Ferenc Herzig
Konstantin Sacher
Christoph Wiesinger
(Hrsg.)
KIRCHE DER
ZUKUNFT
ZUKUNFT
DER KIRCHE
23 junge Pfarrerinnen
und Pfarrer erzählen
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-26347-8
V001
www.gtvh.de
INHALT
ZUKUNFT DER KIRCHE – KIRCHE DER ZUKUNFT
Charlotte Eisenberg, Evangelische Kirche in Hessen und Nassau:
THIS IS MY UTOPIA
Hans Martin Golz, Evangelische Kirche in Mitteldeutschland:
FROHE ZUKUNFT SILBERHÖHE
Emilia Handke, Evangelisch-lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche):
INTO THE CRACK.
ZUR TRANSFORMATIONSARBEIT, DIE VOR UNS LIEGT
Hanna Jacobs, Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers:
ICH VERSTEH’ DIE FRAGE NICHT
Johanna J. Klee, Evangelisch-lutherische Landeskirche in Braunschweig:
HINTER JEDEM HÜGEL: WOLFSERWARTUNGSLAND
Helene Lechner, Evangelische Kirche A.B. in Österreich:
BEWEGTE KIRCHE: VON AUSLAGERUNGEN UND GRENZÜBERSCHREITUNGEN IN WIEN-LIESING
Wolfgang Loest, Lippische Landeskirche:
KIRCHE IM DIGITALEN ZEITALTER
Nina-Dorothee Mützlitz, Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern:
»WANN WIRD DENN MAL WIEDER SO ETWAS GEMACHT? DANN KOMME ICH AUCH!«
Martin Olejnicki, Evangelische Landeskirche Anhalts:
SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT ALS HALTUNG
Holger Pyka, Evangelische Kirche im Rheinland:
WENIGER GEDÖNS. MEHR SEGEN
Mandy Rabe, Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens:
DIE SÄCHSISCHE KIRCHE ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN
Theresa Brückner, Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz:
WENN ICH MIR KIRCHE TRÄUME …
Benedikt Rogge, Bremische Evangelische Kirche:
VOM »NICHT MEHR« ZUM »NOCH NICHT«. AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN ZIEL
Anna Elisabeth Scholz, Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck:
KIRCHE ALS KLEINMARKTHALLE
Nele Schomakers, Evangelisch-lutherische Kirche in Oldenburg:
I HAVE DREAM
Corinna Seeberger, Evangelische Landeskirche in Baden:
ES FEHLT NUR DIE GELEGENHEIT
Dominik Storm, Evangelisch-lutherische Landeskirche Schaumburg-Lippe:
ICH SEHE DICH. KIRCHE ALS ORT DER BEGEGNUNGEN
Markus M. Totzeck, Evangelische Kirche von Westfalen:
EINMAL ECKE 60TH STREET & 9TH AVENUE
Johannes de Vries, Evangelisch-reformierte Kirche:
EIN ZUKÜNFTIGER BLICK ZURÜCK
Christian Walti, Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz:
»WANN WIRD DAS EIGENTLICH FERTIG?«
ARBEIT MIT NICHT-KIRCHLICHEN UND ANDERSGLÄUBIGEN MENSCHEN AM EKKLESIALEN NULLPUNKT
Matthias Weida, Evangelische Landeskirche in Württemberg:
WUNSCHKONZERT
Florentine Zimmermann, Evangelische Kirche der Pfalz:
ALLES WANDELT SICH
Katharina Scholl, Evangelische Landeskirche Kurhessen-Waldeck:
VISIONEN AUS DER KRISE
WAS DIE CORONA-PANDEMIE FÜR DIE KIRCHE BEDEUTET
Die Autorinnen und Autoren
ZUKUNFT DER KIRCHE – KIRCHE DER ZUKUNFT
»Ob es besser wird, wenn es anders wird, weiß ich nicht. Dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll, ist gewiss.«
Georg Christoph Lichtenberg
Kirche ist uns wichtig. Das steht fest. Und Kirche verändert sich immer und muss sich verändern. Das steht auch fest. Aber was bedeutet das für die Kirche der Gegenwart? Was muss sich vielleicht sogar grundlegend ändern, da Kirche uns wichtig ist?
