Cover

Karma Brown, kanadische Journalistin und Autorin mehrerer Romane, ist begeisterte Köchin, was sie zu ihrem neuesten Roman Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau inspirierte. Das Buch wurde in Kanada unmittelbar zu einem Nr.-1-Bestseller und erhielt grandiose Kritiken. Karma Brown lebt mit ihrem Mann, ihrer Tochter und einem Labradoodle in der Nähe von Toronto.

Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau in der Presse:

»Packend und psychologisch durchdacht!« Booklist

»Ein mitreißender Roman über zwei starke Frauen, die in ganz verschiedenen Zeiten um Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung kämpfen.« The Tribune

»Eine packende, raffiniert und einfühlsam erzählte Geschichte von zwei starken Frauen!« Seattle Book Review

»Karma Brown ist der weibliche Nicholas Sparks.« Toronto Star

»Klug erzählt und unglaublich spannend!« New York Times

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Karma Brown

Todsichere
Rezepte
für die moderne Hausfrau

Roman

Aus dem Englischen
von Hans M. Herzog

Die Originalausgabe erschien 2020

unter dem Titel Recipe for a Perfect Wife

bei Viking (Penguin Random House Canada), Toronto.

Der Penguin Verlag dankt dem Canada Council for the Arts für die Förderung der Übersetzung. We acknowledge the support of the Canada Council for the Arts. Nous remercions le Conseil des arts du Canada de son soutien.

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Copyright © der Originalausgabe 2020 by Karma Brown

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur gsk GmbH

Umschlagabbildung: © The Advertising Archives / Bridgeman Images; © Groundback Atelier / shutterstock

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-26409-3
V002

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Meiner Oma, Miriam Ruth Christie, die trotz der Grenzen in ihrer Generation Feministin war. Sie kochte vorzugsweise aus Dosen und war nicht für ihre Kochkünste berühmt, konnte aber ein hervorragendes Chicken à la King zubereiten. Das fehlt mir, wenn auch nicht so sehr, wie sie mir fehlt.

Und allen Frauen, die vor mir kamen, danke ich, dass sie den Weg erhellt haben. Für die danach kommenden – ich meine vor allem dich, Addison Mae – tut es mir leid, dass noch Arbeit bleibt. Ich hoffe, wir haben euch genug an die Hand gegeben, um den Auftrag zu beenden.

Die Kunst ist eine schwierige Lehrerin, und keine

Kunst ist so schwierig wie die, Ehefrau zu sein.

Blanche Ebbutt, Don’ts for Wives (1913)

1

Sie scheinen zu vergessen, dass ich verheiratet bin, und der einzige Reiz der Ehe ist, dass sie ein Leben der Täuschung für beide Teile absolut notwendig macht.

Oscar Wilde, Das Bildnis des Dorian Gray (1890)

Es war sowohl an diesem Tag als auch in der Pflanzsaison schon spät, doch ihr blieb keine andere Wahl. Ihr Mann hatte die Dringlichkeit nicht begriffen, da er noch nie einen Garten gepflegt hatte. Auch wusste er dessen Gaben nicht zu würdigen, was zur Folge hatte, dass er ihr gegenüber an jenem Morgen ein wenig ungehalten gewesen war. Er wünschte, sie würde sich auf wichtigere Aufgaben konzentrieren, von denen es zahlreiche gab, da sie erst vor einer Woche hierhergezogen waren. Es stimmte zwar, ein Großteil des Gartens konnte warten – gegen Ende des Jahres passierte wenig, da die Blumenzwiebeln im Boden ruhten und auf Wärme und Regen des Frühjahrs warteten. Doch diese spezielle Pflanze, mit ihren zahlreichen glockenförmigen Blüten, würde nicht so geduldig sein. Außerdem war sie ein Geschenk, begleitet von präzisen Anweisungen, sie musste also unbedingt eingepflanzt werden. Heute noch.

Sie fühlte sich am wohlsten in ihrer Haut, wenn sie in der Erde herumwühlte, den Knospen und Blättern etwas vorsang und ihnen gut zuredete. Das war der Hauptgrund gewesen, weshalb ihr das Haus bei der ersten Besichtigung gleich gefallen hatte. Die Rabatten waren bereits vorbereitet gewesen, wenn auch dürftig, und sie sah vor ihrem inneren Auge, wie sich das Ganze in etwas Großartiges verwandeln ließe. Das eigentliche Haus fühlte sich riesig und unpersönlich an – besonders die vielen Zimmer, schließlich waren sie nur zu zweit. Doch sie waren immer noch frisch vermählt. Es blieb jede Menge Zeit, aus dem Haus ein Zuhause zu machen, es mit Kindern und Wärme zu füllen.

Während sie eines ihrer Lieblingslieder summte, zog sie die Gartenhandschuhe über, hockte sich hin und hob mit der Schaufel ein großes kreisförmiges Loch aus. In das Loch kam die Pflanze, die sie mit ihren Gartenhandschuhen vorsichtig hielt, um die amethystfarbenen Blüten nicht zu beschädigen. Sie fand es tröstlich, als sie die Erde um die Wurzeln festklopfte, der Stängel hübsch und aufrecht dastand und die Blüten den Garten schon zum Leuchten brachten. Es gab noch jede Menge Arbeit, doch sie legte sich auf das weiche Gras, die Hände wie ein Kissen unter dem Kopf, und sah den im blauen Himmel über ihr tanzenden Wolken zu. Aufgeregt und bereit für alles, was da kommen würde.

2

Männer mögen ein sauberes Haus, aber wenn ständig darin herumhantiert, das Haus auf den Kopf gestellt wird, um es sauber zu halten, treibt das einen Mann aus dem Haus und woandershin.

William J. Robinson, Married Life and Happiness (1922)

Alice

5. Mai 2018

Als Alice Hale das Haus zum ersten Mal sah – von beeindruckender Größe, wenn auch vernachlässigt und daher heruntergekommen und trostlos –, konnte sie unmöglich ahnen, was es für sie noch in petto hatte. Zuerst kam ihr der Gedanke, wie gigantisch es war. Die Hales wohnten in einer winzigen Zweizimmerwohnung in Murray Hill, in der man sich seitlich am Bett vorbeiquetschen musste und wo man mit den Kniescheiben die Badezimmertür berührte, wenn man auf dem Klo saß. Verglichen damit war dieses Haus ein ansehnlicher Würfel aus symmetrischen Backsteinen mit Fensterläden zu beiden Seiten einer roten Tür, die sich in einen Steinbogen schmiegte und deren Farbe sich schälte wie Haut nach einem schlimmen Sonnenbrand. Alice verspürte eine Abneigung, als sie sich vorstellte, durch die Tür zu treten: Willkommen in Greenville, Nate und Alice Hale, konnte sie das Haus durch den Briefschlitz beinahe flüstern hören, in einem Ton, der alles andere als einladend klang. Yuppies kommen hierher, um zu sterben.

