Das Buch
Inspectora Daniela Gutiérrez kennt die dunkelsten menschlichen Abgründe und die finstersten Ecken Madrids. Derzeit ermittelt sie im Fall eines ermordeten Mädchens, eine Tat, die selbst sie als erfahrene Ermittlerin an ihre Grenzen bringt. Bald schon ahnt sie, dass sie allerdings noch ein ganz anderes Problem hat: Jemand scheint zu versuchen, Recht und Gesetz in die eigene Hand zu nehmen …
Die Journalistin Marta Aguilera erhält eine Diagnose, die ihr Leben auf den Kopf stellt: Sie leidet an einem inoperablen Tumor und ihre Tage sind gezählt. Im ersten Schock kündigt sie zunächst ihren Job und will Madrid und ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Doch die Verbrechen, denen sie als Journalistin Tag und Nacht auf der Spur war, lassen sie nicht los. Ihr wird klar: Sie hat keine Konsequenzen mehr zu befürchten, ganz egal, was sie tut. Und sie trifft eine gefährliche Entscheidung: Sie nutzt ihre plötzliche Freiheit, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen – auf ihre Weise.
Der Autor
Santiago Díaz Cortés wurde 1971 in Madrid geboren. Nachdemer fünf Jahre lang bei dem Fernsehsender Antena 3 als Content Manager gearbeitet hatte, widmete er sich ganz dem Drehbuchschreiben. Im Laufe seiner Karriere hat er für verschiedene erfolgreiche Produktionsfirmen gearbeitet und zahlreiche preisgekrönte Serien entwickelt. »Talión – Die Gerechte« ist sein erster Roman.
SANTIAGO DÍAZ
TALIÓN
DIE GERECHTE
Aus dem Spanischen
von Anja Rüdiger
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe TALIÓN erschien erstmals 2018 bei Planeta de Libros, Barcelona.
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Deutsche Erstausgabe 06/2021
Copyright © 2018 by Santiago Díaz Cortés
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Peter Thannisch
Umschlaggestaltung: Designomicon unter Verwendung von
© Trevillion Images/Stephen Carroll
Satz: Leingärtner, Nabburg
ISBN: 978-3-641-26157-3
V001
www.heyne.de
Für meine Eltern
Ist weiterer Schaden entstanden, dann musst du geben: Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.
Lex Talionis, Exodus, 21, 23–25
ICH ÜBERQUERE DIE BRÜCKE über den Fluss Urumea und verlasse kurz nach halb neun am Abend Hernani in Richtung Zarautz. Mein Kopf schmerzt, und mein linkes Bein kribbelt vom Fußknöchel bis in die Hüfte, was sich anfühlt, als drohe es für immer abzusterben. Aber ich glaube, ich werde es aushalten, denn es ist nicht mehr weit.
Ich nehme die Abfahrt auf die Autobahn und gerate in eine Kontrolle der baskischen Polizei Ertzaintza. Zwei Motorräder stehen quer auf der Fahrbahn, und die beiden Polizisten fordern mich bereits zum Anhalten auf, als ich noch mehr als hundert Meter entfernt bin.
Ich nehme die Pistole aus der Tasche, entsichere sie und verstecke sie unter meinem rechten Oberschenkel. Es war zwar nicht geplant, dass ich zwei unschuldige Menschen umbringe, die nur ihren Job machen, aber nachdem ich es so weit geschafft habe, kann ich auf keinen Fall das Risiko eingehen, festgenommen zu werden.
Ich halte auf dem Randstreifen, löse den Sicherheitsgurt und öffne den obersten Knopf meiner Bluse, denn im Laufe meines inzwischen achtunddreißigjährigen Lebens hing die Freundlichkeit der Beamten, mit denen ich zu tun hatte, stets direkt proportional mit dem Einfallsreichtum zusammen, mit dem ich sie behandelt habe. Ich fahre das Seitenfenster runter, während der Jüngere der beiden langsam auf mein Auto zugeht. Der andere bleibt bei den Motorrädern stehen, beide Daumen unter den Gürtel geschoben, die Beine leicht gespreizt und eine irritierende Überheblichkeit im Blick.
»Guten Abend, Agente«, sage ich mit meinem schönsten Lächeln.
»Die Papiere bitte, Señorita.«
»Ich weiß, dass ich zu schnell gefahren bin, und es tut mir leid, aber ich habe einen Termin mit einem Kunden in Zarautz und bin äußerst spät dran.«
»Die Papiere bitte!«
»Natürlich.«
Ich sehe ihm zwei Sekunden lang in die Augen, damit er mich doch bitte einfach weiterfahren lässt, denn das würde ein Blutbad verhindern. Aber er ist nicht bereit, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und scheint nicht einmal zu ahnen, welche Bedrohung ich darstelle. Also krame ich nach meinem Führerschein, wobei ich den Kollegen, der bei den Motorrädern steht, nicht aus den Augen lasse. Er reagiert gerade auf einen Funkspruch und hat keine Ahnung, was gleich passieren wird.