Wir wissen keine Antwort und denken, dass diese Frage am besten in den Händen derjenigen aufgehoben ist, die diese Veränderungen, zwar nicht allein, aber maßgeblich gestalten werden: junge Pfarrerinnen und Pfarrer.
Die Arbeitsbedingungen haben sich bisher verändert und werden sich weiter verändern. Doch ist es genug, Verwaltungsreformen durchzuführen? Reicht es zu sagen, wir müssen uns auf unseren Kern, die Arbeit mit den Gläubigen vor Ort besinnen? Wir brauchen weniger Verwaltungsaufwand. Reicht das? Ein bisschen mehr E-Piano, und das wird es richten? Oder muss die Veränderung viel tiefgreifender, ja revolutionärer sein?
Reicht es zu sagen: Das, was die Menschen von uns erwarten, nämlich Gottesdienste, Seelsorge, Hausbesuche, das tun wir gut und machen es weiterhin so – oder muss sich einfach alles ändern?
Natürlich hat keine und keiner ein Patentrezept. Das kann uns aber nicht davon abhalten zu träumen, mit Gedanken zu experimentieren, mutige oder gar freche Ideen in die Welt zu setzen.
Dafür haben wir je eine Pfarrerin oder einen Pfarrer aus jeder Landeskirche und aus Österreich und der Schweiz gebeten, einen Text zu schreiben. Von den Küsten im Norden bis zu den Alpen im Süden, von den Ballungsräumen im Westen bis zu den Wüsten im Osten versammelt dieses Buch Projekte und Ideen, Berichte von Erfolgen und vom Scheitern, von Hoffnungen und Sehnsüchten, von Ängsten und Träumen.
Wir danken den Autorinnen und Autoren für ihren Mut, Einblicke in ihre Gedankenwelt zu geben. Es mag angemerkt sein, dass dies nicht selbstverständlich ist. Wir haben bei der Erstellung dieses Buches die Erfahrung machen müssen, dass gerade in den ersten Jahren im Pfarramt viele unter einem Anpassungsdruck stehen, der es ihnen unmöglich gemacht hat, sich mit ihren Ideen öffentlich zu äußern. Die versammelten Texte zeigen jedoch: Kirche der Zukunft beginnt bei uns und heute mit unseren Aufbrüchen, die wir wagen, Ideen, die sich bewähren und Visionen, die tragen. Kirche der Zukunft beginnt mit dem Glauben, der im Mut anhebt und es wagt, das Morgen im Horizont der Verheißung Gottes zu sehen.
Die Herausgeber
Ferenc Herzig, Konstantin Sacher und Christoph Wiesinger
THIS IS MY UTOPIA
Charlotte Eisenberg
Die deutsche weiße Mittelschichtskirche, diese Stammeskirche, gibt es nicht mehr.
In meiner Utopie ist Kirche ein Treffpunkt für Menschen, die Gott suchen und ihn feiern wollen. Natürlich ist sie das, das soll sie sein, zu allen Zeiten und an allen Orten. Nicht soll sie jedoch ein Ort sein, wo nur die Wohlhabenden, die Gesetzten und nur die über 60 zu Hause sind. Wo die Fähigkeit hochgeschätzt wird, Stücke von Bach und Mozart – natürlich auf der Orgel gespielt – auseinanderhalten zu können. Sondern wo diejenigen sich treffen, die sich nach Gottes Gegenwart sehnen, aus allen Schichten, allen Alters, jeglicher Hautfarbe, jeden Geschlechtes. Egal, welchen Namen sie Gott geben: das Transzendente, der Schöpfer, die Dreieine oder einfach »Mehr«.
In meiner Utopie ist Kirche Musik. Hier kommen alle Instrumente zum Klingen und jegliche Melodie ist willkommen. Von Orgel bis Schlagzeug, von Paul Gerhard bis Beyoncé. Hier werden nicht Millionen für den Erhalt des Vergangen ausgegeben und das Alte mit Macht am Leben erhalten. In meiner Utopie ist Kirche ein Ort der Vielfalt und des Experiments. Denn hier geht es darum, Gott zu erfahren. Doch Gott ist nicht im Alten. Er ist auch nicht im Neuen. Er ist in den Menschen – in ihrer Vielfalt und Buntheit. Denn Kirche bleibt nur lebendig, wenn die Herren und Damen in ihrer Mitte Platz machen für die, die sonst am Rand stehen: die Kinder, die Fremden, die Freaks. Diejenigen, mit denen Jesus nach Hause gegangen wäre, um mit ihnen das Brot zu teilen und über Gottes Liebe und Gerechtigkeit zu reden. Und nicht über Bachs kleine Fuge in g-Moll.
