 
			Das Buch
Ein halbes Jahrhundert nach der Entscheidungsschlacht hält der Waffenstillstand mit den Trisolariern immer noch stand. Die Hochtechnologie der Außerirdischen hat der Erde zu neuem Wohlstand verholfen, auch die Trisolarier haben dazugelernt, und eine friedliche Koexistenz scheint möglich. Der Frieden hat die Menschheit allerdings unvorsichtig werden lassen. Als mit Cheng Xin eine Raumfahrtingenieurin des 21. Jahrhunderts aus dem Kälteschlaf erwacht, bringt sie das Wissen um ein längst vergangenes Geheimprogramm in die neue Zeit. Wird die junge Frau den Frieden mit Trisolaris ins Wanken bringen – oder wird die Menschheit die letzte Chance ergreifen, sich weiterzuentwickeln?
»Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie Cixin Liu!« Denis Scheck, Druckfrisch
»Cixin Liu ist der chinesische Arthur C. Clarke.« The New Yorker
Der Autor
Cixin Liu ist einer der erfolgreichsten chinesischen Science-Fiction-Autoren. Er hat lange Zeit als Ingenieur in einem Kraftwerk gearbeitet, bevor er sich ganz seiner Schriftstellerkarriere widmen konnte. Seine Romane und Erzählungen wurden bereits viele Male mit dem Galaxy Award prämiert. Cixin Lius Roman Die drei Sonnen wurde 2015 als erster chinesischer Roman überhaupt mit dem Hugo Award ausgezeichnet und wird international als ein Meilenstein der Science-Fiction gefeiert.
Mehr über Cixin Liu und sein Werk auf:


BAOSHU
BOTSCHAFTER
DER STERNE
EIN TRISOLARIS-ROMAN
Aus dem Chinesischen
von Marc Hermann
Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Das Original ist unter dem Titel  (Sāntĭ X Guānxiăng zhī zhòu)  bei Chongqing Press, Chongqing, erschienen.
 (Sāntĭ X Guānxiăng zhī zhòu)  bei Chongqing Press, Chongqing, erschienen.
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Deutsche Erstausgabe 03/2021
Redaktion: Catherine Beck
Copyright © 2011 by Baoshu ( )
)
German rights authorized by
China Education Publications Import & Export Corp., Ltd.
Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
Umschlagillustration: Stephan Martinière
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-26541-0
V001
diezukunft.de
Cixin Liu gewidmet
Inhalt
Vorwort
Übersicht der Zeitalter
Prolog
ERSTER TEIL: Die Vergangenheit innerhalb der Zeit
ZWEITER TEIL: Der Teeweg
DRITTER TEIL: Der Himmelskelch
Epilog: Provence
Nach dem Epilog: Aufzeichnungen aus dem neuen Universum
Anmerkungen
Vorwort
Die Geburt dieses Buchs ist das erstaunlichste Ereignis meines Lebens.
Wie viele andere Science-Fiction-Leser wurde auch ich Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu einem treuen Fan von Cixin Liu, der damals gerade erst begonnen hatte, sich in Genrekreisen einen Namen zu machen. Wir nannten uns citie – »Magneten«, ein Wortspiel mit der Abkürzung für »eingefleischte Fans von Cixin Liu« – und diskutierten leidenschaftlich jedes seiner Werke. Wann immer eine neue Geschichte von ihm erschienen war, verbreitete sich die Nachricht unter uns wie ein Lauffeuer, und wir kauften bei erster Gelegenheit die betreffende Zeitschrift. Als dann 2006 Die drei Sonnen, der erste Band der Trisolaris-Trilogie, in Fortsetzungen in der Zeitschrift Science Fiction World erschien, verschlang ich jedes neue Kapitel und konnte kaum das nächste erwarten, so sehr faszinierte mich die Geschichte.