Während ich mit der linken Hand meine Brieftasche öffne, die nun auf meinem Schoß liegt, taste ich mit der rechten nach der Pistole. Wenn ich sie erst in der Hand habe, wird der Ertzaintza nur einen Sekundenbruchteil später in den Lauf meiner belgischen FN Five-Seven blicken, und ich kann nur hoffen, dass er nicht so dumm ist, mich zum Abdrücken zu zwingen. Dabei vertraue ich darauf, dass auch sein Kollege nicht den Helden spielen, sondern sich mit dem Gesicht nach unten auf den Asphalt legen wird, wenn ich ihn dazu auffordere.
Als ich gerade meinen Führerschein aus der Brieftasche ziehe und die Pistole bereits fest im Griff habe, ist ein Pfiff zu hören.
»Ander! Ein Überfall auf die Tankstelle in Usurbil. Sie sind in einem BMW über die N-634 geflohen. Komm, wir müssen los!«
Der andere Ertzaintza zögert, während ich ihm mit unschuldigem Blick und falschem Lächeln weiterhin meinen Führerschein hinhalte. Wenn er meinen Namen liest, wird die Sache hier äußerst unangenehm werden, denn es ist nicht davon auszugehen, dass ihm der Name Marta Aguilera nichts sagt, da ich seit Stunden der Star in den Radio- und Fernsehnachrichten bin. In Spanien sind Serienmörder eher selten, insbesondere Serienmörderinnen, sodass sich alle Chefredakteure und Nachrichtenmoderatoren die Hände reiben.
Anders Kollege, der bereits mit laufendem Motor auf der Maschine sitzt, ruft erneut nach ihm, und gottlob ergreift er die Chance, am Leben zu bleiben.
»Schnallen Sie sich wieder an, Señorita.«
Nachdem er den unvermeidlichen Blick in meinen Ausschnitt geworfen hat, eilt er davon, startet sein Motorrad, und beide verschwinden mit Höchstgeschwindigkeit über die Landstraße.
Ich atme auf, erleichtert darüber, dass ich die zwei im unpassenden Moment auftauchenden Polizisten doch noch losgeworden bin, stecke meinen Führerschein wieder in die Brieftasche, verstaue die Pistole und fahre weiter.
Eigentlich habe ich vor, mich des Autos zu entledigen, indem ich es über die Felsen hinter Zarautz ins Meer schiebe, doch auf halbem Weg wird mir bewusst, dass dies keine gute Idee ist. Sie werden in jedem Fall schon bald nach dem Wagen suchen, und wenn sie ihn finden, wissen sie, dass ich bereits im Baskenland bin und was ich vorhabe, was die Dinge beträchtlich verkomplizieren würde.
Allerdings denke ich, dass es ausreicht, den Wagen an irgendeiner Flussbiegung des Urumea zu verstecken. Er darf nur heute Nacht nicht gefunden werden, denn morgen bin ich wahrscheinlich schon tot, und dann kann es mir gleich sein, ob sie das Auto finden oder nicht.
Genauso gut könnte ich den Wagen auch bei dem Einkaufszentrum abstellen, das in der Ferne vor mir liegt, denn er würde zwischen den Dutzenden Autos vor dem Supermarkt sicher nicht auffallen. Aber ich will nicht, dass irgendein eifriger Sicherheitsmann auf den Gedanken kommt, das Kennzeichen zu überprüfen, wenn die anderen Fahrzeuge nicht mehr da sind.
Letztendlich lasse ich den Wagen zwischen zwei Bäumen auf einem Feldweg hinter Zubieta zurück, was wahrscheinlich das schlechteste Versteck von allen ist, an denen ich bisher vorbeigefahren bin, aber es ist bereits neun Uhr abends, und um zehn habe ich eine wichtige Verabredung.
Ich gehe am Wegrand entlang auf ein paar Lichter zu, die wenige Hundert Meter entfernt zu sehen sind, als hinter einem Baum plötzlich eine Frau hervorkommt. Zu Tode erschrocken greife ich instinktiv nach meiner Pistole.
»Hallo, Süße. So spät noch eine Runde joggen?«
»Verdammt …« Ich beruhige mich, als ich begreife, dass sie ungefährlich ist, und nehme die Hand aus der Tasche. »Was machen Sie denn hier, Señora?«
»Ein bisschen frische Luft schnappen? Schau doch mal genauer hin!«
Ich mustere sie von oben bis unten. Die Frau ist über sechzig und wie eine Prostituierte zurechtgemacht. Sie ist etwas rundlich, sieht aber noch gut aus und hat einen gewissen Stil. Ohne den übertriebenen Ausschnitt und den knallroten Lippenstift könnte sie eine ganz normale Mutter oder Großmutter sein.