In meiner Utopie ist Kirche ein Gegenüber und keine Partnerin des Staates. Kirchensteuer kennt man hier nicht. Stattdessen gibt jede und jeder das, was möglich ist. Hier ist wenig Geld zu finden, denn Staatskirchenverträge und Beamtenrecht sind abgeschafft. Auch Staatsleistungen sucht man vergebens, denn die jahrhundertealten Vereinbarungen wurden aufgekündigt. In meiner Utopie ist Kirche kein Ort der Privilegien und der Privilegierten. Sondern ein Ort, wo die Prophetin zu Hause ist, die von der Welt geächtet wird. Und die nicht mit der Ministerin spricht, um einen Kompromiss zu finden, sondern um ihr von Gottes Gerechtigkeit und Frieden zu erzählen. Von der radikalen Botschaft des Reiches Gottes, für die es keine politischen Hände zu schütteln gilt, sondern Tische umzuwerfen. Und wenn nötig, auch in den Tod zu gehen, wie es einer schon vor 2000 Jahren tat. In dieser Kirche ist die Armut zu Hause. Denn sie steht in der Nachfolge eines Wanderpredigers, der keine andere Heimat hatte als Gott.
In meiner Utopie ist Kirche ein Kind des Geistes. Und nicht des Papiers und der Bürokratie. Nicht das Mitgliedschaftsverzeichnis und auch nicht das Taufregister zeigen an, wer dazugehört und wer nicht. Denn die Taufe ist Geschenk und Gabe Gottes. Wie könnte sie dann Bedingung sein? Nein, keine Bedingung ist sie, sondern Ausdruck von Sehnsucht. So ist es auch nicht wichtig, wann und wie oft jemand kommt. Erst recht sind es nicht zwei Buchstaben auf dem Lohnsteuerzettel, die entscheiden, wer dazugehört. In meiner Utopie geht es um ein Suchen, ein Streben nach dem, was uns heil und ganz macht. Und das ist durch kein Formular, kein Gesetz, keine Besuchsfrequenz abzubilden. Deswegen wird hier auch nicht diejenige Pfarrerin, deren Partner*in das richtige Geschlecht und die rechte Religion hat. Sondern diejenige, die die Menschen mitnehmen kann auf ihrer Reise zum Heiligen.
In meiner Utopie ist Kirche eine Hütte und kein Palast. Hier verkünden nicht Gold und Marmor Gott. Hier maßt sich nicht menschlicher Größenwahn an, Gottes Wunder nachzuahmen. Wer sind wir, dass wir meinen, Gott in Stein abbilden zu können? In meiner Utopie wird das Heilige nicht durch Denkmalschutz und Tradition zugemauert. Hier wird Kirche heilig durch das, was in ihr geschieht: das mutige Offenlegen von Wunden, das schützende Umarmen der Schwachen, das leise Weinen, das laute Lachen, das wilde Tanzen und das wütende Brüllen. In meiner Utopie gibt es die Stille der Wüste. Es gibt den Lärm des Marktplatzes und die Ekstase des Festes. Was es nicht gibt, ist eine sonntägliche Pflicht zum Gottesdienst. Weder für die eine noch für alle. Der Dienst an Gott, Gottes Dienst an uns, findet statt, wo, wann und wie er gebraucht wird. Er lässt sich nicht einhegen und verordnen. Und er zeigt sich nicht in Form eines Geheimbundes, wo nur die Eingeweihten die rechten Worte und die erwünschten Gesten kennen. Jeder und jede wird willkommen geheißen und mitgenommen. Nicht die agendarischen Formen I und II sind hier vorgeschrieben, sondern das Ermöglichen von göttlicher Erfahrung. In Herz und Verstand, in Leib und Seele.
