den Ohren und übertönte für einen Moment noch das Getöse des Sturms.

»Kein besonders glücklich gewählter Ort, um jemanden umzubringen, wenn man hofft, unbemerkt davonzukommen.« Ich grub die Fingernägel in die Rücklehne von Tims Ledersitz. »Wieso hier? Wieso ausgerechnet jetzt, wo es so schwer ist wegzukommen?«

»Du denkst an Selbstmord?«, erwiderte Tim.

Genau wie ich ging wohl auch ihm die Aussage des Hausmeisters durch den Kopf, die Angehörigen des Vermissten hätten die ganze Nacht in ihren Betten gelegen. Ich neige allerdings nicht zu vorschnellen Schlüssen. Ich überprüfe meine Theorien lieber erst, bevor ich sie meinem Partner mitteile. Aber das Verschwinden dieses Mannes, der Anruf des Hausmeisters und das ganze Timing waren seltsam, und ich wollte wissen, was in Tims Kopf vor sich ging. »Ersticht sich neben seiner Freundin und fällt dann über die Klippe? Nicht auszuschließen«, sagte ich.

»Gibt leichtere Möglichkeiten, sich auf einer Insel umzubringen.«

»Und wieso riskieren, dass jemand sein Vorhaben mitbekommt?«

»Es sei denn, er wollte, dass sie es mitbekommt«, entgegnete Tim. »Wer weiß schon, wie ihre Beziehung war?«

»Manche Leute sind ziemlich kaputt«, räumte ich ein. »Aber der Hausmeister sprach von Mord.«

»Und wenn die nichts von Selbstmord sagen, muss es einen Grund dafür geben.«

»Acht Menschen.« Ich massierte mir die von der Kälte taube Nase. »Das braucht Zeit.«

»Wir werden Hilfe bekommen«, rief mir Tim in Erinnerung, als das Boot einen Bogen nach links beschrieb. »Die werden wir auch brauchen. Geschafft. Puh.«

Ich hatte keinen Schimmer, wie Tern Island aussehen würde. Auf einer Landkarte hätte ich vergeblich danach gesucht. Als das Eiland endlich durch den Nebel drang, sah es aus wie eine Bergspitze, die aus dem Wasser hervorragte.

»Da möchte man gleich wieder abdrehen, oder?«, sagte Tim, während wir den Kopf in den Nacken legten, um den Anblick auf uns wirken zu lassen.

Tern war ein zerklüftetes graues Felsmassiv, das gekrönt wurde von einem kolossalen viktorianischen Haus mit verwirrend vielen Geschossen, die Wände von Fenstern unterschiedlichster Größe und Form wie von Pockennarben übersät. Ein Turm reckte sich wie eine Faust in die Höhe. Die Außenverkleidung war tannengrün, als wolle sich das Haus im Laub der mächtigen Bäume, die es umgaben, unsichtbar machen. Als ob das möglich gewesen wäre! Am Flussufer gab es ein Bootshaus im selben Baustil, und die ganze Insel war mit einem hohen Steinwall bewehrt. Die unmissverständliche Botschaft lautete: Betreten verboten. Vom Bootshaus führte eine steile Treppe den Berg hinauf bis direkt zum Haus, dessen unteres Geschoss aus unbehauenen Natursteinen bestand.

Gegen diese Festung war jeder Nordwestwind machtlos. Jeder Sturm. Jemand hatte ein Vermögen in die Maurerarbeiten investiert. Doch all das hatte nicht verhindert, dass jetzt aus ebendiesen Mauern ein Mann verschwunden war, möglicherweise tot.