Der Vorort war ausgesprochen zauberhaft, aber er war nicht Manhattan. Greenville lag nur wenige Autominuten von dem bekannteren und exklusiveren Scarsdale entfernt, die Zugfahrt nach New York City dauerte keine Stunde, und doch war es eine völlig andere Welt. Breite Rasenflächen. Lattenzäune, viele von ihnen weiß, was vorhersehbar war. Gehwege so sauber, dass man von ihnen essen könnte. Keine Verkehrsgeräusche, was Alice irritierend fand. Ihr linkes Auge zuckte, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen war, dass sie in der Nacht zuvor kaum geschlafen hatte. Sie war in dem schuhkartonkleinen Apartment in Murray Hill im Dunkeln auf und ab gegangen, fest davon überzeugt, das hier – das Haus, Greenville, das alles – würde sich als furchtbarer Fehler erweisen. Doch mitten in der Nacht fühlte sich alles immer schrecklich an, und am Morgen kamen ihr die Schlaflosigkeit und ihre Sorgen albern vor. Dies war das erste Haus, das sie besichtigt hatten, und niemand kaufte das erste Haus.

Nate nahm ihre Hand und führte Alice den Gehweg entlang, damit sie sich das Haus von der Seite ansehen konnte. Sie drückte seine Finger und folgte beim Gehen seinem Blick. »Es ist hübsch, stimmt’s?«, sagte er, worauf sie lächelte und hoffte, dass ihm nicht auffiel, wie ihr Auge zuckte.

Als sie die Vorderseite des Hauses betrachtete – die tiefen Risse im Beton des Fußwegs, den grau werdenden und windschiefen Lattenzaun –, wurde Alice klar, warum das Haus zu diesem Preis zu haben war, obwohl selbst der beinahe ihr Budget sprengte. Zumal sie jetzt von einem Gehalt lebten, wofür Alice verantwortlich war und was ihr immer noch vor lauter Schuldgefühlen Magenschmerzen bereitete, wenn sie daran dachte. Das Haus erforderte einiges an Arbeit. Eine Menge Arbeit. Und sie hatten es noch nicht einmal betreten. Alice seufzte, drückte die Fingerspitzen gegen ihre Augenlider. Das geht schon, dachte sie. Das wird schon irgendwie.

»Das ist ein Haufen Geld«, sagte sie. »Bist du dir sicher, dass wir es uns leisten können?« Sie war in einem Haushalt ohne Reserven aufgewachsen, und manchmal hatte es nicht mal genug für das Nötigste gegeben; der Gedanke an eine Hypothek machte ihr Angst.

»Das können wir, versprochen«, antwortete Nate. Er kannte sich mit Zahlen aus und konnte gut mit Geld umgehen, doch sie zögerte immer noch.

»Die Bausubstanz ist hervorragend«, ergänzte er, und Alice musterte ihn kurz, fragte sich, warum sie beide die Dinge so unterschiedlich sahen. »Und es ist ein Klassiker. Findest du nicht toll, wie solide es aussieht?« Solide. Das hatte man davon, wenn man einen Aktuar heiratete, einen Versicherungsmathematiker.

»Glaubst du, die Maklerin hat uns die richtige Adresse gegeben?« Wenn Alice den Kopf ganz leicht schräg hielt, sah es so aus, als neige sich das Haus nach rechts. Vielleicht waren sie ja in der falschen Wohngegend und woanders stand ein Vetter dieses Haus, aber in einem viel besseren Zustand. Stimmt, sie hat Greenwich gesagt, nicht Greenville, würde Nate vielleicht sagen, wenn er die E-Mail ihrer Maklerin noch mal las.

Alice runzelte die Stirn über den Schandfleck von einem Vorgarten, über das farblos wuchernde Gras, und fragte sich, was wohl ein Rasenmäher kosten mochte. Doch während alles andere ungepflegt aussah, waren die Blumen entlang des Zauns – üppige rosa Blüten, die aussahen, als bestünden sie aus Schichten zarten Seidenpapiers – prachtvoll und zahlreich, als hätte man sich erst an diesem Morgen um sie gekümmert. Alice schob die Finger unter eine der Blumen und beugte sich vor, ihr Duft war berauschend.

»Hunderteinundsiebzig.« Nate hob den Blick von seinem Handy auf das matte Messingschild mit der Hausnummer. »Ja, das ist es.«

»Im Kolonialstil erbaut«, hatte ihre Maklerin Beverly Dixon erklärt, als ihr Nate und Alice am Vorabend beim Telefonieren am Lausprecher lauschten. »Es wurde in den Vierzigern erbaut, hat also ein paar Macken, ist aber hinreißend im Detail. Warten Sie nur, bis Sie den steinernen Türbogen und den klassischen Grundriss sehen. Glauben Sie mir, das bleibt nicht lange auf dem Markt, zumal bei dem Preis.« Nate wirkte aufgeregt, während Beverly fortfuhr. Alice wusste, dass er in ihrem winzigem Apartment mit den wenigen Fenstern, dem fehlenden Grün und der erschreckend hohen Miete Beklemmungen verspürte.

Schon seit sie ihn kannte, zog es Nate fort aus der Stadt. Er wollte einen Garten haben, in dem er mit seinen Kindern Ball spielen konnte, so wie er es mit seinem Dad gemacht hatte. Er wollte jeden Morgen von Singvögeln und Zikaden geweckt werden statt von Lieferwagen. Eine Bruchbude, der er seinen Stempel aufdrücken konnte. Da er in einem Vorort in Connecticut mit immer noch solide verheirateten Eltern – von denen die Mutter Hausfrau war – und zwei Geschwistern aufgewachsen war, die genauso perfekt waren wie er, hatte das Familienleben für Nate etwas naiv Rosiges.

Alice mochte ihr ausgesprochen gemütliches Apartment, dessen Vermieter sich um tropfende Wasserhähne, frische Farbe und einen neuen Kühlschrank kümmerte, als ihrer im letzten Frühling den Geist aufgegeben hatte. Sie wollte weiterhin zehn Straßen von ihrer besten Freundin Bronwyn Murphy entfernt wohnen, zu der Alice floh, wenn sie vom Zusammenleben mit einem Mann in einer Schuhschachtel mal eine Pause brauchte. Zugegeben, Nate war ordentlicher als Alice und mehr darauf bedacht, dass alles einen Platz hatte und es für alles einen Platz gab, aber er hatte dennoch kleine Defizite. Er trank Saft direkt aus dem Getränkekarton; er verwendete ihre sündhaft teure, vergoldete Pinzette, um sich Nasenhärchen auszureißen; er erwartete, vom Leben genau das zu bekommen, was er sich wünschte, einfach weil er es verlangte.