Anfang 2008 erschien Die drei Sonnen als Buch, und der zweite Band Der dunkle Wald folgte ein halbes Jahr später. Auch wenn der Mainstream der literarischen Szene diese Bücher ignorierte, waren sie für Science-Fiction-Fans doch ein Festschmaus. Danach versank ich zusammen mit den anderen citie in qualvollem Warten, das erst zweieinhalb Jahre später endete. Doch als im November 2010 der dritte und letzte Band der Trilogie, Jenseits der Zeit, erschien, hielt ich mich gerade zum Studium in Belgien auf und sah keine Möglichkeit, auf die Schnelle an das Buch zu kommen. Ich überlegte ernsthaft, nach China zurückzufliegen, nur um es zu kaufen. Doch schließlich half mir mein Freund Gao Xiang aus der Patsche: Er fotografierte jede Seite einzeln ab und schickte mir die Aufnahmen per E-Mail.
Dieser Freundschaftsbeweis berührte mich tief, doch erst lange danach sollte ich begreifen, welche Bedeutung dieser Roman für mich gewinnen würde. Nachdem ich Jenseits der Zeit genauso rasch durchgelesen hatte wie die ersten Leser in China, analysierte und diskutierte ich eifrig mit all den anderen Fans im Internet jedes Detail. Doch egal, wie ausgiebig wir debattierten, die gewaltige Trilogie hatte ein Ende gefunden, und sie rückte in immer größere Ferne. Aus der Melancholie, die damit einherging, fasste ich zwei Tage später den entscheidenden Entschluss: Ich würde eine kleine Geschichte über einige der Romanfiguren schreiben, um Lius Epos noch ein wenig weiterzuspinnen. Also schrieb ich einen Dialog zwischen Yun Tianming und Ai  AA auf Planet Blau und postete ihn im Internet unter dem Titel Three Body X, wobei »X« nicht etwa »zehn« bedeutete, sondern »ungewiss«.
 AA auf Planet Blau und postete ihn im Internet unter dem Titel Three Body X, wobei »X« nicht etwa »zehn« bedeutete, sondern »ungewiss«.
Es war nicht meine erste Cixin-Liu-Fan-Fiction, und ich war auch nicht der Erste, der auf diese Idee gekommen war, doch bis dahin waren solche Geschichten nur in einem kleinen Kreis eingefleischter Fans zirkuliert. Ich ahnte damals noch nicht, dass die Situation diesmal vollkommen anders geartet war: Mit dem, was ich schrieb, stillte ich das Bedürfnis Zehntausender Leser, die nach mehr Geschichten aus dem Trisolaris-Universum dürsteten. Das schnelle Erscheinen meines Textes – nicht einmal eine Woche nach der Veröffentlichung von Jenseits der Zeit – sicherte ihm eine Aufmerksamkeit, die seine Qualitäten weit überstieg und mich ermunterte, meine Geschichte immer weiterzuspinnen, sodass sie sich mit der Zeit zu einer eigenen Welt auswuchs. Drei Wochen später, am Vorabend zu Weihnachten 2010, hatte ich meinen Roman abgeschlossen.
In der Zwischenzeit hatte sich meine Geschichte bis in die letzten Winkel des chinesischen Internets verbreitet und fast genauso ein lebhaftes Echo erregt wie Jenseits der Zeit selbst. Und auch ein guter Freund von Cixin Liu, Yao Haijun, den man scherzhaft den »Chinesischen Campbell« nennt, weil er als Chefredakteur der Science Fiction World so viele junge Autoren gefördert hat, fand Gefallen an meinem Roman und kontaktierte mich, weil er ihn als Buch veröffentlichen wollte. Einige Monate später schlug die Trisolaris-Trilogie immer neue Wellen, und weitere Fangeschichten erschienen, doch sie hatten den günstigsten Augenblick bereits verpasst und erregten keine allzu große Aufmerksamkeit mehr. Umso glücklicher konnte ich mich schätzen.