In meiner Utopie ist Kirche ein schöner Ort. Wo wir nebeneinander und miteinander sitzen, auf bequemen – vielleicht etwas schäbigen – Stühlen, die leise flüstern: »Es ist gut, dass du hier bist. Bleib doch noch etwas länger. Sieh dich um, fühl dich zu Hause, denn Gott will dich bergen, dich ermutigen, dich stärken.« Hier kennt man keine harten, unbequemen Bänke, keine düsteren Ecken und furchteinflößenden Bilder, die einem schon beim Hineingehen zurufen: »Hier ist es nicht schön. Geh lieber wieder nach Hause, denn eigentlich wollen wir dich hier nicht.« Diese Kirche ist zwar keine Wellness-Oase, denn Gottes Wort ist nicht nur leise und sanft, sondern manchmal auch laut, wütend und unbequem. Aber hier werden wir wahrgenommen mit unserem Körper und unseren Sinnen. Hier werden wir Sünderinnen befreit, beflügelt, ermächtigt. Hin zu Gott, hin zueinander. Hier wird Gottes radikale Gerechtigkeit und Vergebung mit Händen greifbar, mit Ohren hörbar, mit Augen sehbar.
In meiner Utopie ist Kirche eine Heimat für Kinder und Jugendliche. Zeit in und mit der Kirche zu verbringen ist für sie schön, spannend, wertvoll. Hier geben nicht die Alten vor, wer etwas wie und wo darf. Stattdessen gibt es hier ganz viel Raum, Kirche zu erkunden, den eigenen Glauben zu stärken und Spiritualität zu erproben. Kirche ist für junge Menschen ein Ort, wo sie bedingungslose Liebe und erlösende Freiheit erfahren. Wo sie lernen, dass ihr Wert von nichts und niemandem auf der Welt abhängt, denn ihre Namen sind in Gottes Hand gezeichnet. Die alten vergilbten Unterschriftenkarten der Konfis verstauben auf dem Dachboden: Gottesdienst als Zwang – eine Idee in Schwarzweiß. Kaum zu glauben, dass es das mal gab! Gottesdienste, Freizeiten und Konfistunden verpassen will hier niemand, denn es geht ja um sie: um ihre Fragen, ihren Glauben, ihre Kirche. Und um den, der einmal sagte: Lasst die Kinder zu mir kommen, denn ihnen gehört das Reich Gottes.
In meiner Utopie ist Kirche keine Landeskirche. Die alten Fürstentümer sind abgeschafft, genauso wie die Grenzen entlang kryptischer Linien, die sich in Begriffen wie Presbyterium und Propstei, in Beffchen und Halskrause ausdrücken. An Nordsee und in den Alpen findet man sie, die Gemeinden, die sich als Glieder der einen Gemeinschaft verstehen, die sich nicht durch Gesetze und Verwaltungen und schon gar nicht durch längst untergegangene Ländergrenzen teilen lässt. Verschiedene Eigenheiten und Perspektiven bestehen, doch sind diese keine Trennungsgründe. Sie sind Ausdruck von Gottes bunter Schöpfung in der einen Kirche. Theologische Bekenntnisse und Erkenntnisse können hier nebeneinanderstehen, denn in ihrer Gesamtheit erlauben sie uns, Gottes unbegreiflicher Wahrheit etwas näherzukommen. Deswegen gibt es keine Mauern mehr, sondern nur noch durchlässige Membranen miteinander verbundener Zellen, durch die steter Austausch die Grundbedingung für ein gesundes Wachsen ist. Nur so bleibt Raum für Gottes überraschendes Handeln, denn der Geist der Ordnungen und Ordner wurde verbannt.