Alice rief sich in Erinnerung, dass sie ihm versprochen hatte, unvoreingenommen zu sein, und sie wollte besser darin werden, ihre Versprechen zu halten. Ganz zu schweigen davon, dass Alice es einzig und allein sich selbst vorwerfen musste, falls sie wirklich nach Greenville zogen.

Ein paar Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt hielt ein Lexus am Straßenrand, und Beverly Dixon sprang heraus. Nachdem sie ihre Handtasche und einen Ordner vom Beifahrersitz genommen hatte, zeigte die Art, wie sie die Tür sanft zustieß, Alice, dass der Wagen nagelneu war. Beverly verschloss die Tür mit ihrem Schlüsselanhänger – zweimal –, und Alice schaute sich um, sah aber niemanden in der Nähe, abgesehen von einer Frau, die einen Kinderwagen über die Straße schob, und einem älteren Herrn, der ein paar Häuser weiter einen Strauch stutzte. Alice fiel ein, was Beverly früher mal über diese Wohngegend gesagt hatte: »Da gibt es keine Verbrechen. Wenn Sie wollen, müssen Sie die Türen nicht abschließen!«

Beverly näherte sich ihnen auf acht Zentimeter hohen High Heels, ihr Körper unter dem beigen Rock und passendem Blazer stramm und kugelrund. Sie lächelte breit und freundlich, die Hand schon lange ausgestreckt, bevor sie die beiden erreichte, schwere goldene Armreifen klimperten. Als Beverly sie anlächelte, bemerkte Alice einen rosa Lippenstiftfleck auf einem ihrer Vorderzähne.

»Alice. Nate.« Beverly bewegte ihre Hände auf und ab, dabei klirrten die Armreifen wie ein Windspiel. »Sie mussten hoffentlich nicht zu lange warten?«

Nate versicherte ihr, dass sie noch nicht lange da waren; Alice lächelte und starrte auf Beverlys Zahn.

»Ein echtes Kleinod.« Beverly war außer Atem, ein leichtes Schnaufen begleitete ihre Worte. »Wollen wir reingehen?«

»Packen wir’s an«, sagte Nate und nahm wieder Alices Hand. Sie ließ sich Richtung Haus ziehen, obwohl sie eigentlich nur in die Stadt zurückfahren, in ihre Yogahose schlüpfen und sich in dem winzigen Apartment verkriechen wollte. Vielleicht etwas zu essen bestellen und über ihren vorübergehenden Wahnsinn lachen, einen Umzug ins Umland auch nur erwogen zu haben.

Auf dem Weg ins Haus wies Beverly auf einige Details hin (»prachtvolle Steine im Türbogen … so etwas findet man heutzutage gar nicht mehr … original Bleiglas …«), als Alice aus den Augenwinkeln eine Bewegung bemerkte. Ein Vorhang zitterte am Fenster im ersten Stock links, als schöbe ihn jemand beiseite. Alice schirmte die Augen mit ihrer noch freien Hand ab und schaute zu dem Fenster hinauf, doch was auch immer sich bewegt hatte, tat dies jetzt nicht mehr. Vielleicht war es auch nur Einbildung. Wahrscheinlich – sie war erschöpfter, als es jemand sein sollte, der keine Arbeit hatte.

»Wie ich gestern Abend am Telefon schon sagte, wurde das Haus in den Vierzigerjahren erbaut. Also, mir ist klar, dass hier ein wenig der letzte Schliff fehlt, aber das kriegt ein Gärtner schon wieder hin. Sind diese Pfingstrosen nicht umwerfend? Wie ich hörte, hatte die frühere Besitzerin einen grünen Daumen. Ich würde weiß was dafür geben, um solche Blumen in meinem Vorgarten zu haben.«

Ein Gärtner. Oh Gott. Sie würden also offiziell eins von diesen Paaren werden. Die Sorte Leute, die unbedingt sattes Vorstadtgras haben wollten, auf dem ihre Kids spielen und auf den ihr Labradoodle scheißen konnte, die ihn dann aber doch nicht selber in Schuss hielten. Als sie sich der Haustür näherten, krampfte sich Alices Magen zusammen. Außer Kaffee und einer Handvoll fader Frühstücksflocken hatte sie nichts zu sich genommen, doch nicht deswegen war ihr übel. Von diesem Haus und allem, was es verkörperte – nicht zuletzt Manhattan zu verlassen –, wurde ihr schlecht. Galle stieg in ihr hoch, während Beverly und Nate weiter über die »Substanz« des Hauses und seine Alleinstellungsmerkmale plauderten, darunter die einzigartige Türklingel, die immer noch funktionierte. Nate, der von Alices Unbehagen nichts mitbekam, betätigte den Klingelknopf und lachte begeistert, als hinter der roten Tür das blecherne Glockenspiel erklang.

3

Eine moderne Frau, die zänkisch veranlagt ist, ist oftmals der Liebe und Argumenten zugänglich. Wenn sie denn still zuhört – was ihr äußerst schwerfällt –, können Sie ihr vielleicht rational, freundlich und überzeugend klarmachen, dass sie nicht immer recht hat.

Walter Gallichan, Modern Woman and How to Manage Her (1910)

Alice

Drinnen war es schummrig und kühl, und Alice steckte die Hände unter ihre Achseln, als sie sich umsah. Alles war altmodisch, eine feine Staubschicht bedeckte die Tapeten, die Beverly mehrmals »retro« nannte, als wäre das so was wie ein Vorzug. Einen alten Schreibtisch hatte man vor das Vorderfenster geschoben, und im Zentrum des Wohnzimmers stand eine Art Sofa unter einem schmutzig weißen Laken verborgen.

»Spielt einer von Ihnen?«

»Wie bitte?«, fragte Alice, nicht sicher, was Beverly damit meinte.

»Das Klavier.« Beverly hob den Deckel eines schwarzen Klaviers an, das versteckt etwas weiter hinten stand, und schlug ein paar Tasten an. »Verstaubt und verstimmt, aber ansonsten offenbar in prima Zustand.«

»Wie spielen nicht«, sagte Nate. »Aber vielleicht könnten wir es ja lernen.«

Alice bezweifelte das – keiner von ihnen hatte besondere musikalische Neigungen, und nachdem sie ihn in den letzten beiden Jahren in der Dusche hatte singen hören, war sie sich ziemlich sicher, dass Nate unmusikalisch war.

Aus dem Wohnzimmer betraten sie durch einen Rundbogen die Küche. Ähnlich wie das übrige Haus war auch dieser Raum seit Jahrzehnten nicht modernisiert worden: pfirsichfarbene Schränke, ein uralter Kühlschrank, der irgendwie noch immer funktionierte und dessen Summen eher dem Dröhnen eines Güterzugs glich, an der entferntesten Wand stand ein ovaler Resopaltisch mit verchromten Beinen, um ihn herum vier blassblaue Stühle. In den offenen Eckschränken stapelte sich noch Geschirr von der Sorte, die man in Secondhandläden und auf Trödelmärkten fand, milchig-weiß mit Blumen und Girlanden. Das Haus stand im Exposé als »wie gesehen« zum Verkauf, das heißt, man erwarb es mit dem gesamten Inhalt. Für das Geschirr bekamen sie vielleicht sogar etwas Geld. Es war ja schließlich retro.