Als ich meinen Roman Botschafter der Sterne im Internet gepostet hatte, hatte ich keinen Gedanken an das Urheberrecht verschwendet, doch nun, da er als Buch erscheinen sollte, erwuchs daraus eine Reihe heikler Fragen. Cixin Liu jedoch zeigte sich mir gegenüber ungeheuer großmütig und wohlwollend und stimmte der Veröffentlichung zu, wofür ich ihm unaussprechlich dankbar bin. Sobald das Buch erschienen war, schickte ich ihm ein Exemplar. Einige Jahre später, nachdem ich einige eigenständige Werke veröffentlicht hatte und festes Mitglied der kleinen Gemeinschaft chinesischer Science-Fiction-Autoren geworden war, wurden Liu und ich Freunde und trafen uns oft auf den einschlägigen Veranstaltungen. Er erzählte mir, wie gern er Botschafter der Sterne gelesen hätte und dass er bei chinesischen Science-Fiction-Preisen sogar dafür gestimmt hätte. Am Ende gewann mein Buch zwar keinen Preis, doch Lius ermutigende Worte und sein Lob bedeuteten mir viel mehr als alle Preise.
Der chinesische Untertitel meines Buchs – Die Erlösung der Zeit – und einige Namen, die darin vorkommen, haben eine besondere Vorgeschichte, die heute nur noch wenigen geläufig ist. In den zweieinhalb langen Jahren zwischen 2008 und 2010 stellten die Fans, die dem dritten Band der Trisolaris-Trilogie entgegenfieberten, alle möglichen Spekulationen über die Richtung an, die die Handlung im letzten Band nehmen würde, und setzten Gerüchte über angeblich »geleakte« Titel und Inhalte in die Welt. Natürlich stellten sich all diese Gerüchte später als mutwillige Flunkereien heraus, von denen keine mit dem schließlich veröffentlichten Buch übereinstimmte. Doch selbst diese Gerüchte bereiteten uns manche Freude, während wir uns voll Ungeduld den Abschluss von Lius Trilogie ausmalten. Deshalb habe ich bewusst einige Begriffe aus diesen Gerüchten in meinen Roman eingebaut, zur Erinnerung an jene unschuldige Zeit, als das breite Publikum noch nichts von der Trisolaris-Trilogie ahnte.
Botschafter der Sterne war zwar nicht so erfolgreich wie Lius Epos und konnte es auch unmöglich sein, doch es stieß bei vielen Lesern auf ein positives Echo. Trotzdem wäre ich nie so vermessen zu behaupten, mein Roman könnte ein Teil des offiziellen Trisolaris-Universums sein, auch wenn er in derselben Reihe desselben Verlags erschienen ist. Ich betrachte ihn vielmehr als eine individuelle Interpretation und Ergänzung dieses Universums – als eine seiner unzähligen möglichen Fortschreibungen. Jedem Leser der Trisolaris-Trilogie steht es frei, mein Buch als unvereinbar mit Lius Vision abzulehnen oder sich zwar an ihm zu erfreuen, es aber nicht als Teil der Trisolaris-Welt zu akzeptieren – all das sind vollkommen legitime Reaktionen.
Vier Jahre nach dem Erscheinen von Botschafter der Sterne hat CEPIEC (China Educational Publications Import & Export Corporation Ltd.) sich entschlossen, nach der Trisolaris-Trilogie auch dieses Buch der englischsprachigen Leserschaft vorzustellen – eine Aussicht, die mich mit einer Mischung aus freudiger Erregung und banger Sorge erfüllt. Aus der englischsprachigen Science-Fiction sind mir nicht wenige berühmte Fan-Fiction-Werke bekannt, darunter die Zweite-Foundation-Trilogie von Greg Bear, Gregory Benford und David Brin oder Zeitschiffe von Stephen Baxter, eine Fortsetzung von H.G. Wells’ Die Zeitmaschine, ganz zu schweigen von Universen wie Doctor Who und Star Trek, an deren kreativer Ausgestaltung sich zahlreiche Menschen beteiligt haben. Natürlich kann sich mein Roman nicht mit derart erfolgreichen Klassikern messen, doch immerhin haben wir eines gemeinsam: Alle grandiosen, von Genies geschaffenen Werke rufen uns dazu auf, in ihre Welt einzutreten und sie mit unserer Leidenschaft und Begeisterung zu erfüllen, auf dass wir die Zeit zurückdrehen, die Figuren zu neuem Leben erwecken und ihr Universum immer weiterentwickeln.