In meiner Utopie ist Kirche gegenwärtig. Sie hat keine Angst vor den Medien der Zeit, verharrt nicht auf alten Wegen aus Angst vor dem Neuen, aus Bequemlichkeit, aus Arroganz. Sie orientiert sich in ihrer Verkündigung an der Art, wie die Menschen um sie herum kommunizieren. Sie verkauft sich aber auch nicht, versteht sich nicht als Marke und orientiert sich nicht an Leistung, wie sie der Markt kennt. Denn hier geht es nicht um ein Produkt, sondern um Gottes Wort vom Reich Gottes. Aber sie kommuniziert so, dass Menschen sie wahrnehmen, sie hören und sehen. Sie spricht in einer Sprache und an Orten, dass Menschen sie verstehen können. Sie verwendet keine Phrasen, kein »wir dürfen« und kein »lasst uns«. Sie spricht auch nicht in hoher Sprache, die keiner versteht. Und sie biedert sich nicht an. Denn sie ist schon da, wo die Menschen sind. Was ist Kirche anderes als die Menschen, die darin sind? Deswegen kommen hier auch genau diese Menschen zu Wort. In meiner Utopie spricht nicht die Kirche zu den Menschen, sondern die Menschen der Kirche sprechen miteinander. Sie tauschen sich aus, sie hören einander zu, sie essen und tanzen miteinander und sie schweigen gemeinsam. So, dass Gottes Wort sich Bahn bricht.
In meiner Utopie ist Kirche der Leib Christi. Hier hat keiner Macht über den anderen. Pfarrerin und Gemeindeglied, Alt und Jung, Verwalterin und Arbeiter im Weinberg, Weiße und Schwarze, Bischöfin und Pfarrer, Hetero und Queer, Mann und Frau – sie alle wissen: Wenn einer leidet, leidet der ganze Körper. »Einer trage des anderen Last.« Eine solche Gemeinschaft kennt keine Machtpose, und Schwäche zeigen zu können gilt allen als die wahre Stärke. Die alten Machtspiele und Hierarchien wurden längst durchschaut, egal wie informell und subtil sie waren. Gerechtigkeit und Frieden feiern hier täglich den Christopher Street Day, denn nie wieder lassen sie sich das Küssen verbieten. Die Rudel der alten weißen Männer, die vormals hinter Bürotischen regierten, haben ihre Zepter niedergelegt. Nun tun sie alles, um den bisher Übertönten Gehör zu verschaffen. Sie haben erkannt: Das ist der wahre Dienst an Christus. Denn wie die Kirche sich Christus unterordnet, so ordnen sich nun die Mächtigen den Schwachen unter. Und geben damit Gott einen guten Grund, vor Freude laut zu lachen.
Dies ist meine Utopie. Meine Utopie von Gottes Kirche auf Erden. Hier und heute.
FROHE ZUKUNFT SILBERHÖHE
Hans Martin Golz
Verfall und Verlust
Ich bin in einem Bundesland geboren, das beim Aufzählen der Bundesländer gern einmal vergessen wird. Ein Bundesland, in dem die Frühaufsteher zuhause sind, weil sie zur Arbeit erst einmal nach Niedersachsen fahren müssen. Seit 2018 bin ich hier auch Pfarrer – in Sachsen-Anhalt. Pfarrer in der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Pfarrer im Süden von Halle an der Saale. Eine Stadt, deren größter Vorteil in den Augen vieler zu sein scheint, dass man schnell nach Leipzig kann. Mein Gemeindegebiet ist geprägt von Verlust und Verfall. Dafür steht ein Name: die Silberhöhe. Glänzen – wie der Name es verspricht – tut hier aber nichts. Und es sind auch eher die Tiefen als die Höhen, die die Menschen hier im Plattenbau erleben. Und doch ist die Silberhöhe Spitzenreiter in vielen Statistiken: die meisten Sozialhilfeempfänger, Teenie-Mütter, Kinder mit Förderbedarf und Drogenabhängige sammeln sich in diesem Stadtteil, der seit dem Mauerfall ca. zwei Drittel seiner Bewohner verloren hat. Die Geografen sprechen von Segregation. Manch einer sagt: »In der Silberhöhe leben all die, die den Absprung nicht geschafft haben.« Neben der Silberhöhe liegt Ammendorf. Ein stolzer Ort mit Tradition. Und weit bekannt als Zentrum für Waggonbau. Leider ist dies auch nur noch Geschichte. Die Hallen stehen leer und mit ihnen verfällt der Stadtteil. Hab ich noch was vergessen? Ach ja, es ist natürlich nicht alles schlecht hier. Zum Beispiel gibt es ja auch die herrliche Elsteraue. Ein wunderschönes Naturschutzgebiet, das zum Spazieren einlädt. Viele kleine Seen und Flussarme verzweigen sich hier zu einem wunderschönen grünen Fleckchen Erde. Das Einzige, was den Frieden etwas stört, ist die neue ICE-Trasse, die direkt durch die Aue gezogen wurde, und das Kohlekraftwerk, das selbst bei blauem Himmel eine riesige Wolke hinterlässt. Ich verspreche, düsterer wird es jetzt nicht mehr. Aber ich schreibe diese Zeilen, weil sie in meinen Augen etwas widerspiegeln, wofür ich meine Heimat Sachsen-Anhalt und auch meine Landeskirche mag.