»Wofür soll das sein?«, fragte Alice und zeigte auf einen metallenen Einsatz neben der Spüle. Sie nahm den Deckel ab und spähte hinein.

»Oh, das ist eine Abfallklappe«, sagte Beverly. »Da tat man Gemüseschalen hinein oder kratzte Essensreste von den Tellern.« Sie öffnete den Schrank direkt unter der Spüle, wo ein flacher, an den Rändern leicht angerosteter Topf stand. »Später leerte man dann diesen Topf. Das war wirklich sehr praktisch, früher stand in jeder guten Küche einer.«

»Raffiniert«, sagte Nate und öffnete noch ein paar Schubladen und Schränke, fand dabei Dinge wie einen metallenen Kochbuchhalter hinter einer Tür, Haken für Töpfe und Pfannen an der Rückwand eines anderen Schranks und ein ausziehbares Brett, laut Beverly eine Arbeitsfläche für Hausfrauen, die das Essen lieber im Sitzen zubereiteten.

Nate war so engagiert, so offensichtlich begeistert, dass Alice versuchte, den gegenwärtigen Zustand zu ignorieren und lieber zu sehen, was aus dem Haus einmal werden könnte. Vielleicht war es genau das, was sie brauchten. In den letzten paar Monaten war die Lage angespannt gewesen, was Alice ganz allein auf ihre Kappe nahm. Daher musste sie jetzt dieses Opfer bringen, auch wenn das bedeutete, ein Leben zu führen, das sich fremd anfühlte.

Vielleicht konnte sie ihre rastlose Energie dem Ziel widmen, aus dem Haus ein Zuhause zu machen, wie Beverly immer wieder gern sagte. Die »Retro«-Tapeten von den Wänden schälen, wobei sie allein der Gedanke daran fast zum Weinen brachte, weil es so verdammt viele davon gab. Die Wände zwischen den Zimmern einreißen. Einen großen offenen Raum schaffen, damit sich das Licht von den Fenstern bis nach hinten ergießen konnte. Als sie versuchte, sich das Positive vorzustellen, flüsterte Nate, wie toll das vordere Fenster fürs Schreiben sei. »Stell dir ein Bücherregal neben dem Schreibtisch vor, in dem alle deine Romane stehen, wenn sie denn geschrieben sind.« Vielleicht. Sie konnte sich richtig reinhängen. Das war schon immer eine ihrer größten Stärken und ein Grund gewesen, weshalb Alice in ihrer Firma meist die schwierigsten Kunden betreuen musste. »Alles geben, und zwar immer«, war ihre Maxime gewesen.

»Bestimmt ist das eine tolle Gegend zum Joggen«, sagte Nate und stellte sich sicherlich gerade die Kilometer vor, die sie an Wochenenden gemeinsam zurücklegen könnten. Abgehakt, abgehakt, abgehakt, sie sah fast die Punkte vor sich, die Nate innerlich mit einem Häkchen versah. Vielleicht könnte sie wieder ernsthaft mit Joggen anfangen, lange Strecken auf den baumbestandenen Straßen zurücklegen, ohne befürchten zu müssen, dass ein Auto sie anfuhr, wenn sie mal den Gehsteig verließ. Beverly nickte eifrig. »Oh, da ist gerade jemand unterwegs«, sagte sie. Alle drei sahen aus dem vorderen Wohnzimmerfenster, wie eine Frau an dem Haus vorbeijoggte. Der Zeitpunkt war so perfekt, dass es schien, als wäre sie bestellt.

»Du hast gerade erst gesagt, wie gern du wieder laufen würdest«, sagte Nate. »Jedenfalls bis ein Baby kommt.« Er legte Alice eine Hand auf den Bauch und rieb.

»Ach, sind Sie schwanger?«, fragte Beverly mit einem kleinen Seufzer. Wenn ein Kind unterwegs war, verlieh das der Suche nach einer Bleibe die nötige Dringlichkeit, was das Haus besser erscheinen ließ als sonst. »Das ist eine tolle Wohngegend für junge Familien. Und wir waren zwar noch nicht unten, aber im Keller steht ein großer Wäschetrockner, wenn es also bergeweise Babywäsche gibt, müssen Sie das Haus nicht mal verlassen.«

»Wir sind nicht schwanger«, erwiderte Alice. Rasch, fest und bestimmt. Es passte ihr nicht, dass Nate das Thema erwähnt hatte, noch dazu gegenüber einer Wildfremden. Die Befindlichkeit ihrer Gebärmutter war ihre Privatsache, außerdem hatten sie erst kürzlich beschlossen, es zu probieren.

»Noch nicht«, korrigierte Nate sie, rieb und tätschelte ein letztes Mal Alices Bauch, wo ihr T-Shirt jetzt ausgesprochen unvorteilhaft an der Körpermitte klebte, ehe er seine Hand wegnahm. Früher war Abspecken für Alice kein Problem gewesen, eine Kleidergröße abzunehmen war so einfach wie eine Woche lang grünen Saft und Kaffee zu trinken und eine Woche lang nichts außer Fleischbrühe und Wassermelone zu essen. Außerdem war die Arbeit so erfreulich kräftezehrend gewesen und hatte ihr keine Zeit gelassen, genug Kalorien aufzunehmen. Doch der Arbeitslosigkeit war das gelungen. Nate stand auf ihre neuen Kurven und erklärte, magere Frauen hätten Schwierigkeiten, schwanger zu werden. Als sie nachfragte, wo er das her habe, antwortete Nate, er wisse es nicht mehr genau. Alice vermutete, er habe ein paar Schwangerschafts-Webseiten als Lesezeichen gespeichert – Nate Hale war immer gut vorbereitet.

»Arbeiten Sie, Alice? Außerhalb des Hauses, meine ich?« Alice fand Beverlys Frage kränkend, als wirke sie wie eine arbeitsscheue Person. Ich bin neunundzwanzig Jahre alt, hätte sie am liebsten gesagt, mit arrogantem Unterton. Natürlich arbeite ich. Doch das stimmte nicht, nicht mehr. Wieder krampfte sich ihr Magen zusammen, ein Gefühl, als würde es irgendwo jucken, wo sie sich nicht kratzen konnte. Die Arbeit fehlte ihr; das Tempo, die Herausforderungen, das Gehalt … sogar die zu hohen Stöckelschuhe, in die sie inzwischen manchmal schlüpfte, um im Apartment darin herumzulaufen, nachdem Nate zur Arbeit gegangen war, weil sie sich in ihnen mehr wie sie selbst fühlte.