Baoshu,
30. August 2015
Übersicht der Zeitalter
Zeitalter der Krise 201X – 2208
201X – 2208
Zeitalter der Abschreckung 2208 – 2270
2208 – 2270
Post-Abschreckungszeitalter 2270 – 2272
2270 – 2272
Zeitalter der Übertragung 2272 – 2332
2272 – 2332
Zeitalter der Bunker 2333 – 2400
2333 – 2400
Zeitalter der Milchstraße 2273 – unbekannt
2273 – unbekannt
Zeitalter von Planet Blau 2687 – 2731
2687 – 2731
Zeitachse der Vorbereitung des Universums 647 2731 – 18.906.416
2731 – 18.906.416
Zeitachse des Universums 647 18.906.416 – 11.245.632.151
18.906.416 – 11.245.632.151
Endzeit 11.245.632.142–11.245.632.207
11.245.632.142–11.245.632.207
Zeitachse des neuen Universums 11.245.632.207–…
11.245.632.207–…
Prolog
Endzeit, Jahr 1, Stunde 0, Minute 0, Sekunde 0. Das Ende des Universums
Es war einmal vor langer, langer Zeit in einer anderen Galaxie …
Noch immer funkelten die Sterne, noch immer wogte die Galaxie wie ein mächtiger Strom, und hinter jedem Stern verbargen sich, getrennt durch die Weiten des Alls, Myriaden Lebensformen. Sie versteckten sich in jedem Winkel der Galaxie, wuchsen und gediehen, kämpften ums Überleben und töteten einander … Wie jeder andere Teil des Universums war auch diese entlegene Galaxie vom Puls des Lebens und der Wehklage des Todes erfüllt.
Doch dieses uralte, unermesslich große Universum hatte bereits das Ende seines Daseins erreicht.
In einem Umkreis von über zehn Milliarden Lichtjahren rings um die Galaxie starben die Sterne mit unvorstellbarer Geschwindigkeit, Zivilisationen verschwanden, Galaxien erloschen … Alles kehrte zurück ins Nichts, als hätte es nie existiert.
In dieser Galaxie jedoch ahnten die unzähligen Lebewesen noch nicht, dass all ihre Kämpfe und Niederlagen, ihre Tarnungen und Gemetzel jede Bedeutung verloren hatten. Auf der großen Bühne des Universums hatte ein unvorhergesehener, grauenerregender Wandel eingesetzt, der auch ihre Existenz schon bald ins Nichts zurückstürzen würde.
Aus Galaxien, die Milliarden Lichtjahre entfernt erloschen waren, hatten einige schwache Lichtstrahlen den unermesslichen schwarzen Raum durchquert und beschienen nun diese entlegene Galaxie. Wie Briefe ohne Empfänger erzählten sie stumm von alten Legenden aus längst versunkenen Zeiten.
Einer dieser Strahlen kam aus einer unscheinbaren, zehn Milliarden Lichtjahre entfernten Ecke des Kosmos namens »Milchstraße«. Sein Licht war so schwach, dass die allermeisten Lebewesen es unmöglich wahrnehmen konnten, und doch barg es unzählige Legenden, die einst ganze Welten erschüttert hatten.