Aus Scheiße Gold machen
Die Probleme sind hier auf dem Tisch. Wir haben in den letzten Jahren viele Veränderungen erleben müssen, die mancherorts in Deutschland erst noch kommen werden. Aber man hat sich hier nicht aufgegeben. Täglich erlebe ich, wie die Menschen in diesen trostlosen Umständen ihr Leben meistern, wie sie sich teilweise ins Leben zurückkämpfen und wie sie – das hört man hier sehr oft – »aus Scheiße Gold machen.« Galanter formuliert, hat man Demut lernen müssen. Man war und bleibt gefordert, sich auf die eigenen Kräfte zu besinnen. Und wenn man dann genauer hinschaut, dann kann man vieles entdecken, was innerhalb dieses Verfalls von Zukunft kündet.
Demut und Vertrauen auf die eigene Stärke. Das kann ich als Pfarrer, der hier in einem schicken Gemeindezentrum am Rande der Silberhöhe wohnt und immer pünktlich sein Gehalt überwiesen bekommt, von den Menschen um mich herum lernen. Und ich frage mich tatsächlich, warum kaum einer aus der »Platte« hier bei mir ist in diesem riesigen Begegnungszentrum, das doch extra für die Menschen dieses Viertels gebaut worden ist. Was ist hier und in unseren Kirchen passiert, dass diese Leute nicht Teil unserer Gemeinden sind, sie sich nicht eingeladen oder sogar ausgegrenzt fühlen? Ich schreibe an dieser Stelle ganz bewusst nichts von der DDR-Sozialisation der Menschen und der oft beschworenen Entkirchlichung. Ich erlebe eher ein anderes Phänomen, das mir für die Ausrichtung einer Kirche für die Zukunft wichtiger erscheint.
Scham und Zuständigkeit
In den ersten Tagen meines Pfarrdienstes rief mich eine Frau an und bat mich, ihre Mutter zu beerdigen. Sie selbst war kein Kirchenmitglied. Die Mutter war getauft. Von dem Telefonat haben sich zwei Sätze bei mir eingebrannt, die mich nicht mehr loslassen. Sie sagte:
»Sie sind ja nicht für mich zuständig, aber es wäre mir wichtig. Ich würde mich auch großzügig zeigen.«
Die Frau hatte ein Bedürfnis nach Halt, sie sehnte sich nach Trost. Ihr fiel die Kirche ein. Beschämt ruft sie an, in dem Glauben, den Pfarrer zu belästigen. »Vielleicht macht er es, wenn ich ihm Geld gebe?«, denkt sie sich. Immer wieder nehme ich wahr, dass Menschen in meinem Lebensumfeld das Gefühl haben, Kirche wäre nicht für sie da. Das kann auf der einen Seite an unserem Handeln als Kirche liegen, auf der anderen Seite an einer Art Selbstbeschämung der Menschen, da sie lediglich in Notsituationen auf die Idee kommen, die Kirche oder die PfarrerIn zu kontaktieren. Die Gründe sind sicher vielschichtig, aber das Ergebnis ist entscheidend. Kirchgemeinde erscheint in vielen Fällen als abgeschlossenes System. Und zu dieser Geschichte gehört auch, dass die Frau am Telefon eben aus der oben beschriebenen Silberhöhe anrief.