»Ich habe Öffentlichkeitsarbeit gemacht, aber vor kurzem meinen Job gekündigt. Um mich auf andere Dinge zu konzentrieren«, antwortete Alice.

»Ali schreibt einen Roman«, sagte Nate, und Alice musste an sich halten, um ihn nicht zum Schweigen zu bringen. Wenn er wüsste, dass sie noch gar nicht mit Schreiben begonnen hatte. Oder was wirklich bei der Arbeit vorgefallen war.

Als das Wort »Roman« fiel, gingen Beverlys Augenbrauen in die Höhe, und ihr Mund formte ein festes, rundes O. Alice stellte sich vor, dass Mr. Dixon, falls es einen gab, an diesem Mund wahrscheinlich seine helle Freude hatte. »Tja, ist das nicht fantastisch«, sagte Beverly. »Ich wünschte, ich könnte schreiben. Doch meine Fähigkeiten beschränken sich so ziemlich auf Einkaufslisten und Immobilien-Exposés.« Sie lächelte breit – rosa Zahn im Schaufenster –, und Nate sagte, ihm gehe es genauso, er werde bei seinen Zahlen und Tabellen bleiben.

»Wovon handelt er denn? Ihr Roman?«, fragte Beverly.

»Er handelt, äh, von einer jungen Frau, die Öffentlichkeitsarbeit macht. Ein bisschen wie in Der Teufel trägt Prada

»Oh, den Film habe ich geliebt!«, rief Beverly.

»Jedenfalls stehe ich noch ganz am Anfang. Wir werden sehen.« Alice schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr, wollte unbedingt das Thema wechseln.

»Ali gibt ungern zu viel von sich preis.« Nate legte ihr seine Hände auf die Schultern und drückte sanft. »Schriftsteller müssen ein paar Geheimnisse bewahren, stimmt’s, Schatz?«

»Aber natürlich«, sagte Beverly und nickte nachdrücklich. »Also, sollen wir nach oben gehen?«

»Ladies first«, entgegnete Nate und gestikulierte in Richtung Treppe.

»Also, eine Schriftstellerin … wie aufregend, Alice. Ich lese für mein Leben gern.« Die erste Stufe knarrte, als Beverly die Treppe betrat. Sie schaute sich über die Schulter um und hielt sich am Geländer fest. Die Treppe war schmal und steil, sodass sie hintereinander gehen mussten.

»Was lesen Sie denn gern?«, fragte Alice.

»Alle möglichen Bücher. Eigentlich alles. Am liebsten allerdings Polizeikrimis.«

Polizeikrimis. Ha. Das kam unerwartet. Alice sah in dem ersten Schlafzimmer, das sie betraten, aus dem Fenster und erblickte das Nachbarhaus, das von hier aus teilweise von den Ästen eines großen Baumes verdeckt wurde. Es schien in einem ordentlichen Zustand zu sein, verglichen mit dem, dessen Kauf sie in Betracht zogen.

»Was können Sie uns über die Vorbesitzerin sagen?«, fragte Alice. Sie betraten das größere Schlafzimmer, wo zwei Einzelbetten standen, beide gemacht, wenn auch augenscheinlich nur als Deko. Wo die schlichten Bettlaken nicht weit genug heruntergezogen waren, kam die nackte Matratze zum Vorschein. Und die Schränke waren leer, als Alice sie öffnete, auf den Nachttischen stand nichts herum, und in der Toilette gab es kein Klopapier.

»Das Haus steht seit gut einem Jahr leer«, antwortete Beverly.

»Seit einem Jahr?« Was den Zustand des Rasens erklärte, die abblätternde Farbe an der Haustür, die Staubschichten und den grabähnlichen Eindruck der Zimmer mit ihren düsteren Ecken, den langen Schatten und den muffigen Gerüchen. Das Haus fühlte sich verlassen an, als wäre vor Jahrzehnten jemand Milch holen gegangen und hätte dann einfach beschlossen, nicht zurückzukommen. »Wieso ist es denn erst jetzt auf dem Markt?«

Beverly klirrte mit den Armreifen, räusperte sich. »Die Eigentümerin ist verstorben und hat das Haus und ihren Nachlass ihrem Anwalt hinterlassen. Offenbar hatte sie keine Verwandten.« Sie runzelte die Stirn, dann hellte sich ihre Miene auf. »Darum ist der Kaufpreis so günstig. Anfang des Jahres wurde es ein wenig teurer angeboten, doch es hat niemand angebissen. Jetzt ist es wieder auf dem Markt und zwar sogar in Ihrem Preissegment. Das ist doch fantastisch!«

Sogar Alice, die null Ahnung von Renovierungen hatte, war klar, dass das Haus in ihrem Preissegment lag, weil es ein Großprojekt werden würde. Wahrscheinlich neue Elektrik und vermutlich mussten auch neue Rohrleitungen verlegt werden, außerdem musste Asbest entfernt und entsorgt werden, falls sie größere Umbauten in Angriff nahmen, beispielsweise den Abriss von Wänden. Vielleicht würden sie die Fenster austauschen, falls ihr Budget das hergab, um die Heizkosten zu reduzieren. Und jeder Quadratzentimeter musste aufgehübscht werden.

»Sollten wir sonst noch etwas wissen?«, fragte Alice.

Nate hopste auf einem Bein, und der Boden unter ihm knarrte. »Die Böden sind in Ordnung«, behauptete er. Alice musterte das Parkett unter ihren Füßen, während Nate weiterhopste. »Ist dies noch das Originalholz?«

»Ich glaube, die Böden wurden vor ein paar Jahren erneuert«, sagte Beverly, schlug ihr Exposé auf und fuhr mit einem Finger auf dem obersten Blatt von oben nach unten. »Ja, hier steht’s. 1985 neue Böden.«

»Immer noch retro!«, sagte Nate.

»Und, gibt’s sonst noch was über das Haus, Beverly?«, fragte Alice, ignorierte Nates Kritiklosigkeit erst einmal. »Überraschungen würden mir überhaupt nicht gefallen, besonders wenn ich an die viele Arbeit denke, die einem hier bevorsteht.«

Nate sah Beverly lächelnd an, voller Gewissheit, dass es nichts mehr zu erzählen gab. Er mochte das Haus, wollte es haben.

»Ich muss das nicht offenlegen, aber Sie sind so ein nettes Paar, und ich merke, wie interessiert Sie sind, und darum, nun … die letzte Eigentümerin, sie …« Beverlys Stimme erstarb, während sie mit einem lackierten Fingernagel gegen den Ordner pochte, die Brauen gerunzelt. »Offenbar ist sie … hier im Haus verstorben.« Beverlys Mundwinkel zogen sich noch weiter nach unten; gern hätte sie sich wieder über alte Tapeten, runderneuerte Fußböden, gute Bausubstanz und mögliche Anzahlungen unterhalten.

»Oh. Hier im Haus. Was ist passiert?«, fragte Alice.