Ye Wenjie, Ding Yi, Zhang Beihai, Luo Ji …
Mike Evans, Frederick Tyler, Bill Hynes, Thomas Wade …
Die Basis Rotes Ufer, die Erde-Trisolaris-Organisation, das Wandschauer-Projekt, der Treppenplan, die Schwerthalter, der Bunkerplan …
All diese uralten Geschichten wirkten noch immer so lebendig, als hätten sie sich erst gestern ereignet und als erstrahlten ihre Helden und Heiligen noch immer am Sternenhimmel. Doch niemand gedachte ihrer, und das Wissen um sie war erloschen. Der Vorhang war gefallen, die Schauspieler von der Bühne getreten, und das Publikum hatte sich zerstreut. Selbst das Theater war längst in Trümmer gesunken.
Bis …
… in einem bestimmten Moment, inmitten des endlosen schwarzen Raums, in einem einsamen Winkel fern von jedem Stern, aus dem Nichts ein Geist erschien.
Schwache Strahlen umrissen vage eine Kreatur, die man einst »menschlich« genannt hatte. Doch natürlich existierte im Umkreis von Milliarden Lichtjahren kein »menschliches« Wesen mehr, das die Kreatur als seinesgleichen hätte erkennen können.
Dem Geist war dies bewusst. Seine Welt war mitsamt seiner Spezies längst in einem anderen Winkel des Universums untergegangen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Einst hatte seine Spezies eine Zivilisation erschaffen, deren Glanz in einer ganzen Galaxie erstrahlt war – eine Galaxie, die Milliarden andere Welten unterworfen, unzählige Feinde vernichtet und grandiose Epen aufgeführt hatte. Doch diese Zivilisation war längst im Strom der Geschichte versunken, der selbst wiederum in das Meer der Zeit gemündet war. Und nun stand selbst dieses Meer vor dem Austrocknen.
Doch ausgerechnet jetzt, da sich der Kosmos seinem Ende entgegenneigte und der Fluss der Zeit versiegen würde, hielt der Geist hartnäckig daran fest, eine Geschichte fortzuschreiben, die eigentlich schon geendet hatte.
Während er inmitten der Dunkelheit schwebte, streckte er sachte ein Glied aus – nennen wir es »Arm« – und spreizte die fünf Finger an dessen Ende. Auf seiner Handfläche schimmerte ein winziger silberner Lichtfleck auf.
In den Augen des Geists spiegelten sich unzählige Sterne, während er auf den Silberfleck starrte, als wäre er in einem Meer von Erinnerungen versunken. Der Fleck trieb auf und ab, anmutig wie ein Glühwürmchen und so zart, als könnte er jeden Moment erlöschen. Und doch schien er unendliche Möglichkeiten zu bergen wie die Singularität vor der Geburt des Universums. In Wahrheit handelte es sich bei ihm um ein winziges Wurmloch, das mit einem gewaltigen schwarzen Loch im Herzen einer Galaxie verbunden war, einem Loch, das die Energie einer ganzen Galaxie hätte freisetzen können.
Niemand hätte sagen können, wie viel Zeit verstrichen war, doch endlich erteilte der Geist einen Befehl, und sogleich verwandelte sich der Lichtfleck in einen silbernen Faden, der sich wie eine endlose Zeitachse in die Ferne erstreckte. Schon im nächsten Moment entfaltete sich dieser Faden zu einer weißen Fläche, und dann nahm eine dritte Dimension Gestalt an. Die Fläche wogte auf und ab und gewann an Dicke. Verglichen mit ihrer Länge und Breite freilich war ihre Dicke noch immer verschwindend gering – so als hätte der Geist ein weißes Blatt Papier im All ausgebreitet.
Mit ausgestreckten Armen glitt der Geist über das Papier. Ein Windhauch wehte rings um ihn, und aus dem Nichts bildete sich eine Atmosphäre. Auf dem Papier darunter traten, wie vom Wind aufgerührt, Wellenmuster und Falten hervor, die sich rasch zu Hügeln und Bergen, Schluchten und Ebenen verfestigten.