Perlen vor die Säue
Ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass für mich Gemeinde nicht nur die sind, die auch Gemeindemitglieder sind. Und bei den sinkenden Zahlen unserer Gemeinden finde ich es reichlich nachvollziehbar, eben die in den Blick zu nehmen, die nicht »dazugehören«. Letztlich steht uns als Gemeinde mit knapp 1000 Mitgliedern eine riesige Anzahl von Menschen gegenüber, mit der wir tagtäglich leben, aber die wir durch unsere Angebote, Sprache und Milieuunterschiede nie erreichen. Deswegen reicht es in meinen Augen nicht, einfach immer nur von kirchlicher Seite zu betonen, dass unsere Türen ja offen sind, sondern wir müssen selbst rausgehen – und was, glaube ich, noch viel wichtiger ist: Wir müssen unsere Schwellen besonders bei den Kasualien herabsetzen. Ich bin als Pfarrer angetreten, weil ich mit den Menschen leben will, weil ich das Leben mit ihnen teilen will. Ich will Trost spenden und mit ihnen feiern. Ich will von dem erzählen, was mir selbst täglich Kraft gibt. Und ich glaube, dass unsere Tradition und Rituale für dieses Vorhaben einen riesigen Schatz bieten. Aber wenn ich diesen Schatz nur den Menschen anbieten darf, die auch Kirchensteuer bezahlen, habe ich reichlich wenig zu tun. Ich habe die Entscheidung getroffen, nichts von dem, was ich als Pfarrer anbieten kann, nur für Gemeindeglieder zurückzuhalten. Zwei Beispiele: Mit den Bestattungsunternehmen in meinem Gemeindegebiet ist abgesprochen, dass ich für jede Bestattung als Redner angefragt werden kann. Und in einer leer stehenden, sehr romantisch gelegenen Kirche entwickeln wir als Gemeinde gerade ein Konzept für eine Hochzeitskirche, die offensiv dafür wirbt, kirchliche Trauungen für Konfessionslose anzubieten.
Und mittendrin der Bauwagen
Die EKM schafft seit 2014 durch das Projekt »Erprobungsräume« Freiräume, in denen neue Formen von Kirche im säkularen Kontext erprobt werden sollen. Sie lassen sich noch stärker auf ihr Umfeld – besondere Orte, Menschengruppen, Herausforderungen – ein, als es herkömmlichen Gemeinden manchmal möglich ist. Sie leben bewusst Kirche mit Anderen. Deswegen sehen sie oft ganz anders aus. In unserem Fall haben wir mitten in der Silberhöhe einen Bauwagen eröffnet und mit der Stadt Halle eine Patenschaft über die anliegenden Grünflächen abgeschlossen. Dieser Bauwagen und die Wiesen drum herum sollen Begegnungsort für die Menschen des Viertels werden. Neben wöchentlichen Angeboten für Kinder sollen hier monatlich kulturelle Veranstaltungen stattfinden und die Feiertage mit den Menschen begangen werden. Dabei achten wir aber darauf, dass wir nicht etwas Fertiges mitbringen, sondern dass dieser Ort durch die Menschen der Silberhöhe zu dem wird, was dabei entsteht. Wir wollen miteinander leben und nicht als die Helfer von außen auftreten. Wir wollen die Lebensleistung der Menschen würdigen und nicht abqualifizieren, indem wir vorgeben zu wissen, was richtig ist. Eigentlich alles völlig normal, aber eben doch auch eine Herausforderung. Eine der Voraussetzungen für einen Erprobungsraum ist die Suche nach alternativen Finanzierungsmodellen. In unserem Fall arbeiten wir eng mit der Stadtverwaltung zusammen und wir werden durch ein städtisches Wohnungsunternehmen finanziell unterstützt. Darüber hinaus versuchen wir, mit dem, was wir vorfinden und was uns begegnen wird, auszukommen.