»Krebs, glaube ich.« Beverly wirkte bedrückt, war nun besorgt, die Hales könnten zu der Sorte Menschen gehören, die nie ein Haus mit so einer Vorgeschichte kaufen würden.

Und genau das waren sie. Greenville – und dieses Haus – passten nicht zu Alice und Nate. Alice musste sie beide zurück nach Manhattan bringen – auch wenn sie sich in der Stadt momentan wie eine Versagerin vorkam. »Verstehe.« Alice rieb sich mit den Händen über beide Arme, als wolle sie einen kalten Schauer vertreiben. »Wie interessant.« Ihr Tonfall besagte, dass sie mit »interessant« tatsächlich »beunruhigend« meinte.

»Wie gesagt, es ist jetzt schon eine ganze Weile her«, sagte Beverly, die ihre Courtage aus den bleiverglasten Fenstern fliegen sah.

»Ich weiß nicht recht, ob ich ein Jahr ›eine ganze Weile‹ nennen würde, Beverly.« Alice betrachtete ihre Maklerin missbilligend, die eigenen Mundwinkel wie in einem Spiegelbild nach unten gezogen.

»Nun, um ehrlich zu sein, es wäre heutzutage schwierig, eins dieser alten Häuser ohne eine ähnliche Vorgeschichte zu finden.«

Alice drehte sich zu Nate um und erschauerte wieder kurz, senkte die Stimme. »Ich weiß nicht recht, Babe. Es ist irgendwie gruselig.«

»Ach ja?«, fragte Nate und schaute von Alice zu Beverly. »Gruselig?« Wir sind ja nicht gerade abergläubisch. Und wie Beverly gesagt hat, ist es schon über ein Jahr her, sollte hier also mal ein Geist gehaust haben, hat er sich inzwischen bestimmt eine schickere Bleibe gesucht.«

Als Beverly kicherte und Nate gluckste, wusste Alice, dass sie ihre Chance verpasst hatte.

Nate warf seiner Frau einen hoffnungsvollen, fragenden Blick zu, seine Erwartung war eindeutig. Kaum hatte Alice genickt (kaum merklich, doch es zählte), wandte er sich an Beverly: »Ich denke, wir sind interessiert. Sehr interessiert.«

4

Nellie

19. Juli 1955

Hackbraten mit Haferflocken

1 Pfund

Rinderhack

1 Tasse

blütenzarte Haferflocken

1 mittelgroße

Zwiebel

1 ½ Teelöffel

Salz

18 Teelöffel

Pfeffer

1 Tasse

Milch oder Wasser

1

Ei, leicht verquirlt

Alle Zutaten mischen, in eine gefettete Kastenbackform geben und 45 Minuten im vorgeheizten Backofen bei 150 Grad Celsius backen. Heiß oder kalt servieren. Eine Dose konzentrierter Tomatensuppe ist für jeden Hackbraten eine willkommene Ergänzung.

Nellie Murdoch knöpfte ihre Latzhose zu – die sie nur bei Gartenarbeiten trug, weil ihr Ehemann Richard sie lieber in Röcken sah –, und klopfte die rot-weiße Lucky-Strike-Zigarettenpackung auf dem Tisch gegen ihre Hand. Sie steckte die schlanke Zigarette in ihre Zigarettenspitze aus Perlmutt, zündete sie an und setzte sich auf einen ihrer neuen Stühle – blassblau, wie wolkenloser Sommerhimmel – an den Küchentisch und rauchte, blätterte das neueste Ladies’ Home Journal durch. Richard wollte sie ständig überreden, auf Kaugummi umzusteigen (er hatte von seinem Vater, dem Richard Murdoch, eine Kaugummifabrik geerbt) oder wenigstens auf Filterzigaretten, die seiner Meinung nach gesünder seien. Aber Nellie hasste das mit Kaugummi verbundene Geschmatze, und sie liebte ihre Luckys. Ihr gefiel, wie Rauchen ihre Stimme veränderte, sie ein wenig heiserer und gewiss interessanter machte, wenn sie sang. Nellie hatte eine wunderbare Stimme, doch leider verwendete sie ihre Gabe nur in der Kirche oder in der Badewanne oder um Blütenblätter herauszulocken. Filter versprachen, Rachenreizungen zu vermeiden, wie ihr Arzt und die Zeitschriftenanzeigen versprachen, und davon wollte Nellie nichts wissen.

Nellie klaubte einen Tabakkrümel von ihrer Zunge, blieb in ihrer Zeitschrift bei der Rubrik »Ist diese Ehe noch zu retten?« hängen und überflog die drei Standpunkte: den des Mannes, den der Frau und den des Therapeuten. Der Mann, Gordon, war von seiner finanziellen Verantwortung überfordert und verärgert darüber, dass seine Frau weiterhin Geld für Dinge wie ein teures Steak ausgab, sich seiner Belastung offensichtlich nicht bewusst war. Doris, die Ehefrau, fühlte sich von ihrem Mann und dessen Schweigen zu wenig beachtet, das teure Steak briet sie ihm, um ihm eine Freude zu machen. Nellie rutschte auf ihrem Stuhl herum, schlug die Beine übereinander und inhalierte den Rauch ihrer Zigarette, stellte sich vor, welchen Rat sie diesem Paar geben würde, das länger als ein Jahrzehnt in der Ehe geschmort hatte. Erstens würde sie der Frau raten, eine Woche lang nicht zu kochen und zu sehen, ob das die Belastung ihres Mannes verringern würde. Zweitens würde sie dem Mann vorschlagen, mal mit seiner Frau zu reden, statt von ihr zu erwarten, seine Gedanken zu lesen.

Rasch überflog sie den Rat des Therapeuten, der darauf hinauslief: Doris sollte wissen, dass ihre teuren Abendessen die Lage des armen, sorgenvollen Gordon nur noch verschlimmerten und damit auch die ihre; man kann von Gordon nicht erwarten, Doris sagen zu müssen, wie er sich fühlt … das sollte sie einfach wissen. So wie jede gute Ehefrau.

Nellie – erst seit einem knappen Jahr Mrs. Richard Murdoch – schnaubte, voller Verständnis für Doris’ und Gordons Misere, aber in der Gewissheit, dass sie nie jemandem schreiben musste, um solche Ratschläge zu erhalten. Seit dem Augenblick, als Richard sie aus der Menge in dem Restaurant auswählte und erklärte, er werde sie zur Frau nehmen, hatte Nellie sich glücklich geschätzt. Verglichen mit den Männern ihrer Freundinnen mochte er weder der am besten aussehende Mann noch besonders in sie vernarrt sein, doch er hatte auf jeden Fall seinen Charme. An diesem Abend hatte Richard sie im Sturm erobert – im wahrsten Sinne des Wortes, denn als er hörte, dass ihr fünfundzwanzigster Geburtstag war, hatte er sie hochgehoben und zu seinem Tisch getragen, wo er sie mit teurem Champagner und Aufmerksamkeiten überschüttete, bis sie beschwipst und hin und weg war. In den zwei Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte Nellie herausgefunden, dass Richard nicht ohne Fehler war (gab es so etwas überhaupt?), doch er war ein ausgezeichneter Ernährer und würde ein aufmerksamer Vater sein. Was konnte eine Frau mehr von ihrem Mann erwarten?