Auf dem Campingstuhl, auf dem sie auf ihre Kunden wartet, liegen ein aufgeschlagenes Rätselheft und eine brennende Taschenlampe. Neben dem Stuhl steht eine große, offene Strandtasche, in der ich feuchte Handtücher, irgendein Kleidungsstück und eine Packung Präservative sehen kann.
»Sollten Sie sich nicht einen etwas belebteren Ort suchen, Señora?«
»Ich hab meine fünf, sechs festen Kunden, und mehr will ich nicht, meine Liebe.« Sie mustert mich. »Bist du im gleichen Gewerbe?«
»Nein, ich bin zufällig hier. Ich bin ein paar Kilometer entfernt mit dem Auto liegen geblieben, und der Akku meines Handys ist leer. Wissen Sie vielleicht, wo ich ein Taxi finden könnte?«
»Ich könnte dir eins rufen.«
»Würden Sie das tun? Ich gebe Ihnen zwanzig Euro.«
Sie bittet um Vorkasse und ruft dann ein Taxi, das mich in einem nahe gelegenen Restaurant abholen soll, damit ich ihr nicht die Kunden vertreibe.
Als ich später im Taxi noch einmal an ihr vorbeifahre – während sie sich wieder ihren Kreuzworträtseln widmet –, bitte ich den Taxifahrer, kurz anzuhalten.
»Señora! Gehen Sie für heute nach Hause!«
Ich werfe ihr durchs Autofenster ein Fünfundzwanzigtausend-Euro-Bündel zu, das ich noch habe, und lasse mich dann im Taxi nach San Sebastian bringen.
In der Wohnung angekommen, lade ich mein Handy auf und bereite mich darauf vor, mein erstes und einziges Interview zu geben. Ich dusche, trage dezent etwas Schminke auf, brauche zehn Minuten, um mich für das einfache Kleid von Zara zu entscheiden, in dem ich in die Geschichte eingehen werde, und rufe kurz nach halb elf bei Álvaro Herrero, meinem Nachfolger bei Nuevo Diario an, der Zeitung, bei der ich vor weniger als einem Monat gekündigt habe.
»Ja?«
»Hast du der Polizei gesagt, dass ich dich anrufen werde, Álvarito?«
»Nein.«
»Bist du sicher?«
»Sonst würde ich es nicht sagen, Marta«, antwortet er mit rauer Stimme.
Ich beende das Gespräch und rufe ihn über Skype erneut an. Álvaro und ich kennen uns von der Uni, und wir haben uns immer gut verstanden. Er ist nicht mein Typ – zu weichlich für meinen Geschmack –, und ich habe ihm gleich klargemacht, dass er mich nicht interessiert, sodass wir nur gute Freunde wurden. Normalerweise freut er sich, mich zu sehen, aber heute lächelt er nicht, als ich auf dem Bildschirm seines Computers auftauche.
Seinem Gesicht ist eine Mischung aus Neugierde, Enttäuschung und Aufregung eingeschrieben, als er die Person, von der gerade alle sprechen, vor sich sieht. Meine frisch geschnittenen, blond gefärbten Haare tragen, wie es scheint, auch nicht dazu bei, ihn zu beruhigen. Zum Glück hat es die Natur gut mit mir gemeint, sodass ich trotz meiner miesen Verfassung nach dem, was ich in den letzten Stunden durchgemacht habe, und trotz der billigen Kamera meines Laptops wahrscheinlich gar nicht so schlecht aussehe. Ich nehme mal an, dass mein vollkommen normales Äußeres bei denen, die meine Geschichte erzählen, für mich spricht.
»Hallo, Álvaro. Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen hab.«
»Das braucht dir nicht leidzutun; du hast mich zu einem berühmten Mann gemacht.«
»Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Das hast du sehr gut gemacht. Freut mich für dich.«
Ich fingere mir eine Zigarette aus der Packung und will sie anzünden, habe aber nicht genügend Kraft in der linken Hand und muss die rechte zu Hilfe nehmen. Die Flamme zittert, und es dauert eine Weile, bis es mir gelingt, die Zigarette zum Qualmen zu bringen.
»Du solltest zum Arzt gehen, Marta.«
»Mein Arzt kann nichts für mich tun.«
Nachdem die Zigarette endlich brennt, nehme ich einen langen Zug, wobei Álvaro mich abwartend beobachtet, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich nehme an, dass du das jetzt schon aufnimmst, oder?«
»Ist es nicht das, was du willst? Auf der ganzen Welt in den Nachrichten zu sein und dass ein Film über dich gedreht wird? Darauf hast du es doch abgesehen, oder nicht?«
»Ich wollte nicht berühmt werden; das ist nur eine unangenehme Begleiterscheinung.«
»Also, warum hast du es getan?«
»Ich muss zugeben, dass das Ganze nicht gerade vernünftig war, aber wer weiß schon, wie er reagiert, wenn er erfährt, dass er nur noch zwei Monate zu leben hat …«
1 JONÁS UND LUCÍA