Addition durch Subtraktion
Wenn ich meine hier beschriebenen Anliegen anspreche, kommen häufig direkt die Fragen nach der Finanzierbarkeit und der Mitgliedschaft auf. Manchmal wird mir auch der Vorwurf gemacht, dass ich Kirchensteuergelder verprasse, und dass ich mich lieber um meine Gemeindemitglieder kümmern sollte. Und mir ist tatsächlich bewusst, dass ich meine Arbeit gerade vor allem deswegen tun kann, weil ich in diesem System von Mitgliedschaft und Kirchensteuer agiere. Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass ich keine durchdachten Konzepte vorweisen kann, wie wir künftig unsere Pfarrstellen und Arbeit finanzieren können. Und ich erlaube es mir auch in meiner jugendlichen Naivität, auf die Entscheider in den Landeskirchen zu vertrauen, dass sie das zu Ende denken mögen. Das bedeutet aber nicht, dass wir als Gemeinde blauäugig unser Geld zum Fenster herauswerfen. Wir bemühen uns um eine konsequente Reduktion unserer Strukturen und Liegenschaften. Wir konzentrieren unsere Arbeit auf ein Zentrum: Wir haben Häuser verkauft und für zwei unserer sechs Kirchen sind neue Nutzer gefunden, die in Zukunft auch einen Kauf der Gebäude erwägen. Das Spannende ist, dass diese Reduktion Kräfte freisetzt und neue Horizonte eröffnet. So ist zum Beispiel durch die Vermietung der Kirchengebäude an eine Eritreisch- und eine Rumänisch-Orthodoxe Gemeinde eine lebendige Ökumene entstanden. Wo ich sonst nur mit zwei Leuten Gottesdienst gefeiert habe, können wir jetzt gemeinsam beten und wieder Sommerfeste feiern. Das ist für manch einen, der seit Jahren den Niedergang seiner Gemeinde erlebt hat, Balsam auf die geschundene Seele. Wenn auch alles ganz anders ist als früher.
Teresas Traum
Zuletzt möchte ich in diesem Text damit ernst machen, was ich in meinem Pfarralltag immer wieder versuche. Ich bin nicht der, der das letzte Wort hat. Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche, in der verschiedene Stimmen sprechen. Eine spricht mir ganz besonders aus der Seele:
»Ich träume eine Kirche, die sich versteht als Gemeinschaft von Menschen. Ja, ich brauche auch das Atmen und Erzählen unserer Gebäude. Ja, ich lebe auch aus den Strukturen, die sich die Institution geben musste, um sich zu erhalten. Aber Kirche sind für mich nur die Menschen, die sie bilden. So unterschiedlich, so fern der Traditionen oder so nah an ihrer Praxis. Nicht als Zahlen in Mitgliederstatistiken, sondern als Menschen, die Gott mehr oder weniger als Teil ihres Lebens verstehen. Und die ermutigt genug sind, davon zu sprechen.
Ich träume eine Kirche, die sich nicht selbst genug ist. Die realistisch sieht, dass die Tage ihrer selbstverständlichen gesellschaftlichen Bedeutung gezählt sind. Und die den Mantel dieser Macht fröhlich und auch mit einem erleichterten Seufzer ablegen kann. Die sich auf die Suche macht nach dem, was sie als Evangelium tatsächlich zu sagen hat. Zu feiern. Und zu dienen.
Ich träume eine Kirche, die nicht aufhört, hungrig zu sein. In der Menschen Veränderung predigen, denken, leben und wirken.
Ich träume eine Kirche, die sich der eigenen Vorläufigkeit bewusst ist. Die sich baut aus Steinen des Nicht-Wissens und des Vertrauens, der alten Geschichten vom Glauben und der Erfahrungen von Himmel, der Verluste und des Versagens. Und die all diese Steine gleichermaßen zeigt. Ich wünsche mir eine Kirche, in der Menschen sichtbar ist, welchen Schatz sie da in den Händen halten: das Bewusstsein, sich nicht sich selbst verdanken zu müssen in dem, was sie sind und haben. Vergebung und Gnade. Ebenbildlichkeit, Gestaltungsvollmacht, Vernunft und zugleich kindliches Vertrauen, nicht alles verstehen zu können und zu müssen. Das, was sich eben Glaube nennt. Und Liebe.
Ich träume eine Kirche, die noch träumt. Mit offenen Augen. Und Utopien entwirft. Was, wenn nicht eine große Utopie ist denn dieses Reich Gottes?
Ich träume eine Kirche, die viele Sprachen spricht. Und an vielen Ort wohnt.
Und sieht, was eben ist.
Ich träume eine Kirche, die nicht von Menschen wie mir abhängt. Nur ein ganz kleines bisschen.«
Teresa Tenbergen, Pfarrerin in Volkstedt und Helfta