Sie drückte ihre Zigarette aus und tippte auf die Spitze, um die Kippe herauszuklopfen, ehe sie sich ein Glas Limonade eingoss. Die Zeit verging, und sie wusste, dass sie bald anfangen musste, Abendessen zu machen. Richard hatte für diesen Abend um etwas Schlichtes gebeten, da er es wieder einmal mit dem Magen hatte. Vor ein paar Jahren hatte er ein schreckliches Magengeschwür gehabt, und das meldete sich immer mal wieder zurück. Diese Woche hatte es Hackfleisch im Sonderangebot gegeben, und sie hatte genug für ein paar Mahlzeiten gekauft. Richard sagte ihr immer wieder, sie müsse nicht knausern, doch sie war dazu erzogen worden, sparsam zu wirtschaften. Wenn irgend möglich preisbewusst zu sein. Trotz des Geldes in Richards Familie – was jetzt ihr Geld war, seit Richards Mutter nur vier Wochen nach ihrer Hochzeit gestorben war – achtete Nellie immer noch auf Sonderangebote.

Sie zog die Bibel ihrer Mutter aus dem Regal – Kochbuch für die moderne Hausfrau –, der Rücken dank jahrelangen Gebrauchs weich, die Seiten mit Flecken und Klecksen längst vergangener Mahlzeiten übersät. Während sie Elvis Presleys neuesten Hit »Hound Dog« mitsang, schlürfte Nellie ihre Limonade und blätterte weiter, bis sie die gesuchte Seite fand, mit Eselsohr und oft benutzt. Hackbraten mit Haferflocken, Gut für Verdauung stand in der makellosen Handschrift ihrer Mutter neben der Zutatenliste.

Sie legte das Kochbuch beiseite, trank ihre Limonade aus und befand, es wäre Zeit, in den Garten zu gehen, ehe ihr der Tag völlig entglitt. Draußen war es brütend heiß, und ein Hut wäre wohl vernünftig gewesen, doch Nellie spürte gern die Sonne im Gesicht. Die paar Sommersprossen, die sie in diesem Sommer bekommen hatte, hätten ihre Schwiegermutter entsetzt, die an einer Frau makellose Haut schätzte. Doch da die unmöglich zufriedenzustellende Grace Murdoch nicht mehr ihre Meinung kundtun konnte, ging Nellie ohne Kopfbedeckung ins Freie.

Nellie liebte ihren Garten, und ihr Garten liebte sie. Die Nachbarschaft beneidete sie, ihre Blumen blühten viel früher, blieben voll und prächtig, noch lange nachdem andere gezwungen waren, verdorrte Blüten abzuschneiden; die Nachbarn mussten zugeben, dass sie – was auch immer sie unternahmen – nie solche Blumenbeete haben würden wie Nellie Murdoch.

Auch wenn alle sich darum rissen, ihr Geheimnis zu erfahren, behauptete sie, es gäbe überhaupt keins – nur Zeit, die sie mit Zurückschneiden und Jäten verbrachte, und das Wissen, welche Blumen die pralle Sonne mochten und welche in feuchteren, schattigeren Stellen gediehen. Da ist nichts Besonderes dran, sagte sie immer. Doch das stimmte nicht ganz. Nellie hatte von Kindesbeinen an mit ihrer Mutter, Elsie Swann, die mehr Zeit bei ihren Pflanzen als mit Menschen verbrachte, im Garten herumgewerkt.

In den warmen Monaten war Nellies Mutter vergnügt, witzig und im Leben ihrer Tochter ständig präsent. Doch kaum starben am Ende der sonnigen Jahreszeit die Blumen und wurden zu einer braunen Mulchmasse, die den Gartenboden bedeckte, zog sich Nellies Mutter in sich zurück, wo niemand mehr zu ihr durchdrang. Allmählich verabscheute Nellie diese dunklen, kalten Monate (das tat sie immer noch), ihre Mutter mit glasigem Blick am Küchentisch, ohne zu merken, wie sehr sich ihre kleine Tochter bemühte, den Haushalt in Gang zu halten. Ihren nichtsnutzigen Vater daran zu hindern, sie zu verlassen, so wie ihr Großvater Jahre zuvor ihre Mutter und Großmutter verlassen hatte.

In den hellen Phasen zwischen ihren düsteren Gemütslagen brachte Elsie ihrer Tochter alles bei, was sie über Gärtnern und Kochen wusste. Eine Zeit lang schien alles gut, Elsie fand immer wieder zu sich zurück, sobald der Schnee schmolz und die Tage lange Schatten warfen. Nellie und ihre Mutter waren ein unzertrennliches Team, besonders nachdem Nellies Vater verschwunden war, da die Fröhlichkeit einer jüngeren, unkomplizierteren Frau seinen Bedürfnissen eher entgegenkam.

Schweiß tröpfelte zwischen Nellies in ihrem Büstenhalter gut verpackten Brüsten herunter und sammelte sich im Bauchnabel und in ihren Kniekehlen. Vielleicht hätte sie Shorts anziehen sollen, und sie überlegte kurz, nach oben zu gehen und sich der Latzhose zu entledigen. Was soll’s, dachte sie. Diese Wärme tut mir gut. Sie sang den Pflanzen leise etwas vor, hielt inne, um die purpurnen röhrenförmigen Blütenblätter der frisch erblühten und besonders bei Kolibris beliebten Wilden Bergamotte zu streicheln. »Selbst eine Pflanze braucht eine sanfte Berührung, ein sanftes Lied, Nellielein«, pflegte ihre Mutter zu sagen. Nellie hatte keinen so grünen Daumen wie Elsie, lernte aber, ihre Blumen genau so zu lieben.

Als sie den Garten gejätet und den Blumen ihr Wiegenlied gesungen hatte, stutzte Nellie ein paar Frühlingskräuter, zerdrückte dann ein flaches Petersilienblatt zwischen den Gartenhandschuhen und hielt es sich an die Nase, der Geruch grün, klar und befriedigend.

Zurück in der Küche, wusch und zerkleinerte Nellie die Petersilie und gab sie zu dem Fleischgemisch, samt einer Spur getrockneter Kräuter aus ihrem Garten, die sie in einem Käsestreuer im Schrank aufbewahrte. Gelegentlich warf sie einen Blick auf das Hackbratenrezept, um sich zu vergewissern, dass sie nichts vergessen hatte. Obwohl sie das Gericht schon Dutzende Male zubereitet hatte, hielt sie sich gern an die genaue Reihenfolge des Rezepts. Sie wusste, dass dadurch ein oben perfekt gebräunter, aber innen noch saftiger Hackbraten entstand, so wie es Richard mochte.