Dann erschienen Feuer und Wasser. Unter mächtigen Explosionen entzündeten sich Wasser- und Sauerstoff, aus reiner Energie entstanden, zu lodernden Flammen, die sich zu einem gewaltigen Meer aus Feuer vereinten. Die dabei erzeugten Wassermoleküle verschmolzen zu Tropfen, die sich zu Wolken und Nebel zusammenballten, ehe sie in sintflutartigem Regen auf die neugeborene Erde niederrauschten – die Gravitation entfaltete schon ihre Wirkung. Der endlose Regen überflutete die tiefen Ebenen und verwandelte sie in gigantische Ozeane.
Wie ein riesiger Vogel glitt der Geist über die Meere, ehe er an einem leeren Strand landete. Er streckte die Hände aus, die eine nach dem Wasser, die andere nach dem Land, und hob beide empor, und schon erwachten die ungeheuren Datenmengen, die in seinem Innern gespeichert waren, zum Leben, schöpften Energie von ringsum und nahmen Gestalt an. Alle Arten von Leben erschienen im Wasser und an Land, als wären sie von einem Orkan herbeigewirbelt worden: Aus den Wogen tauchten Fischschwärme und Wale empor, als wollten sie ihren Schöpfer ehren; aus den Tiefen der Erde quollen Gräser und Bäume hervor, zwischen denen Vierfüßer und Kriechtiere umherstreiften; am Himmel kreisten große und kleine Vögel. Das lärmende Stimmengewirr des Lebens erhob sich in dieser neugeborenen Welt. Und mit all diesen Lebensformen bildeten sich auch Wälder und Steppen, Seen und Wüsten.
Nachdem er all dies vollbracht hatte, schien es dem Geist doch, als fehlte noch etwas. Gedankenversunken blickte er zum dunklen Himmel empor, und da fiel es ihm endlich wie Schuppen von den Augen. Mit dem Finger malte er einen Kreis an das Firmament, schnippte einmal, und sogleich schoss ein Lichtfleck empor und füllte den Kreis als strahlende goldene Kugel aus – die gute alte Sonne war an ihren Platz zurückgekehrt, oder zumindest schien es so. Kaum wurde das Licht von der Atmosphäre gestreut, erstrahlte die ganze Welt, und Himmel und Meere funkelten in einem kristallklaren Azurblau.
Auch auf den Geist fiel das neugeborene Licht. Verzückt blickte er auf und badete in dem Sonnenschein, den er so lange entbehrt hatte.
Wie das Goldene Zeitalter von einst.
Die Sonne schien auf seine nackte Haut und sein Haar. Das Licht zeichnete die Konturen eines typischen Vertreters der Menschheit. Nun war es offenkundig, dass dies hier kein trübes Gespenst war, sondern ein Individuum – ein Mann von jener lange versunkenen Welt, die man einst »Erde« genannt hatte.
Und diese neue Welt wirkte genauso vertraut wie jene alte Erde.
Dabei war sie in Wahrheit nur ein Schatten, den jene Erde hier am Ende des Universums warf, lange nachdem sie mit all ihren menschlichen Zivilisationen zerstört worden war.
Verglichen mit dem großen Universum von einst und mit jener wahren Erde war diese künstliche Welt – das wusste der Geist – verschwindend klein, unecht und nichtig. Und dennoch wollte er diese winzige Welt erschaffen, um das kosmische Epos, das eigentlich schon abgeschlossen war, noch ein wenig fortzuschreiben. Zwar würde dieses Epos deswegen keine wirkliche Fortsetzung erfahren, und doch lag ein eigentümliches Glück darin, nun, da das Universum seinem Untergang entgegensah, noch eine Weile in diese trügerische Welt einzutauchen und die ersterbende Glut ihrer Sonne, die so echt wirkte, auf der Haut zu spüren.
»Dies«, murmelte er, »ist der letzte Sonnenuntergang des Universums.«
ERSTER TEIL
Die Vergangenheit
innerhalb der Zeit