Nellie hoffte, dass sich sein Magen im Laufe des Tages wieder erholt hatte; sein Frühstück hatte er kaum herunterbekommen. Vielleicht half ja eine Portion Fenchel- und Pfefferminztee zum Abendessen – eisgekühlt, da Richard keine warmen Getränke mochte. Sie summte zur Radiomusik, während sie ein paar Minzeblätter zerkleinerte und hoffte, dass sich Richard zum Essen heute Abend nicht wieder verspätete. Sie platzte fast vor großartigen Neuigkeiten, konnte es kaum erwarten, sie ihm zu erzählen.

5

Eine erfolgreiche Ehefrau zu sein, ist eine berufliche Laufbahn für sich, sie erfordert unter anderem die Qualitäten einer Diplomatin, einer Geschäftsfrau, einer guten Köchin, einer ausgebildeten Krankenschwester, einer Lehrerin, einer Politikerin und eines Glamourgirls.

Emily Mudd, »Woman’s Finest Role«, Reader’s Digest (1959)

Alice

26. Mai 2018

In Alices Kopf hallte das schrille Piepsen des Umzugswagens wider, der gerade in die Einfahrt zurücksetzte. In ihre Einfahrt. Lang genug, dass zwei Pkw hintereinander Platz hatten, drei, wenn sie Stoßstange an Stoßstange standen. Nur wenige Stunden vorher hatten sie und Nate mehrere Gänge aus ihrer Wohnung im siebten Stock zu dem Lkw gemacht und ihn mit ihrem Hab und Gut gefüllt – das wie Tetris-Spielsteine in ihre Wohnung in Murry Hill gequetscht gewesen war, aber bequem in den Laderaum des Trucks passte, es blieb sogar noch Platz.

Am Abend zuvor, ihrem letzten in Manhattan, hatte ihnen Alices beste Freundin Bronwyn eine Umzugsparty geschmissen, zu der sie komplett Schwarz trug, einschließlich eines Begräbnishutes mit schwarzem Schleier, den sie in einem Secondhandladen gefunden hatte. »Was denn? Ich bin in Trauer«, hatte sie gesagt und geschmollt, als Alice angesichts des Hutes die Stirn runzelte. Manchmal hatte Bronwyn eine melodramatische Ader – als sie und Alice Zimmergenossinnen waren, hatte sie einmal die Polizei gerufen, als eine Maus hinter dem Herd hervorgerannt war –, doch sie kannte Alice besser als jeder andere, und Alice begriff, dass sie es mit dem Hut zwar leicht übertrieb, die zugrundeliegende Stimmung aber berechtigt war. Noch ein Jahr zuvor hätte Alice über die Idee gespottet, die Stadt zu verlassen und »aufs Land« zu ziehen, doch Dinge – und Menschen – ändern sich. Oder, wie in Alices Fall, Menschen begehen eine winzige Fehleinschätzung, versauen ihr Leben komplett und haben dann keine andere Wahl, als sich zu verändern.

Alice hatte mit beiden Händen Bronwyns Gesicht umfasst und gesagt: »Ich bin nicht tot. Wir ziehen nur nach Greenville, klar? Veränderung ist gut.« Sie hielt die heißen Tränen zurück und hoffte, das breite Lächeln würde ihre Sorgen überdecken.

Bronwyn durchschaute sie sofort und erwiderte: »Veränderung ist gut. Diese Stadt ist sowieso überbewertet«, und schlug dann vor, sich zu betrinken, was sie auch taten. Gegen Mitternacht entflohen sie Bronwyns überfülltem Wohnzimmer – ihre Freunde Schulter an Schulter in dem beengten, dampfigen Raum – und teilten sich auf der Feuerleiter den Rest einer Flasche Tequila, bis Alices Worte verwaschener wurden und Bronwyn einschlief, den Kopf auf dem Schoß ihrer besten Freundin.

Daher hatte Alice nach einem sehr frühen Weckerklingeln, einem Würgereflex und zu wenig Kaffee jetzt einen schalen Geschmack im Mund, miese Laune und wollte, dass der Laster aufhörte zu piepsen. Vielleicht wollte sie sich auch in die überwucherte und verunkrautete Einfahrt legen und vom Lkw überfahren lassen, was ihren Kater beendet hätte. Alice kicherte, stellte sich vor, wie Beverly diese Geschichte den nächsten potenziellen Hauskäufern vortragen würde.

»Was ist denn so lustig?«, fragte Nate und stupste Alice an.

»Gar nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass wir hier sind.«

Nate sah sie kurz an. »Alles in Ordnung?«

»Prima. Außer dass mein Kopf sich anfühlt, als würde er explodieren.«

»Mein armes Baby.« Nate schlang einen Arm um ihre Schultern und küsste sie auf die Schläfe. Mit der freien Hand rieb er ihr übers Gesicht, spähte in den gleißenden Sonnenschein. Seine Sonnenbrille klemmte oben auf dem Kopf, doch das schien ihm entfallen zu sein. »Ich bin auch schwer verkatert.« Gnädigerweise hatte der Umzugswagen angehalten, und der Rückwärtsgang-Signalton war endlich verstummt.

Alice schob ihm die Sonnenbrille auf die Nase. »Meinst du, wir können ihnen was dafür zahlen, dass sie alles auspacken, damit wir ins Bett gehen können?«

»Ich finde, wir sollten unsere Kröten zusammenhalten«, antwortete Nate, und trotz seines sanften Tonfalls verspürte Alice ein leichtes Schuldgefühl. Er verdiente gut – viel mehr, als Alice je bekommen hatte, vielleicht sogar je bekommen würde –, und nach seiner nächsten und letzten Prüfung zum Versicherungsmathematiker würde er in ein paar Monaten noch einen beträchtlichen Sprung machen. Außerdem war er ein verantwortungsbewusster Investor und Sparer, doch sie mussten nun allein mit seinem Gehalt über die Runden kommen, wenigstens zunächst einmal.

»Du hast recht«, sagte Alice, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. »Hab ich schon erwähnt, wie sehr ich dich liebe, obwohl du heute Morgen vergessen hast, dir die Zähne zu putzen?«

Nate hielt sich eine Hand vor den Mund, lachte leise, und Alice drückte sie beiseite.

»Ist mir egal.«

Sie kreischte auf, als er sie umstieß, alle beide schwankten, wobei ihre Hand, auf der Suche nach etwas zum Festhalten, den Bügel seiner Sonnenbrille erwischte und sie ihm vom Kopf riss. Als Nate herumruderte, um seine Brille aufzufangen, ließ er Alice auf den Gehsteig fallen. Sie lagen Seite an Seite da, und Alice musste so laut lachen, dass sie keinen Ton herausbekam.